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1179 n. Christus: Balduin, der junge König von Jerusalem, leidet an Lepra. Seine Feinde wittern in dieser Schwäche ihre Chance. In geheimer Mission bricht die königstreue Templerin Robin nach Ägypten auf, um das rettende »Wasser des Lebens« zu finden. Aber die Feinde sind allgegenwärtig ...
Wolfgang und Rebecca Hohlbein haben die Fortsetzung der großen Saga um die legendäre Templerin Robin geschrieben.
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Seitenzahl: 801
Wolfgang & Rebecca Hohlbein
Die Templerin
Das Wasser des Lebens
DAS BUCH
Robin hat sich als Mann verkleidet unter die Templer gemischt und auf die Seite des jungen Königs Balduin geschlagen. Um sich gegen die Intrigen ihrer gemeinsamen Feinde durchzusetzen, hat sie alle Hände voll zu tun. Robin übernimmt den Befehl über die Leibwache des geachteten, wegen seiner schweren Lepraerkrankung aber auch geschwächten Königs Balduin. Ihr ist sehr wohl bewusst, dass Balduin nicht mehr lange leben wird, wenn es ihr nicht gelingt, das in antiken Schriften erwähnte sagenhafte „Wasser des Lebens“ rechtzeitig aufzuspüren. Die Feinde Balduins setzen alles daran, um zu verhindern, dass Robin die Spur des lebensrettenden Heilwassers aufnehmen kann. Ihr zur Seite stehen lediglich der alte Templer Abbé, der von Anfang an schützend seine Hand über die junge Frau gehalten hat, und Salim der Sarazenenherrscher, der Robin in treuer Liebe ergeben ist. Ob die beiden die temperamentvolle Robin wirklich aus der Gefahr retten können, in die sie bei ihrer gefährlichen Mission gerät, steht in den Sternen …
»Die Hohlbeins sind Bestseller.« Die Zeit
DIE AUTOREN
Wolfgang Hohlbein wurde 1953 in Weimar geboren. Seit er 1982 gemeinsam mit seiner Frau Heike den Roman Märchenmond veröffentlichte, schreibt er einen Bestseller nach dem anderen. Mit seinen in insgesamt 37 Sprachen übersetzten Romanen aus den verschiedensten Genres – Thriller, Horror, Science-Fiction und historischer Roman – hat er eine große Fangemeinde erobert und ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren überhaupt. Er lebt in der Nähe von Düsseldorf. Bei Heyne erscheint demnächst der Roman zum großen Mystery-Kinofilm Wir sind die Nacht.
Rebecca Hohlbein, geboren 1977, veröffentlichte ihre ersten Romane unter Pseudonym. Nach den ersten Erfolgen setzt sie ihre Karriere als Autorin fantastischer und historischer Stoffe nun unter eigenem Namen fort. In Zusammenarbeit mit ihrem Vater Wolfgang Hohlbein entstanden bereits mehrere Bestseller, u.a. Blut der Templer und Fluch der Karibik.
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1. Auflage
Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 2008 by Wolfgang & Rebecca Hohlbein
Copyright © 2016 dieses E-Books by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design, München
eISBN: 978-3-641-19812-1
Robins Welt war abermals kleiner geworden, aber zumindest war sie behaglich und warm, und wenigstens in diesem Augenblick trachtete ihr niemand nach dem Leben. Keiner spann eine Intrige gegen sie, und niemand versuchte, sie als Figur in einem Ränkespiel zu missbrauchen, von dessen Regeln sie so wenig verstand, wie sie die Spieler kannte. Sie war allein und in Sicherheit. Vor der Tür ihres Gemachs im zweiten Stockwerk des Assassinen-Hauses am östlichen Stadtrand von Jerusalem stand der zuverlässigste Mann Wache, den Salim in seiner persönlichen Leibgarde gefunden hatte. Auch jene Krieger, die das Haus von außen beobachteten und misstrauisch darauf achteten, dass ihm niemand auch nur nahe kam, der ihnen suspekt erschien, entstammten Salims persönlicher Leibgarde. Ja, sie war wirklich in vollkommener Sicherheit.
Anders gesagt: Das Leben war furchtbar langweilig geworden.
Dennoch genoss sie den ungewohnten Luxus, der sie umgab. Wohlig rekelte sie sich in dem fünf Fuß durchmessenden Badezuber, dessen heißes Wasser ihren Körper mit tausend unsichtbaren Händen umschmeichelte. Während sie beobachtete, wie der Wasserdampf sich in Form unzähliger Tröpfchen an Wänden und Decke, den orientalischen Lämpchen und farbenfrohen Möbeln der Kammer niederschlug, fiel ihr Blick auf den schmalen Dolch, der auf dem Rand des Badezubers lag. Salim bestand darauf, dass sie diese Waffe stets mit sich führte. Robin lächelte. Die Tür der kleinen Kammer ließ sich zwar nicht verschließen, aber wer lebend an Salims Männern vorbeikam, dem würde es auch gelingen, ihr den Dolch zu entwenden und in die Kehle zu stoßen.
Sie drehte sich, angelte nach der cremig-fettigen Seife und verzog das Gesicht, als der Schmerz zurückkehrte. Die Wochen, in denen sie ohne Nahrung und fast ohne Wasser durch die Wüste geritten war, mitten hinein in eine apokalyptische Schlacht und verstrickt in eine Intrige, bei der es um nichts anderes als die Macht über den gesamten Orient ging, hatten ihre Spuren hinterlassen. Ihre Schulter war noch immer nicht ganz verheilt, und obschon ihr Körper langsam wieder mehr dem einer Frau als dem eines ausgezehrten Gerippes glich, war das Gefühl, sich hier in diesem kleinen Paradies in absoluter Sicherheit zu wissen, ungewohnt und fremd.
Während die Wärme die Verspannung ihrer Muskeln löste und sie die Gedanken treiben ließ, atmete sie den schweren Duft der wohlriechenden Öle und Essenzen ein und zog dann, als das Wasser kälter zu werden begann, die Knie leicht an den Leib und drehte sich so weit auf die Seite, dass das Wasser ihren Körper bis zum Kinn hinauf bedeckte. Wehmütig dachte sie an das prächtige Bad auf der Assassinen-Festung Masyaf, in dem sie mit Salim so viele Stunden verbracht hatte. Doch heute kam ihr auch dieser unbequeme, an unzähligen Stellen leckende Holzzuber wie der pure Luxus vor. Immerhin waren etliche Wochen vergangen, seit sie zum letzten Mal in den Genuss eines Bades gekommen war, denn Saila hatte darauf bestanden, dass sie so lange darauf verzichtete, bis die Wunden, die sie davongetragen hatte, vollständig verheilt waren. Wie schnell man doch Bescheidenheit lernte.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Saila zu rufen und die Dienerin zu bitten, ihr frisches Wasser bringen zu lassen. Dann aber dachte sie daran, welche Mühe und Schweiß es die Dienerschaft kosten würde, noch mehr heißes Wasser zu bereiten und hier heraufzuschleppen. Es reichte ja, sich Sailas Tiraden darüber auszumalen, dass sie das ganze Wasser bald wieder mühsam Eimer für Eimer die beiden Treppen nach unten würde tragen müssen.
Während Robin sich das Haar einschäumte, wanderten ihre Gedanken zurück in das ewig kalte, windige Friesland. In ihrer Heimat war ihr mehr als einmal unversehens kaltes Wasser oder anderes auf den Kopf geleert worden, doch hier, in dieser schmutzigen, lauten und viel zu heißen Stadt, trug man den Inhalt des Zubers Eimer für Eimer die Treppen hinunter, um ihn dann im Hof auszuschütten. Wasser war für die Menschen in diesem Teil der Welt etwas überaus Kostbares, mit dem man einfach nicht so respektlos umging; nicht einmal in einer Stadt wie Jerusalem, in der es in so verschwenderischer Fülle vorhanden war. Und mit einem Mal plagte Robin das schlechte Gewissen bei der Vorstellung, durch einen zweiten Badegang so viel Wasser zu verschwenden. Gut zwei Jahre befand sie sich nun schon im Orient, und die heiße Sonne hatte nicht nur ihre Haut dunkler werden lassen und ihr Haar gebleicht, sondern ihr auch die Augen geöffnet für die Reichtümer, aber auch den Mangel dieser Länder. Mit einem Mal erschien ihr der Luxus des Bades, den sie genießen durfte, umso süßer.
Genüsslich tauchte sie unter, um sich die Lauge aus dem Haar zu spülen, doch keinen Herzschlag später bereute sie es. Ihre Sinne streiften das wohlige Nichtstun der letzten Stunden ab, sie öffnete die Augen, spähte durch das laugige Weiß nach oben und fand ihre Furcht bestätigt: eine schattenhafte Bewegung in der Kammer, direkt neben ihr.
In einer schnellen, gleitenden Bewegung fuhr sie hoch, griff nach dem Dolch – und ins Leere. Die Waffe war fort!
»Muss ich jetzt enttäuscht sein?« Die Männerstimme in ihrem Rücken klang belustigt. »Ich schreibe es deiner Erschöpfung und deinem momentanen Zustand zu. Denn wenn ich annehmen müsste, dass das alles wäre, was du in all der Zeit von mir gelernt hast, dann hätte ich jämmerlich versagt.«
Abbé! Wie konnte er es wagen …! Robin fuhr herum, dass das Wasser nur so spritzte, doch ihr ehemaliger Mentor ließ sich nicht beirren: »Mir ist es noch nie passiert, dass sich jemand unbemerkt an mich herangeschlichen hat, während ich im Bad saß.« Genüsslich drehte er ihren Dolch in seinen Händen. »Geschweige denn mir meine Waffe abgenommen.«
»Das mag vielleicht daran liegen, dass Ihr nur alle drei Jahre badet«, antwortete Robin finster. »Und das wahrscheinlich komplett in Stiefeln und Rüstung. Und mit Eurem Schwert.«
Falls Abbé den Seitenhieb verstanden hatte, ignorierte er ihn. »Hat man dir nie gesagt, wie ungesund zu häufiges Baden ist?«
Robin grunzte. Auch Saila wurde nicht müde, sie darauf hinzuweisen, und Robin wusste, dass die Dienerin ebenso von der Richtigkeit dieser Warnung überzeugt war wie Abbé selbst. Robin teilte die Meinung der beiden dennoch nicht. Finster gab sie zurück: »Und Euch hat nie jemand gesagt, dass es sich nicht gehört, ins Badezimmer einer Dame zu platzen, ohne um Erlaubnis zu fragen, scheint mir.«
Abbé grinste. »Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte Rother geschickt?« Sein Blick tastete nun ungeniert über ihre Gestalt. Robin bedeckte hastig ihre Brüste mit den Armen und ließ sich ein wenig tiefer in den Zuber zurücksinken. Abbé kommentierte diese Geste nicht, aber seine Blicke sprachen Bände.
»Was wollt Ihr?«, fragte Robin unwirsch.
Abbé seufzte. »Ist das eine Art, einen alten Freund zu begrüßen?«
»Eins von beidem seid Ihr sicher.«
Abbé legte fragend den Kopf auf die Seite. »Alt oder ein Freund?«
»Diese Frage wird Salim vielleicht für Euch beantworten, wenn er Euch hier überrascht«, knurrte Robin.
»Salim?« Abbé machte eine wegwerfende Geste mit dem Dolch. »Dein heißblütiger junger Ehemann hat mich selbst hierhergeschickt – sonst wäre ich wohl auch schwerlich an diesem groben Kerl vor deiner Tür vorbeigekommen. Mir scheint, Prinz Salim vertraut mir grenzenlos.« Er seufzte. »Oder er sieht in mir keine Gefahr mehr, je nachdem.« Er sah an sich hinab und seufzte noch einmal, und noch tiefer. »Na ja.«
Gegen ihren Willen musste Robin lächeln. »Also gut«, setzte sie erneut an, »was wollt Ihr, Bruder Abbé?«
»Ein gemeinsamer Freund hat mich geschickt, um dich abzuholen.« Er spielte weiter mit dem Dolch, aber plötzlich hatte sie den Eindruck, als wüsste er nicht mehr, wohin mit seinen Händen. War er verlegen?
»Ein gemeinsamer Freund?«, wiederholte Robin und war sich jetzt sicher, dass die Nervosität des alten Ordensritters zunahm.
»Mhm«, nickte er, »sein Name ist Balduin, glaube ich.«
»Der König?!« Was sollte der König von ihr wollen? Und das ausgerechnet heute? Robin fuhr so überrascht auf, dass Abbé sich ihr instinktiv wieder zuwandte und sich dabei an der rasiermesserscharfen Klinge schnitt. Mit einem Knurren legte er das Messer auf den Rand des Bottichs zurück, steckte den blutenden Daumen in den Mund und funkelte sie an: »Kemmschuhierschonschnojemandiescheschnmensch?«, nuschelte er.
»Wie bitte?«, fragte Robin.
Abbé nahm den Daumen aus dem Mund – der Schnitt war nicht einmal besonders lang, aber er blutete heftig – und wiederholte: »Kennst du hier sonst noch jemanden dieses Namens?«
Robin schüttelte unwirsch den Kopf. Genau genommen kannte sie hier so gut wie niemanden außerhalb dieses Hauses; zumindest niemanden, auf dessen Bekanntschaft sie irgendeinen Wert legte. Auch Balduin war sie bisher nur zweimal begegnet – beide Male unter Umständen, an die sie sich lieber nicht erinnern wollte.
»Wann?«, fragte sie. »Warum?«
Abbé betrachtete mürrisch seinen blutenden Daumen. »In einer Stunde, und ich weiß es nicht.« Kurz schien er versucht, das Blut an seinem blütenweißen Templergewand abzuwischen, überlegte es sich dann aber anders und trat dichter an den Badezuber heran, wo er den Daumen knapp über ihrer Schulter im heißen Wasser hin- und herschwenkte: »Wen der König der Christenheit auffordert, zu ihm zu kommen, der fragt nicht nach dem Grund.«
Robin rang noch immer um ihre Fassung: »Er hat … gar nichts gesagt?«, vergewisserte sie sich.
Abbé nahm kurz den Finger aus dem Wasser, stellte fest, dass er noch immer blutete, und tauchte ihn übellaunig wieder ein: »Ich habe nicht selbst mit ihm gesprochen. Ich bin nur ein unbedeutender kleiner Tempelritter, der kaum auf eine Audienz beim König hoffen darf.«
»In einer Stunde schon«, murmelte Robin.
Abbé nickte: »Es ist nur ein kurzer Marsch zum Königspalast hinauf. Du hast also noch genug Zeit, dich um deine Schönheit zu kümmern.« Abermals zog er prüfend die Hand aus dem Wasser. »Nicht, dass es viel Sinn ergeben würde, wenn du dir allzu viel Mühe damit gäbest«, murmelte er dann.
»Danke schön«, sagte Robin spitz.
Einen Moment lang starrte Abbé sie vollkommen verwirrt an. Dann schüttelte er hastig den Kopf. »O nein, das meinte ich nicht. Es ist nur so, dass niemand dein Gesicht sehen wird. König Balduin wünscht, dass du das Ehrengewand anlegst, das er dir vor zwei Wochen übergeben hat. Samt Helm und Handschuhen. Er möchte wohl nicht, dass jemand sieht, dass ihn eine Frau besucht.« Abbé trat einen Schritt zurück, wischte sich nun doch den Daumen am Gewand ab und sah sie auffordernd an. »Also los – worauf wartest du?«
»Dass Ihr hinausgeht?«, schlug Robin vor.
Abbé sah sie fragend an, dann aber verstand er: »Sicher«, sagte er hastig. »Ich … muss sowieso nach einem Arzt suchen. Ich bin schwer verwundet, wie du ja siehst.« Und damit fuhr er auf dem Absatz herum und war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war, wenn auch nicht annähernd so lautlos.
Robin sah ihm mit leisem Ärger, aber auch einem Gefühl tiefer Zuneigung nach. Auch wenn sie Bruder Abbé kaum zwei Jahre kannte, schien ihr ihr früheres Leben ohne ihn manchmal Jahrhunderte entfernt zu sein. Doch trotz der vielen gemeisterten Gefahren, die sie und Abbé verbanden, war es ihr noch immer nicht möglich, ihn richtig einzuschätzen. Er spielte gern den Dummkopf und manchmal so überzeugend, dass sich selbst Robin fragte, was davon Scharade war und was nicht. Sie aber hatte ihn auch als einen Mann von großer Klugheit und mindestens ebenso großer Härte erlebt und wusste, dass ihn eine Menge Geheimnisse umgaben. Robin war nicht sicher, ob sie alle davon kennen wollte. Oder auch nur einige. Denn manche Geheimnisse, das wusste sie aus eigener, bitterer Erfahrung, hatten die unangenehme Eigenheit, zu einer tödlichen Krankheit zu werden, sobald man damit in Berührung kam – zu einer Krankheit, die unter Umständen binnen kürzester Zeit ganze Dörfer auslöschen konnte …
Robin schauderte und dachte zurück an jenen Sommer, an dem ihr Abbé zum ersten Mal begegnet war, erinnerte sich an Helle, den Knappen Jan, ihre geliebte Mutter und all die anderen Menschen, die Teil ihres ersten, so wunderbar einfachen Lebens gewesen waren. Doch dann hatte sie auch noch den wenigen Überlebenden ihres kleinen ostfriesischen Heimatdorfes für immer den Rücken kehren müssen.
In den Monaten, die seit diesem Tag vergangen waren, war aus jenem Kind mit dem Weltbild eines neugeborenen Lämmleins auf einer Weide eine junge Frau geworden, die mit ihren siebzehn Lenzen weit mehr von der Welt gesehen hatte, als ein Großteil ihres Volkes bis zu seinem Tode zu Gesicht bekam. Und doch waren die Bilder von jenem schrecklichen Tag, an dem Gernot von Elmstatt und seine blutrünstigen Kumpanen über ihr Dorf hergefallen waren, noch immer so präsent, dass sie noch heute die Schreie der Sterbenden zu hören glaubte, in die sich auch ihr eigener um ein Haar eingereiht hätte.
Unwillkürlich tastete sie nach der kaum noch sichtbaren Narbe an ihrem Hals, zog die Hand wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt, und schüttelte sich, um die Bilder, die da so plötzlich vor ihrem inneren Auge aufgeflammt waren, wieder zu vertreiben. Dann stand sie auf, um Abbés Bitte und der Einladung des Königs nachzukommen. Mochte er noch so gern den Tölpel spielen, Robin wusste, dass er Gehorsam von ihr erwartete. Er war ein hoch angesehener Ritter des Templerordens, dem sie mit Respekt zu begegnen hatte und der ihr, wenn sie ihn verärgerte, eine Menge Unannehmlichkeiten bereiten konnte, deren Ausmaß Robin sich lieber erst gar nicht auszumalen versuchte.
Als sie nun nach dem Damasttuch tastete, das Saila auf einem Schemel neben dem Zuber abgelegt hatte, wurde ihr für einen kurzen Moment schwarz vor Augen, und sie musste sich am Rand des Badezubers festhalten, um nicht auf das vierfarbige Mosaik zu fallen, das den Bodenbereich zwischen Tür und Bad schmückte. Ihr wurde übel, und sie schalt sich selbst, als sie an ihr Morgenmahl zurückdachte, das in seiner Maßlosigkeit einem Ritter sicherlich nicht geziemt hatte. Im Licht der aufgehenden Sonne waren ihr die unbekannten Früchte auf dem Frühstückstisch mit einem Mal so unwiderstehlich erschienen, dass sie Berge davon mit einem guten halben Liter handwarmer Kamelmilch heruntergespült hatte. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich irgendwann einmal an Kamelmilch gewöhnen könnte. Aber sie hätte auch vor ein paar Jahren niemals geglaubt, dass es möglich war, ein Doppelleben als Ehefrau eines abendländischen Prinzen und als Ordensbruder des Templerordens und Erster Ritter des Königs führen zu können.
Während sie nach dem Badetuch griff und weiter stumm gegen den Brechreiz ankämpfte, betrachtete sie ihren Körper im Spiegel gegenüber. Sie hatte sich von den Entbehrungen der fürchterlichen Schlacht bei Mardsch Ayun erstaunlich schnell erholt – und zwar so gut, dass sie bereits wieder rundlich um die Hüften wurde und sich ein kleines, aber nicht zu verleugnendes Röllchen aus Speck um ihre Taille gelegt hatte. Wenn sie sich weiterhin so von Salim und Saila verwöhnen ließ, würde ihr Bauchumfang dem Bruder Abbés bald in nichts mehr nachstehen. Vielleicht wurde es wirklich allerhöchste Zeit, dass der Templer sie in das nächste unfreiwillige Abenteuer trieb, ehe sie noch aufging wie ein Klumpen Hefeteig.
Sie seufzte, setzte den ersten Fuß auf den Schemel und wunderte sich kein bisschen, dass die Tür in diesem Moment erneut aufschwang und Saila, dicht gefolgt von ihrer Tochter Nemeth, im Eilschritt durch den Baderaum auf sie zustürmte. Die Dienerin riss ihr das fein gewebte Tuch förmlich aus den Händen und begann, kaum dass Robin auch den zweiten Fuß aus dem lauwarmen Nass gehoben hatte, ihren Schützling mit einer Leidenschaft trocken zu rubbeln, die zweifelsohne jeden noch so hartnäckigen Fleck aus einem Laken entfernt hätte. Dennoch war Robin dankbar, dass Saila und Nemeth bei ihr waren und ihr leises Würgen nicht etwa Kaya, den monumentalen Leibwächter vor ihrer Tür, auf den Plan gerufen hatte. Robin mochte ihn nicht, und sein Gesicht wirkte auf sie, als wäre es in einer besonders peinlichen Situation plötzlich in einem Schneesturm vereist und nie wieder aufgetaut. Aber auch wenn er der charmanteste Mensch unter der Sonne gewesen wäre, hätte sie nicht gewünscht, dass er sie unbekleidet sah. Sie mochte sich in letzter Zeit nicht einmal jenen wenigen Menschen nackt zeigen, denen sie noch vertraute und die sie nicht für einen Mann hielten.
Saila versuchte unbeirrt weiter, ihr die aufgeweichte Haut von den Knochen zu reiben: »Euer ehrwürdiger Freund erwartet Euch vor dem Ausgang«, schnarrte sie, und der Unmut in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Robin nickte und verstand. Saila war eine Muselmanin – eine Heidin, die einen christlichen Ritter vor ihrer Tür ebenso wenig begrüßte, wie ein Templer einen bewaffneten Muselmanen vor seinen Toren gutgeheißen hätte. Dass Bruder Abbé in Frieden kam und auf eine Frau seines Volkes wartete, die sich zeitweise als Mann und gar christlicher Ritter ausgab und sich just in diesem Moment von Dienerinnen aus dem Heidenvolk in ihre Kleider helfen ließ, machte es Saila nicht eben einfacher.
»Er ist sehr ungeduldig, Ihr solltet Euch eilen«, fügte sie hinzu, wobei sie es geschickt vermied, Robin direkt anzusehen. »Das da hat er für Euch zurückgelassen.« Sie deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf ein Bündel Kleider, das ihre Tochter Nemeth in Händen hielt. Das Mädchen musterte Robins vom energischen Rubbeln gerötete Haut mit einem unübersehbar schadenfrohen Funkeln in ihren schwarzen Augen, und Robin zog mit gespielter Strenge die Brauen zusammen. Insgeheim aber dankte sie Salim dafür, dass er ihr hier im fremden Israel nicht irgendwelche Hausangestellten zugeteilt hatte. Ihr Alltag in der weitläufigen, über zwei Etagen reichenden Wohnung war zwar praktisch sorglos, aber auch schrecklich eintönig. Saila und ihre Tochter stammten aus dem Dorf, das Robin zuletzt ihr Zuhause gewesen war, und Saila begegnete ihr mit der liebevollen Fürsorge einer Mutter. Nemeth aber brachte Robin mit ihrer frechen, teils fast unverschämten Sorglosigkeit immer wieder zum Lächeln. Robin mochte das mittlerweile etwa zwölfjährige Mädchen mit dem nachtschwarzen Haar und den riesigen, dunklen Augen ausgesprochen gern – vielleicht weil es sie ein wenig an sich selbst erinnerte – oder besser: an das, was sie unter anderen Umständen vielleicht geblieben wäre; ein aufgewecktes, abenteuerlustiges Mädchen mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einem unerschütterlichen Glauben an den Sieg des Gescheiten über das Dumme, des Schönen über das Hässliche und vor allem des Guten über das Böse. Selbst angesichts der fremden, aus christlicher Sicht oft brutal anmutenden Kultur, der sie angehörte, hatte Nemeth sich ein wunderbar faires Bild von der Welt und den Menschen bewahrt. Manchmal beneidete Robin sie ein klein wenig um diesen kindlichen Blick auf die Welt und fühlte sich dem Mädchen in fast schon schwesterlicher Zuneigung verbunden.
Genau deshalb wusste Nemeth in diesem Moment auch nur zu gut, dass die Strenge in Robins Blick bloß aufgesetzt war. Ein breites, vollkommen unverhohlenes Grinsen gesellte sich zu dem belustigten Funkeln in ihren Augen, doch als Robin sie gerade wegen ihrer ganz und gar unschicklichen, überhaupt nicht damenhaften Schadenfreude tadeln wollte, fiel ihr Blick auf das weinrote Gewand in Nemeths Händen: einen Waffenrock aus grobmaschigem Baumwollstoff, verziert mit fünf goldenen Kreuzen aus einem Garn, das so dick war, dass man es in diesem Teil der Welt wahrscheinlich eher zum Häkeln, wenn nicht gleich zum Teppichklöppeln verwendet hätte: das Wappen König Balduins.
Robin seufzte. Der Anblick des Waffenrocks erinnerte sie an jene komplizierten politischen Ränkespiele, in denen die Ritter des Templerordens ab einem bestimmten Rang nachgerade aufzugehen schienen. Entschlossen nahm sie Saila das Damasttuch aus der Hand und bedeckte damit ihre Blöße, während sie auf Nemeth zuschritt und die Fingerspitzen zögernd über den rauen Stoff gleiten ließ. »Ist das …«
»Der Rest Eurer Maskerade liegt auf der großen Truhe vor Eurem Schlafgemach«, knurrte Saila. »Natürlich werde ich Euch nicht daran hindern können, der Bitte Eures gottesfürchtigen Freundes nachzukommen.« Aber wenn du erwartest, dass ich dir deine lästerliche Rüstung hinterhertrage und dir aus freien Stücken beim Ankleiden helfe, kannst du warten, bis der Prophet und Jesus Christus sich zum Sabbat einen Schweinebraten teilen, fügte ihr Blick stumm hinzu, und der gottesfürchtige Freund klang aus Sailas Mund wie eine Beleidigung.
Robin ging nicht weiter darauf ein. Alles, was sie hätte sagen können, hätte Saila nur zusätzlich verärgert. Alles – außer vielleicht: Du hast ganz recht. Ich werde mich ihm verweigern.
Aber das ging natürlich nicht. Zwar hatte der König sie paradoxerweise vor weniger als drei Monaten wie ein kleines Mädchen heimgeschickt, nachdem er ihr den Titel Schwert des Königs verliehen hatte, und so war ihre ehrenhafte Position bislang rein formeller Natur gewesen. Doch das änderte nichts daran, dass sie unter Eid stand und ihren Pflichten als Erster Ritter unverzüglich nachkommen musste, sobald Balduin nach ihr verlangte.
Doch wenn Robin ehrlich zu sich war, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Inneren, dass sie sich auch gar nicht verweigern wollte. Sie hatte den weinroten Waffenrock bloß ein einziges Mal getragen, und leicht fiel es ihr nicht, ihn gegen das weiße Templergewand einzutauschen. Es hatte sie in unzähligen Kämpfen begleitet, viel Blut gesehen, aber ihr Leben bewahrt. Doch die vielen Wochen zwischen Speisezimmer und Schlafgemach hatten Robin unruhig werden lassen. Hinzu kam die Neugierde. Was mochte der Grund sein, aus dem Balduin sie rief? Und so zögerte sie nicht länger und griff nach den Gewändern. Es fiel ihr auch dieses Mal schwer, das Wappen des Königs nicht ungerechterweise mit eitrigen Pusteln und fauliger Haut in Verbindung zu bringen. Balduin war ein herzensguter Mensch und ein guter König, und die Entstellungen, unter denen er angeblich litt, hatte sie nie mit eigenen Augen gesehen, denn er pflegte sich zu vermummen wie ein Muselman. Es war nicht nur ihre Pflicht, seiner persönlichen Einladung zu folgen, sondern auch eine gewaltige Ehre, die den wenigsten seiner Ritter in ihrem ganzen Leben zuteilwurde.
Schweigend ertrug sie die demonstrativ ruppigen Bewegungen, mit denen Saila ihr nun doch beim Einkleiden half, und warf schließlich Kaya, während sie an ihm vorüberschritt, einen fast schon traditionell mordlüsternen Blick zum Abschied zu. Der Leibwächter begegnete ihr mit der gewohnten starren Grimasse und folgte ihr dann wie ein fleischgewordener Schatten. Robin ignorierte ihn würdevoll. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ihr Weg, den sie heute an Abbés Seite beschreiten würde, sie letztendlich führte, aber dafür das sichere Gefühl, dass er keineswegs im Palast am Davidsturm enden würde. Sie würde Saila, Nemeth, ihr wohliges Heim und vor allem ihren Ehemann gewiss längst vermissen, bevor der Himmel den Tag verabschiedete. Aber wenigstens, dachte Robin mit dem Hauch eines Lächelns bei sich, schaute ihr Kaya dann nicht mehr dabei zu.
»Und sein Kreuz tragend, ging er hinaus nach der Stätte … wo sie ihn kreuzigten, und zwei andere mit ihm, auf dieser und auf jener Seite, Jesum aber in der Mitte«, zitierte Bruder Abbé aus dem Johannesevangelium. Sie ritten vorsichtig und langsam durch die schmalen Gassen der Stadt, die zu dieser Tageszeit einem prall gefüllten Fischernetz glichen, und abermals zügelte Abbé unvermittelt sein Pferd. Er bekreuzigte sich und ließ seinen Blick auf einem sandfarbenen Torbogen ruhen, in den ein winziges, rechteckiges Fenster eingelassen war. Nur mühsam riss er sich schließlich los und trieb sein Reittier erneut an. Was es war, das ihn an diesem speziellen Ort faszinierte, wusste Robin nicht und fragte auch nicht danach – wohl wissend, dass sie einer Antwort dennoch nur mit Glück würde entgehen können. Seit sie das Haus am östlichen Stadtrand verlassen hatten, hatte sie sich an seiner Seite eher wie auf einer Pilgerreise durch die Heilige Stadt gefühlt als auf dem Weg zum Palast des Königs. Wann immer Abbés Rappe auch nur versehentlich aus dem Schritt geriet, erwartete sie eine weitere detaillierte Ausführung aller Heiligen inklusive der durch sie oder in ihrem Namen vollbrachten Heldentaten – und zwar samt den dazugehörigen Bibelversen. Immerhin übersetzte er Letztere ihr zuliebe mittlerweile ins Deutsche. »Ecce homo«, fuhr er auch dieses Mal unaufgefordert fort und deutete mit einem Nicken auf den steinernen Bogen, den sie soeben passiert hatten, »Seht den Menschen. Das hat Pontius Pilatus gesagt, als er dem Mob den Heiland mit dem Kreuz auf den Schultern präsentierte. Genau unter diesem Bogen.«
Ob der Stolz in seiner Stimme seinem umfassenden Wissen geschuldet war? Oder dem Umstand, dass er sich dort befand, wo Jesus Christus vor vielen Jahrhunderten gelebt und gepredigt hatte und – auch für ihn, was zu erwähnen Abbé nie müde wurde – gestorben war?
Aber Jerusalem war mehr als nur die Stadt des Leidens, Sterbens und der Auferstehung des Heilands. Hier würde sich, wenn dereinst die Posaunen des Jüngsten Gerichts erschallten, das irdische mit dem himmlischen Jerusalem vermischen. Und spätestens seit Papst Urban II. dazu aufgerufen hatte, das Heilige Land mit dem Schwert aus der Knechtschaft der Heiden zu befreien, war es den Christen nicht mehr genug, auf den Spuren des Heilands zu wandeln. Sie wollten sie besitzen – auch wenn dies kaum jemand so unverblümt aussprach. Robin missfiel der Gedanke. Schließlich war sie der lebende Beweis dafür, dass man das Heilige Land nicht erobern musste, um darin zu leben – und das auch noch sehr gut und außerordentlich glücklich. Sie hatte jedenfalls nicht den Eindruck, dass Jerusalem von irgendetwas befreit werden musste. Die Heiden zollten den christlichen Heiligtümern schließlich ausreichenden Respekt – wenngleich aus gelegentlich fragwürdigen Gründen.
Aber was verstand Robin schon von Gott und seinen Wegen? Sie verstand ja noch nicht einmal, warum der König sie sehen wollte.
Seufzend dachte sie an ihren Aufbruch aus Salims Haus zurück: Salim war wütend darüber, dass Robin Bruder Abbé in dieser Sekunde begleitete, das wusste sie genau. Er hatte sich nicht von ihr verabschiedet, schien selbst nicht einmal mehr im Haus gewesen zu sein, und das war ein wirklich schlechtes Zeichen. Fast wäre es Robin lieber gewesen, er hätte gezürnt oder ihr seinen Schutz aufgedrängt wie einem kleinen Kind, als welches er sie so gern behandelte und sie damit immer wieder in Rage versetzte. Es würde Zeit und eine Menge diplomatisches Geschick erfordern, den Schaden wieder zu beheben, den der Templer unbeabsichtigt angerichtet hatte, als er sie aufgefordert hatte, mit ihm zu gehen. Nur warum Abbé sie nun in der prallen Hitze und zur geschäftigsten Tageszeit überhaupt durch die staubige, überfüllte Stadt Richtung Königspalast trieb, das wusste Robin noch immer nicht.
»Ich frage noch einmal, Bruder Abbé: Warum habt Ihr mich aus meinem so wunderbar geregelten Leben entführt? Warum wünscht mich der König zu sehen?«
»Wunderbar geregeltes Leben«, wiederholte Bruder Abbé, zuckte die Achseln, und in seiner Stimme schwangen Spott, Zweifel und eine Spur von Bedauern mit. Dann seufzte er tief: »Du bist in Gefahr, Robin. In großer Gefahr sogar, wie wir fürchten.«
»Ihr?«, hakte Robin nach.
»In erster Linie ich.« Bruder Abbé zuckte abermals die Achseln. »Aber natürlich auch der König. Und auch der junge Rother hat sich verdächtig bekümmert gezeigt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt vermuten, dass er ein Auge auf dich geworfen hätte.«
»Abbé!«, schnappte Robin, aber es klang nicht sehr empört, denn sie selbst wusste es besser. Ja, Rother wusste, dass sich eine Frau unter der Rüstung Ritter Robins verbarg. Aber Rother fühlte sich den Idealen des Templerordens zu eng verbunden, um sich ein Interesse an einem Weib zuzugestehen, und das Wissen um ihre Maskerade hatte ihn tief erschüttert. Er konnte sie nicht als Frau mögen. Zumindest hielt er sich dies selbst erfolgreich vor, und Robin hoffte, es bliebe dabei.
»Schon gut …« Abbé machte eine beschwichtigende Geste mit dem kleinen Finger der rechten Hand, und Robin wechselte das Thema: »Also gut. Wem bin ich heute ein Dorn im Auge? Wer sähe mich in diesen Tagen lieber tot? Wenn es unser ehrenwerter Bruder Andrew ist, der sich am vergangenen Sonntag hinter dem Badehaus entleerte, als er sich unbeobachtet wähnte, so richtet ihm aus, dass wirklich niemand je aus meinem Munde etwas …«
»Robin!«
»Verzeiht.«
»Deine lose Zunge wird dich eines Tages noch den Hals kosten«, prophezeite Abbé düster. »Es muss der Umgang mit dem Heiden sein, der dir schlecht bekommt. Das ist es jedenfalls nicht, was man dich in meiner gesegneten Komturei gelehrt hat.«
Robin ersparte sich einen Hinweis auf eine Menge viel schlimmerer Dinge, die sie sich während ihrer Zeit in Abbés Komturei hätte aneignen können: »Lenkt nicht vom Thema ab, Bruder Abbé. Ihr sagtet, ich sei in Gefahr. Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr ein wenig näher darauf eingehen könntet, damit ich weiß, welche Landstriche ich dieses Mal aus meiner Welt streichen sollte, ehe sie je gesehen zu haben.«
»Gerhard von Ridefort.« Abbé wich ihrem Blick aus. Er nannte nicht gern konkrete Namen, kannte Robin aber gut genug und wusste, dass sie nicht ruhen würde, ehe er ihre Fragen beantwortet hatte. »Unser Großmeister Odo von Saint-Amand hat aus der Gefangenschaft verlauten lassen, dass es keinen muslimischen Gefangenen gäbe, der nur annähernd so bedeutend ist wie er«, erklärte der Templer düster. »Unabhängig von meiner persönlichen Meinung über Saint-Amand: Ich wäre einer der Letzten, die ihm da nicht beipflichten würden. Dennoch hätte er in seiner Situation besser daran getan, seine Meinung für sich zu behalten.«
»Odo?« Robin schüttelte verwirrt den Kopf. »Odo von Saint-Amand ist tot, Abbé. Ihr selbst habt mir gesagt, dass er in der Schlacht bei Mardsch Ayun gefallen ist.«
»Ein Gerücht«, winkte Abbé ab. »Eine Verwechslung möglicherweise. Oder eine bewusst in Umlauf gebrachte Lüge, um den Orden der Templer zu schwächen. Aber es macht keinen großen Unterschied, ob der Großmeister tot ist oder in Gefangenschaft Sultan Saladins tönt, seine Bedeutsamkeit könne von keinem Muselmanen auch nur annähernd erreicht werden.«
»Weil ein Austausch von Gefangenen damit unter Umständen unmöglich wird?«
Abbé nickte. »Der ehrwürdige Sultan fühlt sich durch Odos Verhalten persönlich beleidigt, was unseren bisherigen diplomatischen Bemühungen natürlich wenig zuträglich ist. Der Orden versucht im Augenblick, eine große Summe Goldes aufzubieten, aber …« Er schüttelte den Kopf und zog eine finstere Grimasse. »Es müsste eine gewaltige Summe sein, um Saladin zu beeindrucken.«
Robin nickte und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf: »Wenn der Sultan von irgendetwas zu viel hat – von Frauen in seinem berüchtigten Harem einmal abgesehen –, dann ist das wahrscheinlich Gold. Aber wenn Ihr erwartet, ich könnte in dieser Sache in irgendeiner Form nützlich sein, dann täuscht Ihr Euch.«
Der Tempelritter machte eine wegwerfende Handbewegung: »Niemand erwartet, dass eine Frau einen mächtigen Herrscher in einer solch wichtigen und komplizierten politischen Angelegenheit beeinflusst. Nicht in unserer Kultur, und schon gar nicht in diesem primitiven Volk von Sündern. Es gibt nichts, was du in Bezug auf Odo ausrichten könntest; im Grunde betrifft dich die ganze Angelegenheit überhaupt nicht.«
»Aber?«
»Aber es gibt bereits eine Reihe von Anwärtern, die um die Nachfolge Saint-Amands in seiner Funktion als Großmeister des Templerordens buhlen. Und der lauteste von allen ist eben Gerhard von Ridefort. Er wirft all seine Beziehungen in die Waagschale, um Saint-Amand im Falle einer Hinrichtung oder langjährigen Gefangenschaft zu beerben. Man flüstert sogar, er hintertreibe die Verhandlungen um den Gefangenenaustausch, damit der Großmeister nicht freikommt und eine Neuwahl sichergestellt ist.«
Es war womöglich noch voller geworden in den Straßen, und Abbé hatte sich so sehr in Rage geredet, dass er unachtsam geworden war. Aus den Augenwinkeln gewahrte Robin eine Bewegung schräg vor dem Templer. Blitzschnell griff sie nach seiner rechten Schulter, riss ihn hart zurück und bewahrte ihn so vor einer schmerzhaften und unappetitlichen Kollision mit einer blutigen Lammhälfte, die ein muskelbepackter Muselman, ohne nach rechts oder links zu sehen, auf einen hohen hölzernen Karren beförderte. Abbé überwand seinen Schrecken schnell, schob die Scham über die eigene Unachtsamkeit mit einem schiefen Lächeln beiseite und hieß Robin, abzusitzen und sich an seiner Seite durch die in der Nähe des Marktes stetig dichter werdende Masse zu schieben. Sie tat ihm den Gefallen und beglückwünschte sich dabei im Geiste für die Entscheidung, das schwere Kettenhemd und die eisernen Rüstungsteile, die sie vor ihren Gemächern vorgefunden hatte, nicht anzulegen. Stattdessen hatte sie Letztere unter Abbés unwilligen Blicken kurzerhand am Sattelzeug ihres Pferdes festgeschnürt. Schließlich begab sie sich in den Palast des Königs, nicht in eine Schlacht. Obschon Robin sich an die sengende Hitze dieses Landes gewöhnt hatte, trug sie doch lieber nur so viel am Leib wie unbedingt nötig – was im Falle eines Ritters des Königs schon eine ganze Menge war. Mit den Rüstungsteilen jedenfalls wäre ihr ein Absitzen in den engen, menschenvollen Gassen kaum möglich gewesen.
»Und was habe ich nun damit zu tun?«, hakte Robin, die nun ihr Pferd am Zügel führte, schließlich nach. »Welche Gefahr stelle ich für Gerhard von Ridefort dar?« Sie konnte von Ridefort nicht ausstehen – spätestens seit er sie im Hauptquartier im wahrsten Sinne des Wortes vor dem König selbst bloßgestellt hatte, war alles, was sie beim Gedanken an den Templer empfand, Verachtung und Wut. Aber Konkurrenz war sie für Gerhard von Ridefort ganz gewiss nicht. Sie lebte als Frau eines Prinzen in Jerusalem und gedachte nicht, daran in absehbarer Zeit irgendetwas zu ändern; zumindest nicht aus freien Stücken. Im Grunde war es ihr egal, wer im Orden der Templer welchen Posten belegte und wie viel zu sagen hatte, denn im Endeffekt verfolgten sie ohnehin alle das gleiche Ziel – die Eroberung des Morgenlandes. Auch wenn sie noch so nachdrücklich betonten, dass sie Jerusalem selbstloserweise im Auftrag des Herrn aus den Händen der Heiden befreien wollten und alles, was sie taten, von großer Heiligkeit war.
Abbé hielt kurz inne und sah sie aufmerksam an: »Ich will dich nicht kränken, mein Kind, aber ich habe schon Hunderte Male den Tag verflucht, an dem ich dir gestattet habe, das Gewand eines Templers anzulegen. Dein Unglück resultiert aus deiner Tapferkeit.«
Nein. Mein Unglück resultiert aus deinen Gelüsten und deiner Schwäche für das Weib eines anderen Mannes. Und nicht nur meines …
Sie schob den Gedanken beiseite und behielt ihn für sich. Letzten Endes waren Abbés Sünden zwar tatsächlich die Klinge gewesen, die ihr Leben zweigeteilt hatte, aber es war nicht seine brutale Hand gewesen, die sie hindurchgetrieben hatte. Und sie wusste, dass der Templer selbst noch immer am allermeisten unter den Verfehlungen litt, die er sich damals in Ostfriesland hatte zuschulden kommen lassen.
Abbé hatte sich bereits abgewandt und setze nun an ihrer Seite den Weg durch das geschäftige Treiben zwischen den zahllosen, von farbenfrohen Tüchern überdachten Marktständen fort. »Für Gerhard mag es zwei Gründe geben, dich zu töten«, kam er auf ihre Frage zurück. Er musste fast schreien, damit sie seine Worte über all die anderen Stimmen, das Klappern und Scheppern verschiedener Behälter, das Getrampel der Füße, das Blöken der Ziegen, das Protestieren der Maultiere und nicht zuletzt über das Gebrüll der Händler hinweg verstehen konnte. »Zum einen muss er dich einfach für die Pein des Augenblicks hassen, in dem er in das offene Messer des Königs rannte, während er dich, das Bauernmädchen, eigentlich verraten, erniedrigen und von deinen vermeintlichen Vergehen profitieren wollte. Er hat nicht verkraftet, dass der König seine schützende Hand nicht nur über dich gehalten, sondern dich sogar zu seinem Ersten Ritter ernannt hat. Für Gerhard ist das der blanke Hohn. Und eine Ungeheuerlichkeit noch dazu. Und zum anderen könnte er anhand deines toten Körpers beweisen, was jetzt nur eine haltlose Behauptung wäre: dass du eine Frau bist.«
Robin zuckte die Achseln: »Er bekleidet auch jetzt schon einen hohen Posten. Warum sollte man ihm nicht glauben? Wenn er sich an mir rächen will, indem er mich seinen Brüdern vorführt – warum tut er es nicht einfach?«
Abbé ignorierte ihre Frage. Vielleicht hatte er sie zwischen dem Lärmen des Basars auch nicht gehört. Robin mochte in ihrem weiten Waffenrock und mit dem kurzen, ungekämmten Haar einen ganz passablen Jüngling abgeben, aber ihre Stimme hatte nicht die Gewalt eines jungen Mannes; vielleicht nicht einmal die eines kräftigen Knaben.
»Odo war bereits früh darüber aufgeklärt, was du bist«, fuhr er fort, »denn ich musste ihn als Großmeister des Ordens unterrichten. Deine Maskerade hat natürlich sein Missfallen erregt.« Er machte eine kurze Pause, und Robin hatte den Eindruck, dass ihn Schuldgefühle plagten. Dann aber gab er sich einen Ruck: »Deshalb konnte ich auch nicht offen für deine Befreiung eintreten, als du als Sklavin verkauft werden solltest.«
Obwohl ihr keineswegs gefiel, was sie hörte, zuckte Robin die Achseln, was Abbé mit einem dankbaren Nicken quittierte, als käme ihre Geste einem Ablassschreiben gleich. Robin seufzte. Was sie nun mit Abbés Ordenspolitik zu tun hatte, wusste sie noch immer nicht, aber Abbé schien ein Einsehen zu haben und kehrte zum Thema zurück: »Odo war mit Gerhard von Ridefort sehr vertraut. Darum war möglicherweise auch der Ordensmarschall eingeweiht. Robin, bist du dir eigentlich darüber im Klaren, wie sehr es dem Orden schaden würde, wenn bekannt wird, dass wir ein Weib in Männerkleidern in unserer Mitte versteckt hielten?«
Robin antwortete nicht. Streng genommen musste sie Abbés Frage verneinen. Trotzdem verstand sie nicht, warum von Ridefort nicht andere Sorgen haben sollte, als sich mit Rachefeldzügen gegen ein Bauernmädchen aufzuhalten. Sie sah Abbé fragend an, und dieser gab sich selbst Antwort: »Möglicherweise würde der Papst den Orden der Templer auflösen, wenn er davon erführe.«
Robin schnappte nach Luft. Bislang hatte sie in der Überzeugung gelebt, dass lediglich einige wenige Menschen große Probleme bekämen, wenn ihre Maskerade aufflog – allen voran Bruder Abbé und natürlich sie selbst. Offenbar hatte sie sich getäuscht.
Abbé nickte, als hätte er Robins Reaktion vorausgesehen: »Genau so ist es. Und das allein könnte für Gerhard ein Grund sein, dich töten zu lassen. Außerdem hast du dir einen Namen gemacht. Bruder Robin, der den Alten vom Berg kennt und aus der Sklaverei der Heiden entkommen ist, ist schon fast eine Legende unter den jungen Rittern. Auch haben viele Ritter gesehen, dass keineswegs du die Niederlage bei Mardsch Ayun verschuldet hast. Und nicht zuletzt gibt es Augenzeugen dafür, wie du König Balduin das Leben gerettet hast. All das steigert deinen Ruhm. Und man weiß, dass du von mir ausgebildet und in den Orden geholt wurdest. Nun aber stehe ich an der Spitze jener Ritter, die um jeden Preis verhindern wollen, dass Gerhard zum Großmeister des Ordens wird.« Abbé hatte sich in Rage geredet und sprach mittlerweile im Duktus der Prediger, die, auf einer Holzkiste stehend und die Faust geballt, ihre Botschaften in der heißen und trockenen Luft Jerusalems verkündeten. Jetzt sah ihr Lehrmeister sie aufmerksam an: »Verstehst du, Robin? Es ist schlimm genug, dass er der Ordensmarschall ist. Er darf nicht noch mehr Macht gewinnen!«
Robin sah auf den etwas kleineren Abbé herab und nickte, ein Staunen in den graugrünen Augen. Der Templer war wirklich wütend. Das verwunderte Robin, denn schließlich handelte es sich bei einem Großteil von allem, was Abbé den Ordensmarschall betreffend gesagt hatte, doch um reine Spekulation. »Warum darf er nicht mehr Macht gewinnen?«, hakte sie deshalb nach. Schließlich ging es um eine wichtige Entscheidung, und weder Bruder Abbés noch Robins Meinung über Gerhard spielte hierbei eine Rolle.
»Warum fragst du?«, stieß Abbé entrüstet aus, als hätte sie ihn gefragt, warum man den Petersdom im Bedarfsfall nicht als Markthaus nutzen konnte. »Er ist der Untergang des Königreichs! Von Hass verblendet, ein Intrigant, ein boshafter Mensch, der jede Fähigkeit zum Denken verliert, wenn er erzürnt ist oder sein Stolz ihn blind macht. Es ist nur sechs Jahre her, dass er nach Outremer kam. Er war damals ein Nichts! Ein unbedeutender flämischer Ritter, den niemand kannte. Nicht seine Frömmigkeit hat ihn hierhergeführt, sondern das Wissen, dass er es in seiner Heimat niemals zu etwas bringen würde. Er hat sich als einfacher Ritter dem Grafen Raimund von Tripolis angeschlossen, dem damaligen Vormund unseres Königs Balduin. Die Bedingung für seinen Dienst war, dass er um die Hand der ersten geeigneten Erbin aus der Grafschaft anhalten dürfte, um selbst zu Grund und Boden und einer kleinen Burg zu gelangen. Er …«
Robin hörte nur noch mit halbem Ohr zu, während er vom Tod eines reichen Ritters aus dem Gefolge des Grafen von Tripolis erzählte, dessen Witwe Raimund von Tripolis entgegen alle Absprachen an einen Pisaner Kaufmann namens Plivano verheiratete, der dem Grafen nämlich versprochen hatte, Genannte in diesem Falle in Gold aufzuwiegen. Von Ridefort, so Abbé, habe die Dienste des Grafen darum im Zorn verlassen und sich dem Orden der Tempelritter angeschlossen. Dann aber erhöhte Abbé abermals die Intensität seiner Worte und schien zum Finale anzusetzen: »Zorn und Ehrgeiz sind die einzigen Beweggründe für Gerhards Taten! Und weil Graf Raimund nach wie vor ein enger Vertrauter des Königs ist, hasst Gerhard auch König Balduin und lässt keine Gelegenheit aus, um den Namen des Königs zu beschmutzen und zu fordern, dass das Zepter Jerusalems aus den Händen des Leprakranken genommen wird. Er hat inzwischen erreicht, dass der König die Johanniter bevorzugt. Der König hat stets das letzte Wort, wenn entschieden wird, ob einer der Orden im Heiligen Land weiten Grundbesitz oder sogar eine Burg erwerben kann. Verstehst du nun, warum Gerhard dich schon allein dafür hassen muss, dass du König Balduin das Leben gerettet hast?«
Wieder einmal hätte Robin mit Nein antworten müssen. Sie verstand den tumben Hass Gerhard von Rideforts auf König Balduin nicht. Sicherlich war er nach wie vor verärgert über den Umstand, dass man sie, Robin, die Schwiegertochter Raschid Sinans, in den Kleidern eines Ordensbruders ins Morgenland geschmuggelt hatte – und das ganz ohne sein Wissen. Doch das, auch nicht in Verbindung mit der Geschichte um den Pisaner Kaufmann, die Abbé gerade erzählt hatte, konnte nie und nimmer Grund genug sein für von Rideforts Haltung. Nun – immerhin verstand Robin jetzt, warum von Ridefort Bruder Abbé derart in Rage brachte: Mit seinem nachgerade kindischen Verhalten schadete von Ridefort nicht nur seinem eigenen Ansehen, sondern auch dem des Ordens selbst, der einen Mann wie ihn schließlich in den eigenen Reihen tolerierte. Und nicht nur das: Sein Ansehen war groß genug, um den Posten des Ordensmarschalls zu bekleiden, und seine Anhänger waren so zahlreich, dass er sich eine reelle Chance auf den Posten des Großmeisters ausrechnen konnte. Da nahm es nicht wunder, wenn König Balduin mittlerweile die den Templern seit jeher verhassten Johanniter bevorzugte. Nachdenklich glitt ihr Blick über die mit grellbunten Tüchern überdachten Verkaufsstände, an denen zahllose bunt gewandete Menschen lauthals um Speisen, Gewürze, Geschmeide, Lampen, Gefäße und Werkzeuge aus Gold, Silber und gefärbtem Glas feilschten. Der Lärm war ohrenbetäubend, aber Robin nahm ihn kaum wahr. Sie schätzte Balduin als einen verantwortungsbewussten, guten König ein, der absolut nichts tat, ohne vorher gründlich darüber nachgedacht zu haben. Und so mochte Ärger den Anstoß zu seiner Bevorzugung der Johanniter gegeben haben, aber den Entschluss hatte Balduin sicherlich wohl durchdacht – und letzten Endes gegen von Ridefort gefällt. Dennoch war Robin sich nicht sicher, was mit Bruder Abbé oder ihr geschah, wenn Gerhard dafür sorgte, dass der König nicht mehr bestreiten konnte, dass er um ihre wahre Identität wusste. Dabei war sie fest davon überzeugt, dass König Balduin niemanden für ihrer beider Vergehen zur Verantwortung ziehen würde, der nicht auch tatsächlich Verantwortung dafür trug. Aber Abbé hatte sich mittlerweile in Rage geredet: »Verstehst du jetzt, wie groß die Gefahr ist, in der du …«
»Nein«, unterbrach Robin ihn und registrierte mit Erstaunen, dass er diesen kleinen Ungehorsam nur mit einem Nicken quittierte. »Nein, das verstehe ich nicht, Bruder Abbé. Bis vor wenigen Stunden bestand die einzige Gefahr, der ich ausgesetzt war, darin, an einem saftigen Stück Hammelfleisch zu ersticken oder in einem Badezuber einzuschlafen und zu ertrinken. Ich bin das Weib des Prinzen Salim. Die Schwiegertochter des Alten vom Berge. Kann man hierzulande in größerer Sicherheit sein?«
»Ja, mein Kind. Das kann man durchaus«, antwortete Bruder Abbé düster. »Zum Beispiel dann, wenn man nicht in der Verkleidung eines Tempelritters an der Seite des Mannes hierhergekommen ist, den von Ridefort neben König Balduin vielleicht am allermeisten hasst. An meiner nämlich.«
Robin öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Abbé brachte sie mit einer unwilligen Geste zum Verstummen. »Deine Assassinen-Freunde sind zweifellos einflussreich und gefährlich, Robin, aber auch sie sind nicht allmächtig. Niemand kann dich noch beschützen, wenn von Ridefort eine Version deiner Geschichte ausplaudert, in der einzig du, ich und vielleicht Balduin von deinem Geheimnis gewusst haben und verantwortlich für deine Maskerade waren. Er wird nichts unversucht lassen, um mir zu schaden, und riskiert in seinem Größenwahn damit womöglich den Fortbestand des ganzen Ordens. Neben all denen, die dir in diesem Land schon darum nicht gerade wohlgesinnt sind, weil du eine Christin bist, wirst du dich vor deinen eigenen Brüdern fürchten müssen – ganz gleich, ob sie den Templern, Johannitern oder einem beliebigen anderen Orden angehören. Die Wahrheit um deine Identität würde sie aufs Ärgste erschüttern, und selbst jene, die den jungen Bruder Robin um all seine Heldentaten bewundert haben, würden ihre bodenlose Enttäuschung in Hass umwandeln. Sie würden dich suchen und finden, Robin, glaub mir. Sie würden dich vor ein Gericht stellen, das nur den Tod über dich verhängen kann – wenn sie dich nicht gleich zerfleischen wie abgerichtete Bluthunde.«
Anstelle einer Erwiderung stahl sich ein trotziges Funkeln in Robins Augen. Tatsächlich fühlte sie sich an Salims Seite, an der sie den persönlichen Schutz keines Geringeren als den Sheik Sinans, des Alten vom Berge selbst, genoss, so sicher wie zuletzt als kleines Mädchen in den Armen ihrer Mutter. Was Abbé ihr für den Fall eines Verrats durch von Ridefort prophezeite, mochte der Wahrheit entsprechen. Und doch war Robin überzeugt, dass nichts und niemand ihr gefährlich werden konnte, solange die Hashashin über sie wachten. Sicherlich taten sie es auch jetzt, während sie und Abbé den Basar endlich hinter sich ließen und erneut aufsaßen, um das letzte Stück zum Palast des Königs im Herzen von Jerusalem möglichst zügig zu bewältigen. Robin musste die schattenhaften Krieger Sheik Sinans nicht sehen – sie wusste, dass sie da waren. Sie waren immer überall, und in besonders großer Zahl dort, wo jemand dem Assassinen-König am Herzen lag. Und Robin zählte zu diesen Menschen, auch wenn ihr die Gewissheit, unter ständiger Beobachtung zu stehen, nicht immer angenehm war.
Auf der anderen Seite, so überlegte sie, konnte sie sich nicht sicher sein, ob ihr nicht doch im nächsten Augenblick ein beliebiger scharfkantiger Gegenstand von hinten durch die Rippen getrieben oder sie sonst wie mit Gewalt zu Fall gebracht werden würde. Wollte sie es wirklich darauf ankommen lassen? Ihre Sicherheit nicht länger in den eigenen Händen wissen, sondern in die Hände Dritter legen?
Vielleicht.
Natürlich war ihr neues Leben nicht gerade ein abenteuerliches, und gewiss vermisste noch immer ein Teil von ihr jene Abenteuer ungewissen Ausgangs, die seit Verlassen ihres Dorfes ihr Leben geprägt hatten. Aber sie konnte auch nicht leugnen, dass sie erwachsener geworden war, sich sogar zunehmend mit ihren ehemals so unbestechlichen moralischen Werten anlegte. Rückblickend war Robin längst nicht mehr überzeugt, ob sie alles, was sie in den vergangenen Jahren getan hatte, noch einmal genau so auf sich nehmen würde – ganz gleich, wie rein ihr Gewissen währenddessen gewesen war. Vielleicht hatte sie zu viel – und vor allem zu viel unschuldiges – Blut fließen sehen, um den gewissenhaften, mutigen Weg immerfort dem einfachen, sicheren vorzuziehen. Vernunft und Bequemlichkeit ließen sich unter Salims Dach so einfach miteinander verbinden, und nach langer Zeit voller Entbehrungen und Qualen war sie in den vergangenen Monaten an der Seite des Assassinen-Prinzen endlich wieder gewesen, als was Gott sie erschaffen hatte: eine Frau. Eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen, die die Vorzüge samtweicher Stoffe, Sauberkeit, wohlriechender Bäder und Tinkturen und abwechslungsreicher Speisen mehr und mehr zu schätzen lernte und auch die starken Hände eines Mannes nicht mehr mit Füßen trat, wenn sie sich ihr an der richtigen Stelle anboten. Sie lächelte und fügte in Gedanken hinzu: zumindest, solange dieser Mann keinen Dank dafür erwartete, dass er ihr abnahm, was sie durchaus allein zu bewältigen in der Lage gewesen wäre.
Ja, die Bequemlichkeit hatte sich in ihr Leben eingeschlichen. Und doch lebte sie den Luxus der Müßigkeit guten Gewissens und trug nebenbei Sorge dafür, dass selbst ihre Dienerinnen besser lebten als die Frauen mittelständischer Bauern und Handwerker in ihrem Heimatland. Und gewiss, so frohlockte nun eine leise Stimme in ihrem Inneren, fand sich irgendwann auch noch ein Wässerchen gegen den Schwelbrand der Langeweile, welcher an den Zipfeln der seidenen Kissen nagte, in die Salim sie zu betten pflegte wie einen besonders empfindsamen Schatz. Irgendeine sinnvolle, abwechslungsreiche Beschäftigung, die niemandem schadete und niemandem wehtat und für die sie sich vor niemandem verkleiden und vor nichts davonlaufen musste. Irgendetwas Normales und … Robin schüttelte unwirsch den Kopf. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, glaubte sie der Stimme kein Wort.
ENDE DER LESEPROBE