Die Töchter des Drachen/Der Thron der Libelle - Wolfgang Hohlbein - E-Book
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Die Töchter des Drachen/Der Thron der Libelle E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Der legendäre Drachen-Zyklus als Doppelband!

In "Töchter des Drachen" strebt Talianna nach Rache für den Tod ihrer Eltern, die vor zwanzig Jahren starben, als Drachen ihr Dorf in Schutt und Asche legten. Nun zieht sie aus, um die grausamen Drachen zu finden. Ihre gefahrvolle Reise führt sie durch eine verwüstete Welt, in der jeder Schritt tödliche Gefahren birgt, zu einem Bund mysteriöser Drachenkriegerinnen.

In "Der Thron der Libelle" gehört Kara viele Jahre später zu diesem legendären Kriegerinnenbund, welcher die Menschen vor den Angriffen feindlicher Drachen schützt. Schon lange gab es keine Übergriffe mehr, aber die Ruhe trügt. Schelfheim, die große Stadt am Schlund, versinkt plötzlich im Abgrund. Kara und ihre Drachenkrieger wollen das Rätsel lösen und steigen in die riesigen Höhlen unter der Stadt hinab.

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Seitenzahl: 1789

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

DIE TÖCHTER DES DRACHEN

PROLOG

1. Kapitel Talianna

2. Kapitel Der Turm

3. Kapitel Schelfheim

4. Kapitel Karan

5. Kapitel Der Schlund

6. Kapitel Der Drachenfels

EPILOG

DER THRON DER LIBELLE

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Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, am 15. August 1953 in Weimar geboren, lebt mit seiner Frau Heike und seinen Kindern in der Nähe von Neuss, umgeben von einer Schar Katzen, Hunde und anderer Haustiere.Er ist der erfolgreichste deutsche Autor der Gegenwart. Seine Romane wurden in 34 Sprachen übersetzt.

Wolfgang Hohlbein

DIE TÖCHTERDES DRACHEN

DER THRONDER LIBELLE

Zwei Romane in einem Band

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © Nick DeligarisUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3837-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Wolfgang Hohlbein

DIE TÖCHTERDES DRACHEN

Fantasy-Roman

PROLOG

Die Mauer ragte schwarz gegen den Nachthimmel auf, nicht mehr als ein Schatten, dessen Umrisse die Sterne auslöschten, die wie kleine blankpolierte Augen am Firmament standen; ein finsteres Loch, das jemand in den Himmel gestanzt hatte.

Sie war verbrannt.

Die Nacht roch nach Hitze. Nach warmem Stein und glühender Erde und anderen, unangenehmeren Dingen, die das Kind zu erkennen sich weigerte.

Manchmal trieb der Wind fette schwarze Qualmwolken über die zerbröckelte Krone der Mauer. Wenn sie an den Sternen vorbeizogen, dann war es für das Kind, als würden sie ihm zublinzeln, wie kleine, sehr weit entfernte und sehr teilnahmslose Augen. Früher einmal waren diese Augen seine Freunde gewesen. Früher, als die Nacht noch sein Freund gewesen war.

Jetzt hatte es keine Freunde mehr. Seine Freunde – aber auch seine Feinde – waren tot, gestorben in der flammenden Hölle, die die Mauer geschwärzt hatte, zusammen mit der Stadt, der sie ein Versprechen auf Schutz gab, das sie nicht eingelöst hatte.

Das Kind hatte Angst.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte es wirkliche Angst. Nicht die Angst vor der Dunkelheit, nicht die Angst vor den Dingen, die in den Geschichten der Erwachsenen erstanden und hinterher, wenn die Worte längst verklungen waren, düsteres Leben gewannen und manchmal in seine Träume gekrochen waren, nicht die Angst vor einem Tier, das beißen und kratzen konnte, nicht die gestaltlose Angst, die nur Kinder kennen. Es hatte Angst vor etwas, wofür in seinem bisher kaum zehn Jahre währenden Leben nicht einmal Raum gewesen war, vor einem Wort, das sie gekannt, das aber keine wirkliche Bedeutung gehabt hatte: vor dem Tod.

Das Mädchen fror, während es so dastand und die brennende Stadt ansah, obwohl es noch immer heiß war. Seit es aus den Felsen gekrochen war, zwischen die es sich gepresst hatte, zitternd, zuerst schreiend vor Angst und später lautlos in sich hineinschluchzend, mussten Stunden vergangen sein. Der Abend war jung gewesen, als es die Stadt verlassen hatte, und als sich das erste Grau der Dämmerung am Horizont zeigte, hatte es sich auf den Rückweg gemacht, der nicht sehr weit war.

Der Tod war schneller gewesen.

Die Stadt hatte nicht sehr lange gebrannt, denn das Feuer war heiß gewesen, so ungeheuer heiß, dass sie seinen glühenden Atem selbst auf der anderen Seite der gigantischen Mauer gespürt hatte, ja, selbst noch zwischen den zehnfach mannshohen Findlingen, in deren Schutz es geflüchtet war, blind, halb wahnsinnig vor Angst und Verwirrung, wie ein Tier, das ganz instinktiv in ein Erdloch kriecht, wenn es die Gefahr spürt. Trotzdem hatte sie die grausame Hitze gefühlt, die vom Himmel gefallen war. Alles, was in der Stadt brennen konnte, musste in den ersten Minuten zu Asche zerfallen sein.

Seitdem stand es hier, ein dunkelhaariges Mädchen von nicht einmal zehn Jahren, das noch nicht ganz begriffen hatte, dass es über Nacht zur Waise geworden war; mehr noch, zu einem Menschen, der vollkommen allein war, denn all seine Freunde, jedermann, den es gekannt oder gemocht oder auch gefürchtet hatte, war tot.

Es gab keine Überlebenden außer dem Mädchen. Der Tod hatte am einzigen Abend des Jahres zugeschlagen, an dem alle Bewohner der Stadt in ihren Häusern waren.

Nein – es gab keine Überlebenden. Es gab nur noch dieses Mädchen. Es war schlank, aber gut genährt, in einem Kleid, das nur eines von vielen kostbaren Kleidungsstücken gewesen war, die in seiner Kammer gehangen hatten; denn die Stadt, die vor ihm zu Asche zerfiel, war reich gewesen.

Es wusste nicht, wie lange es schon so dastand und die geschwärzte Stadtmauer angeblickt hatte, als es die Schritte hörte.

Zuerst erstarrte es vor Schreck; aber nur für einen Moment. Dann fuhr es herum, stieß einen kleinen, erleichterten Freudenschrei aus und lief den Hang hinunter auf die Gestalt zu, die aus der Nacht getreten war.

Aber es blieb schon bald wieder stehen, denn als es näher kam, sah es, dass es eine Fremde war.

Die Frau gehörte nicht zur Stadt. Sie war keine Überlebende wie es selbst. Sie war niemand, den das Mädchen jemals zuvor gesehen hätte. Auch ihre Kleidung war sonderbar – schwarzes, im farbenfressenden Dunkel der Nacht matt glänzendes Leder, das sich wie eine zweite, sehr eng anliegende Haut an ihren Körper schmiegte. Sie war sehr groß, und, soweit das Mädchen dies erkennen konnte, sehr schön, und ihre sonderbare Kleidung ließ erkennen, dass sie schlank, aber von jener drahtigen Sportlichkeit war, die große Kraft und noch größere Gewandtheit verriet. Das Mädchen konnte nicht sagen, wie alt sie war. Sie mochte dreißig sein, aber genauso gut auch fünfzig oder mehr, und es machte auch keinen Unterschied; denn für das Mädchen, das mit seinen zehn Sommern noch nicht gelernt hatte, mit Lebensjahren zu rechnen und krämerisch damit zu geizen, gab es ohnehin nur drei Altersgruppen, die von Belang waren: seine eigene, die der Erwachsenen, und die der Alten. Alt war die Frau nicht.

Sehr lange standen sich die beiden gegenüber, das Mädchen starr vor Schreck und hin und her gerissen zwischen der Angst und dem Impuls, einfach davonzurennen und sich in den Felsen zu verkriechen, die ihm schon einmal Schutz gewährt hatten, und dem immer stärker werdenden Wunsch, das zu tun, was Kinder in einer Situation wie dieser wohl tun würden – zu dieser Fremden hinüberzulaufen und sich an ihre Brust zu werfen, sich einfach fallen zu lassen in dem sicheren Bewusstsein, in der Nähe einer Erwachsenen zu sein und damit unverwundbar. In Sicherheit.

Aber die Menschen in der verbrannten Stadt waren auch Erwachsene gewesen. Und sie waren tot. Zusammen mit ihren Kindern, die sich im letzten Moment noch an die Rocksäume ihrer Mütter geklammert haben mochten. Und die Frau war eine Fremde.

Nach einer Ewigkeit brach die Fremde das Schweigen. Sie trat auf das Mädchen zu – nur einen Schritt, um es nicht zu erschrecken –, ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus. Das Mädchen blickte diese Hand an – sie steckte in einem schwarzen, hauteng anliegenden Handschuh – und sah dann ins Gesicht der Fremden. Es rührte sich nicht.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Kind«, sagte die Frau. »Ich tue dir nichts.«

Das Mädchen antwortete noch immer nicht, aber es lief auch nicht davon, als die Fremde die Hand ein wenig weiter ausstreckte und es am Arm ergriff. Das Leder auf ihrer Haut war kalt und glatt und fühlte sich sehr unangenehm an. Wie Schlangenhaut.

»Das war deine Stadt, nicht wahr?«, sagte die Fremde.

Das Mädchen nickte.

»Bist du … die einzige Überlebende?«

Wieder nickte das Mädchen. Es spürte, dass die Frau eine Antwort von ihm erwartete, aber es konnte nicht sprechen. Vielleicht würde es nie wieder sprechen können.

»Und jetzt bist du traurig«, sagte die Fremde. Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung, leise und sachlich, und nur mit einer ganz sachten Spur von Mitleid. »Du bist traurig und hast Angst und bist verzweifelt und zornig, und du würdest am liebsten ein Schwert nehmen und dich auf die Suche nach denen machen, die für das alles verantwortlich sind. Aber das wird nicht gehen. Du bist ein Kind.«

Sie stand auf als hätte sie damit alles gesagt, blickte einen Moment mit starrem Gesichtsausdruck zu der verkohlten Stadt hinauf und setzte sich dann neben dem Mädchen ins Gras. »Setz dich, Kind«, sagte sie.

Das Mädchen gehorchte. Was sollte es anderes tun? Es konnte nicht weglaufen, denn es gab nichts mehr, wohin es laufen konnte. Es hatte niemanden mehr. Vielleicht gehörte es jetzt dieser Frau, wie etwas, das sie am Wegesrand gefunden hatte. Der Gedanke irritierte das Mädchen, aber er erschreckte es nicht sonderlich. Es war gut, jemandem zu gehören.

»Willst du mir nicht deinen Namen verraten, Kleines?«, fragte die Frau.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es hatte ein bisschen Angst, dass die Fremde darüber in Zorn geraten würde, aber sie lächelte bloß, lehnte sich ein wenig zurück und stützte ihr Körpergewicht mit den Ellbogen ab.

»Ich kann dich nur zu gut verstehen, mein Kind«, sagte sie leise, eigentlich mehr zu sich selbst gewandt. Ein sonderbar trauriges Lächeln huschte über ihre Züge, aber das Mädchen glaubte nicht, dass es seine Bedeutung wirklich verstand.

»Ich habe noch Zeit«, sagte die Fremde plötzlich. »Wenn du willst, erzähle ich dir eine Geschichte.« Sie sah das Mädchen an, lächelte. »Willst du?«

Das Mädchen nickte.

1. KAPITELTalianna

1

Das Dorf lag in der Biegung des Flusses, ein Stück schwarzer Kohle, das von einem silber-blau-grün gefleckten Band zu zwei Dritteln umschlungen wurde und während der letzten Jahre begonnen hatte, in die einzige Richtung zu wuchern, die ihm blieb.

Das hieß – nicht ganz.

Ein paar Häuser, erbaut von besonders mutigen – oder besonders dummen – Menschen, ragten ein Stück in den Fluss hinein, auf Stelzen stehend, wie verschmorte fette Störche mit zu vielen Beinen oder wie steinerne Schwalbennester unter die Biegung der zerborstenen Brücke geklebt. Einstmals hatte es einen Namen gehabt, dieses stolze, reiche, verbrannte Dorf, das heißt, sogar mehrere: Manche hatten es Lybary genannt, ein Wort aus der Sprache der Ureinwohner dieses Teiles der Welt, die hiergewesen waren, ehe die Menschen kamen, und dessen Bedeutung niemand kannte. Andere – später – hatten es Grünau getauft: ein Name, der absolut nicht passte, aber hübsch klang. Beide Namen waren im gleichen Maße verloren gegangen, in dem die Menschen hier am Fluss die Kraft zu entdecken begannen, die der große silberne Strom mit sich brachte, und sie nutzten; im gleichen Maße, in dem die strohgedeckten Hütten schweren, steinernen Häusern mit schwarzen Schieferdächern wichen, Dächern, über denen gewaltige rauchende Schlote die Geheimnisse verrieten, die unter ihnen schlummerten.

Als die Bewohner Lybarys oder Grünaus damit begannen, Eisen zu machen, war die Stadt hässlich geworden, zu hässlich für einen so wohlklingenden Namen wie Lybary oder gar Grünau – grün waren schon bald allenfalls die Abwässer, die aus den neuerdings kanalisierten Häusern in den Fluss strömten; denn ihre Bewohner schmolzen nicht nur Eisen und Stahl und nach und nach andere Legierungen, sondern aßen und tranken und atmeten – freilich ohne es zu wissen – auch ein gut Teil dessen, was eigentlich in ihren Schmelztiegeln sein sollte. Wenn sie es überhaupt wussten, scherten sie sich nicht darum; allenfalls wunderten sie sich vielleicht, dass die Alten im Dorf nicht mehr ganz so alt wurden wie früher, und dass es mehr Krankheiten gab. Aber die Stadt wurde reich, reich und hässlich und immer größer, und bald bekam sie einen neuen Namen: wer immer im Lande von ihr sprach, nannte sie Stahldorf, und irgendwann übernahmen ihre Einwohner diesen Namen, wenn auch nicht für lange.

Er war verbrannt.

Zusammen mit der Stadt.

In einer einzigen Nacht voller schlagender schwarzer Schwingen und gellender Schreie und Feuer, das vom Himmel regnete und tausendmal heißer war als die Glut der Essen unten auf der Erde, war er verkohlt, zu Asche und Staub und heißem Schlamm geworden, den der Fluss forttrug, das Werk von drei Generationen dahin in einer einzigen Nacht. Die großen Quader aus rostrotem Roheisen waren ein letztes Mal geschmolzen, sodass sie jetzt über großen Teilen des Ruinendorfes ein Leichentuch aus poröser Schlacke bildeten. Die Hoffnungen und Träume von Reichtum und Macht waren verdampft wie die Gehirne, die sie geträumt hatten, und das Gold, das überreichlich gegen scharfgeschliffenen Stahl getauscht worden war, war in den Händen seiner Besitzer weich geworden und zu Boden getropft wie schimmernde Tränen.

Zumindest hatte Stahldorf – das früher einmal Grünau und noch früher Lybary geheißen hatte und das man morgen vielleicht Brandstadt nennen würde – ein Ende gefunden, das seinem kurzen Aufblühen angemessen gewesen war.

Die Vernichtung war vollkommen gewesen, eine schwarze Götterfaust, die mit der Nacht gekommen war und deren Finger weißglühende Narben in der Erde hinterließen. Das landeinwärts, dem offenen Teil der Flussschleife zugewandte Drittel der Stadt war vollkommen zerstört. Zertrümmert, verbrannt und pulverisiert – vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge – bot es sich dar wie das flachgewalzte Innere eines Vulkanes. Wo die geschmolzene Eisendecke gerissen und die bloße Erde sichtbar war, da war sie schwarz und schimmerte, zu Glas geworden.

Das zweite Drittel der Stadt bot einen vielleicht noch schlimmeren Anblick, denn die Zerstörung war hier nicht so vollkommen. Wo die Verheerung so total war, dass sie ihre eigenen Spuren verdeckte, war auch nichts mehr, vor dem man erschrecken konnte.

Hier schon. Ein paar Mauern hatten dem Feuersturm standgehalten, hier und da durch die Laune des Zufalls ein Balken, der wie der Finger eines Ertrinkenden aus einem schwarzen Sumpf aufragte, ein Lagerschuppen, dessen Eckpfeiler und Zwischendecken dem Gewicht von Eisenblöcken angemessen gewesen war und die dem Feuersturm standgehalten hatten, der Dach und Wände fortblies. Wie zum bösen Spott sogar ein Dach, auf dem noch die Hälfte eines Kamins stand, dessen Außenseite jetzt so schwarz war wie die innere. Oder ein schwarzes Etwas, das wie ein zusammengekauerter Mensch aussah, die Arme über den Kopf geschlagen, aber gänzlich mit Eisen bedeckt, wie eine schreckliche Skulptur.

Im letzten Drittel der Stadt schließlich standen Ruinen, grau überpudert mit Staub und Asche. Hier und da brannte es noch, und hier und da ragte ein Knochen aus der heißen Asche. Die dem Land zugewandten Teile der Stadt hatten die schlimmste Wut des Feuersturms gebrochen, der mit den tief heranrasenden Bestien aus der Nacht gekommen war.

Hier war das Feuer nur noch Feuer gewesen, keine Höllenglut mehr, die Eisen verdampfte und Stahl zum Schmelzen brachte. Die Bewohner dieses Stadtteils – wie durch eine der kleinen Gehässigkeiten, die das Schicksal so gerne und reichlich verteilte, waren es die reichsten und angesehensten Bürger Stahldorfs gewesen – hatten nicht das Glück gehabt, nicht mehr zu spüren. Sie hatten das Rauschen der gewaltigen schwarzen Schwingen gehört und die Flammen gesehen und die Schreie vernommen, die bald darauf zu ihren eigenen geworden waren. Der Damm aus Häusern, der die Springflut aus Feuer und Tod gebrochen hatte, hatte ihnen ein qualvolleres Ende beschert. Sie hatten ihr Sterben miterlebt. Manche hatten sogar noch Zeit gefunden, aus ihren Häusern zu rennen und in den Fluss zu springen, Rettung erhoffend in der kochenden Flut. Ihre Leichen mussten jetzt, als die Sonne aufging, schon Meilen entfernt sein.

Es gab auch Überlebende: in den Kellern, in den toten Winkeln unter schwarz gewordenen Fensteröffnungen hinter mächtigen Blöcken von Roheisen und Stahl. Ein paar von ihnen hatten sogar noch die Kraft, nach jemandem zu schreien, der ein Messer nehmen und sie von ihren Leiden erlösen möge. Aber nicht sehr viele.

Das war es, was Talianna sah, als sie an diesem Morgen aus dem Wald trat und auf ihre Heimatstadt herabblickte.

Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie blickte auf. Für einen Moment klammerte sie sich an den wahnsinnigen Gedanken, dass es ihre Mutter sein könne, die wie sie ein Versteck im Wald gefunden hatte und nun kam, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung und sie am Leben sei. Aber es war nicht das schmale, vom Alter und Eisenstaub grau gewordene Gesicht ihrer Mutter, in das sie blickte, es waren Gedelfis verhärmte Züge, eingerahmt von weißem Haar, in dem jetzt Schmutz und Tannengrün und ein Rest von dem Morast klebte, in den er gestürzt war, als er hinter ihr aus dem Stollen gekrochen war.

Nur seine Augen – das waren nicht die blinden Augen Gedelfis, die erloschen waren, ehe die Taliannas zum ersten Mal einen Sonnenaufgang sahen, sondern die ihrer Mutter, dunkel und groß und von winzigen Fältchen umgeben, die davon kamen, dass sie so gerne lachte. Aber nur für einen Augenblick; dann wurden sie wieder zu den weißen matten Kugeln, die in Gedelfis Gesicht glänzten. Und als Talianna den Kopf wandte und seine Hand anblickte, die schwer und narbig auf ihrer Schulter lag, sah sie, dass auch seine Fingernägel blutig waren.

»Weine ruhig, Kind«, sagte der alte Mann – es klang wie die Stimme ihrer Mutter, aber mit der klaren, fast überpräzisen Aussprache, die sie von Gedelfi kannte. »Weine ruhig«, sagte er noch einmal. »Es wird dir helfen.«

Talianna weinte nicht.

Aber nach einer Weile wandte sie sich gehorsam um, dem sanften Druck seiner alten Hand folgend, und ging neben ihm her den Hang hinab, über die mit Asche bedeckte Wiese und auf die in den Boden eingeschmolzene Grenze der Stadt zu, ein blinder Mann und ein Kind, das ihn führte.

Aber in diesem Moment sah das Kind so wenig von dem Schrecken, der sich vor ihnen ausbreitete, wie er.

Sie sah Drachenschwingen, die die Nacht peitschten.

2

Die Asche war noch warm und der Boden darunter so heiß, dass sie es durch die dünnen Sohlen der Sandalen hindurch spüren konnte. Ihre Schritte ließen kleine graue Staubwölkchen wie winzige Explosionen hochwirbeln, und in der Luft lag ein Geruch, den das Mädchen niemals im Leben wieder vollkommen vergessen sollte.

Sie hatte den am schlimmsten zerstörten Teil der Stadt umgangen, nicht aus Furcht oder Pietät, sondern einfach aus der praktischen Überlegung, dass der alte Mann an ihrer Seite auf dem zu spiegelglattem Glas erstarrten Boden unter der Asche ausgleiten und sich verletzen mochte, und jetzt hatten sie den Fluss erreicht. Sein Wasser war warm. Grauer Dampf stieg von seiner Oberfläche hoch und berührte ihr Gesicht mit der unangenehmen Klebrigkeit von Spinnweben. Hier und da schienen sich kleine Nester von Glut und Hitze unter seiner Oberfläche gehalten zu haben; denn an manchen Stellen kochte es regelrecht. Schwarze Schlieren tanzten auf den Wellen. Und manchmal trug die Strömung formlose, dunkle Brocken heran; ab und zu auch etwas Größeres, das sie nicht erkennen konnte und wollte.

»Wo sind wir?«

Gedelfis Stimme klang brüchig; so morsch wie die dünne Kruste, über die sie gingen, und ebenso in Gefahr, jeden Moment einzubrechen. Die Hand, die auf Taliannas Schulter lag, bewegte sich nicht, aber anders, als sie es gewohnt war, war ihr Griff beinahe schmerzhaft fest, nicht mehr leicht und freundlich.

So lange sie denken und laufen konnte, war es ihre Aufgabe gewesen, den blinden alten Mann zu führen, und die Berührung seiner rissigen Haut war ihr so vertraut, als wäre es ein Stück von ihr selbst. Aber immer war sein Griff sanft und irgendwie dankbar gewesen, weil sie es war, die ihn vor Schaden bewahrte und ihm die Augen ersetzte, die er nicht mehr hatte. Jetzt klammerte er sich an ihr fest; mit der verzweifelten Kraft eines Menschen, der wusste, dass er in einen Abgrund stürzen musste, wenn er seinen Halt losließ. Es tat weh.

»Wo sind wir, Talianna?«, fragte Gedelfi noch einmal, als sie nicht antwortete.

»Am Fluss«, sagte sie hastig. »Am …« Sie stockte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich rissig und heiß waren und schmerzten, und begann von neuem. »An der Stelle, an der das Waschhaus stand.«

»Ist es zerstört?«

Talianna schüttelte den Kopf. Ihr Haar glitt dabei über den Handrücken des Alten, sodass er die Bewegung spürte. »Nein«, sagte sie. »Es ist fort.«

»Fort.« Gedelfi wiederholte das Wort mit dem sonderbaren Schmatzlaut, mit dem alte Menschen manchmal reden. Aber es war eher, als prüfe er seinen Geschmack. »Fort.«

Talianna nickte. Das Waschhaus, halb auf dürren Stelzbeinen in den Fluss gebaut, sodass sich die Frauen auf seinen durchbrochenen Boden knien und ihre Wäsche waschen konnten, war eines der wenigen nicht aus Stein erbauten Häuser Stahldorfs gewesen, und so waren nicht einmal Ruinen geblieben. In der warmen Asche am Ufer waren noch die Schemen seines Grundrisses zu erkennen, und dicht unter den sprudelnden Fluten standen die abgesenkten Stümpfe seiner Stützen, aber das war alles. Der Feuersturm musste es pulverisiert haben; vielleicht hatte er es wie ein trockenes Blatt zur Gänze angehoben und in der Luft zerrissen; vielleicht war es auch einfach in den Fluss gestürzt und davongeschwemmt worden. Es blieb sich gleich.

Talianna verstand für einen Moment selbst nicht, warum sie das Schicksal dieser unbedeutenden Bretterbude so interessierte, bis sie begriff, dass da wohl irgendetwas in ihrem Bewusstsein war, was nicht wollte, dass sie darüber nachdachte, was mit dem Rest der Stadt geschehen war. Wäre sie allein gewesen, hätte sie wohl spätestens an dieser Stelle kehrtgemacht und die Stadt verlassen.

Aber sie war nicht allein. Gedelfi, dessen Auge sie war, war bei ihr, und hinter sich hörte sie die Schritte und Stimmen der anderen, die nach und nach den Hügel herabgekommen waren. Den Blinden und sie mitgerechnet, waren sie elf, die sich in dem aufgelassenen Minenschacht verkrochen hatten, als der Feuerregen begann, elf von mehr als dreitausend. Ein jämmerlicher Haufen Verlorener, zu dem nicht einmal mehr das Wort Überlebende gepasst hätte. Überleben bedeutet Weiterleben, und Weiterleben hieß vielleicht Hoffnung und ein neuer Anfang – oder wenigstens den Versuch dazu. Nichts von alledem war ihnen geblieben. Sie lebten, das war alles.

Erneut wunderte sich Talianna über sich selbst, über die Gedanken, die plötzlich in ihrem Kopf waren und die sie noch vor wenigen Stunden nicht einmal verstanden hätte. Und mit der gleichen sonderbaren Klarheit, mit der sie sie jetzt begriff, begriff sie plötzlich auch, dass sie in der endlosen schwarzen Feuernacht im Bauche der Erde mehr verloren hatte als ihre Heimat und ihre Familie. Der fliegende Tod hatte sie verschont, aber sein Feuer hatte ihr etwas genommen, was sie noch gar nicht gehabt hatte, jedenfalls nicht genug, und was sie nun auch nicht mehr haben würde.

Sie war noch immer zehn Jahre alt und noch immer ein wenig zu dünn und manchmal etwas linkisch in ihren Bewegungen und ihrer Art zu reden – aber sie war kein Kind mehr. Sie dachte an ihren Vater und ihre Mutter und Rosaro, ihren um zehn Jahre älteren Bruder, an ihr Haus, das nicht zu den prachtvollsten der Stadt gehört hatte, aber auch ganz und gar nicht zu den kleinsten, an ihre Freunde und Spielkameraden, und sie empfand – nichts.

Voller Schrecken begriff sie, dass sie ihre Fähigkeit zu trauern verloren hatte. Der Anblick der geschändeten Stadt erfüllte sie mit Entsetzen, aber es war ein Schrecken, der eher dem Erstaunen darüber entsprang, dass eine solch totale Zerstörung überhaupt möglich war.

Wind kam auf und trug grauen Staub über den Fluss. Talianna hustete, hob die linke Hand vor das Gesicht und beschirmte damit ihre Augen. Den Staub vermochte sie auf diese Weise abzuwehren, den Brandgeruch und die furchtbare schmierige Wärme nicht. Plötzlich ekelte sie sich.

»Wie … sieht es aus?«, sagte Gedelfi stockend. »Sag es mir, Talianna.«

Talianna gehorchte. Langsam, aber ohne zu stocken und mit überraschend klarer, fester Stimme beschrieb sie dem Blinden, was sie sah, jede noch so winzige Einzelheit; angefangen von der knöcheltiefen Staub- und Ascheschicht auf dem Boden über das verbrannte Mauerwerk, in das die Hitze bizarre Muster geätzt hatte, über die leeren Fenster und Türen, die wie ausgebrannte Augenhöhlen auf sie herabstarrten, und die Straßen, die mit formlos zusammengeschmolzenen Dingen vollgestopft waren; das Wasser des Flusses, das jetzt schwarz war und brodelte und eine schreckliche Fracht mit sich trug, und die Brücke, die wie ein ausgestreckter Arm über den Fluss führte, erstaunlicherweise kaum beschädigt, bis zu der Stelle, an der sie zersplittert war, die geknickten Tragbalken und Streben, gebrochenen Fingern gleich, die ins Leere griffen.

Gedelfi hörte schweigend zu. Nicht einmal sein Atem ging schneller, während Talianna ihm all die unbeschreiblichen Schrecknisse beschrieb, die sie sah, mit der klaren, präzisen Wortwahl einer Erwachsenen und der grausamen Detailfreude einer Zehnjährigen.

Erst als sie zu Ende gekommen war und schwieg, löste sich die Hand des Blinden von ihrer Schulter, und wie sie es immer tat, wenn sie Gedelfis Berührung nicht mehr spürte, drehte sie sich zu ihm um und blickte ihn an.

Sie erschrak. Gedelfis Gesicht war ausdruckslos, aber es war jene Art von Beherrschtheit, hinter der sich pures Entsetzen verbarg. Seine Hände zitterten ganz leicht. Mit einem Male kam er ihr alt vor, unendlich alt. Niemand hatte ihn jemals gefragt, wie alt er wirklich war – siebzig sicherlich, vielleicht aber auch achtzig Jahre oder mehr, und zum allerersten Male überhaupt begann Talianna zu ahnen, was diese Zahl wirklich bedeutete.

»So schlimm?«, murmelte er.

Sie nickte. Dann, als ihr einfiel, dass er die Bewegung nicht spürte, weil seine Hand nicht auf ihrer Schulter lag, sagte sie: »Ja. Es ist nichts mehr übrig. Das Dorf ist ausgelöscht.«

Gedelfi schauderte ein wenig – von ihnen allen hatte er als Erster gewusst, wie umfassend die Katastrophe war, die über das Dorf hereingebrochen sein musste. Denn während sie zitternd und schreiend vor Angst in der Schwärze des Minenschachtes gelegen und nur ein dumpfes Grollen und Beben der Erde gespürt und dann und wann Laute gehört hatten, die zwar entsetzlich, aber ohne wirkliche Bedeutung gewesen waren, hatten ihm die übersensiblen Sinne eines Blinden deutlich gesagt, was wirklich geschah.

Und dann, mit einiger Verspätung, begriff Talianna, dass Gedelfis Schaudern ihr galt.

»Was ist das, Talianna?«, fragte er. »Was geschieht mit dir?«

»Ich … verstehe nicht«, antwortete Talianna. »Was meinst du?«

Gedelfi antwortete nicht gleich. Er schwieg sogar eine ganze Weile, aber der Ausdruck von … Furcht? … auf seinen Zügen blieb, als er weitersprach: »Da ist etwas in deiner Stimme, Kind. Etwas, das vor einer Stunde noch nicht da war. Es macht mir Angst.«

»Meine Eltern sind tot«, erinnerte Talianna. »Mein Heim ist verbrannt, meine Stadt ist zerstört, und fast alle, die ich gekannt habe, sind umgebracht worden.« Plötzlich bebte ihre Stimme vor Zorn, aber es war ein kalter, eisiger Zorn, der sie fast selbst ein bisschen schaudern ließ. »Jemand ist hierhergekommen und hat all diese Leute umgebracht, und er hat alles vernichtet, was sie aufgebaut haben, und hat …« Ihre Stimme versagte, nicht vor Schmerz, sondern einfach, weil ihr die Worte fehlten, so schnell, wie sie sie hervorsprudeln wollte. Sie atmete hörbar ein.

Gedelfi schüttelte den Kopf. Seine Augen waren weit und dunkel und genau auf ihr Gesicht gerichtet, fast, als könne er sie sehen. »So spricht kein Kind«, sagte er sehr leise, aber auch sehr bestimmt.

Und plötzlich begann Talianna zu weinen: laut, krampfhaft und so heftig, dass ihr der Hals weh tat und ihren Beinen plötzlich die Kraft fehlte, sie weiter zu tragen. Sie sank auf die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos. Sie wusste nicht, warum, denn sie fühlte noch immer keinen Schmerz, nicht einmal Trauer, aber sie konnte die Tränen auch nicht zurückhalten. Und aus dem gleichen, scheinbar nicht vorhandenen Grund, aus dem sie überhaupt weinte, erleichterte es sie jetzt doch. Wenn auch nur ein ganz kleines bisschen.

Gedelfi sank neben ihr in die Hocke, streckte tastend die Hand aus, um nach einem Halt zu suchen, und legte die andere auf ihre Schulter, in der gewohnten, warmen Art, nicht einmal in dem Versuch, sie zu trösten. Irgendwann versiegten ihre Tränen, aber sie blieb weiter so sitzen, und plötzlich, und wieder, ohne dass sie wusste warum, fuhr sie herum, warf sich an die Brust des alten Mannes und klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest.

»Warum haben sie das getan?«, flüsterte sie.

Gedelfis Hand berührte ihr Haar, streichelte es sanft und fiel wieder auf ihre Schulter herab. »Ich weiß es nicht, mein Kind«, sagte er schließlich. »Manchmal geschehen Dinge aus Gründen, die wir nicht verstehen, und manchmal auch ohne Grund.«

»Aber es war so sinnlos!«, protestierte Talianna.

»Nichts ist sinnlos«, widersprach der Alte. Er lächelte, aber es war eigentlich nur ein Verziehen der Lippen, das ebensogut ein Ausdruck von Schmerz sein mochte. Oder Wut.

»Weißt du, Talianna«, fuhr er fort, »wenn ich jetzt zehn Jahre jünger wäre und mich noch für weise und erfahren halten würde, dann würde ich dir eine Menge Dinge sagen, die du nicht verstehen würdest. Ich könnte sagen, dass du nicht verzweifeln sollst oder stark sein musst, oder dass du schließlich am Leben bist und noch jung und eine gute Chance hast, noch glücklich zu werden.«

Er legte eine kleine Pause ein. Talianna grub den Kopf aus den Falten seines zerschlissenen Gewandes und sah zu ihm auf.

»Ich werde nichts von alledem sagen«, fuhr Gedelfi fort. »Es wäre nicht wahr, weißt du? Wenn du Trauer verspürst, dann trauere ruhig, und wenn du verzweifelst, dann kämpfe nicht dagegen an.«

Talianna wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Nase lief. Sie zog sie hoch, angelte nach einem Zipfel ihres Kleides und schneuzte sich lautstark.

»Es ist sinnlos, dagegen zu kämpfen«, fuhr Gedelfi fort, nach einer neuerlichen langen Pause, als hätte er Zeit gebraucht, sich die Worte zurechtzulegen, vielleicht auch neue Kraft zu sammeln. »Es ist das Schicksal, weißt du? Es ist schrecklich und ungerecht und mag dir sinnlos erscheinen, aber es ist hunderttausendmal geschehen, seit es Menschen gibt, und es wird hunderttausend weitere Male geschehen, solange die menschliche Rasse besteht.«

Talianna verstand nicht, was Gedelfi meinte. Einen Moment lang überlegte sie, ob in seinen Worten vielleicht ein Sinn verborgen war, den sie nicht erkannte. Aber vielleicht war er auch einfach nur alt und redete den Unsinn, den alte Menschen manchmal redeten; und mit der Überzeugungskraft, mit der sie es taten. Trotzdem fragte sie: »Warum tut es dann so weh, Gedelfi?«

»Weil es uns zeigt, dass wir verwundbar sind«, antwortete der Blinde. »Weißt du, Kind, es ist so einfach, dass es vielleicht gerade deshalb die meisten niemals erkennen. Die Welt ist voller Unglück, aber weil sie so groß ist und es so viel Leid gibt –« Er lachte schrill. »– stößt der allergrößte Teil dieses Unglückes nun einmal anderen zu. Und das macht uns stark.«

»Stark? Wieso?«

Gedelfi nickte. »Weil es anderen geschieht und nicht dir. Du fühlst dich sicher, weil du lebst, wenn neben dir ein anderer im Sumpf ertrinkt. Dein Haus kann nicht brennen, weil es das deines Nachbarn war, das der Blitz traf, und du bist auch gegen Verletzungen gefeit, weil nicht du, sondern dein Bruder von Wölfen angefallen und zerrissen worden ist. Natürlich«, fügte er mit einem leisen, nicht sehr humorvollen Lachen hinzu, »weißt du ganz genau, dass das nicht stimmt, denn du hast ja Verstand und kannst dir an deinen zehn Fingern abzählen, dass du irgendwann einmal an der Reihe bist. Und trotzdem glaubst du es nicht. Bis es dich dann trifft.« Er seufzte. »Das ist es, was weh tut, Kind. Es ist nicht Liebe, wenn sie an den Gräbern ihrer erschlagenen Männer weinen. Es ist Angst. Angst und Zorn, weil ihnen etwas weggenommen wurde. Du weinst um diese Stadt und deine Eltern und Freunde, und du denkst, es wäre Trauer, und solange du das denken willst, tu es ruhig. Aber es ist nicht wahr. Du weinst, weil sie dir weggenommen wurden. Weil man dir etwas genommen hat, das dir allein gehört hat, keinem sonst.«

»Ich habe meine Eltern geliebt«, widersprach Talianna heftig. Aber wieder schüttelte Gedelfi nur den Kopf.

»So etwas wie Liebe gibt es nicht«, sagte er leise. »Es gibt nur Eigennutz. Du kannst dich für einen Menschen, den du liebst, opfern, und viele haben es getan. Aber in Wahrheit tust du es doch nur, um dein Eigentum zu schützen.«

Gedelfi sprach nicht weiter, sondern wandte den Kopf und starrte aus seinen erloschenen Augen zum Fluss hinab, und Talianna dachte sehr lange über das nach, was er ihr gesagt hatte. Sie maßte sich nicht an zu urteilen, ob er nun weise oder einfach nur zu alt war – aber seine Worte hatten irgendetwas in ihr berührt, und vielleicht hatte sie plötzlich Angst vor ihm.

Sie war verwirrt. Und so hilflos und allein, wie es ein zehnjähriges Mädchen nur sein konnte, dessen Welt vor wenigen Stunden in Feuer und Rauch aufgegangen war, im wortwörtlichen Sinne. Und sie fragte sich, ob es sich lohnte, so alt wie Gedelfi zu werden, wenn dies die Erkenntnis war, die man aus einem achtzig Jahre währenden Leben zog. Trotzdem kuschelte sie sich noch enger an Gedelfis Brust, denn trotz allem war sie noch immer ein zehnjähriges Mädchen, dem nichts so viel Trost zu spenden vermochte wie die Nähe eines Erwachsenen.

»Hast du gesehen, aus welcher Richtung sie kamen?«, fragte Gedelfi plötzlich.

Talianna nickte. »Von Norden«, antwortete sie.

»Norden.« Gedelfi wiederholte das Wort, als wäre es die Bestätigung von etwas, das er längst gewusst hatte. »Waren es viele?«

Talianna schüttelte den Kopf. »Nein. Zehn … vielleicht zwölf. Ich weiß es nicht. Es war zu dunkel. Ich … konnte nicht viel erkennen. Nur Schatten und dann das Feuer.«

Ihre Stimme versagte. Gedelfis Frage und ihre Antwort ließen die Bilder vom vergangenen Abend wieder vor ihren Augen erscheinen wie bizarre Impressionen eines Geschehens, von dem sie nur einen Bruchteil erkannt hatte: die fliegenden Kolosse, die mit absurder Leichtigkeit tief über die Hügelkette herangesegelt gekommen waren, die Schwingen weit gespreizt und reglos wie die aberwitzig großer Mauersegler, dann ein ungeheuerliches Schlagen und Rauschen und schließlich Feuer, Feuer, Feuer überall. Ein sengender Blitz, der auch nach ihr gestochen hatte, in irrsinnigem Zickzack auf sie zurasend und eine Spur weiß geschmolzener Erde vor dem Waldrand hinterlassend, ehe er abbrach, zehn Schritte vor ihr und schon so heiß, dass ihr sein Gluthauch Wimpern und Brauen versengt hatte.

»Sonst hast du nichts gesehen?«, fragte Gedelfi.

Sie hatte etwas gesehen, und obwohl ihr die Erinnerung all den Schrecken und das Entsetzen brachten, die beim Anblick der verstümmelten Stadt fehlten, zwang sie das Bild noch einmal mit Gewalt vor ihre Augen. Es wäre nicht nötig gewesen, um Gedelfis Frage zu beantworten, und es tat nur weh. Aber es gehörte einfach dazu.

»Es waren … Reiter auf den Drachen«, antwortete sie.

»Reiter«, wiederholte Gedelfi. In seiner Stimme war keine Spur von Überraschung oder Unglauben. »Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, sagte Talianna.

»Also doch«, murmelte Gedelfi. Talianna verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber es war etwas in seiner Stimme, was sie frösteln ließ. Er atmete hörbar ein. »Sag es niemandem, Talianna«, fuhr er dann leise fort. »Hörst du? Niemandem. Ganz gleich, was geschieht. Das Beste wird sein, du vergisst es. Nicht nur für dich.« Das Nicken, mit dem Talianna auf seinen Rat antwortete, war zum Teil eine Lüge. Die Hälfte seiner Bitte würde sie erfüllen. Die andere nicht. Niemals.

3

Natürlich kam der Schmerz doch, später. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde er ein ganz kleines bisschen heftiger, aber gleichzeitig – und ohne dass das eine das andere irgendwie beeinträchtigt hätte – nahm auch die betäubende Leere in ihrem Inneren zu. Der Tag verging, ohne dass sie hinterher genau zu sagen gewusst hätte, wie: Stunden, in denen sie reglos am Fluss saß und mit starrem Blick ins Leere sah, wechselten mit solchen voller hemmungslos fließender Tränen und qualvollem Schluchzen und Weinen ab. Gedelfi saß die ganze Zeit bei ihr, und obwohl ihr eine dünne boshafte Stimme zuflüsterte, dass der Blinde, hilflos wie er war, ja gar keine andere Wahl hatte, redete sie sich ein, dass er geblieben war, um sie zu trösten.

Irgendwann wurde es dunkel, und kurz darauf glomm nicht sehr weit hinter ihr ein Feuer auf. Seltsamerweise war es das Prasseln der Flammen, das sie aus ihrer dumpfen Trauer riss. Obwohl es ein Laut war, der sie mit Schrecken und neuer Panik hätte erfüllen müssen, erzeugte er nur Gedanken an Wärme und Geborgenheit und Schutz in ihr.

Sie stand auf, nahm Gedelfi behutsam an der Hand und half dem alten Mann beim Aufstehen; ein Unterfangen, das gar nicht so einfach war, denn Gedelfis alte Knochen waren steif geworden vom stundenlangen Sitzen. Talianna war sicher, dass ihm die Bewegung große Schmerzen bereitete, aber er erhob sich klaglos und folgte ihr, als sie auf das Feuer zuging und die wenigen Schatten, die sich davor abzeichneten.

Es war sehr still; das Knacken und Bersten der brennenden Scheite klang sonderbar unwirklich, als wäre es der einzige Laut in einer Welt aus Stille. Niemand sprach, auch nicht, als Talianna und Gedelfi näher kamen und sich schweigend in dem Kreis erschöpfter Gestalten niederließen. Während des Tages hatten sie alle auf ihre Weise auf das Unvorstellbare reagiert, das sie gesehen hatten: die einen mit Weinen und Wehklagen, andere mit Flüchen und Verwünschungen oder beidem, und eine Frau, deren Namen Talianna nicht kannte, war stundenlang durch die verkohlten Trümmer gestolpert und hatte den Namen ihres Mannes geschrien, bis einer der anderen sie mit einem Schlag ins Gesicht zum Verstummen gebracht hatte. Jetzt aber waren sie alle in brütendes Schweigen verfallen.

Talianna registrierte mit einer Art teilnahmslosem Entsetzen, dass sie noch immer nur elf waren, und mit einem Male war sie vollkommen sicher, dass sie auch nicht mehr werden würden. Die anderen, die in blindem Entsetzen aus der Stadt und in die Minen jenseits des Flusses geflohen waren, würden nicht mehr kommen. Der Tod musste sie auch in ihrem hundert Meter tief unter der Erde liegenden Versteck erreicht haben.

Musste? Beim Schlund – sie hatte die Feuersäule gesehen, die aus dem Berg gebrochen war wie aus dem Herzen eines lavaspeienden Vulkans!

Mit dem Abend stieg ein kühler Hauch vom Fluss auf, und Talianna rutschte ein wenig näher ans Feuer heran. Absurderweise musste sie daran denken, dass heute ein Feiertag gewesen war, der höchste Feiertag Stahldorfs überhaupt, und dass sie, auch wenn es anders gekommen wäre, jetzt um ein Feuer gesessen hätten, nur nicht elf, sondern dreitausend, und nicht verstummt vor Entsetzen und Schmerz, sondern lachend und fröhlich und viele von den Erwachsenen betrunken und ausgelassen.

Einen Moment lang fragte sie sich, ob es vielleicht eine besondere Ironie des Schicksals gewesen war, dass ihr dieser Tag das Leben gerettet hatte, ihr und den anderen. Wären sie und Gedelfi und die neun anderen Männer und Frauen nicht kurz vor Dunkelwerden noch einmal in den Wald hinaufgegangen, um Dämmerpilze für das große Festessen am nächsten Tag zu sammeln, wären auch sie jetzt tot. Und ganz plötzlich wusste sie, dass es kein Zufall gewesen war.

Stahldorf war eine gewaltige Stadt gewesen – wenigstens für die Begriffe eines zehnjährigen Kindes wie Talianna –, und es gab im ganzen Jahr wohl nur einen einzigen Abend, an dem alle ihre Einwohner in den Häusern waren, in dem sie ihre Arbeit in den Minen oder am Fluss, ihre Felder und Kohlemeiler im Wald verließen und gemeinsam das Mittsommerfest vorbereiteten.

Oh ja, dachte sie bitter. Sie hatten genau gewusst, warum sie ausgerechnet an diesem Abend gekommen waren, diese großen finsteren Gestalten auf ihren gewaltigen Tieren.

Die Frau rechts neben Talianna bewegte sich. Sie sah auf, blickte Talianna und Gedelfi an und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie sah aus wie jemand, der unvermittelt aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht war. »Sie sind alle tot«, murmelte sie. Dann lächelte sie, und ihre Augen funkelten wie die einer Wahnsinnigen. »Niemand lebt mehr. Sie sind alle tot.«

Talianna erkannte sie jetzt – es war die Frau, die geschlagen worden war, weil sie stundenlang den Namen ihres Mannes geschrien hatte. Jetzt waren ihre Tränen versiegt. Ihre Stimme klang überrascht und milde verärgert. »Sie sind selbst schuld, nicht wahr? Sie haben es doch gewusst, oder nicht?« Die Frage war an niemanden gerichtet, und niemand antwortete; trotzdem richtete sie sich plötzlich stocksteif auf, sah sich mit kleinen hektischen Bewegungen um und fragte noch einmal: »Sie wussten es doch, oder?«

»Halt endlich das Maul, Weib«, murmelte der Mann, der sie schon einmal zum Schweigen gebracht hatte. Talianna wusste seinen Namen nicht, aber sie kannte ihn: in einer Stadt von dreitausend Seelen gab es kaum jemanden, den sie nicht gekannt hätte. Er war Händler gewesen und hatte ein prachtvolles Haus am unteren Ende der Straße gehabt, dort, wo jetzt nur der poröse schwarze Ozean aus Eisen die Erde bedeckte. Talianna erinnerte sich, dass er immer sehr freundlich zu ihr gewesen war, und dass sie ihn gemocht hatte, wie man einen Fremden mögen kann, den man nur vom Sehen kennt. Er war sehr groß: ein Mann von fast zwei Metern, mit den Händen eines Schmiedes und der sanften Stimme eines Priesters. Jetzt klang seine Stimme rauh seine Hände waren schwarz und blutig vom Graben in den Trümmern, und irgendeine düstere Magie hatte ihn zur Statur eines großen, buckeligen Zwerges schrumpfen lassen.

»Aber sie hat recht«, sagte Gedelfi leise. »Und du weißt es. Wir alle haben es gewusst.«

Der Mann ballte zornig die Fäuste und warf Gedelfi einen drohenden Blick zu, den der Alte natürlich nicht sehen konnte. »Du sollst schweigen!«, sagte er drohend. »Ich kann euer Gewinsel nicht mehr hören!«

Gedelfi verstummte tatsächlich, denn wenn er auch die drohende Gebärde des Riesen nicht sehen konnte, hörte er umso deutlicher den hysterischen Unterton in seinen Worten. Die Frau jedoch verstummte nicht, sondern begann im Gegenteil leise und sehr schrill zu kichern. »Wir haben es alle gewusst, Aru«, sagte sie, und Talianna erinnerte sich jetzt, dass dies auch der Name war, den sie geschrien hatte. Sie antwortete nicht auf die Worte des Riesen, sondern sprach mit ihrem toten Mann. »Es ist die Strafe der Götter. Unsere Eltern haben es uns gesagt, so wie ihre Eltern es ihnen gesagt haben. Die Alten haben gewusst, dass es geschehen würde.«

»Gewusst!« Der Riese spie in die Flammen. »Dummes Geschwätz. Die Götter! Ha! Das waren …«

»Sie haben es gewusst«, beharrte die Frau. »Und auch wir. Sie haben gewartet, weil ihre Geduld groß ist, aber jetzt sind sie gekommen und haben uns bestraft.«

»Wenn du nicht gleich das Maul hältst, werde ich dich bestrafen, blödes Weib«, sagte der Riese. Aber sein Zorn war aufgebraucht. Er sagte es in einer Art, die deutlich machte, dass er seine Drohung nicht wahrmachen würde.

Talianna hörte der bizarren Unterhaltung mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung zu. Irgendwie glaubte sie zu spüren, dass die Worte der Frau nicht nur das Gestammel einer Wahnsinnigen waren, sondern eine Wahrheit enthielt, von der sie bisher nichts gewusst hatte.

Die Götter?, dachte sie. Von welchen Göttern sprach die Frau? Es gab Dutzende von Göttern allein hier im Dorf, Tausende auf der ganzen Welt, und vielleicht hatte jeder Mensch, der überhaupt lebte, seinen ganz persönlichen Gott.

Aber Götter ritten nicht auf flammenden Drachen durch den Himmel.

4

Der nächste Morgen fand sie auf einer Ebene aus erstarrtem Eisen stehend, die Augen rot vor Müdigkeit, zitternd vor Schwäche, mit klopfendem Herzen und den Reitern entgegenblickend, die über den Hügel kamen. Im blassen Licht der Sonne, die erst zu einem Drittel über den Horizont gestiegen war, wirkten sie wie schwarze Scherenschnitte, zwei, drei Dutzend oder mehr, die sich den Hügel hinabbewegten und dabei auf breiter Front ausschwärmten.

Sie war nicht allein, denn bis auf Gedelfi und die verrückt gewordene Frau waren ihr alle gefolgt, die ihren Schrei gehört hatten, um den Männern entgegenzueilen.

Talianna hatte Angst. Es war ihr unmöglich, still zu stehen, denn der Boden unter ihren Füßen war so heiß, dass ihre Sohlen schmerzten. Unter der Decke aus erstarrtem Eisen musste noch immer Glut sein, als wäre die Erde so tief verwundet, dass sie Feuer blutete. Etwas an diesen Reitern erschreckte sie, und ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihr, dass sie mit diesem Gefühl nicht allein war.

Natürlich hatten sie auf sie – oder jedenfalls Männer wie sie gewartet. Das ungeheure Feuer musste gesehen worden sein, und die Menschen würden von überallher herbeiströmen, um zu helfen. Tatsächlich hatte sich mehr als einer während der Nacht schon gewundert, dass es so lange dauerte, bis Hilfe oder wenigstens die ersten Neugierigen eintrafen; denn die nächstgelegene Stadt lag nur einen halben Tagesritt entfernt, und tatsächlich war der Weg von dort nach Stahldorf in dieser Nacht bereits mit den Leichen derer gepflastert, die sich aufgemacht hatten, um ihnen zu helfen. Aber das ahnten weder Talianna noch einer der anderen. Nein – sie spürten nur, dass irgendetwas an diesen Reitern nicht so war, wie es sein sollte.

Es waren sehr viele, und als sie näher kamen, erkannte Talianna, dass nicht alle von ihnen menschliche Wesen waren, und längst nicht alle auf Pferden ritten. Und auch ihre Art, sich der Stadt zu nähern – auf breiter Front und langsamer, als es beim Anblick einer zerstörten Stadt und einer Hand voll Überlebender zu erwarten wäre – erinnerte Talianna auf bedrückende Weise viel eher an den Anblick einer heranrückenden Armee als eines Hilfstrupps.

Keiner von ihnen rührte sich, während die Reiter näher kamen. Etwa ein Dutzend von ihnen näherte sich der kleinen Gruppe verängstigter Menschen bis auf wenige Schritte und hielt an, während die übrigen in einer weit ausholenden Zangenbewegung die Stadt einzuschließen begannen. Die Pferde bewegten sich unruhig auf dem heißen Boden. Ihre Reiter hatten Mühe, sie im Zaum zu halten. Es roch ganz leicht nach heiß gewordenem Horn.

Talianna blickte mit klopfendem Herzen zu den Reitern empor. Die Männer waren ausnahmslos groß und von kräftiger Statur, und sie zweifelte nun nicht mehr daran, dass es eine Armee war, der sie gegenüberstanden; denn Kleidung und Waffen der Reiter waren nicht die einfacher Reisender, sondern die von Kriegern.

Die meisten trugen lange Schwerter aus Bronze oder messerscharf geschnittenem Obsidian im Gürtel, andere Äxte oder Keulen, und so mancher eine Waffe, die sie nie zuvor gesehen hatte. Obwohl sie keine Uniformen trugen und ihre Kleider ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Fellen und Leder und Stoff darstellte, ähnelten sie sich auf schwer in Worte zu fassende Weise. Irgendetwas war in ihren Gesichtern – selbst in denen der drei Nicht-Menschen, die bei dem Dutzend Reiter war –, das sie verband.

Talianna fröstelte. Die Männer machten ihr Angst.

Und sie war nicht allein mit diesem Gefühl, denn die acht Erwachsenen, die mit ihr hergekommen waren, um die Reiter zu begrüßen, schwiegen so verbissen wie sie. Niemand sprach ein Wort der Erleichterung, niemand begann zu weinen oder eilte den Männern entgegen, um sie zu umarmen – nichts von dem, was Talianna erwartet hatte, geschah. Der Anblick des Dutzends waffenstarrender Reiter allein reichte aus, ihnen allen zu sagen, dass sie Feinden gegenüberstanden.

Schließlich war es einer der Fremden, der das Schweigen brach. »Was ist hier geschehen?«, fragte er, mit einer Stimme, die in krassem Widerspruch zu seinem vernarbten Gesicht und seinen schwieligen Fäusten stand. Sie klang sehr sanft, trotz des fordernden Tones, den er in seine Worte gelegt hatte.

Niemand antwortete. Der Reiter runzelte die Stirn, schwang sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung vom Rücken seines Pferdes und maß das kümmerliche Häufchen angstzitternder Überlebender mit einem langen Blick.

Talianna sah jetzt, dass er nicht so groß war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte; was ihn so massig erscheinen ließ, war wohl eher der fellbesetzte Lederpanzer und der wuchtige Helm, den er trug. Aber er war sehr kräftig, und seine Bewegungen waren eindeutig die eines Mannes, der es gewohnt war zu befehlen.

»Was hier geschehen ist, habe ich gefragt!«, wiederholte er streng.

»Wir … sind überfallen worden«, antwortete einer der Männer. »Sie haben die Stadt niedergebrannt und alle getötet.«

»Sie?« Eine schmale Falte kroch unter dem Rand des Helmes hervor und grub sich zwischen die Augen des Kriegers. »Wer? Wie ist dein Name, Bursche, und wo sind die anderen?«

»Mein … mein Name ist Joffrey, Herr«, stammelte der Mann. Er war blass vor Furcht.

Der Krieger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Spar dir den Herren«, sagte er grob. »Mein Name ist Hraban. Meine Männer und ich –« Er machte eine Bewegung zu seinen Begleitern. »–sind Söldner, auf dem Weg nach Osten. Wir haben gehört, dass es dort Arbeit für uns gibt. Aber dieser Teil des Landes liegt mit niemandem im Krieg. Ich muss das wissen, oder?« Er schürzte die Lippen, als warte er auf eine Bestätigung, aber Joffrey schwieg weiter. »Wer also hat euch überfallen, und wo sind die anderen?«

»Wir wissen es nicht, He … Hraban«, antwortete Joffrey stockend. »Sie kamen in der Nacht, und es … es ging alles so schnell. Wir hatten uns verborgen.« Der letzte Satz klang wie eine Entschuldigung.

Hraban starrte ihn an. »Was ist mit dir los, Kerl?«, fragte er scharf. »Wir haben das Feuer gesehen und sind geritten wie die Teufel, um euch zu helfen, und ihr belügt uns?« Seine Hand klatschte auf den Gürtel herab. Er war der einzige unter den Männern, der keine Waffe trug, aber die Geste allein war eindeutig genug. Und zumindest in Taliannas Augen war es gerade seine Waffenlosigkeit, die ihn viel bedrohlicher erscheinen ließ als die anderen.

»Ich lüge nicht, Herr!«, sagte Joffrey hastig, aber Hraban schnitt ihm mit einer zornigen Handbewegung das Wort ab.

»Du willst mir erzählen, irgendjemand hätte das hier angerichtet, ohne dass ihr gesehen hättet, wer?«, meinte er mit einer Geste auf die zerstörte Stadt. Joffrey senkte angstvoll den Blick, und Hraban fuhr mit einem zornigen Laut herum und wandte sich an die Frau rechts neben Talianna.

»Und du?«, schnappte er. »Hast du auch dein Gedächtnis verloren?«

»Nein, Herr«, antwortete die Frau flüsternd. »Es ist nur, dass …«

»Es waren die Drachen«, sagte Talianna ruhig.

Hraban blinzelte, legte den Kopf auf die Seite, lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. »Was hast du gesagt, Kind?«

Eine Hand legte sich auf Taliannas Schulter, und eine Stimme sagte: »Hört nicht auf sie, Hraban. Sie ist ein dummes Kind. Der Schrecken hat ihr den Verstand verwirrt.«

»Mir scheint eher, sie ist die Einzige von euch, die bei klarem Verstand geblieben ist«, grollte Hraban. »Lasst sie reden.«

Er trat auf Talianna zu, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und legte die Hand auf ihre Schulter, eine Berührung, die an die Gedelfis vom vergangenen Abend erinnerte. Obgleich Hrabans Finger nur ganz leicht auf ihr ruhten, spürte sie die gewaltige Kraft, die darin schlummerte. Sie suchte vergeblich in ihrem Inneren nach einem Anzeichen von Angst.

»Es waren die Drachen, Herr«, sagte sie noch einmal. »Ich … ich habe sie gesehen, ganz deutlich. Sie kamen von Norden und … und sie haben Feuer gespuckt und alles zerstört.«

»Nun, alles nicht«, sagte Hraban lächelnd. »Immerhin lebt ihr ja noch, und sicher auch noch andere.« Er lächelte abermals, verlagerte sein Körpergewicht ein wenig und richtete sich schließlich wieder auf. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich um und deutete auf einen seiner Begleiter. »Denon! Gib diesem undankbaren Gesindel zu essen und zu trinken und lass den Wundheiler kommen. Die Männer sollen ihr Lager am Fluss aufschlagen. Ein Stück stromaufwärts, verstehst du? Ich will nicht, dass die Tiere womöglich vergiftetes Wasser saufen.«

Der Angesprochene nickte, wendete sein Pferd und sprengte davon, während zwei, drei der anderen Krieger umständlich von ihren Tieren stiegen und ihre Wasserschläuche von den Sattelriemen lösten. Auch Talianna überwand den kleinen Rest von Angst, den sie noch vor diesen Furcht erregenden Gestalten verspürte, und griff gierig zu, als ihr ein Wasserschlauch hingehalten wurde.

Sie trank sehr viel, denn ihre Kehle war vom stundenlangen Weinen ausgedörrt, und kaum hatte sie den schlimmsten Durst gelöscht, da spürte sie, wie hungrig sie war. Aber sie wagte es nicht, nach Essen zu fragen, und schließlich hatte Hraban ja gesagt, dass Denon ihnen Nahrung bringen sollte.

»Komm her zu mir, Kind«, sagte Hraban, als sie ihren Durst gelöscht und den Wasserschlauch zurückgegeben hatte. Er lächelte bei diesen Worten, aber Talianna zögerte. Nervös blickte sie zu den anderen hinüber, die gleich ihr das Wasser angenommen hatten und gierig tranken. Aber die Nervosität – nein, verbesserte sie sich in Gedanken: die Angst – auf ihren Zügen war geblieben.

»Ich … weiß nicht«, sagte sie.

Für einen ganz kurzen Moment sah Hrabans Gesicht aus, als wolle er wütend lospoltern, aber dann seufzte er nur, schüttelte den Kopf und drehte sich mit einem knappen Winken um. »Komm mit«, sagte er.

Talianna gehorchte, wenn auch erst nach einem abermaligen, sehr langen Zögern. Sie entfernten sich ein gutes Stück von den Reitern und den anderen, ehe Hraban stehenblieb und sich zu ihr umwandte. Wie zuvor ließ er sich in die Hocke gleiten, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Ein Sonnenstrahl ließ etwas an seinem Hals aufblitzen, und als Talianna genauer hinsah, erkannte sie, dass es ein roter Stein war, geformt wie eine blutige Träne und von einem feinen Filigran aus Gold und Jade eingefasst.

Hraban bemerkte ihren Blick. Mit spitzen Fingern hielt er den Stein hoch, so weit es das goldene Kettchen zuließ, an dem er befestigt war. »Gefällt er dir?«, fragte er.

Talianna nickte. »Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, bekannte sie.

»Er ist sehr wertvoll«, sagte Hraban leise. Dann ließ er den Stein wieder sinken und sah sie mit plötzlichem Ernst an. »Aber jetzt erzähle. Und nur keine Angst – wir sind nicht eure Feinde, sondern wollen euch helfen.« Er bemerkte den flehenden Blick, den Talianna zu den anderen zurückwarf, und runzelte die Stirn, jetzt doch sichtlich verärgert. »Glaube bloß nicht, dass ich euch nicht verstehe«, sagte er. »Deine Leute haben alles verloren und sind fast umgebracht worden. Es wäre ja unnormal, wenn sie keine Angst hätten, sich plötzlich einer Armee von Fremden gegenüberzusehen. Aber ich muss wissen, was passiert ist. Wir sind nicht sehr viele, und die, die eure Stadt vernichtet haben, könnten zurückkommen. Das verstehst du doch, oder?«

Talianna nickte. »Es … es waren wirklich die Drachen«, sagte sie stockend. »Ich habe die Wahrheit gesagt, Herr.«

»Drachen.« Hraban schwieg einen Moment. »Ich habe davon gehört. Aber … die meisten sagen, dass es sie gar nicht gibt. Ich bin viel herumgekommen in der Welt, aber ich habe niemals einen gesehen. Und auch keiner meiner Männer.«

»Aber es war so!«, sagte Talianna ärgerlich. Sie fühlte sich angegriffen, weil Hraban ihr so ganz offensichtlich nicht glaubte. »Ich sage die Wahrheit.«

»Drachen …«, murmelte Hraban noch einmal, diesmal aber mit gänzlich anderer Betonung. Der Blick seiner dunklen Augen glitt über die Ebene aus geschmolzenem Eisen und das, was von der Stadt übrig geblieben war. Schließlich nickte er. »Es ist schwer zu glauben. Aber ich habe niemals eine Zerstörung wie diese hier gesehen. Keine Waffe, die ich kenne, könnte so etwas tun.« Einen Moment lang blickte er zu Boden, dann sah er Talianna wieder in die Augen. »Wie habt ihr überlebt, wenn alles so schnell ging, wie dieser Joffrey sagt? Sind noch andere geflohen?«

»Niemand, Herr«, antwortete Talianna, die plötzlich wieder den Tränen nahe war. »Wir waren nicht hier, als es geschah, sondern oben im Wald.« Sie deutete auf die struppige Mauer aus schwarzen Tannen, eine halbe Meile über der Stadt. »Morgen … gestern war Mittsommerfest. Wir wollten Dämmerpilze sammeln, für das Essen, und der alte Gedelfi weiß die besten Stellen, um sie zu finden.«

»Und dann habt ihr euch im Wald versteckt?«

Talianna schüttelte heftig den Kopf. »Nicht im Wald. Ein paar haben es versucht, aber die Drachen haben sie gefunden.« Erneut deutete sie auf die grüne Mauer über der Stadt. Auch der Wald hatte Wunden. Wenn die Sonne vollends aufgegangen war, würde man sie sehen. »Es gibt einen alten Bergwerksschacht.«

»Und der hat euch geschützt?«

Talianna nickte.

»Dann gibt es doch sicher noch mehr von diesen Schächten.«

»Drüben, auf der anderen Seite des Flusses.« Talianna nickte. »Viele. Manche sind sehr tief.«

»Kannst du sie mir zeigen?«, fragte Hraban, und fügte hinzu: »Später. Wenn du gegessen und dich ausgeruht hast.«

»Warum wollt ihr das alles wissen, Herr?«, fragte Talianna.

Hraban lächelte. »Nun, wenn ihr überlebt habt, warum dann nicht auch andere? Wäre dir wohl bei dem Gedanken, dass sie jetzt vielleicht dort eingesperrt sind, möglicherweise so verschüttet, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskämen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln und seufzte. »Na, das wird sich alles ergeben«, fuhr er fort. »Keine Angst mehr, Kleine. Meine Männer und ich sind hier, und wir werden nach den Überlebenden suchen.« Er stand auf. »Aber jetzt sorgen wir erst einmal dafür, dass du etwas Warmes zu essen bekommst. Und der Wundscher wird sich deine Hände ansehen. Komm jetzt.« Damit wandte er sich um und ging zu den anderen zurück, und nach einer Weile folgte ihm Talianna.

5

Etwas später brachte Hraban sie zu Gedelfi zurück, und ganz wie er versprochen hatte, brachten einige seiner Männer zu essen: trockenes Fladenbrot und gedörrtes Fleisch, das so zäh war, dass man es nur schneiden und in kleinen Stückchen kauen und dann ganz herunterschlucken konnte. Trotzdem kam es Talianna vor wie das Köstlichste, was sie jemals gegessen hatte; denn ihre letzte Mahlzeit lag einen Tag und zwei Nächte zurück.

Auch die anderen machten sich gierig über die dargebotenen Lebensmittel her und tranken sogar von dem Wein, den ihnen Hrabans Männer reichten. Überhaupt legte sich das Misstrauen Hrabans Leuten gegenüber merklich, vor allem, als die Söldner eine halbe Meile stromaufwärts ihr Lager aufzuschlagen begannen und kurz darauf ein kleiner, weißhaariger Mann zu ihnen kam, um nach ihren Wunden zu sehen und ihnen Medizin zu reichen. Mit Ausnahme Gedelfis war keiner unter ihnen, der nicht auf die eine oder andere Weise verletzt war, wenn auch nicht schwer. Aber auch ein abgebrochener Fingernagel konnte sich entzünden und zum Verlust der Hand führen, wenn er nicht behandelt wurde, wie der Wundscher lächelnd erklärte.

Während er und zwei schweigende Krieger aus Hrabans Begleitung sich um die Überlebenden kümmerten, waren die anderen nicht untätig. Talianna sah, wie sie in kleinen Gruppen ausschwärmten, um die Ruinen zu durchsuchen oder in den Wald eindrangen, den sie Hraban gezeigt hatte. Eine weitere, etwas größere Gruppe versuchte sogar, über die Brücke zu gehen, gab das Vorhaben aber rasch auf, als die ausgeglühte Konstruktion schon unter dem Gewicht des ersten Mannes bedrohlich zu ächzen begann. Sie gingen zurück und verschwanden wieder in ihrem Lager, und kurze Zeit später hörte Talianna das dumpfe, regelmäßige Dröhnen von Hammerschlägen.

»Was ist das?«, fragte Gedelfi. Er sah auf, legte den Kopf auf die Seite und lauschte einen Moment. Seit Talianna zurückgekommen und ihm berichtet hatte, was geschehen war, hatte er kein Wort gesagt. Hätte er sich nicht ab und zu schweigend bewegt oder beim Essen geschmatzt, hätte sie glatt vergessen, dass es ihn überhaupt noch gab.

Talianna blickte konzentriert zum Lager der Söldner hinüber, presste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und strengte die Augen an. Sie war sich nicht ganz sicher. »Sie bauen etwas«, murmelte sie. »Ein Floß – glaube ich.«

»Ein Floß? Wozu?«

»Um über den Fluss zu kommen, alter Mann.«

Talianna fuhr erschrocken zusammen und herum, als sie Hrabans Stimme hörte. Der Krieger war so lautlos näher gekommen, dass sie ihn bis jetzt nicht einmal bemerkt hatte. »Die Brücke ist zerstört. Siehst du das denn nicht?«

Gedelfi – der anders als Talianna nicht die geringste Spur von Schrecken oder auch nur Überraschung zeigte – wandte betont langsam den Kopf und blickte zu Hraban hoch. Auf dem Gesicht des Söldners erschien ein betroffener Ausdruck, als er die matt gewordenen Augen Gedelfis sah.

»Du bist blind«, murmelte er. »Das wusste ich nicht. Ich habe meinen Leuten Befehl gegeben, über den Fluss zu setzen und drüben in den Wäldern nach Überlebenden zu suchen. Vielleicht gibt es Verletzte, unten in den Minen, von denen das Mädchen erzählte.« Er setzte sich zu ihnen, beugte sich vor und schnitt einen schmalen Streifen Dörrfleisch ab, um darauf herumzukauen, aber sicher nicht aus Hunger.

»Wie geht es dir, Kind?«, fragte er, wieder an Talianna gewandt. »Besser?«

Talianna nickte. »Danke. Das … Essen war sehr gut. Ich hatte Hunger.«

Hraban lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht, hob die Hand und zerstrubbelte ihr das Haar. »Du kannst noch mehr bekommen, wenn du willst«, sagte er. »Es schmeckt vielleicht nicht so gut wie das, was ihr gekocht habt, aber es macht satt und stark.«