Die Töchter von Gestüt Brightlead – Neue Hoffnung - Sally Nolan - E-Book
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Die Töchter von Gestüt Brightlead – Neue Hoffnung E-Book

Sally Nolan

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Beschreibung

England, 1985: Die junge Amerikanerin Sienna kommt nach Oxford, um zu studieren. Leider wird sie an der Eliteuniversität ausgegrenzt und findet nur schwer Anschluss. Wohl fühlt sie sich einzig und allein beim Reiten, für das sie ein wahres Talent besitzt. Damit erregt sie auch die Aufmerksamkeit des jungen und gutaussehenden Adeligen Sebastian Chamberlain, zu dem sie schon bald zarte Gefühle entwickelt.

Als sie ein Pferd, das als gefährlich gilt, vor dem Tod bewahrt und es liebevoll wieder aufpäppelt, setzt sie sich mit dessen Herkunft auseinander. Die Spuren führen die junge Frau zum Gestüt Brightlead. Doch dort findet Sienna nicht nur mehr über das Tier heraus, sondern unverhofft auch lang gehütete Geheimnisse, die sie zutiefst erschüttern ...

Der packende Abschlussband der mitreißenden und romantischen Familiensaga über das Gestüt Brightlead.

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Inhalt

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Über dieses Buch

Titel

1.

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Über die Autorin

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Impressum

 

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Über dieses Buch

England, 1985: Die junge Amerikanerin Sienna kommt nach Oxford, um zu studieren. Leider wird sie an der Eliteuniversität ausgegrenzt und findet nur schwer Anschluss. Wohl fühlt sie sich einzig und allein beim Reiten, für das sie ein wahres Talent besitzt. Damit erregt sie auch die Aufmerksamkeit des jungen und gutaussehenden Adeligen Sebastian Chamberlain, zu dem sie schon bald zarte Gefühle entwickelt.

Als sie ein Pferd, das als gefährlich gilt, vor dem Tod bewahrt und es liebevoll wieder aufpäppelt, setzt sie sich mit dessen Herkunft auseinander. Die Spuren führen die junge Frau zum Gestüt Brightlead. Doch dort findet Sienna nicht nur mehr über das Tier heraus, sondern unverhofft auch lang gehütete Geheimnisse, die sie zutiefst erschüttern …

Der packende Abschlussband der mitreißenden und romantischen Familiensaga über das Gestüt Brightlead.

SALLYNOLAN

Neue Hoffnung

1.

September 1985, Oxford, England

»Linkes Schenkelweichen bis K!« Mrs Chapmans strenge Stimme hallte über den Reitplatz.

Sosehr ich mich auch auf die Bewegungen des Pferdes konzentrierte, es gelang mir nicht, es quer durch das Dressurviereck zu treiben.

»Schauen Sie nur hin, wo Sie hinreiten, aber es muss bei K enden. Nicht in der Hüfte einknicken! Die Bewegung soll locker aussehen!«

Kurz bevor ich endlich K erreichte, hörte ich die erlösenden Worte der Trainerin: »Uuund Schriiitt! Es reicht für heute. Reiten Sie Eagle trocken!« Ich konnte weder Lob noch Tadel aus ihren Worten heraushören. Auch ihre Miene war starr. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden. Vielleicht lässt dieser keine Regungen zu?

Mit unterdrücktem Schmunzeln ritt ich an ihr vorbei, aber ihr Gesicht zeigte noch immer denselben Ausdruck. Sie blickte einige Male über das Stallgelände, dann verließ sie den Platz, ohne sich zu verabschieden.

Eagle streckte seinen Hals und bewegte sich leicht schwingend voran. Das Fell des großen Braunen schäumte noch vor Schweiß, jedoch hatte sich sein Atem nach dem anstrengenden Training schon beruhigt. Auch ich war nicht mehr außer Puste, aber ich hatte kaum mehr Kraft in meinen Unterschenkeln. Noch eine Runde!, sagte ich mir, bevor ich in Richtung Stallungen ritt.

»Großartig!«, zischte ich kaum hörbar, als ich Poppy Spencer und ihr Gefolge vor dem Tor erblickte.

Ich war erst seit zwei Wochen in Oxford, aber von Anfang an war mir klar gewesen, dass diese Frau mich nicht dort haben wollte.

Es hilft nichts, du musst da durch!, ermahnte ich mich stumm, hob stolz mein Kinn und ritt an ihnen vorbei.

Eilig sprang ich einige Meter entfernt aus dem Sattel und wollte in die Stallgasse verschwinden, als Poppys zuckersüße Stimme hinter mir ertönte.

»Arme Sienna, hat dich denn niemand aufgeklärt, dass das der Dressur-Kader der Oxford University ist und nicht das Texas Rodeo? Vermisst du vielleicht dein Lasso?«

Camillas Kichern mischte sich mit dem heiseren Krächzen einer männlichen Stimme. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Räuspern oder ein unterdrücktes Lachen war. Wie ich diese blaublütige Bande hasste. Sie mochten zwar aussehen wie die Models der aktuellen Ralph-Lauren-Polo-Kampagne, aber sie waren einfach nur bösartig.

Ehrlich, für einen Augenblick lang überlegte ich, Poppy ohne ein Wort stehen zu lassen und mich in Eagles’ Box zu verkriechen. Doch dann blieb ich stehen, drehte mich zu Poppy um und setzte ein künstliches Lächeln auf, das mit ihrem um die Wette leuchtete. Ihr makellos schönes Gesicht strahlte pure Arroganz aus. Ihr blondes Haar trug sie in einem geflochtenen französischen Zopf. Sie hatte die Maße eines Supermodels, deswegen musste ich meinen Kopf etwas heben, um ihr in die Augen zu schauen.

»An deiner Stelle wäre ich froh, dass ich mein Lasso nicht dabeihabe. Mit dem kann ich nämlich problemlos dumme Kühe einfangen.«

Schallendes Gelächter halte durch die Stallgasse. Poppys Züge entglitten ihr augenblicklich. Ich selbst war überrascht über meinen bissigen Kommentar. Normalerweise ging ich solchen Auseinandersetzungen aus dem Weg, aber ich war es langsam leid, dass Poppy Spencer mich bei jeder Gelegenheit ohne Grund schikanierte. Als wäre Oxford noch immer dem britischen Adel vorbehalten und ich als Amerikanerin wäre nur Abschaum. Selbst die Schuluniformen und das Stallgebäude schrien förmlich danach.

Es dauerte nur einige Sekunden, bis sie sich wieder gefangen hatte. Poppys zusammengekniffene Augen schossen förmlich Blitze, aber sie blieb noch immer stumm. Ich war schon auf eine weitere Beleidigung von ihr vorbereitet, als sie wortlos auf dem Absatz kehrtmachte und beleidigt davonstampfte. Ihre Freunde verstummten augenblicklich. Über Camillas Gesicht huschte sogar leichte Panik.

Dann starrten alle wie auf Befehl in meine Richtung. Ich hob selbstbewusst mein Kinn und hielt ihren Blicken stand. Camillas hochnäsiger Gesichtsausdruck glich Poppys. Der vermittelte mir ebenfalls: Du gehörst nicht hierher!

Als Poppy die Gruppe schon fast erreicht hatte, warf ich ihnen als Warnung einen tödlichen Blick zu. Zumindest hoffte ich, dass ich bedrohlich aussah und nicht so, als hätte ich Bauchkrämpfe. Aber bevor ich David Livsey erreichte, hielt der Blick aus einem strahlend blauen Augenpaar meinen fest. Ungewollt breitete sich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper aus. Kein unangenehmes Kribbeln, eher eine wohlige Wärme.

Sebastian Chamberlain war mit Abstand der attraktivste Mann, denn ich je gesehen hatte. Sein blondes Haar trug er nach hinten gekämmt. Keine einzige verirrte Strähne störte den Anblick seines perfekten Gesichts. Markante Kieferknochen und schmale, schön geschwungene Lippen. Er trug die Schuluniform aus beigefarbener Chinohose und weißem Hemd, als wäre er aus einer Modezeitschrift gestiegen. Den marineblauen Pullover mit dem Oxford-Wappen hatte er lässig um den Hals gebunden.

Dann rief ich mir in Erinnerung, dass er zwar attraktiv sein mochte, aber immer noch einer von Poppy Spencers Freunden war. Einer dieser arroganten adeligen Schnösel, die sich aus Langeweile über andere Menschen lustig machten.

»Gehen wir!«, quiekte Poppy, und die anderen folgten ihr wie Welpen.

Erleichtert atmete ich aus, als ich endlich wieder allein im Stall war. Vielleicht war es vorhin ein starker Auftritt gewesen, aber ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. In England war ich so fremd und verdammt allein. Ich vermisste meine Granny und mein Zuhause in Connecticut. Aber ich hatte ihr den Wunsch nicht abschlagen können, statt in Yale in Oxford zu studieren.

Meine Mom war in Yale gewesen, obwohl sich Granny ein Studium in England auch für sie gewünscht hatte. Sie verriet mir zwar nicht, warum gerade in England, aber ich sah den Schmerz in ihren Augen, als ich Yale als Ausweichmöglichkeit erwähnte. Ich argumentierte, dass Yale in ihrer Nähe sei und ich mich so um sie kümmern könne. Aber sie tat, als hätte sie es nicht gehört.

Meine Eltern starben bei einem Autounfall, als ich zehn war. Meine Granny zog mich groß. Sie war alles, was ich hatte. Und wenn es ihr Wunsch war, dass ich in England studierte, blieb mir nichts anderes übrig, als ihr diesen zu erfüllen. Doch am wohlsten fühlte ich mich bei den Pferden. Ich liebte die Stallarbeit, fuhr mit dem Traktor und griff dem Tierarzt unter die Arme, wenn eine Stute abfohlte. Das war meine Welt. Aber professionelles Pferdemädchen zu werden, klang nicht sehr ambitioniert. Stattdessen musste ich mich in den nächsten drei Jahren mit englischer Literatur und Geschichte befassen.

»Sienna?« Ich stand noch immer in der Mitte der Stallgasse mit Eagles’ Zügel in der Hand, als ich meinen Namen hörte. Mein Gedankenkarussell stoppte abrupt.

Lilly näherte sich mit eiligen Schritten. Sie blieb vor mir stehen und riss ihre Augen weit auf. »Hast du geweint?« Lilly musterte mich durchdringend.

»Nein, aber beinahe!«, erwiderte ich mit etwas brüchiger Stimme.

»Was hat Poppy Spencer schon wieder gesagt?«, fragte sie auf der Stelle.

»Sie lästert wie immer. Aber das ist nicht der Grund. Sie hat recht, ich passe nicht hierher.« Verzweifelt versuchte ich, die Tränen wegzublinzeln, doch eine fand trotzdem ihren Weg über meine Wange.

»Komm, stellen wir Eagle in die Box, dann erzählst du mir bei einem Tee, was gerade vorgefallen ist.« Lilly legte beruhigend eine Hand auf meine Schulter.

2.

Eine Dreiviertelstunde später saß ich auf meinem Bett in unserem Wohnheim. Lilly reichte mir eine Tasse Tee mit einem Schuss Milch. Das Ritual des Nachmittagstees war mir nicht fremd, meine Großmutter ließ es keinen Tag aus. Verstanden hatte ich es noch nie. Auch nicht warum es bei wichtigen Gesprächen Tee geben musste. Ich war immer schon der Kaffee-Typ gewesen. Aber gut, wir sind in England, ich muss mich anpassen, sagte ich mir.

Für einige Augenblicke starrte ich gedankenverloren in meine Tasse. Die dampfende Flüssigkeit verströmte einen vertrauten Geruch. Als wäre ich wieder mit Granny im Wohnzimmer, weit weg von diesen arroganten Adelssprösslingen.

»Wow!« Lilly riss mich aus meinen Gedanken. Ihr Kopf steckte hinter der aktuellen Ausgabe der Sun. Die pausbäckigen Gesichter der Prinzen William und Harry blickten mir vom Titelblatt entgegen. Unglaublich, dass sie sich für diesen Adelsquatsch interessierte, obwohl ihre Familie sich in denselben Kreisen bewegte.

Doch Adel war nicht gleich Adel. Poppy und Camilla behandelten Lilly keinesfalls besser als mich, obwohl sie auf derselben Privatschule wie sie gewesen war. Lillys Vater war ein Viscount, aber er arbeitete. Nicht als Banker oder Ähnliches. Nein, er war Tierarzt, und das machte ihn zu einem Adeligen zweiter Klasse. Auch die Tatsache, dass er der königliche Tierarzt im Buckingham Palast war, änderte an der Sache nichts.

»Was ist da so spannend?«, fragte ich, als mich Lilly noch immer keines Blickes würdigte.

»Ich schaue mir nur die Outfits von Lady Diana an. Sie ist so eine bezaubernde Person!«, erwiderte sie.

»Bist du ihr mal begegnet?« Meine Informationen über die königliche Familie und den Hochadel bezog ich ausschließlich aus den Zeitungen. Aber Lilly hatte mich schon nach meiner Ankunft nach England aufgeklärt. Obwohl an großen Veranstaltungen viele geladene Gäste teilnahmen, war es nicht jedem gestattet, jeden anzusprechen. Das höfische Protokoll schrieb vor, wer ein Gespräch eröffnen durfte.

»Leider nicht. Mein Vater sagt, sie ist freundlich, aber meistens still, und sie mag die Pferde nicht besonders.«

»Sie reitet nicht?«, fragte ich verwundert.

»Nur selten.«

Das war sicher nicht einfach für sie. Wenn ich eins über die Royals von Großbritannien wusste, dann, dass sie alle leidenschaftliche Reiter waren.

»Aber jetzt genug von Lady Di. Erzähl mir, was vorhin in den Stallungen los war!« Lilly legte ihre Zeitung zur Seite, setzte sich im Schneidersitz auf und blickte mich erwartungsvoll an. Insgeheim hatte ich gehofft, dass der Vorfall vor lauter Klatsch längst vergessen war, doch so viel Glück hatte ich nicht.

»Poppy hat mich beleidigt«, erwiderte ich knapp.

»Das sind keine Neuigkeiten!«

Unwillig erzählte ich ihr, wie Poppy meinen Reitstil kritisiert und wie ich ihr gedroht hatte, sie mit einem Lasso einzufangen.

»Und dann sind sie einfach gegangen?«, fragte sie.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das bedeutet nichts Gutes, fürchte ich. Was hat es mit dieser Clique auf sich? Warum folgen alle Poppy blindlings?«

»Sie kennen sich schon, seitdem sie Windeln getragen haben. Camilla macht Poppy alles nach, weil sie so sein will wie sie. Sebastian war mal mit Poppy zusammen, aber ein zukünftiger Viscount scheint ihr nicht zu reichen. David und Sebastian sind nicht nur beste Freunde, ihre Familien sind seit Generationen miteinander eng verbunden. Aber sie scheinen alle dem gleichen Vorsatz zu folgen. Lieber an Poppys Seite als ihr Feind.«

»Aber ich habe Poppy nichts getan, und gesellschaftlich bin ich gar keine Bedrohung für sie. Warum schikaniert sie mich seit dem ersten Tag?«

»O doch, sie fühlt sich von dir bedroht. Das Erste, was ihr aufgefallen ist, sind die Blicke, mit denen dich Sebastian bedacht hat. Außerdem kann ich nach einer Woche Training behaupten, dass du die bessere Reiterin bist.« Auch wenn ich ihren Worten keinen Glauben schenkte, spürte ich, wie vor Verlegenheit Hitze in meine Wangen schoss.

»Du redest Unsinn!«, erwiderte ich prompt. Aber unweigerlich durchforstete ich meine Erinnerung nach den Begegnungen mit Sebastian Chamberlain. Mir fiel kein einziges Mal ein, dass er mich länger als nötig angesehen hätte.

»Redest du von Sebastian oder über deine Reitkünste?«

Bevor ich etwas erwidern konnte, ertönte der schrille Klingelton des Zimmertelefons. Schnell rechnete ich nach. Bei Granny musste es zehn Uhr vormittags sein. Sie rief mich meistens abends an. Daher war ich mir sicher, dass es kein Anruf für mich war. Bevor ich reagieren konnte, sprang Lilly auf und hob den Hörer.

»Lilly Fellow am Apparat!«, meldete sie sich. »Hello Dad!« Da ich nun wusste, dass der Anruf nicht für mich war, blendete ich ihre Worte aus.

Mit einem Knall landete kurze Zeit später der Hörer auf dem Apparat. Lilly schnaubte verächtlich.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Mein Dad hat einen Anruf von Poppy Spencers Vater bekommen. Er braucht seine Zustimmung, um ein völlig gesundes Pferd einschläfern zu lassen.«

»Ein gesundes Pferd? Nur so?« Vor Entsetzen blieb mir die Luft weg.

»Ja. Sie haben es Poppy gekauft, aber angeblich ist es unreitbar, und sie haben kein Interesse mehr daran. Mein Vater fährt morgen nach Red Holy Manor und schaut sich das Pferd an. Er hat mich gefragt, ob ich mitfahren möchte.«

So läuft das also. Wenn Poppy an etwas keinen Gefallen mehr hat, wird es schlicht entsorgt. Unbändige Wut stieg in mir auf.

»Warum verkaufen sie das Tier nicht? Oder sie könnten es verschenken, sogar auf einem Gnadenhof unterbringen.«

»Der Earl of Scarbrough würde nie einen Fehlkauf zugeben. Sein Urteilsvermögen und auch die reiterlichen Qualitäten seiner Familie haben einen Ruf zu verlieren. Eine Schenkung würde sein Versagen ebenfalls nur bezeugen«, erklärte mir Lilly in einem sachlichen Tonfall. Sie klang, als hätte sie diese Argumente nicht das erste Mal aufgezählt. Als wäre es gang und gäbe bei den adeligen Gutsherren.

»Aber dein Dad gibt ihm nicht seine Zustimmung, oder?«, fragte ich unsicher. Warum sonst hätte er Lilly diese Information mitgeteilt?

»In der Regel gelingt es ihm, den Besitzer zu einer Veräußerung zu überreden oder das Pferd woanders unterzubringen. Aber für den Earl wäre solch eine Vorgehensweise unter aller Würde.« Sie klang resigniert, und ich spürte, wie erneut Wut in mir hochstieg.

»Ist es in England denn so einfach, ein gesundes Tier zu töten?« Meine Stimme klang harscher, als ich es beabsichtigt hatte.

»Wenn mein Vater bestätigt, dass das Pferd gefährlich für den Menschen ist, schon. Aber er hat mich nicht umsonst gebeten, ihn zu begleiten. Er hofft, dass meine Anwesenheit Lord Spencer umstimmen könnte. Er ist nicht herzlos!«, erwiderte sie ebenfalls schnippisch.

»Es tut mir leid, Lilly. Ich kenne deinen Vater nicht, und ich wollte ihm keinesfalls unterstellen, dass er das Todesurteil für ein gesundes Tier unterzeichnen würde. Aber diese ganze Sache macht mich wütend. Dazu kommt noch, dass es sich um Poppys Pferd handelt.«

Lillys Züge entspannten sich langsam, aber es herrschte in unserem Zimmer unangenehmes Schweigen. Als Ablenkung nahm ich meine Tasse und trank einen Schluck vom mittlerweile kalten Tee.

»Darf ich morgen mitfahren?«, platzte es nach einer Weile aus mir heraus.

»Zu den Spencers?« Lilly schaute mich mit großen Augen an. Obwohl ich meine Frage sofort bereut hatte, nickte ich stumm.

»Mein Vater hätte sicher nichts dagegen. Aber bist du dir sicher, dass du dabei sein willst? Wie gesagt, es wird nicht einfach, den Earl zu überzeugen.«

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mit dem Wissen, dass ein Pferd nur aus einer Laune heraus eingeschläfert würde, leben konnte. Die Antwort war: Definitiv nein. Ich musste etwas tun, um den Earl davon zu überzeugen, dass es nicht unbrauchbar war. Meine einzige Chance war, mit Lillys Vater am nächsten Tag nach Red Holy Manor zu fahren.

3.

Von wegen, es ist nur ein Gerücht, dass England das ganze Jahr über in einen dichten Nebel gehüllt ist, dachte ich, als ich am nächsten Morgen den Hof des Wohnheims betrat. Die Luft war frisch und feucht und roch nach Laub. Unsichtbarer Nieselregen bedeckte unsere Kleidung, und ich spürte bereits die feuchte Kälte an meiner Haut.

Als ich in England angekommen war, hatte ich mir vorgenommen, einen Regenmantel für den Herbst zu kaufen. Da aber erst Anfang September war, hatte ich gedacht, dass ich dafür noch genügend Zeit hätte. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie falsch ich damit gelegen hatte.

Lilly hingegen schien das Wetter nicht besonders zu stören. Sie war ganz wie eine Landadelige gekleidet. Zu einer sandbraunen Jodhpurhose trug sie eine Tweedjacke, darüber einen grünen Regenmantel und natürlich Gummistiefel. Ich dachte immer, dass ein Hermès-Tuch unter dem Kinn gebunden das Markenzeichen der Queen war. Anscheinend gehörte es zur Grundausstattung einer Adeligen.

Die Briten und ihr Traditionsbewusstsein …, dachte ich.

Mein Großvater war langjähriges Mitglied des Senats des Bundesstaates New York gewesen, zwei Amtszeiten lang sogar als Gouverneur. Man konnte sagen, dass meine Familie zu den einflussreichsten der Ostküste zählte.

Als wir früher noch in Manhattan gelebt und die Ferien in den Hamptons verbracht hatten, war ich selbst Debütantin im Country Club gewesen, kannte mich also mit den seltsamen Bräuchen der High Society aus. Aber dieses Brimborium, um einen Earl auf seinem Landsitz zu besuchen, hielt ich für überzogen. Warum muss man sich so in Schale werfen bei einer Tierarztuntersuchung?

Zugegeben, spätestens als nicht nur meine Strickjacke, sondern auch meine Jeans feucht an mir klebten, hätte ich liebend gern ihr antiquiertes Outfit gegen meines getauscht. Um zu verhindern, dass meine Zähne klapperten, presste ich meine Lippen fest zusammen.

Endlich tauchten die Scheinwerfer eines Autos in der milchigen Weiße auf. Ein jägergrüner Land Rover hielt vor uns, und ein Mann in einem Tweed-Anzug und Gummistiefeln stieg aus dem Wagen. Okay, Erinnerung an mich: Ohne Tweed geht in England nichts!

Lilly begrüßte ihren Vater, stellte mich vor und schlüpfte in das Wageninnere. Dr. Fellow hielt mir die Tür auf, betrachtete mich von Kopf bis Fuß und schüttelte den Kopf.

»Mädchen, du bist völlig durchnässt! Tragt ihr in den Staaten keinen Regenschutz?« Er klang zwar freundlich, aber so, wie er das Wort »Mädchen« betonte, fühlte ich mich noch mehr wie eine Fremde. In dem geräumigen Fahrzeug ließ ich mich neben Lilly auf den Ledersitz plumpsen.

»Wir fahren morgen in die Stadt und kaufen dir einige Sachen, damit du für das englische Wetter gewappnet bist.« Lilly tätschelte mitfühlend meinen Oberarm.

Dr. Fellow drehte sich zu mir um, während wir das Universitätsgelände verließen. »Ich habe einen zweiten Regenponcho mit. Den kannst du anziehen. Leider habe ich für deine Turnschuhe keine Alternative.«

Der Landsitz der Spencers lag ungefähr eine Stunde von Oxford in Richtung London entfernt. »Start Me Up« von den Rolling Stones drang aus den Lautsprechern, und Lillys Vater summte leise mit.

Guter Musikgeschmack, Dr. Fellow! Doch nicht so spießig?

Auch andere Lieder sang er mit, als wäre er allein im Wagen. Lillys Kopf war ihr auf die Brust gefallen, und ihre regelmäßigen Atemzüge zeigten, dass sie eingeschlafen war. Ich lehnte mich an die Fensterscheibe, mein warmer Atem strich über das kühle Glas und hinterließ kleine Wassertropfen, die langsam die Scheibe hinunterliefen. Meine Gedanken kreisten um das arme Tier, dessen Schicksal nur von Dr. Fellows Entscheidung abhing.

Der Wagen hielt abrupt, und ich blickte mich verwirrt um. Ich musste eingeschlafen sein. Lilly blinzelte ebenfalls neben mir. Kunstvoll geschmiedete Zaunfelder zwischen mächtigen hellen Sandsteinsäulen trennten das Anwesen der Spencers von der geteerten Straße. Ein hohes verschnörkeltes Tor aus Schmiedeeisen mit einem goldenen Wappen versperrte uns den Weg.

Aus dem kleinen Pförtnerhäuschen daneben trat ein uniformierter Mann und machte einen Schritt zum Auto. Dr. Fellow teilte ihm unser Vorhaben mit, woraufhin er ins Wachhaus zurückging und sich das Tor automatisch vor uns öffnete. Eine breite Kieseinfahrt flankiert von in Form gestutzten Buchsbäumen führte durch die Parkanlage. Wir passierten ein imposantes viktorianisches Herrenhaus und hielten mehrere Meter weiter hinter den Wirtschaftsgebäuden.

So wuchs Poppy also auf. Das erklärt einiges.Sie leben, als wären sie die Royals.

Lilly gähnte und streckte ihre Glieder, bevor sie aus dem Auto stieg. Damit handelte sie sich einen strengen Blick ihres Vaters ein. Zu wenig damenhaft …

Es hatte aufgehört, zu nieseln. Einzelne Sonnenstrahlen durchbrachen das trübe Nebelfeld. Aber es war immer noch kühl. Der Pferdemist dampfte in der Schubkarre, als ein Stallbursche aus den Stallungen kam. Der Stallgeruch wirkte in feuchter Luft intensiver als sonst, weswegen Lilly etwas angeekelt ihre Nase rümpfte.

Ein großer, schlanker Mann Mitte vierzig in einem Tweedanzug näherte sich uns. Sein dunkelblondes Haar war mit Pomade streng zur Seite gekämmt. Er besaß hohe Wangenknochen und hellblaue Augen. Die Ähnlichkeit mit Poppy war kaum zu übersehen.

»William, mein Freund! Es freut mich, dass du so schnell Zeit für mich gefunden hast. Ich veranstalte am Wochenende eine Fuchsjagd, und wir müssen dieses Problem aus der Welt schaffen. Stell dir vor, wenn es unseren Freunden zu Ohren kommt, dass ich meine Pferde nicht unter Kontrolle habe …«

»Selbstverständlich, Andrew! Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich nicht allein gekommen bin.« Erst jetzt blickte Lord Spencer hinter Dr. Fellows.

»Liliane, schön dass du deinen Vater begleitest.« Mich betrachtete er nur stumm mit einem abschätzigen Blick.

Das Problem aus der Welt schaffen. Als ginge es um ein kaputtes Haushaltsgerät. Meine Hände zitterten, und ich ballte sie zu Fäusten. Aber er schenkte mir keine Beachtung.

»Na, dann sehen wir uns dieses wilde Tier an!« Lillys Vater ging voraus in Richtung Stallgasse.

»Es ist nicht so einfach! Der Gaul ist nicht da drinnen«, erklärte Lord Spencer.

Dr. Fellow blieb stehen. »Wo ist er denn?«

»Er ist vor einigen Wochen aus seiner Box ausgebrochen und weilt seither auf einer Koppel«, erwiderte Lord Spencer schulterzuckend.

»Dann müssen wir ihn in eine Box stellen, damit ich ihn untersuchen kann«, erwiderte Dr. Fellow.

»Genau das ist das Problem. Das Mistvieh lässt sich nicht einfangen. Er steigt oder rennt weg, sobald jemand mit einem Strick in seine Nähe kommt.«

»Und was erwartest du von mir? Ich bin Tierarzt, Andrew, kein Pferdeflüsterer!« Er schnaubte.

»Der Gaul muss bis zur Jagd weg! Von mir aus erschieß ihn aus der Ferne!« Lord Spencer klang wie seine Tochter. Wie ein trotziges Kind. Er stampfte davon.

Lilly verdrehte demonstrativ die Augen.

»Ist die ganze Familie so?«, fragte ich leise.

Zu meiner Überraschung drehte sich Dr. Fellow zu uns um. »Du hast keine Ahnung. Sei froh, dass seine Frau nicht da ist.« Er zwinkerte freundlich. Damit war alles gesagt.

Lord Spencer blieb vor einem hölzernen Koppelzaun stehen und deutete mit seinem Kopf nach vorn. »Dort hinten!« Mit wenigen Schritten waren wir an seiner Seite.

Wo der Waldrand die Koppel säumte, trugen einige Bäume bereits ein buntes Herbstgewand. Den anderen konnte die neue Jahreszeit noch nichts anhaben, sie waren grün, als wäre es immer noch Sommer. Der Nebel, der in den frühen Morgenstunden über die Wiesen gekrochen war, zog sich nur langsam zurück. Milchig weiße Flecken bedeckten den Boden. Dennoch ich erkannte die Silhouette eines Pferdes in der Ferne.

»Joey, hol einen Strick!«, rief Lord Spencer einem Stallburschen zu.

»Kann er ihn fangen?«, fragte Dr. Fellow.

»Du wirst ihm dabei helfen!«, antwortete er unbeirrt.

Lillys Vater schüttelte nur stumm den Kopf, doch dann kletterte er widerwillig wirkend über den Koppelzaun. Einige Minuten später tauchte der Stallbursche wieder auf, warf den Strick und eine Longierpeitsche über die Zaunlatten und tat es Dr. Fellow nach.

Das Pferd bekam die Aufregung nicht mit. Es graste unbeirrt weiter, bis die zwei Männer nur einige Meter entfernt von ihm stehen blieben. Aufmerksam hob es den Kopf, flüchtete aber nicht. Die Männer teilten sich auf und näherten sich vorsichtig dem Tier. Noch immer zeigte es kein Anzeichen von Unruhe.

»Es ist zu einfach. Ein Pferd, das sich seit Wochen nicht fangen lässt, gibt nicht so leicht auf, nur weil diesmal dein Vater dabei ist«, flüsterte ich Lilly zu.

»Vielleicht hat Dad einfach nur Glück«, erwiderte Lilly schulterzuckend.

»Das will ich hoffen!«, zischte Lord Spencer vor uns, ohne uns eines Blickes zu würdigen.

Dr. Fellow war nur eine Armlänge von dem Pferd entfernt. Vorsichtig streckte er seine Finger nach dem Halfter aus. Mit zurückgehaltenem Atem beobachte ich ihn. Es waren nur noch einige Zentimeter, als ein lautes Wiehern ertönte. Das Pferd hob plötzlich beide Vorderhufe und wirbelte mit ihnen bedrohlich durch die Luft. Erschrocken sprang Dr. Fellow zurück.

Das Pferd stieg noch einige Male auf der Stelle, dann rannte es den Koppelzaun entlang. In wildem Galopp lief es im Kreis. Nachdem es die Wiese mehrmals umrundet hatte, blieb es wenige Meter vor Lord Spencer stehen. Demonstrativ hob und senkte es seinen Kopf, als würde es seinen Besitzer herausfordern.

Da konnte ich das Tier zum ersten Mal richtig ansehen. Unter einer dicken Schlammschicht schaute das schwarze Fell des Hengstes hervor. Mähne und Schweif waren ein einziger Matschklumpen. Doch trotz seines heruntergekommenen Aussehens und der hervorstehenden Rippen erkannte ich, wie elegant der Hengst war. Der edle Kopf, der geschwungene Hals und die grazilen Beine wiesen auf eine hervorragende Züchtung hin. Die Spencers wollten ihn loswerden, nur weil er stur und ungezähmt war.

Plötzlich war das Tier ruhig. Der Blick aus großen traurigen Pferdeaugen bohrte sich flehend in meinen, und ich konnte das Gefühl in meiner Brust nicht ignorieren. Dieses Pferd flehte mich stumm an, es vor dem grausamen Schicksal zu bewahren. Ich zitterte am ganzen Leib, als wäre ich in einen elektrischen Zaun geraten.

»Darf ich es probieren?«, stieß ich hervor.

Lilly und Lord Spencer wandten sich wie auf Befehl in meine Richtung.

»Schlimmer als die zwei kannst du dich nicht anstellen.« Lord Spencer deutete mit dem Kopf in Richtung der zwei Männer, die sich uns entlang des Zauns näherten.

Hektisch atmete ich ein paarmal ein und aus, dann sammelte ich all meinen Mut und kletterte über die Stangen. Zuerst dachte ich, dass meine Bewegungen das Pferd erschrecken könnten, doch es stand noch immer wie angewurzelt da. Mit jedem Schritt bereute ich meine Leichtsinnigkeit mehr. Aber der Hengst blieb ruhig. Ich hätte nur noch den Arm ausstrecken müssen, und ich hätte ihn berühren können. Doch stattdessen blieb ich direkt vor ihm stehen. Ich war ihm so nah, dass ich mein eigenes kleines Spiegelbild in seinen dunklen Augen erkannte.

»Hey, du Wilder!«, flüsterte ich und streckte meine Hand langsam in seine Richtung. Augenblicklich versteifte er sich und legte seine Ohren an. Das war’s, dachte ich. Doch dann blinzelte er, und seine Ohren richteten sich auf.

»Ich tue dir doch nichts, und ich werde nicht zulassen, dass sie dir was antun.« Zugegeben, ich hatte mehr Angst vor ihm, als er vor mir haben konnte. Doch wenn Pferde wirklich den siebten Sinn besaßen, wie es ihnen oft nachgesagt wurde, konnte er spüren, dass ich ihn nicht anlog.

Meine Hand zitterte leicht, aber ich streckte sie ihm noch immer entgegen. Der Hengst senkte seinen Kopf, und ich spürte den warmen Atem auf meiner Haut. Ich bewegte mich keinen Millimeter, obwohl sich mein Arm tonnenschwer anfühlte.

Mit offenem Mund sah ich zu, wie er den letzten Abstand zwischen uns überbrückte. Mit seinen weichen Nüstern schnupperte er vorsichtig an meiner Handfläche. Langsam, um ihn nicht zu erschrecken, berührte ich mit meinen Fingerspitzen seine empfindliche Haut. Als er nicht zurückwich, strich ich sanft an seinem Nasenrücken aufwärts, schließlich legte ich meine Hand an seine Stirn. Mehrere Herzschläge lang verharrten wir so.

»William, worauf wartest du noch?«, hörte ich Lord Spencers Stimme hinter mir.

»Wenn ich jetzt hingehe, läuft das Pferd bestimmt weg«, erwiderte Dr. Fellow mit ruhiger Stimme.

»Dann soll das Mädchen das Mistvieh gefälligst in eine Box führen!«, zischte er ungeduldig.

Sicher nicht, war mein erster Gedanke. Aber ich wusste, wenn Dr. Fellow keine Möglichkeit bekam, das Pferd zu untersuchen, würde es womöglich gleich auf der Koppel erschossen werden.

Vorsichtig trat ich zwei Schritte rückwärts, ohne den Blickkontakt mit dem Hengst zu unterbrechen.

»Ich habe keinen Strick dabei«, sagte ich leise, um das Pferd nicht zu erschrecken.

»Packe es am Halfter!«, lautete Lord Spencers Befehl.

Wenn ich wollte, dass das Tier mir vertraute, konnte ich es nicht beim Halfter greifen und mit mir ziehen. Außerdem war es äußerst gefährlich. Es könnte Panik bekommen, sogar wieder steigen, und ich war auf einen Tritt mit den Vorderhufen nicht besonders scharf.

Trotz der Befürchtung, dass der Hengst erneut weglaufen würde, sobald ich ihm meinen Rücken zukehrte, drehte ich mich um und ging in Richtung Zaun. Lilly und ihr Vater starrten mich mit großen Augen und offenem Mund an. Selbst Lord Spencers Miene wirkte, als würde er auf der Stelle in Ohnmacht fallen. Für einen Moment war ich so konzentriert auf ihre entsetzten Gesichter, dass ich das dumpfe Geräusch von Pferdehufen auf dem Boden kaum wahrnahm.

Abrupt blieb ich stehen, aber ich musste nicht zurückblicken. Sofort spürte ich den warmen Atem des Pferdes an meinem Nacken. Er war mir gefolgt! Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer, doch ich ließ mir meine Freude nicht anmerken.

»Lilly, mach das Tor auf, und bleibt, wo ihr seid!« Ich redete so entspannt wie möglich, um mich und das Tier nicht aus der Ruhe zu bringen.

»Damit er davonlaufen kann? Bestimmt nicht!«, erwiderte Lord Spencer bissig.

»Ich befürchte, es ist die einzige Möglichkeit, das Pferd in die Stallungen zu bekommen. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn es so verwahrlost auf der Koppel herumläuft, wenn Ihre werten Gäste ankommen?« Meine Worte trieften vor falscher Besorgnis.

Er blickte mich mit verengten Augen an, jedoch hinderte er Lilly und den Stallburschen nicht daran, einige Meter weiter das Weidentor zu öffnen.

Als Lilly wieder neben ihrem Vater und Lord Spencer stand, setzte ich mich erneut in Bewegung. Diesmal schritt ich langsam in Richtung Tor, achtete dabei auf das leise Hufgeklapper hinter mir. Nur noch fünf Schritte!

Kies knirschte unter meinen Schuhen, aber hinter mir blieb es stumm. Ich blieb stehen. Kurz hielt ich inne, dann drehte ich mich langsam um. Der Hengst stand mit erhobenem Kopf stocksteif am offenen Tor. Misstrauen flackerte in seinen großen, dunklen Augen.

Meine Angst war groß, dass er davonlaufen könnte, doch ich machte zwei Schritte in seine Richtung. Er senkte lediglich seinen Kopf. Ich ging noch zwei Schritte und stand direkt vor ihm. Bedächtig hob ich eine Hand und legte sie auf die Stirn des Pferdes. Es ließ das zu und entspannte sich unter der Berührung.

»Na, mein Großer? Gehen wir noch ein Stück?« Als Antwort schnaubte er zufrieden. Zeitgleich mit mir setzte er sich in Bewegung und schritt gemächlich neben mir her. Zu meiner größten Überraschung folgte er mir ohne Zwischenfall in eine leer stehende Box.

Kaum hatte ich die Boxentür hinter mir zugeschoben, tauchte Lord Spencer mit den Fellows und dem Stallburschen im Schlepptau in der Stallgasse auf. Der Hengst stieg augenblicklich, und seine Vorderhufe schwangen bedrohlich in der Luft. So schnell ich nur konnte, verließ ich die Box.

»Ich gehe dort sicher nicht rein!«, rief Dr. Fellow.

»Du siehst ja, wie gefährlich er ist. Reicht es für dein Gutachten?«, fragte Lord Spencer.

»Alles, was ich bisher gesehen habe, ist, dass er etwas schwierig im Umgang ist. Aber das ist kein Grund, ihn zu töten!«, erwiderte Lillys Vater.

»Ich möchte kurz allein mit ihm sein, damit er sich beruhigt«, wandte ich mich an den Tierarzt, ohne den Besitzer des Pferdes zu beachten. »Kannst du mir das Putzzeug bringen?«, fragte ich den Stallburschen.

»Was glaubst du, wer du bist?«, fauchte mich Lord Spencer an.

»Andrew, Sienna hat recht. Wenn das Pferd sich an die Box gewöhnt und sich entspannt, kann ich es vielleicht untersuchen.«

Lord Spencer schnaubte verächtlich, aber dann befahl er dem Stallburschen, mir eine Putzkiste zu bringen.

4.

Das kleine Fenster ließ kaum Licht in die schummerige Box. Trotzdem konnte ich frisches Heu in der Raufe und saubere Einstreu erkennen. Zweifelsohne war diese Box nicht für den Hengst hergerichtet worden.

Nachdem Lord Spencer und sein Gefolge gegangen waren, entspannte sich das Tier tatsächlich. Mit großem Appetit steckte er seine Nase in die Heuraufe. Nicht einmal das metallische Klackern der Tür brachte ihn aus der Ruhe. Im Stall war nur das rhythmische Kauen des Pferdes zu hören.

Als ich den Striegel in die Hand nahm und neben ihn trat, legte er seine Ohren halb ängstlich, halb bedrohlich an.

»Keine Angst! Ich will dich nur putzen. Eine Schande, dass du so aussiehst.« Meine Stimme schien ihn zu beruhigen, jedoch zuckten seine Rückenmuskeln, als ich ihn zum ersten Mal berührte.

Mit kreisenden Bewegungen befreite ich ihn vom trockenen Matsch. Immer mehr kam sein glänzendes schwarzes Fell zum Vorschein. Mit Mähne und Schweif hatte ich mehr Mühe, bis alle Klumpen verschwanden. Schließlich kratzte ich die Erde aus seinen Hufen, was er zuließ. Dieses Pferd kannte Pflege, nur der derzeitige Besitzer wusste nicht, mit ihm umzugehen.

Nun stand er in seiner vollen Pracht da. Sein schwarzes Fell glänzte wie wertvoller Samt. Ich hatte noch nie ein derart schönes Tier gesehen. Trotz seiner abgemagerten Gestalt strahlte er Stolz aus und hatte etwas Majestätisches an sich.

»Ich glaub’s nicht!«, rief Lilly begeistert, als sie wieder vor der Box stand.

Lord Spencer schien seinen Augen ebenfalls nicht zu trauen. Seine Überraschung verflog aber geschwind. »Nun, William, steht dir nichts im Weg«, wandte er sich an Lillys Vater. Der wusste wohl, dass er keine Ausreden mehr parat hatte, und betrat die Box.

»Sienna, kannst du ihn bitte halten?«

Beruhigend strich ich dem Hengst über den Hals, bevor ich nach seinem Halfter griff.

Er wieherte und schnaubte nervös, auch mit den Hufen schlug er einige Male gegen den Boden. Aber er ließ die Untersuchung über sich ergehen.

»Es tut mir leid, Andrew, aber dieses Tier ist kerngesund. Wenn dir sonst nichts einfällt, werde ich keine Bestätigung für den Schlachthof ausstellen.«

Lord Spencer lief puterrot an, und mein Herz machte einen Freudensprung.

»Aber du hast gesehen, wie gefährlich er ist.«

»Es mag sein, dass er sich uns gegenüber bedrohlich verhalten hat. Aber sieh ihn nur an! Sienna gegenüber hat er volles Vertrauen.«

»Das bedeutet doch nichts. Außerdem ist er unreitbar. Er hat Poppy mehrmals abgeworfen, und die anderen kamen gar nicht so weit.«

Dafür, dass er Poppy abgeworfen hat, verdient dieser Hengst eine Medaille, kein Todesurteil, dachte ich.

»Ich will ihn unterm Sattel sehen.« Dr. Fellows Ton duldete keine Widerrede.

»Und wer soll ihn deiner Meinung nach reiten?«, fragte Lord Spencer. Wie auf Befehl drehten sich alle Köpfe in meine Richtung.

»Ich könnte es probieren«, sagte ich kaum hörbar.

»Aber ich will keine Klage, wenn er dich verletzt«, erklärte Lord Spencer.

Zehn Minuten später führte ich das Tier aufgesattelt aus der Stallgasse.

»Bitte tu mir nicht weh«, murmelte ich, während ich in den Sattel stieg.

Er tänzelte zwar nervös auf der Stelle, stieg oder buckelte aber nicht. Mein Herz hämmerte, und mein Atem raste. Meine Fingernägel bohrten sich in das harte Leder des Zügels, und ich saß auf dem Pferd, als wäre es mein erstes Mal.

Sienna, du darfst dich jetzt nicht blamieren. Gib Poppy nicht die Genugtuung, redete ich mir selbst zu. Es schien zu funktionieren. Mit einem Schlag war ich im Hier und Jetzt und konzentrierte mich auf das Pferd unter dem Sattel. Sanft drückte ich meine Unterschenkel gegen seinen Bauch.

»Rechter Schenkel, linker Schenkel!«, wiederholte ich ständig, wie bei meiner ersten Reitstunde. Sofort reagierte er und ging vorwärts. Mit langen, eleganten Schritten bewegte er sich. Sein Rücken schwang unter mir. Ohne dass ich den Zügel kürzer genommen hätte, bog er seinen Hals.

»Schritt reiten kann jeder! Trabe mal an!«, schrie Lord Spencer ungeduldig hinter dem Zaun.

»Jeder, außer Poppy«, antwortete ich leise zu mir selbst. Schließlich wollte ich ihn nicht verärgern.

Sanft drückte ich meine Beine gegen den Pferdebauch, woraufhin der Hengst loslief. Er bewegte sich schnell, und es dauerte ein paar Schritte, bis ich in den Takt kam. Hoch und runter. Hoch und runter. Sein Tempo ließ sich nicht senken, er wurde aber auch nicht schneller.

»Im Galopp fällt sie runter, glaub mir«, erklärte Lord Spencer Lillys Vater herablassend, als ich auf ihre Höhe ritt.

Mehr brauchte ich nicht. Obwohl ich mir nicht sicher war, dass es nicht der Fall wäre, blieb ich einige Takte lang im Sattel sitzen und gab dem Pferd Galopphilfe. Sein Kopf fuhr nach unten, er wölbte seinen Rücken und schlug leicht mit den Hinterbeinen aus. Doch dann galoppierte er freudig los, statt mich loswerden zu wollen. Sein Galopp war viel zu schnell, aber seine Bewegungen weich. So hatte ich keine Probleme, im Sattel zu bleiben.

Das Pferd war stürmisch, doch nicht wild oder gefährlich. Ihm fehlte spürbar die Ausbildung. Sattel und Reiter waren ihm nicht fremd, aber mehr als die drei Grundgangarten hatte mit ihm bestimmt niemand geübt.

Freudig umrundete er die Reitbahn und blieb stehen, als er offenbar seinen Bewegungsdrang gestillt hatte. Ehrlich gesagt, traute ich mich nicht, strenger am Zügel zu ziehen, um ihn zu stoppen. Ich wollte Lord Spencer nicht die Genugtuung geben, dass das Pferd mit mir durchging. Verschwitzt und komplett außer Atem sprang ich von seinem Rücken und führte ihn zurück zur Box.

Nachdem ich ihn in Ruhe abgesattelt und versorgt hatte, versammelten wir uns vor der Gittertür.

»Es tut mir leid, Andrew, aber dieses Pferd ist körperlich in einem hervorragenden Zustand, und wie wir alle bezeugen können, keineswegs unreitbar.«

»Heißt das, dass du ihn nicht einschläfern willst?« Pures Entsetzen zeichnete sich auf Lord Spencers Miene ab.

»Selbstverständlich nicht. Ich bin Tierarzt, kein Schlachter!«, erwiderte Dr. Fellow mit ruhiger Stimme.

»Was soll ich denn mit dem Vieh tun?«

»Wenn du ihn unbedingt loswerden willst, kannst du ihn verkaufen oder zu einem Schlachter geben. Ich kann nichts für dich tun.«

»Ganz genau! Und dann steht mein Versagen auf dem Papier.« Lord Spencer schnaubte verächtlich.

»Es ist nicht so, dass du noch nie ein Pferd verkauft hättest …«, sagte Dr. Fellow beiläufig.

»Ja, aber nicht so ein qualitätsloses!«

Mein Blick huschte zwischen den Männern hin und her. Egal, wie viele Argumente Dr. Fellow vorgebracht hatte, Lord Spencer ließ sich nicht umstimmen.

»Ich würde das Pferd kaufen!«, platzte es aus mir heraus.

Sienna, warum hast du das gesagt? Du wohnst in einem Studentenwohnheim. Wo sollst du das Tier unterbringen?

»Wo willst du ihn einstellen?«, fragte Lilly, als hätte sie meine Gedanken lesen können.

»Hast du überhaupt die nötigen Mittel für einen Kauf?«, fragte Lord Spencer herablassend.

»Sonst würde ich es nicht sagen!«, erwiderte ich trotzig. Ich hatte einen Treuhandfonds, der natürlich nicht dafür gedacht war, dass ich leichtsinnig irgendwelche Problempferde damit kaufte. Aber das Gefühl, als ich zum ersten Mal in die großen Augen des Hengstes geblickt hatte, ließ mich nicht los.