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Dieses Buch ist Reportage und Geschichte des Massakers, dessen Datum für immer im Gedächtnis bleiben wird: der 7. Oktober 2023:
Am Morgen des 7. Oktober wurden Amir Tibon und seine Frau von Mörsergranaten geweckt, die in der Nähe ihres Hauses im Kibbuz Nahal Oz, einer israelischen Siedlung an der Grenze zum Gazastreifen, einschlugen. Sie verbarrikadierten sich mit den beiden kleinen Töchter im Schutzraum des Hauses und ermahnten sie, nicht zu weinen, während sie die Schüsse der Hamas-Angreifer vor ihren Fenstern hörten.
Die Tore von Gaza erzählt die Geschichte des 7. Oktobers durch das Prisma der Ereignisse, die in Nahal Oz über die Familie hereinbrachen, die schließlich von Amir Tibons eigenem Vater mit unglaublichem Mut gerettet wurde. Das Buch schildert den jahrzehntelangen Kampf einer Gemeinschaft um Leben, Wohlstand und Wachstum an einer der gefährlichsten Grenzen der Welt. Es ist zugleich eine kurze Geschichte Israels, auch über das Versagen der israelischen Politik, für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sorgen.
Mit großem Einfühlungsvermögen und auf der Grundlage israelischer und palästinensischer Quellen sowie Originalinterviews mit den Polizisten und Soldaten, die am 7. Oktober an der Seite seiner Eltern kämpften, zeichnet Amir Tibon einen schonungslosen, aber letztlich hoffnungsvollen Blick auf diesen scheinbar unlösbaren Konflikt und seine globalen Auswirkungen.
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Seitenzahl: 594
3Amir Tibon
Die Tore von Gaza
Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung
Aus dem Englischen von Ursula Kömen
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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Gates of Gaza. A Story of Betrayal, Survival and Hope in Israel’s Borderlands bei Little, Brown and Company, New York
eBook Jüdischer Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstaugabe 2024
© der deutschsprachigen Ausgabe Jüdischer Verlag GmbH, Berlin 2024
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Little, Brown and Company, New York. Umschlagfoto: mauritius images/Eyal Bartov/Alamy/Alamy Stock Photos
eISBN 978-3-633-78172-0
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Die Tore von Gaza
CBS
News
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. März
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. »Sie sind hier«.
7
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2023
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. Pioniere.
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1957
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. »Das Militär ist über unsere Situation informiert«.
7
. Oktober
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. Nachbarn.
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-
1987
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. »Das war’s«.
7
. Oktober
2023
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. »Sie werden es sich nie verzeihen, wenn sie es nicht tun«.
7
. Oktober
2023
7
. Träumer.
1992
-
2007
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. »
Saba
wird kommen und uns hier rausholen«.
7
. Oktober
2023
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. Opfer.
2009
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2014
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. »Wir hatten alle einen sehr langen Tag«.
7
. Oktober
2023
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. Partner.
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. »Das ist das Wichtigste«.
7
. Oktober
2023
und die Zeit danach
Epilog
Dank
Quellennachweise
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
6
Kapitel
7
Kapitel
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Kapitel
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Kapitel
10
Kapitel
11
Kapitel
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Bildnachweis
Informationen zum Buch
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Israel, die palästinensischen Gebiete und die Nachbarländer
Gaza und die grenznahen Gemeinden, einschließlich Nahal Oz
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»Tagesanbruch in Nahal Oz, einem Kibbuz, einer kollektiven Farm auf der israelischen Seite der Grenze zu Gaza. […] Dieser Kibbuz ist mit jungen Menschen bemannt, die frisch aus der Armee kommen, weil er so nah am Gazastreifen liegt und damit potenziell Teil der Front ist. Nur wenige Kilometer entfernt patrouillieren israelische Truppen an der Grenze, aber für das Gelände von Nahal Oz sind die verantwortlich, die das Land bewirtschaften. Die Männer auf den Traktoren tragen häufig Gewehre bei sich.
Gegen vier Uhr nachmittags ist die Arbeit auf den Feldern beendet, und die Traktoren und Pferde kehren in die Scheunen zurück, Männer und Frauen gehen in ihre Unterkünfte. Es gibt eine Baracke mit Duschen für die Männer und eine für die Frauen. Bei Sonnenaufgang singen sie in der Scheune, bei Sonnenuntergang singen sie unter der Dusche. Nach dem Abendessen wird die Beleuchtung an der Umzäunung eingeschaltet, und für ungefähr ein Drittel der Männer beginnt der Wachdienst.«
Edward R. Murrow, CBS News, 13. März 1956
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7. Oktober 2023, 6:29 Uhr
Zuerst war da nur ein Pfeifen. Ein kurzes, lautes Kreischen, das durch unser Schlafzimmerfenster drang und uns anzeigte, dass über unserem Haus eine Mörsergranate aus dem Himmel fiel.
Ich wachte nicht sofort auf. Das Geräusch war unheimlich, aber vertraut, und es mischte sich irgendwie in meine Träume.
Miri, meine Frau, erkannte die Gefahr schneller. »Amir, wach auf, eine Granate!«, sagte sie und stieß mich mit dem Ellenbogen an.
Schlagartig war ich hellwach, Adrenalin durchflutete mich. Wir sprangen beide aus dem Bett, nur in Unterwäsche, und rannten den Flur hinunter zur geöffneten Tür unseres Schutzraums.
Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Wir erreichten das Zimmer und schlossen die schwere Eisentür hinter uns.
Kaum waren wir in die Dunkelheit gehüllt, erschütterte eine schwere Explosion das Haus. Wir hatten es gerade rechtzeitig geschafft.
Der ersten Explosion folgte eine zweite, eine dritte – und dann immer mehr. Es war ein Sperrfeuer – ein schwerer, tödlicher Regen, der ringsum auf uns niederprasselte.
»Hast du einen Alarm gehört?«, fragte ich Miri und flüsterte dabei in die Leere des verdunkelten Raumes.
»Ich habe nur gehört, dass es gleich einschlagen würde, davon bin ich aufgewacht«, antwortete sie. Keine Sirene war ertönt – nur das Pfeifen hatte uns gewarnt.
14Wir kamen gerade wieder etwas zu Atem, als wir die Erschütterung einer weiteren nahen Detonation spürten, dann noch einer. Ich schaute auf meine Armbanduhr und sah, dass fünf Minuten vergangen waren, seit wir in den Raum gerannt waren, und die Bombardierungen hatten nicht nachgelassen.
Zum ersten Mal, seit wir aus dem Bett gesprungen waren, blickte ich auf mein Handy, das ich aus dem Schlafzimmer mitgenommen hatte. Ich wollte wissen, was vor sich ging – in unserer Gemeinde, in unserer Region, in unserem Land. Ganz offensichtlich war etwas Außergewöhnliches im Gange.
Wir waren überrascht und desorientiert, aber nicht ängstlich, ganz sicher nicht in Panik – noch nicht. Als Bewohner von Nahal Oz, einer kleinen Gemeinde mit etwas mehr als 400 Einwohnern an der israelischen Grenze zum Gazastreifen, hatten wir Situationen wie diese schon erlebt. Nahal Oz, das in den frühen 1950er Jahren gegründet wurde, liegt weniger als einen Kilometer vom Grenzzaun entfernt. Damit ist es offiziell die nächstgelegene Gemeinde zur palästinensischen Küstenenklave, die sich nördlich der ägyptischen Grenze entlang des Mittelmeers erstreckt.
Nahal Oz ist von grünen Feldern und wunderschöner Natur umgeben, aber in den vergangenen Jahrzehnten wurde es zu einem der am heftigsten bombardierten Orte in Israel, Terrorgruppen aus Gaza haben Tausende von Raketen auf die Region abgefeuert. Wer hier lebt, gewöhnt sich an gelegentlichen Raketen- oder Mörserbeschuss. Anders als die meisten Gebiete in Israel, die sich unter dem Schirm des Raketenabwehrsystems Iron Dome befinden, genießt Nahal Oz keinen solchen Schutz; es liegt so nah an Gaza, dass die automatische Abfangvorrichtung des Systems nicht genügend Zeit hat, den Flugweg der Rakete zu berechnen.
In jedem Haus in Nahal Oz, ebenso wie in allen anderen Gemeinden entlang der Grenze zu Gaza, gibt es ein besonderes Zimmer: einen oberirdischen Bunker aus massivem Beton, 15der einem direkten Einschlag einer Mörsergranate und auch bestimmten Typen von stärkeren Raketen standhalten soll. Außerdem verfügt dieses Zimmer, der Schutzraum, in den wir an diesem Morgen gerannt sind, über eine Metallplatte, mit der das Fenster von außen abgedeckt werden kann, um zu verhindern, dass Schrapnelle in den Raum eindringen. Auch die Tür ist schrapnellsicher. Dieser standardisierte Schutzraum hat eine klare Sicherheitsfunktion, doch die meisten Familien an der Grenze nutzen diesen Raum zu einem anderen Zweck: Hier gehen unsere Kinder abends schlafen.
Nahal Oz liegt so nah an Gaza, dass man im Falle eines Mörserbeschusses auf die Gemeinde nur sieben Sekunden Zeit hat, um sich in Sicherheit zu bringen. Hält man sich gerade im Haus auf, bedeutet das, in den Schutzraum zu rennen und die Tür zu verschließen. Für Familien mit kleinen Kindern liegt die Entscheidung auf der Hand: Findet ein Angriff nachts oder frühmorgens statt, ist es bedeutend einfacher, wenn die Eltern ins Zimmer ihrer Kinder rennen und nicht umgekehrt.
Noch schienen sich unsere Töchter von dem ganzen Drama nicht stören zu lassen. Galia, eine blonde, blauäugige Dreieinhalbjährige, schlummerte weiter friedlich mit ihrer Lieblingspuppe im Arm. Ihre kleine Schwester Carmel, ein Jahr und neun Monate alt, hatte kurz den Kopf gehoben und uns aus verschlafenen grünen Augen angeblinzelt, als wir ins Zimmer geeilt kamen. Doch dann fand sie ihren Schnuller wieder und kehrte zurück in ihre Träume.
Es war nicht das erste Mal, dass sie eine solche Situation erlebten: Eltern, die in ihr Zimmer gerannt kamen, während im Hintergrund Explosionen einsetzten. Wir machten nie ein großes Aufheben darum, also taten sie es auch nicht. Es war Teil unseres und ihres Lebens – eine hektische, aber vertraute Routine in Israels Grenzgebieten.
Wir fühlten uns sicher in dem verschlossenen Raum mit der schweren Tür und der stabilen Metallplatte vor dem einzigen 16Fenster, während die Mörsergranaten um uns herum einschlugen. Die Platte war ein schlichtes Viereck aus Eisen, das exakt in die Betonöffnung passte und mit Scharnieren an der Wand befestigt war. Normalerweise zogen wir sie nicht vors Fenster, damit unsere Mädchen Sonnenlicht und frische Luft in ihrem Zimmer genießen konnten – aber im Ernstfall ließ sie sich in Sekundenschnelle zuschieben, um das Fenster abzudecken, so wie wir es an diesem Morgen machten, sobald wir den Raum betreten hatten.
Bei geschlossener Tür und mit der Platte vor dem Fenster war es im Inneren des Zimmers stockfinster. Doch wir nutzten unsere Handys als Lichtquelle und ließen uns nun auf dem Fußboden nieder, um das Bombardement abzuwarten. Kaum hatten wir uns hingesetzt, lasen wir in unseren Telefonen, dass die Hamas, die palästinensische Terrorgruppe, die den Gazastreifen kontrolliert, nicht nur unsere Gemeinde angegriffen hatte, sondern auch Dutzende weitere Orte in Israel mit Mörsergranaten und Raketen beschoss. Wir hofften, dass die Mädchen noch ein wenig länger friedlich in ihren Betten weiterschlafen würden, für uns aber war die Nacht offenkundig vorbei. Wir mussten anfangen zu packen.
Neun Jahre zuvor, im August 2014, hatte ich Nahal Oz zum ersten Mal besucht. In jenem Sommer tobte ein langer, blutiger Krieg zwischen Israel und der Hamas, die sieben Jahre zuvor die Kontrolle über Gaza übernommen hatte, und ich war aus Tel Aviv, wo ich damals wohnte, in das Grenzgebiet nahe Gaza gefahren, um vor Ort über die Kampfhandlungen zu berichten. Als Journalist hatte ich bereits über die Kriege in Syrien, in der Ukraine und im kurdischen Autonomiegebiet in Irak geschrieben; doch es war ein mulmiges Gefühl, an einem Ort, der nur eine Autostunde von meinem Zuhause in Zentralisrael entfernt lag, Zeuge dieser dramatischen Verwüstungen zu werden.
Vor meiner Ankunft in Nahal Oz hatte mir ein Freund aus der Medienbranche die Telefonnummer eines Mannes namens Itay 17Maoz gegeben. Maoz war ein Landwirt Anfang fünfzig, der in diesem Sommer trotz der schweren Bombardierungen in Nahal Oz geblieben war, er erklärte sich bereit, mich durch den Ort zu führen. Die meisten Bewohner waren in andere Teile des Landes evakuiert worden, und so fand ich mich in einer Geisterstadt wieder, als Itay, ein glatzköpfiger Mann mit einem sanften Lächeln, mich herumführte.
Die Agrarflächen von Nahal Oz berühren buchstäblich den Grenzzaun zu Gaza, und die Bewirtschaftung dieser Felder ist seit der Gründung des Kibbuz zu allen Zeiten eine Verpflichtung gewesen für die Menschen, die dort leben: Bis an den Rand wird das Land gepflügt, die letzte Furche liegt nur wenige Meter von Gaza entfernt. Diese Felder sind normalerweise wunderschön anzusehen, aber an diesem Tag bot sich mir ein anderer Anblick: Sie waren vollständig zerstört, nachdem das israelische Militär sie zu einem Panzerparkplatz umfunktioniert hatte. Eine Obstplantage war von den Militärfahrzeugen zermalmt worden, die Bewässerungssysteme waren schwer beschädigt, und jede Menge Abfall – von Patronenhülsen bis zu leeren Essensverpackungen – lag überall in der Landschaft verstreut.
Itay erzählte mir, er mache den Soldaten, die die Felder zerstört hatten, keinen Vorwurf. Sie hätten doch keine Wahl gehabt, erklärte er. Dass er auch keinen Groll für die Menschen in Gaza empfand, selbst inmitten der Kämpfe, überraschte mich jedoch. »Natürlich habe ich eine Wut auf die Hamas, weil sie auf uns schießen, aber ich bin nicht wütend auf die gewöhnlichen Palästinenser, die in Gaza leben«, erläuterte er. »Sie leiden doch unter diesem Krieg genauso wie wir.«
Ich teilte Itays Anteilnahme für die Zivilisten in Gaza – doch ich war auch ein außenstehender Beobachter. Hier stand jemand direkt an der Front und zeigte trotzdem Empathie und Mitgefühl für die Menschen auf der im wahrsten Sinne »anderen Seite«, selbst nach dem wochenlangen, anhaltenden Bombardement seiner Gemeinde. Ich wusste, dass Nahal Oz, wie viele Gemein18den an der Grenze zu Gaza, politisch eine deutliche linksliberale Ausrichtung hatte und dass die Bewohnerinnen und Bewohner in der Grenzregion zu den entschiedensten Verfechtern eines israelisch-palästinensischen Friedens zählten. Und dennoch – der ruhige Ton, in dem Itay über seine Sicht auf Gaza sprach, hallte in mir nach und hinterließ einen tiefen Eindruck.
Als ich an diesem Abend nach Tel Aviv zurückkehrte, konnte ich nicht aufhören, über meinen Besuch in Nahal Oz zu sprechen, über die Schönheit des Ortes und die Stärke seiner Bewohner, die mich staunen ließen. Ich erzählte Miri, die damals meine Freundin war, wie sehr mich dieser Besuch berührt hatte und erwähnte Nahal Oz auch mehrfach bei meinen Medienauftritten in den letzten Wochen dieses Kriegssommers.
Aber dann führte mich meine journalistische Arbeit auf andere Wege. Ich vergaß Nahal Oz. Bis eine furchtbare Tragödie mir diesen Abschnitt an der Grenze zwischen Israel und Gaza wieder ins Gedächtnis rief.
Am Freitag, den 22. August 2014, kehrten die ersten Familien aus den grenznahen Gemeinden, wie Nahal Oz, wieder in ihre Häuser zurück. Aufgrund öffentlicher Meldungen des Militärs gingen sie fälschlicherweise davon aus, dass der Krieg bald zu Ende sein würde. Zwar flogen noch Raketen durch die Luft, aber es schien, als trügen die diplomatischen Bemühungen unter der Führung Ägyptens Früchte, und die Menschen konnten der Versuchung nicht widerstehen, nach zwei Monaten endlich wieder nach Hause zurückzukehren.
Doch in den frühen Nachmittagsstunden schlug eine Granate in Nahal Oz ein. Das Geschoss traf ein parkendes Auto, und die Trümmer flogen in ein nahe gelegenes Haus und töteten einen vierjährigen Jungen namens Daniel Tregerman. Er hatte versucht, den Schutzraum der Familie zu erreichen, als die Sirene ertönte, lief jedoch noch einmal zurück, um seiner kleinen Schwester zu helfen. Seine Schwester und alle anderen Mitglieder der Familie überlebten, Daniel nicht.
19Daniel Tregermans Tod stürzte das ganze Land in tiefe Trauer. Israel verlor Dutzende Soldaten in diesem Krieg, auch einige Zivilisten, aber Daniel war das jüngste israelische Opfer des Krieges. Dieser hübsche kleine Junge, dessen Bild nun auf den Titelseiten aller großen israelischen Zeitungen abgedruckt wurde, war eines der letzten Kriegsopfer: Vier Tage nach seinem Tod wurde ein Waffenstillstand erklärt, und der Krieg war tatsächlich vorbei.
Für Daniels Gemeinde jedoch saßen Schmerz und Leid nur umso tiefer – und nahmen auch nach Ende der Kampfhandlungen nicht ab.
Nahal Oz stand vor einer existenziellen Krise. Von den insgesamt ungefähr 100 Familien hatten mehr als fünfzehn ihre Absicht erklärt fortzuziehen – die meisten von ihnen hatten kleine Kinder. Der Hauptgrund war Daniels tragischer Tod. »Wie soll ich meinem Kind erklären, dass sein Freund aus der Kita nicht mehr zu uns nach Hause kommen kann?«, fragte eine Mutter.
Die Gründerinnen und Gründer des Kibbuz, die als junge zionistische Idealisten in den frühen 1950er Jahren gekommen waren und seither, während sie selber Großeltern wurden, den Ort hatten wachsen sehen, sorgten sich um ihr Lebensprojekt. »Hier lebten immer viele Kinder«, erzählte damals einer von ihnen in einem Fernsehinterview. »Wir sind doch nicht gekommen, um hier ein Pflegeheim zu errichten.«
Nahal Oz ist ein Kibbuz, eine einzigartige israelische Erfindung. Das hebräische Wort bedeutet »Versammlung«, und es steht für relativ kleine Gemeinden – üblicherweise zwischen 300 und 1000 Menschen –, die ein gemeinschaftlich organisiertes Leben führen, das auf sozialistischen Idealen basiert. Die ersten Kibbuzim entstanden schon vor der Gründung Israels; tatsächlich ebneten sie den Weg für die Entstehung des neuen Staates, hier wurden Häuser gebaut, landwirtschaftliche Flächen nutzbar gemacht, hier zogen Traktoren die zukünftigen Grenzen.
Ursprünglich waren die Kibbuzim streng sozialistisch organisiert, die Kibbuz-Mitglieder arbeiteten Schulter an Schulter, 20erhielten ähnliche Gehälter und lebten unter den gleichen Bedingungen. In den 1980er Jahren jedoch, als sich das ganze Land weg von seinen sozialistischen Ursprüngen und hin zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft orientierte, setzte in den meisten der 270 israelischen Kibbuzim ein Prozess der »Privatisierung« ein. So auch in Nahal Oz. In den frühen Jahren hatten seine Mitglieder sozialistische Prinzipien strikt befolgt. Doch zur Zeit meines Besuches war der inzwischen privatisierte Kibbuz kein Ort mehr, an dem man in der Landwirtschaft arbeiten musste oder kein Auto besitzen durfte – eine starke, geeinte Gemeinschaft war er gleichwohl immer noch.
Nun, im Herbst 2014, stand dieser Kibbuz am Rande des Untergangs. Der Wegzug von so vielen jungen Familien nach dem tragischen Tod von Daniel Tregerman bedrohte die Gemeinde in ihrer schieren Existenz.
Vor diesem Hintergrund erhielt ich eines Tages einen Telefonanruf vom landesweiten Vorsitzenden der Kibbuz-Bewegung, einer Dachorganisation aller israelischen Kibbuzim. »Ich habe gehört, wie du während des Krieges über Nahal Oz gesprochen hast«, erzählte er. »Nur zur Kenntnis, dort werden jetzt junge Menschen gebraucht.« Ohne es explizit auszusprechen, bat er mich, darüber nachzudenken, in die Gemeinde zu ziehen, um sie in ihrer schwierigsten Phase zu stärken.
Meine erste Reaktion war ein entschiedenes Nein. Meine journalistische Arbeit kreist in aller Regel um Tel Aviv und Jerusalem; Miri hatte gerade ihr Studium beendet und als Sozialarbeiterin zu arbeiten begonnen. Wir waren noch nicht verheiratet, aber bereits seit einigen Jahren zusammen und planten eine gemeinsame Zukunft. Unsere Wohnung in Tel Aviv aufzugeben, um in einen Kibbuz am äußersten Rand des Landes zu ziehen, klang nach einer ziemlich verrückten Idee. Doch in den darauffolgenden Tagen änderte sich meine Haltung: weg von einem klaren »Nein« und hin zu einem neugierigen »Vielleicht«. Ich beschloss, mit Miri darüber zu sprechen.
21Wie die jungen Idealisten, die den Kibbuz gegründet hatten, waren Miri und ich Zionisten im elementarsten Sinne. Für uns, zwei linksliberal orientierte israelische Juden, bedeutete Zionismus vor allem eines: Israels Existenz als jüdischen und demokratischen Staat zu sichern. Das war die ursprüngliche Bedeutung des Wortes im 19. Jahrhundert, und während es zu allen Zeiten nationalistischere und stärker rechts orientierte Denkschulen innerhalb des Zionismus gegeben hat, war die Kibbuz-Bewegung traditionell gemäßigt in ihrer Sicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und sprach sich seit Jahrzehnten für eine Kompromisslösung aus, die es Juden und Arabern ermöglichen würde, das Land zu teilen, innerhalb vereinbarter Grenzen – die natürlich geschützt werden müssten.
Miri und ich stammen beide aus Familien von Holocaustüberlebenden. Meine Großmutter verlor beide Eltern im Alter von dreizehn Jahren und kam als Flüchtling und als Waise nach Israel. Miris Großeltern überlebten die Belagerung von Leningrad durch die Nazis 1941 und wurden für den Rest ihres Lebens, trotz erfolgreicher beruflicher Laufbahnen, die Angst vor dem Hunger nicht wieder los. Für uns war die Notwendigkeit, Israels Grenzen zu schützen, keine Frage moderner Einwanderungspolitik oder der Kriminalitätsbekämpfung, sondern schlicht eine tief empfundene Einsicht, dass das einzige jüdische Land auf der Welt ohne sichere Grenzen ein unsicheres Land wäre, in dem sich die dunkle Vergangenheit unseres Volkes wiederholen könnte.
In den Jahren nach der Staatsgründung Israels waren zivile Gemeinden wie Nahal Oz, die direkt an der Grenze lagen, für führende Politiker des Landes, wie den damaligen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion, ein wichtiger Baustein für die Sicherheitsstrategie der jungen Nation. Militärbasen, so dachte man, seien leicht zu verlegen im Falle einer neuen Grenzziehung, zivile Gemeinden jedoch – mit Kitas, Schulen, Kliniken und Wohnhäusern – würden eine dauerhaftere Art der Präsenz dar22stellen. Damit waren sie für Israel von hoher Bedeutung, ein Land, das von Feinden umgeben war, von denen einige nur zu gern neue Grenzen ziehen wollten – am liebsten ganz ohne den neuen jüdischen Staat.
Miri und ich teilten diese Auffassung, wenngleich wir glaubten, dass es langfristig nur einen Weg gab, echte Sicherheit für Israel zu erreichen, nämlich Frieden zu schließen mit allen Nachbarstaaten – insbesondere mit den Palästinensern, mit denen sich unser Land seit Jahrzehnten im Konflikt befindet und von denen viele bis zum heutigen Tag unter israelischer Militärbesatzung leben.
Frieden mit den Palästinensern, so glaubten wir, sei jedoch nur möglich, wenn man sicherstellte, dass auch sie einen eigenen Staat bekamen – so wie wir unser Israel hatten –, einen Ort, an dem ihre eigenen zivilen Gemeinden – mit Kitas, Schulen, Kliniken und Wohnhäusern – entstehen könnten, der ihnen eine stabile und dauerhafte Verbundenheit zu dem Land, an dem unsere beiden Völker so stark festhielten, ermöglichen würde. Doch solange an dieser Front kein Durchbruch erzielt wurde, spielten Gemeinden wie Nahal Oz eine wichtige Rolle – auch nur eine von ihnen infolge des Krieges zu verlieren, wäre ein Rückschritt, ein Schritt in eine weniger sichere Welt für das jüdische Volk.
Aber es war nicht nur ein Gefühl des Patriotismus, das mich für die Idee eines Umzugs nach Nahal Oz erwärmte. Seit wir uns kannten, hatte Miri gesagt, dass sie eines Tages gern aus der Stadt rausziehen würde, um als Familie in einer kleinen Gemeinde zu leben, idealerweise in »einem Kibbuz, umgeben von grünen Feldern, nicht allzu weit von Tel Aviv entfernt«.
Also fragte ich sie, was sie davon hielte, in einen solchen Kibbuz zu ziehen: eine kleine Gemeinde, in der jeder seine Nachbarn kennt, in einer wunderschönen Umgebung und nur eine Stunde entfernt von der großen Stadt?
Die Idee gefiel Miri, aber sie war unsicher, ob Nahal Oz der 23richtige Ort war. »Es gibt ungefähr 20 Kibbuzim an der Grenze zu Gaza«, sagte sie. »Warum sollten wir in den gefährlichsten ziehen?« Doch immerhin war sie so neugierig geworden, dass sie sich selbst ein Bild machen wollte.
Am 26. September – genau einen Monat nach Kriegsende – fuhren wir in die eine Autostunde von Tel Aviv entfernte Grenzregion. Auf den Feldern waren die Traktoren bereits am Werk, um die Schäden, die die Panzer angerichtet hatten, zu beseitigen.
Am Haupttor des Kibbuz – Nahal Oz war vollständig von einer robust wirkenden Umzäunung umgeben, damals noch ohne Stacheldraht und Sicherheitskameras – wurden wir von Oshrit Sabag empfangen, einer Frau, die Optimismus und Tatendrang ausstrahlte und für das »demografische Wachstum« im Kibbuz verantwortlich war – ihre Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, neue Leute zu überzeugen, in den Kibbuz zu ziehen. Sie erzählte uns, dass seit Kriegsende mehrere interessierte Familien Anfragen an Nahal Oz gerichtet hätten. »Wir sind also nicht die einzigen Verrückten in diesem Land?«, fragte ich sie. »Es ist doch genau umgekehrt«, antwortete sie lächelnd. »Die Verrückten leben in Tel Aviv. Hier findet man alles, wonach wir alle suchen: Gemeinschaft, Seelenfrieden, Platz.«
Wir brauchten nicht lange, um zu sehen, was genau sie damit meinte. Während unseres Besuchs erlebten wir Nahal Oz im Frieden: als grüne Oase mit hohen Laubbäumen und ausgedehnten Rasenflächen, die schlichte, einstöckige Häuser umsäumten. In allen Gärten blühten Blumen; die Menschen, auf die wir trafen, waren aufgeschlossen und fragten uns, wo wir herkämen und was wir uns erhofften, hier zu finden. Als wir wieder fuhren, sagte Miri zu mir, sie könne verstehen, warum mich dieser Ort so angesprochen hatte.
Zwei Monate später zogen wir nach Nahal Oz. Unser Umzug fiel zufällig auf den jüdischen Feiertag Chanukka. »Ein neues Paar ist im Kibbuz angekommen«, verkündete die Facebook-Seite der Gemeinde an dem Tag, als wir unsere Umzugskisten in 24unserem neuen Zuhause auspackten: einem Caravan mit zwei Schlafzimmern, der auf matschigem Boden stand und von zwei hohen Bäumen flankiert wurde. »Amir, 25, und Miri, 26, sind auf der Suche nach einer starken Gemeinschaft von Tel Aviv nach Nahal Oz gezogen – und weil es sich für sie nach den Ereignissen des Sommers richtig anfühlte, an diesen Ort zu kommen … Happy Chanukka und willkommen zu Hause!«
Und in der Tat fühlte sich Nahal Oz für Miri und mich sehr bald wie ein Zuhause an. Andere junge Paare, die aus verschiedenen Teilen Israels und aus ganz ähnlichen Gründen wie wir zugezogen waren, wurden unsere Freunde. Innerhalb von nur anderthalb Jahren hatte der Kibbuz den demografischen Verlust aus der Zeit nach dem Krieg bereits wieder aufgeholt, und im Sommer 2016 – als wir mit 400 Gästen unsere Hochzeit am Kibbuz-eigenen Swimmingpool feierten – schien es, als hätte Nahal Oz es geschafft. Die Gemeinde wuchs, blühte geradezu auf. Neue Kinder kamen auf die Welt, neue Häuser wurden gebaut. Und 2018 gab es bereits eine Warteliste für Familien, die dem Kibbuz beitreten wollten.
Der Trend, dass junge Familien nach Nahal Oz zogen, hielt an, obwohl es alle paar Monate zu einer neuen Gefechtsrunde mit der Hamas in Gaza kam, bei der wir unter Mörserbeschuss gerieten. Doch weder ließen wir uns davon abhalten zu bleiben, noch schreckte es andere Familien ab, beizutreten. Die Kampfhandlungen dauerten üblicherweise eine Woche oder zwei, und wenn es anfing, zogen die Familien vorübergehend in andere Teile des Landes. Manche von unseren Freunden und Nachbarn bezeichneten diese Abwesenheiten, mit einem müden Lächeln, als Urlaub.
Anders als Miri und ich, die es sich ausgesucht hatten, nach Nahal Oz zu ziehen, kannten unsere Mädchen Galia und Carmel, die 2020 und 2022 auf die Welt kamen, nur diesen Ort als ihr Zuhause, hier entstanden all ihre ersten Erinnerungen. Hier lernten sie laufen, auf dem morgendlichen Weg zur Kita, 25und auch rennen, wenn sie nachmittags in den Kibbuz-Supermarkt eilten, um ein Eis zu kaufen. Sie liebten es, die Kühe zu füttern und von den riesigen, sanften Tieren Küsschen zu bekommen. Wir nahmen sie mit in die Felder, damit sie die weiße Baumwolle, kurz bevor sie gepflückt wurde, und den lilafarbenen Kohl, wenn das Gemüse gerade aus dem Boden ragte, sehen konnten. Wir empfanden es als Glück, sie in Nahal Oz großzuziehen, trotz der Gefahren eines Lebens an der Grenze.
Am Abend des 6. Oktober 2023 gingen wir mit den Mädchen zu einer wichtigen Veranstaltung: der Generalprobe für die 70-Jahrfeier des Kibbuz, die für den darauffolgenden Abend auf der großen Wiese neben dem Swimmingpool geplant war. Galia und ihre Kindergartenfreunde würden auf der großen Bühne tanzen, vor der ganzen Gemeinde und Hunderten Gästen. Aufregung lag in der Luft. Wir waren stolz, ein Teil von diesem wichtigen Meilenstein zu sein, sieben Jahrzehnte nach der Gründung jener Gemeinde, die in den letzten Jahren zu unserer geworden war. Wir beobachteten Galia auf der Bühne und stellten uns vor, wie sie am nächsten Abend vor einem begeisterten, wohlwollenden Publikum tanzen würde. Es war wundervoll.
Am Morgen darauf, als wir uns im Schutzraum in Sicherheit brachten und die Granaten um uns herum einschlugen, gingen wir anfangs noch davon aus, dass es dieses Mal wie alle anderen Male sein würde. Wir hatten einen festen Ablauf für diese Situationen und folgten diesem routiniert, während die Explosionen unaufhörlich dröhnten. Immer, wenn eine neue Welle der Gewalt ausbricht, packen wir zwei kleine Koffer – mit Kleidung, Windeln, Zahnbürsten und ein paar persönlichen Dingen –, und sobald ein Moment der Ruhe einkehrt, setzen wir die Kinder in unser Auto und verlassen den Kibbuz, in der Gewissheit, dass nach ungefähr zehn Tagen ein Waffenstillstand verkündet wird und wir nach Hause zurückkehren und unser normales Leben wieder aufnehmen können.
Während Miri Kleidung für die Mädchen heraussuchte, warf 26ich einen Blick in die Chatgruppe unserer Nachbarschaft. Nachdem wir einige Jahre in der »Caravan-Siedlung« des Kibbuz gelebt hatten, waren wir, und die meisten unserer Freunde, im Dezember 2022 in eine neue Nachbarschaft am nordöstlichen Rand der Gemeinde gezogen. Umgeben von Bäumen und mit Blick auf die Felder, bestand die neue Siedlung aus zwölf geräumigen Häusern mit hohen Decken, hochwertigen Fenstern und breiten Veranden. Die Bauweise war brandneu und von bester Qualität. Wir liebten unser neues Zuhause und standen unseren Nachbarn in den elf umliegenden Häusern sehr nah. Nun schrieb ich eine kurze Nachricht und fragte, ob es allen gutging.
»Hat Israel gestern Nacht ein Attentat auf irgendeinen bedeutenden Mechabel in Gaza verübt?«, fragte eine Nachbarin und verwendete das hebräische Wort für Terrorist. Was sonst, rätselte sie, könne die Ursache für dieses anscheinend nicht enden wollende Sperrfeuer von Mörsergranaten und Raketen sein – ein stärkeres Bombardement als je zuvor, seit wir in den Kibbuz gezogen waren? Ein anderer Nachbar scherzte, dies sei wohl die Antwort der Hamas auf die stundenlange Probe vom Vorabend, die den Menschen in Gaza mit ihrem Lärm wahrscheinlich auf die Nerven gegangen sei.
»Tja, ich denke, Galia wird heute Abend wohl nicht tanzen«, flüsterte ich Miri zu, und wir lachten beide leise, um die Mädchen nicht zu wecken. »Immerhin konnte sie die Probe in vollen Zügen genießen.«
Um 6:45 Uhr fragte einer der Nachbarn, ob noch jemand ein Problem mit dem Strom habe. Wie aufs Stichwort fiel auch bei uns der Strom aus. Nun schrieben alle, dass sie sich in der gleichen Situation befänden. In den folgenden Minuten tauschten wir uns darüber aus, wer einen Raketenalarm gehört hatte und wer nicht. »Wir haben keinen Alarm gehört«, schrieb ich um 6:58 Uhr. »Miri hat nur das Pfeifen gehört, und dann sind wir gerannt.«
Für ein paar Minuten blieb es ruhig in der Gruppe. Dann 27hörten Miri und ich ein unheimliches Geräusch, das uns ängstliche Blicke austauschen ließ: Maschinengewehrfeuer.
Anfangs nahmen wir es noch aus größerer Entfernung wahr, von den Feldern. Trotzdem, es war ungewöhnlich. Bei vorangegangenen Kampfhandlungen war es unsere einzige Sorge gewesen, den Granateneinschlägen zu entgehen; eine Infiltration der Hamas oder anderer Terrororganisationen über die Grenze hatten wir nie erlebt – doch genau darauf deutete das Geräusch hin. Zudem schlugen zwar weiterhin Mörsergranaten ein, doch die Intensität nahm ab, und ich fragte mich, ob die Bombardierungen vielleicht deshalb aufhörten, weil die Angreifer nun in unsere Gemeinde eindrangen?
Ich konnte mich nicht lange mit diesen Fragen beschäftigen. Die Schüsse kamen immer näher, nun klang es so, als kämen sie von der Ringstraße des Kibbuz – und damit weit innerhalb der Umzäunung von Nahal Oz. Dann wurde auch in unserer Nachbarschaft geschossen, direkt vor unserem Fenster. Als wir Schreie auf Arabisch hörten, verstanden wir, was vor sich ging.
Unser schlimmster Albtraum wurde Wirklichkeit. Die israelischen Verteidigungslinien, das dichte Netz von Zäunen, Überwachungskameras und anderen Sicherheitsanlagen, von denen wir immer geglaubt hatten, sie würden uns vor der Terrorarmee auf der anderen Seite der Grenze schützen, waren durchbrochen worden. Die Hamas hatte es auf uns abgesehen.
Um 7:10 Uhr schrieb einer unserer Nachbarn in die Gruppe: »Die Hamas ist in den Kibbuz eingedrungen.« Ein anderer schrieb: »In unserer Nachbarschaft wird geschossen, sie sind hier.« Ein dritter antwortete: »Wo ist die Armee? Wieso kommt denn niemand?«
In unserem Schutzraum, mit der Metallplatte vor dem Fenster, war es stockduster und totenstill. Dann hörte ich, wie sich unsere Töchter, irgendwo in der Dunkelheit, in den Betten zu regen begannen.
28
1953-1957
Das Erste, was sie erblickten, als sie aus dem Bus stiegen, war der sandfarbene, staubige Boden. Damals gab es nur sehr wenige Bäume – keine Obstplantagen, keine Gärten. Es gab auch keinen Grenzzaun, aber im Westen konnten sie deutlich einen ägyptischen Militärposten ausmachen, der die internationale Waffenstillstandslinie markierte, und dahinter, auf einem Hügel, die ersten Häuser von Gaza-Stadt. Das Mittelmeer konnten sie nicht sehen, doch bei Westwind rochen sie die salzige Luft, die ihnen vergegenwärtigte, wie nah sie den Stränden von Gaza waren.
Es war Anfang Oktober, als eine 60-köpfige Gruppe von 19-jährigen israelischen Soldatinnen und Soldaten aus verschiedenen Teilen des Landes den Ort betrat, der Nahal Oz werden sollte. Die ersten Ankömmlinge waren sie jedoch nicht: Es existierte bereits ein winziger Militärstützpunkt, nicht mehr als eine Handvoll Baracken, die sich über ein kleines Stück Land verteilten. Der Stützpunkt war 1951 errichtet worden, um die Grenze und die dahinter liegenden israelischen Gemeinden zu schützen, und nun waren diese Teenager eingetroffen, auch sie mit einer strategischen Mission: Sie sollten diesen Stützpunkt in eine zivile Gemeinde verwandeln, einen neuen Kibbuz.
Der Befehl war direkt von Mosche Dajan gekommen, dem damals einflussreichsten General in Israel. Dajan und Israels erster Ministerpräsident David Ben-Gurion waren der Ansicht, dass Israels Grenzen, und insbesondere die Grenze zum Gazastreifen, mehr als nur militärische Anlagen benötigten, um gut 29und effektiv befestigt zu werden. Es brauchte auch ziviles Leben an der Grenze – vor allem eine landwirtschaftliche Erschließung –, damit die Region vollkommen sicher würde. Eine dauerhaft dort ansässige Bevölkerung, die Angriffe entdecken und verhindern könnte. Um der arabischen Welt zu zeigen, dass der kürzlich errichtete israelische Staat gegründet worden war, um zu bleiben.
Die militärische Einheit, der diese jungen Männer und Frauen angehörten, hieß Nahal, ein Akronym für die hebräischen Worte für »kämpfende Pionierjugend«. Diese 60 Personen, die nun aus dem Bus stiegen, waren wie die meisten jüdischen Bürger im Alter von 18Jahren zum Militär eingezogen worden und hatten ihre Grundausbildung durchlaufen. Anschließend jedoch, anstatt zu einem Armee- oder Luftwaffenstützpunkt entsendet zu werden, wurde ihnen ihre eigentliche Mission zugeteilt: Sie sollten einen neuen Kibbuz aufbauen. Der Name Nahal Oz war eine Kombination aus dem Namen der Einheit und dem hebräischen Wort für Stärke. In Dajans Vorstellung sollte der Kibbuz die Frontlinie an der Frontlinie bilden: ein Ort, der so nahe der Grenze lag, dass seine bloße Anwesenheit dazu beitragen würde, die dahinter liegenden Gemeinden zu schützen.
Einer der Soldaten, der aus dem Bus stieg, war ein junger Mann namens Yechiel Chlenov, der aus Tel Aviv gekommen war. Er war noch vor Staatsgründung Israels, zu Zeiten des britischen Mandatsgebiets Palästina, in eine Familie geboren worden, die zum zionistischen Adelsgeschlecht gezählt wurde: Benannt war er nach dem Großvater, einem frühen Anführer der zionistischen Bewegung, dessen Name die Straßenschilder im ganzen Land schmückte. Doch dieses illustre Erbe spielte bei ihm zu Hause keine große Rolle. Yechiel sollte seinen eigenen Weg gehen, seinen eigenen Beitrag zum neu gegründeten Staat Israel leisten und sich nicht auf dem Ruhm früherer Generationen ausruhen. So war er nach Nahal Oz gekommen.
Yechiel hatte sich in der Nahal-Einheit für die »Saatgruppe« 30gemeldet: Teenager, die dazu ausersehen wurden, in den Negev zu gehen – jenes weite Wüstengebiet, das den größten Teil des südlichen Israels umfasst –, um dort zu leben. Die Soldatinnen und Soldaten wussten von Beginn an, dass sie einen Kibbuz aufbauen sollten und waren begeistert von der Idee. Über die Gefahren eines Lebens an der Grenze machten sie sich nicht viele Gedanken. »Wir waren jung und hatten keine Kinder. Wir haben einfach nicht viel über die Risiken nachgedacht«, erinnerte Yechiel Jahrzehnte später.
Als diese ungewöhnliche Verstärkung im Herbst 1953 eintraf, verließen die vor Ort befindlichen Soldaten ihren Posten für andere Aufgaben, und die jungen Leute übernahmen die kleine Militärbasis. Die materiellen Bedingungen waren äußerst primitiv: Sie bauten mehrere Baracken in Wohnquartiere um, in denen sie jeweils zu viert in einem Zimmer schliefen. Eine größere Baracke wurde zum Gemeinschaftsspeisesaal umgebaut, zwei weitere dienten als Klinik und Gesellschaftsraum – dort gab es Bücher, Zeitungen und Brettspiele. »Wir hatten kaum Zeit, ihn zu nutzen«, sagte Yechiel. »Wir waren viel zu beschäftigt.«
Die Toiletten befanden sich in einer separaten Baracke, genauso wie die Gemeinschaftsduschen: eine für die Männer und eine für die Frauen. Wenn im Winter die Regenfälle einsetzten, verwandelte sich der staubige Boden in Morast. Jeden Tag arbeiteten die Soldaten von Sonnenaufgang bis -untergang, nachts mussten sie Wachdienst schieben, reihum, jeweils zu siebt: vier von ihnen saßen in den Wachtürmen an den Rändern des Kibbuz, zwei gingen auf Patrouille, eine Person war zur Unterstützung abgestellt. Yechiel erinnerte: »Es gab einen Dienst, den nur Mädchen übernahmen, und zwar das nächtliche Braten der Kartoffeln für die Wachposten. Wenn dir jemand diese Bratkartoffeln mitten in der Nacht brachte, noch warm – das war das Schönste auf der Welt.«
Der tägliche Speiseplan war weniger ansprechend: Morgens aßen sie Brot, das in einer Bäckerei in der nächstgelegenen 31Stadt, im 15 bis 20Minuten entfernten Netivot, gekauft wurde; Gemüse aus dem eigenen, gemeinschaftlichen Garten, den sie in der nordöstlichen Ecke des Kibbuz angelegt hatten; sowie eine Sorte Käse. An bestimmten Tagen gab es auch ein halbes Ei pro Person – eine Ration, mit der die Bewohner von Nahal Oz auskommen mussten, bis sie ihr eigenes Hühnerhaus errichtet hatten und in Rührei schwelgen konnten. Das Mittagessen bestand vor allem aus Kohlenhydraten – Kartoffeln und Reis –, gelegentlich auch aus Proteinen in Form von Fleisch oder Fisch. Das Abendessen war im Prinzip eine Wiederholung des Frühstücks, ergänzt um Tahini, einen Aufstrich aus gemahlenen Sesamkörnern und Zitrone. Zum Nachtisch gab es meistens Obst, manchmal auch Kuchen, der in der kleinen Kibbuz-Küche selbst gebacken wurde.
Einige Wochen nach ihrer Ankunft veranstalteten die Teenager einen Festakt anlässlich der Gründung des neuen Kibbuz. Würdenträger aus der Regierung und hochrangige Militärs kamen, ebenso wie die Eltern, die nun zum ersten Mal in Augenschein nehmen konnten, wofür ihre Kinder sich gemeldet hatten. Rachel Levi, eine der Gründerinnen, erzählte Jahrzehnte später, dass die Eltern über die Lebensbedingungen »schockiert« gewesen seien. Sie wollten ihren Kindern besseres Essen und bessere Kleidung zukommen lassen – doch das war in einem Kibbuz, in dem alle gleich behandelt werden mussten, nicht gestattet. Und so taten sich die Eltern zusammen und überlegten stattdessen, womit sie die Situation für alle gleichermaßen verbessern konnten.
Eine der ersten Elternentscheidungen war es, den »Kids«, so nannten sie ihre Frontsoldaten, ein kulturelles Leben zu ermöglichen. Die Gemeinschaftsbaracke wurde bald mit der Ankunft eines schwarzen Klaviers aufgewertet, das die Eltern gemeinschaftlich angeschafft hatten. Das Klavier dorthin zu bringen, war allerdings eine Herausforderung: Es gab damals keine befestigte Straße zum Kibbuz, nur einen Schotterweg, der 32zur nächstgelegenen Straße, drei Kilometer östlich, führte. Das Klavier wurde also bis zu dieser Kreuzung in einem kleinen Lkw gefahren, und von dort ging es mit dem Traktor weiter. Fortan versammelten sich abends alle, die gerade keinen Wachdienst hatten, nach dem Essen und einer kurzen Dusche um das Instrument und spielten und sangen gemeinsam.
Die Teenager lebten den zionistischen Traum, doch der hatte einen Preis. Nur einen Monat nach ihrer Ankunft verlor Nahal Oz sein erstes Mitglied, als Ya’akov »Tommy« Tuchman während eines Kontrollgangs an der Grenze von einem ägyptischen Soldaten erschossen wurde.
Zu dieser Zeit war die Demarkationslinie zwischen Israel und Gaza nicht mehr als ein Graben, der entlang der Waffenstillstandslinie ausgehoben worden war, die Israel und Ägypten 1949, nach dem Ende des israelischen Unabhängigkeitskriegs vereinbart hatten.
Während dieses Krieges, der ausgebrochen war, nachdem die Briten sich entschlossen hatten, ihr 30Jahre währendes koloniales Abenteuer in Palästina zu beenden, kämpfte die israelische Armee zeitgleich gegen die Palästinenser – die einheimische arabische Bevölkerung, die bei Ausbruch des Krieges auf dem Gebiet des britischen Mandatsgebiets Palästina lebte – und die Armeen mehrerer arabischer Nachbarstaaten, einschließlich der ägyptischen. Im Ergebnis standen ein israelischer Sieg und die Schaffung vorläufiger Grenzen zwischen Israel und den angrenzenden arabischen Staaten, eine davon war die Grenze zwischen Israel und dem ägyptisch kontrollierten Gazastreifen.
Jeder gesunde Mensch konnte problemlos über diese Grenze hüpfen, und tatsächlich versuchten auch jeden Tag Hunderte Palästinenser aus Gaza sie zu überqueren, manche von ihnen wollten zu den Häusern oder Ländereien, die sie im Krieg verloren hatten, andere kamen in der Absicht, Anschläge auf Israel zu verüben. Die Verantwortung für die Kontrolle »ihres« Grenzabschnitts, der unmittelbar außerhalb des Kibbuz verlief, 33fiel den jungen Mitgliedern von Nahal Oz zu, und der gerade einmal 20-jährige Tommy war in Ausübung dieser Aufgabe ums Leben gekommen. Die ägyptischen Soldaten, die ihn erschossen, konnten vom Schauplatz des Geschehens fliehen, bevor Hilfe von der israelischen Seite eintraf.
Feuergefechte wie diese waren damals keine Seltenheit an der Grenze, die zu dieser Zeit nur eine nicht verbindliche Waffenstillstandslinie war und regelmäßig von Gewehrkugeln überflogen und von Überfallkommandos überquert wurde. Aber für die jungen Leute aus Nahal Oz war dieser persönliche Verlust ein Schock – und führte ihnen erneut vor Augen, wie gefährlich die Mission war, die sie für sich gewählt hatten. Doch niemand verließ Nahal Oz, obwohl einige Eltern ihre Kinder inständig darum baten. »Wir trugen Verantwortung – nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch füreinander«, erinnerte sich Yechiel. »Man konnte nicht einfach aufstehen und seine Freunde zurücklassen.«
Der Berg Aly Montar liegt östlich der Salah-Al-Deen-Straße, der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung innerhalb des Gazastreifens. Vom Gipfel blickt man auf Nahal Oz wie auf eine detaillierte Landkarte. In den frühen 1950er Jahren sammelte ein ägyptischer Militärstützpunkt von diesem Gipfel aus Tag für Tag Informationen über das, was sich auf der anderen Seite der Grenze zutrug. Die ägyptischen Soldaten dokumentierten die Errichtung der ersten Baracken in den Feldern für einen provisorischen Militärstützpunkt; sie beobachteten die Ankunft der jungen Soldatinnen und Soldaten, die daraus einen Kibbuz machten; sie registrierten den Bau neuer Häuser und die Asphaltierung einer neuen Straße, die Nahal Oz mit dem Rest des Landes verband. Sie beobachteten und berichteten.
Der Gazastreifen, der Gaza-Stadt und mehrere Städte, Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung umfasst, war zu dieser Zeit ein Ort des Leids und der Not, in dem zwischen Gaza-Stadt 34im Norden und Rafah im Süden ungefähr 300000 Menschen lebten. Es war ein willkürlich entstandenes Gebiet, das Resultat der Verhandlungen zweier Großmächte – und willkürlich und unberechenbar war auch die Behandlung der Bewohner.
Im Jahr 1906 hatten sich das britische und das ottomanische Reich darauf verständigt, auf dem Reißbrett eine gerade Linie von Rafah bis nach Taba zu ziehen. Taba liegt circa 200 Kilometer südöstlich von Rafah, auf der anderen Seite der Sinai-Halbinsel, am Golf von Akaba. Die beiden Großmächte einigten sich, dass diese Linie fortan die Grenze zwischen dem damals von den Briten kontrollierten Ägypten und dem unter ottomanischer Herrschaft stehenden Palästina markierte. Die Ottomanen machten Gaza-Stadt, eine der größten Städte an der palästinensischen Küste zur De-facto-Hauptstadt einer neuen Region gleichen Namens. Jahrzehnte später sollte diese Region zum »Streifen« werden, der heute zwischen Israel und Ägypten eingebettet liegt.
Ein Jahrzehnt nach dem britisch-osmanischen Grenzabkommen prallten die beiden Großmächte im Zuge dessen, was später als der Erste Weltkrieg bezeichnet wurde, aufeinander. Die britische Armee eroberte das ottomanische Palästina und fügte es seinem Fundus an Kolonialgebieten hinzu. Zu den Neueroberungen zählten auch Gaza-Stadt und Umgebung. Doch obwohl die Krone nun beide Seiten der früheren britisch-ottomanischen Grenzen kontrollierte, blieb das ungefähr 13 Kilometer südlich von Gaza gelegene Rafah eine Grenzstadt, die fortan das britisch kontrollierte Palästina von Ägypten trennte.
Die Umgebung von Gaza-Stadt war eine der letzten im bis 1948 britisch-kontrollierten Palästina, in der noch unter britischer Herrschaft neue zionistische Gemeinden errichtet wurden. Eine dieser Gemeinden, ein kleiner Kibbuz namens Be’erot Yitzhak (»Die Brunnen von Isaak«) wurde 1943 gegründet, fast exakt dort, wo später Nahal Oz entstehen sollte. In diesem Gebiet, unmittelbar östlich von Gaza-Stadt, gab es damals keine palästi35nensischen Gemeinden, allerdings zogen weiter östlich lebende Beduinenstämme häufig auf ihrem Weg nach Gaza hindurch. Landkarten, die die palästinensische Präsenz in der Region in den 1940er Jahren dokumentieren, zeigen ein kleines palästinensisches Dorf gut sechs Kilometer südlich des heutigen Nahal Oz sowie ein weiteres vier Kilometer östlich davon, in der Nähe der heutigen israelischen Gemeinden Be’eri beziehungsweise Shokeda.
Als die Briten schließlich – nach jahrzehntelangen Kämpfen zwischen Juden und Palästinensern um das Land, das bis dahin zum britischen Mandatsgebiet Palästina gehört hatte – 1947 den Rückzug antraten, legten die Vereinten Nationen einen Plan zur Teilung des Landes in zwei separate Staaten vor: Israel und Palästina. Wäre dieser Teilungsplan so umgesetzt worden, hätte die gesamte Region um Gaza zu dem zukünftigen palästinensischen Staat gehört – die in der Region verstreut liegenden jüdischen Kibbuzim hätten die Option erhalten, entweder als Minderheit in einem neuen palästinensischen Staat zu leben oder nach Israel überzusiedeln, dessen zugewiesenes Gebiet nördlich davon lag.
Doch während David Ben-Gurion, der damals die zionistische Bewegung anführte, diesen Plan akzeptierte, lehnten die Palästinenser und eine breite arabische Führungsriege ihn aus unterschiedlichen Gründen ab. Einige arabische Staatsoberhäupter verwahrten sich grundsätzlich gegen die Idee eines jüdischen Staates in Palästina, andere hegten Vorbehalte gegen die Grenzverläufe des Teilungsplans, der Israel 55 Prozent des Lands zusprach, obwohl Juden damals weniger als die Hälfte der gesamten Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet Palästina ausmachten. Und während die zionistische Führung die Zuweisung von Land an Israel als bedeutsamen Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines sicheren Zufluchtsorts für die jüdischen Überlebenden des Holocaust betrachtete, verurteilten die palästinensischen Anführer den Teilungsplan, der in ihren Augen die 36Bedürfnisse der potenziellen jüdischen Einwanderer über jene der einheimischen palästinensischen Bevölkerung stellte.
Ende 1947 brach ein offener Krieg zwischen Zionisten und Palästinensern aus, und als Ben-Gurion 1948 offiziell die Staatsgründung Israels verkündete, traten die Armeen der angrenzenden arabischen Staaten in den Krieg ein, darunter auch Ägypten, das formal noch von Großbritannien besetzt war, in den 1920er Jahren jedoch eine gewisse Autonomie gewonnen hatte. Die Lage schien aussichtslos für das zionistische Projekt. Doch trotz der geringen Bevölkerungszahl Israels – in dem neuen Staat lebten gerade einmal 600000 Menschen – ging Israel als souveräner Sieger aus den Kämpfen hervor.
Der Krieg veränderte Gaza völlig. Als die israelischen Streitkräfte entlang der Küste nach Süden vordrangen, und dann weiter in die Wüste Negev, eroberten sie palästinensische Städte, Gemeinden und Dörfer, in denen Hunderttausende Menschen lebten. Viele dieser Palästinenser flüchteten in die Gaza-Region – manche wurden gewaltsam vertrieben, manche flohen aus Angst um ihr Leben, als das israelische Militär sich ihren Gemeinden näherte. Bei Kriegsende, im Januar 1949, hatte sich die Bevölkerung in der Gaza-Region mehr als verdreifacht; vor dem Krieg hatten dort weniger als 100000 Menschen gelebt, nun waren es ungefähr 300000, die meisten von ihnen Geflüchtete. Darunter auch die Einwohner der beiden kleinen Dörfer südlich und östlich von Nahal Oz.
In der ersten Januarwoche 1949 verhandelten israelische und ägyptische Offiziere über einen neuen Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern, der das Ergebnis der Kampfhandlungen widerspiegeln sollte. Dabei ging es nicht um einen von beiden Seiten akzeptierten Grenzverlauf, der schließlich in ein Friedensabkommen münden würde, sondern um eine temporäre Trennlinie, die den Krieg offiziell beenden sollte – basierend auf den Standorten beider Armeen am letzten Gefechtstag.
Eines stand von vorneherein fest, schon bevor die Verhand37lungen begannen: Gaza-Stadt und die unmittelbare Umgebung – ein Gebiet, auf das kaum ein israelischer Soldat während des Krieges einen Fuß gesetzt hatte – sollte Teil eines neuen, unter ägyptischer Kontrolle stehenden »Streifens« entlang des Mittelmeers werden. Der nördliche Teil dieses Streifens umfasste die Dörfer Beit Lahia und Beit Hanoun; im Süden verlief er bis Rafah und zur alten britisch-ottomanischen Grenze; im Westen bildete das Meer die natürliche Grenze.
Nach zweimonatigen Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten einigte man sich schließlich auch auf einen Grenzverlauf im Osten, womit der neue »Gazastreifen« seine endgültige territoriale Ausdehnung erhielt: ungefähr 40 Kilometer vom südlichsten bis zum nördlichsten Punkt und gut zehn Kilometer von der Küste bis zum östlichsten Punkt. Ein ägyptischer Militärgouverneur sollte die absolute Autorität innerhalb des Gazastreifens erhalten, und das neu geschaffene UN-Flüchtlingswerk, die UNRWA, wurde damit beauftragt, Schulen, Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen für die neuen Bewohner zu betreiben. Die Aufgabe, vor der das Hilfswerk stand, war gigantisch: Laut der Historikerin Sara Roy lag die Arbeitslosenquote in dem neuen Streifen 1950 bei 50 Prozent.
Die De-facto-Hauptstadt dieser neuen Region, Gaza-Stadt, wurde nach dem Krieg zu einer der am dichtesten besiedelten Städte im Nahen Osten. Sie war auch eine der ältesten, kontinuierlich bewohnten Städte der Welt, die ersten Anzeichen menschlichen Lebens in der Region reichen mindestens 4000Jahre zurück. In der hebräischen Bibel findet sie vor allem als bedeutende Stadt unter der Herrschaft der Philister Erwähnung, einem antiken Volk, dessen Präsenz in der Region die Griechen dazu veranlasste, den Namen »Palästina« zu prägen. Der legendäre israelitische König David kämpfte in Gaza gegen die Philister und nahm die Stadt schließlich ein. Später fiel sie auch an die Ägypter und die Perser. Der bekannteste christliche Heilige, der mit der Stadt in der Verbindung steht, ist der 29138u.Z. geborene Hilarion von Gaza, seine sterblichen Überreste ruhen südlich der Stadt. Im Mittelalter jedoch war Gaza zu der ganz überwiegend arabisch-muslimischen Stadt geworden, die sie heute ist.
Nach dem Krieg von 1948 veränderte sich Gaza-Stadt: Sie wurde zu einer Stadt von Flüchtlingen. Die meisten von ihnen kamen aus Gebieten, die nur eine kurze Fahrt von dem neuen Gazastreifen entfernt lagen, manche waren sogar fußläufig erreichbar. Der französische Historiker Jean-Pierre Filiu schreibt: »Die künstliche Natur der Demarkationslinie erschwerte es ihnen enorm, das Trauma der Enteignung zu überwinden, denn sie führte dazu, dass die ehemaligen Wohnhäuser und im Familienbesitz befindlichen Ländereien der Geflüchteten zum Greifen nahe waren.« Jeden Tag versuchten Hunderte von palästinensischen Flüchtlingen, über die Grenze in das nun zu Israel gehörende Territorium zu gelangen, um in ihre alten Häuser zurückzukehren oder ihr ehemaliges Land zu bestellen. Andere versuchten, Kühe, Schafe und Esel von den nun dort lebenden israelischen Bauern zu stehlen. Sie wurden von israelischen Soldaten zurückgedrängt, nicht selten gewaltsam.
Unter jenen, die versuchten, die neue Grenze zu überqueren, befanden sich auch Fedajin – bewaffnete Männer, die Gewehre, Handgranaten und andere Waffen trugen –, deren Absichten wenig nobel waren: Sie kamen mit dem Vorsatz, israelische Soldaten oder Zivilisten in den Grenzgemeinden zu töten. Zum Teil trieb sie ein ideologischer Widerstand gegen Israel an – ein Staat, dessen schiere Existenz in ihren Augen auf der Vertreibung des palästinensischen Volkes vom Territorium der neuen Nation gründete –, und zum Teil motivierte sie der Wunsch nach Rache für die Niederlage im Krieg von 1948, die ihrer Sache schwer geschadet hatte. Mancher hoffte darauf, die neuen israelischen Gemeinden zurückdrängen zu können und auf diese Weise etwas von dem Land zurückzugewinnen, das mit der Gründung Israels verloren gegangen war.
39Kurzum: Die neu geschaffene Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen erlebte nur sehr wenige Tage des Friedens. Und dennoch entstanden entlang der Grenze in den darauffolgenden Jahren israelische Gemeinden, und Tausende Menschen zogen in das Gebiet, das heute als »Gaza Envelope«, oder Gazagürtel, bezeichnet wird – die Region in Israel, die sich in Schussweite von Gaza befindet. Parallel dazu verstärkte das israelische Militär seine Präsenz entlang der Grenze – und überquerte sie auch immer häufiger. Dajan beauftragte einen jungen israelischen Fallschirmjäger namens Ariel Scharon damit, eine Spezialeinheit aufzustellen, die innerhalb Gazas operieren sollte, um militante Palästinenser davon abzuhalten, Anschläge auf Israel zu verüben. Filiu beschreibt die neue Realität als einen beginnenden »Kreislauf von Übergriffen und Vergeltungsaktionen entlang der Waffenstillstandslinie«, der Hunderte Menschenleben auf beiden Seiten forderte.
Tami Halevi traf gemeinsam mit sechzehn weiteren Mädchen im wehrpflichtigen Alter im Sommer 1955 in Nahal Oz ein. Ein Bus fuhr sie bis zur nächstgelegenen Kreuzung, dort holte sie ein Traktor mit Anhänger ab. In ihren besten Kleidern setzten sich die Mädchen in den verdreckten Anhänger. Als sie ihr neues Zuhause erreichten, gab man ihnen zehn Minuten Zeit, um ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten auf ihre Zimmer zu bringen, bevor sie sich im Speisesaal des Kibbuz einfinden sollten. Dort erwartete sie ein bescheidenes Abendessen: Brot, Käse und Salat. Dann erhielt jede von ihnen eine Arbeit für den nächsten Morgen zugeteilt – und das war’s. »Was für eine Begrüßung!«, erinnerte sich Tami später.
Tami war in Naharija aufgewachsen, einer Küstenstadt im Norden Israels, in der damals viele wohlhabende Jüdinnen und Juden lebten, die aus Deutschland eingewandert waren. Ihre Mutter war eine der ersten praktizierenden Ärztinnen im britischen Mandatsgebiet Palästina, und in Tamis Straße wohnten 40zwei der reichsten Familien aus der Region, wo sie große Fabriken besaßen. Doch Tamis Eltern hatten sie zu einem robusten Mädchen erzogen: Als Naharija 1948 von arabischen Streitkräften bombardiert und belagert wurde, wurde sie, damals ein Teenager, zur Bergung von Vorräten rekrutiert, die israelische Flugzeuge über dem Meer abgeworfen hatten.
Sie kam mit der zweiten »Saatgruppe« nach Nahal Oz, die zusammengestellt wurde, um den neuen Kibbuz zu besiedeln. Die Mitglieder der ersten Gruppe, der von Yechiel und seinen Freunden, waren inzwischen 21-jährige Veteranen und wirkten auf Tami wie die selbstbewusstesten und kompetentesten Menschen auf dieser Welt. Wie die erste Gruppe von 1953 war auch ihre eine gemischte, Soldatinnen und Soldaten mit der Mission, den neuen Kibbuz an der Grenze zu verstärken. Doch neben ihren Vorgängern fühlten sie sich wie Grünschnäbel.
Vieles hatte sich in Nahal Oz seit der Gründung verändert: Mehrere Häuser waren gebaut und neue landwirtschaftliche Gerätschaften angeschafft worden, ein kleiner Milchbetrieb war im Entstehen. »Wir kamen in einen bestehenden Kibbuz«, bemerkte sie – anders als die erste Gruppe, die alles von Grund auf aufbauen musste. In der Nacht ihrer Ankunft kam ein Baby in Nahal Oz auf die Welt – das dritte seit 1953.
Heiraten hatte für viele Kibbuz-Mitglieder Priorität. Sie waren jung, durchtrainiert und sonnengebräunt von den langen Stunden der Arbeit unter freiem Himmel – und vielleicht wichtiger noch: Sie lebten vollständig isoliert vom Rest der Welt. Es gab nur ein Telefon in der ganzen Gemeinde – das für dringende Kommunikation mit dem Militär genutzt wurde –, Busse fuhren nicht regelmäßig, Post traf für gewöhnlich einmal in der Woche ein. Unter diesen Bedingungen brauchte es nicht lange, bis sich Paare bildeten.
Auf den Feldern von Nahal Oz befanden sich noch die Überreste von Be’erot Yitzhak – dem 1943 gegründeten Kibbuz, der im Krieg von 1948 von der ägyptischen Armee zerstört worden 41war. Die überlebenden Bewohner dieser Gemeinde hatten sich entschieden, den Kibbuz in Zentralisrael neu aufzubauen, nur ein Wasserturm und einige halb verfallene Häuser zeugten noch von ihrem Projekt. Junge, verliebte Pärchen aus Nahal Oz nutzten diese Ruinen, um sich dort ungestört näherzukommen; Yechiel erinnerte, dass einige Männer einmal bei den verlassenen Gebäuden ein Schießtraining abhalten wollten und dabei ein frisch verliebtes Paar beim Knutschen gestört hatten.
Für Menschen, die in Kibbuzim wie Nahal Oz lebten, bot die Wohnsituation einen extra Anreiz, früh zu heiraten – auch schon mit 21Jahren: Verheirateten Paaren wurden private Räumlichkeiten zugeteilt, und sie waren auch die Ersten, die in »richtige« Häuser ziehen durften, sobald diese fertiggestellt wurden. Dass nun auch Neugeborene Teil der Gemeinschaft waren, bedeutete jedoch auch neue Herausforderungen: Ein Kindergarten wurde benötigt und, wichtiger noch, auch ein »Kinderhaus«, in dem die Kleinen nachts schliefen. Bis in die 1970er Jahre hinein schliefen die Kinder in den meisten Kibbuzim nicht bei ihren Eltern, sondern in einem Gemeinschaftsschlafsaal mit Gleichaltrigen, unter der Aufsicht einer erwachsenen Betreuungsperson.
Roi Rutberg und Amira Glickson gehörten zu den ersten Paaren in Nahal Oz, die heirateten und ein Baby bekamen – einen Sohn. Roi war der Sicherheitschef in der Gemeinde und damit zuständig für die gesamte Kommunikation mit dem Militär. Bei einem Notfall innerhalb oder in der Umgebung des Kibbuz war er der Erste, der zu Hilfe eilte. Jeden Morgen patrouillierte er zu Pferd durch die Felder. Amira beschrieb ihn später als »griechischen Helden«, kräftig und sonnengebräunt, der häufig mit freiem Oberkörper und einem Kamm in der Hosentasche seiner Jeans umherlief.
Die Ägypter, die den Kibbuz vom Gipfel des Hügels Aly Montar beobachteten, kannten Roi Rutberg namentlich. Sie verfolgten seine täglichen Routinen und beobachteten häufig, 42wie er Palästinenser vertrieb, die versuchten, die Grenze zu überschreiten und in die Felder zu gelangen. Roi war dabei oft allein unterwegs – nur ein Mann auf seinem Pferd. Für seine Nachbarn und Freunde in Nahal Oz war er ein Held. Für die ägyptischen Soldaten auf der anderen Seite war er ein Symbol – und bald eine Zielscheibe.
Der 29. April 1956 sollte eigentlich ein Festtag werden in Nahal Oz. Vier Hochzeiten waren für diesen Tag geplant, gemäß dem zwei Jahre zuvor eingeführten Brauch, Hochzeiten nicht länger einzeln zu feiern, sondern im Rahmen eines freudigen Großereignisses. Hunderte von Gästen aus ganz Israel wurden erwartet, die in Bussen eintreffen sollten. Eines der Hochzeitspaare lud auch Mosche Dajan ein und war hocherfreut über den Antwortbrief aus seinem Büro, in dem stand, dass es dem General – dem Mann, der die Idee zur Gründung des Kibbuz Nahal Oz gehabt hatte – eine Ehre sei, an der Feier teilzunehmen.
Die Vorbereitungen liefen schon seit den frühen Morgenstunden. Kibbuz-Mitglieder übten einen Gruppentanz ein, die Paare probierten ihre Hochzeitskleidung an. Doch um kurz nach 9