Die Tote im Wanderzirkus - Stephen Spotswood - E-Book

Die Tote im Wanderzirkus E-Book

Stephen Spotswood

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Beschreibung

Eine erstochene Zirkusartistin, ein unschuldiger Hauptverdächtiger und zwei Ermittlerinnen, die mit allen Wassern gewaschen sind!

New York, 1946: Will Parker hat sich geschworen, nie wieder zuzulassen, dass ihr bei einem Fall persönliche Gefühle in die Quere kommen. Doch dann erreicht sie die Nachricht von einem Mord im Hart & Halloway’s Wanderzirkus, den sie fünf Jahre lang ihr Zuhause genannt hat. Ihre alte Freundin Ruby Donner wurde erstochen – und der Hauptverdächtige ist ausgerechnet Wills ehemaliger Mentor, der Messerwerfer Valentin Kalishenko. Um den wahren Mörder zu finden und Kalishenko vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren, machen sich Will und die Privatdetektivin Lillian Pentecost auf zum Zirkus. Doch bald schon ahnen sie, dass Wills damalige Freunde ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen und die ermordete Artistin eine Menge Geheimnisse verborgen hat. Geheimnisse, für die es sich zu morden lohnt …
Die Krimi-Reihe um Pentecost & Parker:
Die Tote auf dem Maskenball
Die Tote im Wanderzirkus
Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 528

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Buch

New York, 1946: Will Parker hat sich geschworen, nie wieder zuzulassen, dass ihr bei einem Fall persönliche Gefühle in die Quere kommen. Doch dann erreicht sie die Nachricht von einem Mord im Hart & Halloway›s Wanderzirkus, den sie fünf Jahre lang ihr Zuhause genannt hat. Ihre alte Freundin Ruby Donner wurde erstochen – und der Hauptverdächtige ist ausgerechnet Wills ehemaliger Mentor, der Messerwerfer Valentin Kalishenko. Um den wahren Mörder zu finden und Kali-shenko vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren, machen sich Will und die Privatdetektivin Lillian Pentecost auf zum Zirkus. Schon bald ahnen sie, dass Wills damalige Freunde ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen und die ermordete Artistin eine Menge Geheimnisse verborgen hat. Geheimnisse, für die es sich zu morden lohnt …

Autor

Stephen Spotswood ist ein preisgekrönter Autor von Theaterstücken, Journalist und Theaterpädagoge. Zusammen mit seiner Frau, der Jugendbuchautorin Jessica Spotswood, ihrer Katze und einer stetig wachsenden Büchersammlung lebt und arbeitet er in Washington, D. C.

Von Stephen Spotswood bereits erschienen

Die Tote auf dem Maskenball

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

STEPHEN SPOTSWOOD

DIE TOTE IMWANDER-ZIRKUS

PENTECOST & PARKER ERMITTELN

Kriminalroman

Deutsch von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Murder Under Her Skin (A Pentecost & Parker Mystery 2)« bei Doubleday, New York.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Stephen Spotswood LLC

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Harring

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von MaraQu/Shutterstock.com und stock.adobe.com (busurman, sabida, vectorpouch, Adopik, LaInspiratriz)

BSt · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-26852-7V001

www.blanvalet.de

Für die Familien, die wir uns suchen.

»Es hat schrecklich wehgetan.Aber das war es mir wert.«

BETTYBROADBENT, Die tätowierte Venus (1909 – 1983)

Die Akteure

WILLOWJEAN »WILL« PARKER: Schlagfertige rechte Hand von Lillian Pentecost. Erlernt das Detektiv-Handwerk in manchmal mühsam erkämpften Lektionen.

*

LILLIANPENTECOST: Offiziell anerkanntes Genie und Detektivin. Nichts ist gefährlicher, als sich zwischen sie und die Wahrheit zu stellen.

*

RUBYDONNER: Die Tätowierte Schönheit – ihre Lebensgeschichte ist tief in ihre Haut eingestochen. Doch war wirklich ein Kapitel aus ihrer Vergangenheit der Grund dafür, dass sie mit einem Messer im Rücken endete?

*

BIGBOBHALLOWAY: Betreiber und Direktor von Hart & Halloway’s Wanderzirkus und Spektakulum. Eine wahrhaft große Persönlichkeit, die alles tun würde, um den Zirkus am Leben zu erhalten.

VALENTINKALISHENKO: Wills Klingen schleudernder Mentor in der Zirkuswelt und nun Hauptverdächtiger in einem brutalen Mordfall. Er hat Dekaden voll dunkler Geheimnisse hinter sich gebracht. Würde er töten, um zu verhindern, dass sie ans Licht kommen?

*

SAMLEEBUTCHER: Der jüngste und leidenschaftlichste Handlanger des Showbetriebs. Nicht einmal ein Mord kann seine Begeisterung für das Leben unter der Zirkuskuppel schmälern.

*

FRIEDA, DIEFANTASTISCHEGUMMIFRAU: Früher einmal waren Will und sie mehr als nur Freunde. Aber ihre Loyalität ist heutzutage mindestens ebenso elastisch wie ihre Gelenke.

*

MAEVEBAILEY: Die Allsehende Madame Fortuna. Die Zukunft ist für sie so mühelos lesbar wie eine Speisekarte. Wie kann es also sein, dass sie Rubys Tod nicht kommen sah?

*

RAYNANCE: Das Haus des Giftigen Getiers ist seine Welt. Ein durch und durch liebenswerter Kerl, aber kann man jemandem trauen, dessen beste Freunde so viel Gift in sich tragen?

*

DIEATEMBERAUBENDEANNABELLE: Magische Assistentin mit flinken Fingern und spitzer Zunge. Sie hat sich hohe Ziele gesteckt, und es wäre besser, ihr auf dem Weg dorthin nicht in die Quere zu kommen.

*

PAT »DOC« DONNER: Veteran des Großen Krieges, Kinobetreiber und alkoholgetränkter Onkel von Ruby, der vor allem durch Abwesenheit glänzte. Durch den Tod seiner Nichte hat er ein paar Probleme weniger.

*

JOEENGLE: Kriegsheld, frisch gebackener Polizist und einstige Flamme von Ruby. Seinen rechten Arm hat er im Krieg verloren, doch wem gehört nun sein Herz?

*

CARLENGLE: Vater von Joe und imposanter Vorsteher und Pastor von Das Blutende Lamm Gottes. Zu welchen Mitteln fühlt er sich berufen, wenn es darum geht, seine Herde auf dem schmalen Pfad der Tugend zu halten?

*

CHIEFTHOMASWHIDDLE: Knapp hundert Kilo Rechtschaffenheit mit Cowboyhut. Hinter seinem Silberblick verbirgt sich ein fast schon boshaft scharfer Verstand.

*

LEROYDECAMBRE: Kleinkrimineller mit ansprechendem Äußeren. Er hat seine Finger fast überall drin. Waren sie also auch um den Messergriff geschlungen?

Kapitel 1

»Die Staatsanwaltschaft ruftLillian Pentecost in den Zeugenstand.«

Ein hörbares Raunen ging durch den Gerichtssaal. Richter Harman, der seinen Hammer sonst immer gerne einsetzte, ließ es ausnahmsweise geschehen. Er konnte es den Leuten nicht verübeln. Seit drei langen Tagen saßen sie nun schon Schulter an Schulter, während der Kalender den Juli des Jahres 1946 abgeschlossen hatte und zum August übergegangen war, und hatten sich den langweiligen Kleinkram der Anklage angehört. Während alle nur darauf warteten, dass das eigentliche Drama endlich begann.

Gegen Mittag des ersten Tages hatte die Klimaanlage den Geist aufgegeben, sodass nun rund zweihundert Reporter, Angehörige und Sensationshungrige schwitzend auf den überfüllten Bänken hockten und dem Höhepunkt des momentan spektakulärsten Mordprozesses der Stadt entgegenfieberten.

Und dieser Höhepunkt war mein Boss.

Sämtliche Blicke waren auf Lillian Pentecost gerichtet, als sie sich nun auf den Weg zum Zeugenstand machte; ihr Gehstock klopfte einen steten Rhythmus auf den Hartholzboden des Gerichtssaals. Sie machte eine eindrucksvolle Figur: hochgewachsen, schlank, jenseits der vierzig, tadellose Haltung, wodurch ihr grauer Fischgrätanzug mit der weißen Bluse und ihrer bevorzugten blutroten Krawatte noch besser zur Geltung kam. Die langen kastanienbraunen Haare waren in einer komplizierten Flechtfrisur aufgesteckt, aus der eine quecksilbergraue Strähne deutlich hervorstach.

Ich hatte sie sogar dazu gebracht, etwas Make-up aufzulegen. Ein Hauch von Lidschatten betonte ihre wintergrauen Augen, Rouge erhöhte den dramatischen Effekt ihrer Raubvogelzüge, und hellrosa Lippenstift ließ ihren Mund ein wenig weicher wirken. Das Gesamtbild zielte auf seriös, aber zugänglich ab. Eine Frau, der man zutraute, einen Mörder zu benennen.

In dem allgemeinen Gemurmel bildete der Tisch der Verteidigung eine Insel des Schweigens. Forest Whitsun, der Anwalt des Beklagten, drehte sich auf seinem Stuhl um und beobachtete Ms. Ps Auftritt. In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus unerschütterlichem Selbstvertrauen und leiser Neugier.

Natürlich interessiert es mich, was sie zu sagen hat, sollte diese Miene den Geschworenen suggerieren, aber nur insofern, als ich Ihnen anschließend erklären kann, warum diese Frau falschliegt.

Den Angeklagten hätte man vor einem Zigarrenladen aufstellen können, denn er war steif wie eine Holzfigur. Während der vergangenen Tage hatte Barry Sendak immer ausgefeiltere Versionen des zu Unrecht Beschuldigten präsentiert, den es zu bemitleiden galt. Jetzt war sein Blick vollkommen ausdruckslos, und er presste die Lippen zusammen.

Eines musste man ihm allerdings lassen – er sah wirklich nicht aus wie ein Brandstifter.

Und genau das war das Problem.

Natürlich gab es nicht den einen Brandstifter von der Stange. Aber man sollte doch meinen, dass man es einem Menschen irgendwie anmerkt, wenn durch seine Schuld siebzehn Menschen bei lebendigem Leib verbrannt sind und Hunderte obdachlos und von Trauer gezeichnet zurückbleiben.

Das Alte Testament hat schon recht: Mord sollte Spuren hinterlassen.

Aber das war natürlich reines Wunschdenken.

Auch die Geschworenen hatten wohl in den letzten drei Tagen nach einem solchen Zeichen gesucht, aber keines gefunden. Sie sahen nur einen weichlichen, leicht übergewichtigen Mann vor sich, der nicht einmal einen Meter sechzig groß war. Einen Mann, dessen Haar sich bereits mit dreißig stark lichtete und der offensichtlich glaubte, das durch einen dichten Schnurrbart ausgleichen zu können. Er hatte die leicht fremdbestimmt wirkende Ausstrahlung eines Beamten, der er ja auch war, denn er hatte die letzten zehn Jahre als Sicherheitsinspektor für die New Yorker Feuerwehr gearbeitet. In seinem Gesicht glänzten die feuchten braunen Augen eines unschuldigen Rehleins, und sein um eine Nummer zu groß geratener Anzug verstärkte die Empfindung, hier ein gehetztes Beutetier vor sich zu haben, keinesfalls einen Räuber.

Ich wusste es besser.

Ich war dabei gewesen, als mein Boss die Beschuldigung vorbrachte und Lieutenant Nathan Lazenby, einer der besten Mordermittler der Stadt, ihm die Handschellen anlegte. In diesem Moment hätte niemand Sendak für ein armes Opferlamm gehalten.

Als ich noch klein war, musste ich meinem Vater einmal dabei helfen, einen Dachs aus seinem Bau herauszuholen. Das Tier hatte unsere Salatbeete verwüstet, weshalb mein Vater beschlossen hatte, dass es verschwinden müsse. Er stand mit gezückter Flinte hinter mir, während ich den Dachs an den Pfoten packte und herauszog. Fauchend und um sich schlagend kam das Tier zum Vorschein, und hätte mein Vater nicht so schnell abgedrückt, hätte dieser Dachs mir vermutlich das halbe Gesicht zerfetzt.

Und genau so hatte Sendak ausgesehen, als Lazenby ihn abführte: als wollte er seine Zähne in Ms. Pentecosts Wange vergraben und sie zerfetzen.

Das Problem war nur, dass die Geschworenen dieses Vieh nicht zu sehen bekamen.

Und das zweite – nach Meinung des Staatsanwalts größere – Problem war, dass sich die drei Mietshäuser, die Sendak angezündet hatte, in Harlem befanden. Die siebzehn Toten waren alle Schwarz, wohingegen ich jedem eine Medaille verliehen hätte, dem es gelungen wäre, eine noch weißere Jury als diese hier zu finden.

Außerdem lagen gegen Sendak nur Indizienbeweise vor. Klar, davon gab es eine ganze Menge, aber wer unbedingt einen begründeten Zweifel auftreiben wollte, musste nur die Augen zusammenkneifen und sich einreden, dass es ihn gab. Sicherlich klappte das sogar ganz ohne schlaflose Nächte.

Deshalb waren einige Strippenzieher und mehrere bissige Zeitungskommentare nötig gewesen, um den Staatsanwalt überhaupt dazu zu bringen, den Fall weiter zu verfolgen. Und auch so hatte es am Ende nur funktioniert, weil ein ganz bestimmter Daumen Druck ausgeübt hatte.

Dieser Daumen lag nun zusammen mit seinen vier Freunden auf einer Bibel, während seine Besitzerin schwor, die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

»Rufen Sie mich als Zeugin auf«, hatte Ms. Pentecost dem Bezirksstaatsanwalt befohlen. »Ich verspreche Ihnen, dass ich den Geschworenen zeigen werde, was für ein Mensch Mr. Sendak ist.«

Lillian Pentecost nahm ihre Versprechen ernst, und das wusste der Staatsanwalt. Deshalb waren wir nun hier. Letzter Tag, letzte Zeugin, und der Ausgang des Spiels hing allein von meinem Boss ab.

Irgendjemand hat mal behauptet, echte Damen schwitzen nicht, deshalb gehe ich davon aus, dass ich keine echte Dame bin. Zumindest war ich ebenso in Schweiß gebadet wie der Rest der Zuschauer.

Von meinem Platz in der letzten Reihe aus sah ich zu, wie der Assistenzstaatsanwalt – es war Howard Clark, der offenbar beim Strohhalmziehen verloren hatte – mit Ms. Pentecost das übliche Warum und Weshalb durchging. Nichts davon war neu für mich, also nutzte ich die Gelegenheit, um mir noch einmal das Telegramm anzusehen, das am Morgen von einem ziemlich abgehetzten Western-Union-Boten für mich abgegeben worden war.

*

Ruby ermordet aufgefunden. Zirkus zurzeit in Stoppard, Virginia. Brauchen professionelle Unterstützung. – BH

*

BH stand für Big Bob Halloway, den Eigentümer und Betreiber von Hart & Halloway’s Wanderzirkus und Spektakulum. In dem Telegramm war auch eine Telefonnummer angegeben, unter der ich ihn erreichen konnte.

Ms. P war gerade im Obergeschoss damit beschäftigt gewesen, sich zurechtzumachen, als das Telegramm kam, und ich hatte es ihr bisher noch nicht gezeigt. Sie sollte durch nichts von der Aufgabe abgelenkt werden, die ihr nun bevorstand.

Ich hingegen konnte mir den Luxus erlauben, gedanklich ein wenig abzudriften.

Ruby Donner. Die Tätowierte Schönheit.

Ihr Körper war eine Traumlandschaft voller Rosen und Matrosenmädchen, Herzen, Meerjungfrauen und Piratenschiffen und einer smaragdgrünen Schlange, die sich an ihrem linken Bein von den Zehen bis zum Oberschenkel und in Gefilde jenseits davon wand. Bei unserer letzten Begegnung waren es über dreihundert Bilder gewesen.

Vier Jahre waren seitdem vergangen. Was hätte sie wohl von der Willowjean »Will« Parker gehalten, die hier hübsch aufgerüscht saß, in ihrem Gerichts-Blazer und adrettem Röckchen, damit sie zwischen den Deppen auf den billigen Plätzen nicht auffiel?

Die Reporter, die in meiner Reihe saßen, hatten sich schon über mein Outfit amüsiert.

»Arbeitest du jetzt verdeckt und spielst die kleine Sekretärin?«, hatte ein Schlaukopf von der Times gefragt. »Du kannst gerne zum Diktat auf meinen Schoß kommen, Parker, jederzeit.«

Ich zeigte ihm meinen Lieblingsfinger und schlug ihm leise vor, sich doch mal da draufzusetzen.

»Ach, jetzt sei nicht so, Red. Ich mach doch nur Spaß.«

So etwas geht bei der Vierten Gewalt als Flirtversuch durch.

Angespannt fuhr ich mir mit der Hand durch die roten Locken. Ich ließ sie nun seit acht Monaten wachsen, und zum ersten Mal seit der Schule waren sie beinahe schulterlang. Prompt blieb ich an einem Knoten hängen, den ich mit einem Ruck lösen musste. Hastig sah ich mich um, doch es hatte niemand bemerkt – alle fixierten gespannt den Zeugenstand.

Ruby.

Einmal hatte ich sie gefragt: »Warum machst du das? Das muss doch höllisch wehtun.«

Sie schenkte mir ihr typisches Lächeln, bei dem ich immer Gänsehaut bekam.

»Natürlich tut es weh, Schätzchen. Aber auch nicht mehr als alles andere.«

Das Gespräch war noch weitergegangen und hatte letztlich damit geendet, dass ich mich wenig später in ihrem Bett zur Närrin machte. Aber daran durfte ich jetzt nicht denken. Clark kam gerade zum Ende, was hieß, dass die eigentliche Show nun beginnen konnte.

Whitsun ging voller Nonchalance zum Zeugenstand hinüber, was vermutlich nicht einmal gespielt war, immerhin galt er als der beste Strafverteidiger der Stadt. Der New Yorker hatte ihn einmal als den »echten Perry Mason« bezeichnet, und keiner von denen, die Ahnung hatten, hatte widersprochen.

Dass er auch auf jedem Liebesroman-Cover eine gute Figur gemacht hätte, war da sicher nicht von Nachteil. Eins achtzig groß, blaue Augen, breite Schultern und ein Gesicht, das nicht weit von Gary Cooper entfernt war. Sicher, es saßen keine Frauen auf der Geschworenenbank – was absolut nicht ungewöhnlich war – , aber er hatte eben auch diese subtile Leitwolf-Ausstrahlung. Wenn er voranschritt, liefen alle gerne hinterher. Und mein Boss hatte nun die Aufgabe, ihm die Zügel zu entreißen.

»Ms. Pentecost. Sie bevorzugen doch die Anrede Ms., nicht wahr?«, begann er.

»Das ist richtig.«

Whitsun nickte lächelnd und warf einen kurzen Blick zu den Geschworenen hinüber. Ich konnte ihn nicht genau sehen, ging aber davon aus, dass die stumme Botschaft ungefähr so lautete: Ist sich zu fein für eine Ehe oder das einfache ›Miss‹, was? Einer solchen Frau kann mal wohl kaum trauen.

Laut sagte er: »Wer hat Sie engagiert, diese Brände zu untersuchen?«

»Niemand.«

»Niemand? Sie haben also aus reiner Herzensgüte zwei Monate Arbeit in diese Sache investiert?«

»Ich habe mich dafür entscheiden, diese Vorfälle zu untersuchen, weil dabei Menschen gestorben sind«, erwiderte mein Boss trocken.

»War dies das erste Mal, dass Sie der Polizei zur Hand gegangen sind, ohne von einem Auftraggeber dafür bezahlt worden zu sein?«

»Nein.«

»Eigentlich sind Sie inzwischen sogar recht bekannt dafür, sich bei öffentlichkeitswirksamen Fällen einzuschalten, nicht wahr?«

»Ich würde nicht sagen, dass ich bekannt bin, wofür auch immer.«

»Jetzt sind Sie aber zu bescheiden. Vermutlich gibt es niemanden in dieser Stadt, der Ihren Namen nicht schon einmal gehört hat«, widersprach der Verteidiger. »Und die Arbeit an diesen prominenten Fällen bringt Ihnen ja sicherlich auch neue Klienten ein, oder nicht?«

»Ich frage meine Klienten nicht danach, wann und wo sie von mir erfahren haben«, erklärte Ms. P.

Ich zuckte innerlich zusammen. Mit diesem abfälligen Ton tat sie sich keinen Gefallen.

»Nein, vermutlich nicht«, sagte Whitsun mit wohldosierter Gutwilligkeit und einem kurzen Lächeln in Richtung Geschworenenbank.

Leicht anstrengend, die Dame, raunte dieses Lächeln der Jury zu.

»Trotzdem sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Sie in dieser Stadt schon des Öfteren für Schlagzeilen gesorgt haben«, nahm er den Faden wieder auf. »Und je größer der Fall, desto größer die Schlagzeile. Bei diesem Fall? Oh, wow, die waren richtig groß.«

Wenn Whitsun hier etwas zu lapidar klang für einen Großstadtjuristen, so war das gewollt. Alles Teil seiner Show. Dadurch schaffte er es immer wieder, sich die Sympathie der Geschworenen zu sichern. Und auch die vieler Zeugen.

Bis das Ganze dann umschlug.

»Wie oft ist Ihr Name aufgrund Ihrer Beteiligung an dem Fall in der Presse aufgetaucht?«, fragte er weiter.

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe es nicht gezählt.«

»Ich schon.« Er schlenderte zum Tisch der Verteidigung und hielt mit großer Geste einen Stapel Zeitungen hoch. »Ihr Name wurde in zweiunddreißig Artikeln erwähnt, verteilt auf fünfzehn Zeitungen und drei global erscheinende Zeitschriften.«

Nun fing er an, die Blätter einzeln vorzuzeigen, wobei er die jeweilige Schlagzeile laut vorlas.

»›Pentecost jagt den Feuerteufel von Harlem‹; ›Lillian Pentecost am Tatort des zweiten Brandes‹; ›Privatdetektiv Pentecost führt Polizei zum Täter‹; ›Pentecost führt Brandstifter der Gerechtigkeit zu‹.«

Whitsun warf sich mit der letzten Zeitung in Pose und ließ einen schier endlosen Moment verstreichen.

»Führt das Ganze auch noch zu einer Frage?«, wollte Ms. P mit einem absoluten Mindestmaß an Höflichkeit wissen.

»Aber sicher doch.« Er warf die Zeitungen zurück auf den Tisch. »Glauben Sie, es hätte Ihnen ähnlich viel mediale Aufmerksamkeit gebracht, wenn Sie der Polizei keinen Verdächtigen geliefert hätten?«

Während er seine Frage stellte, schob mein Boss eine Hand in die Tasche ihres Jacketts und zog ein silbernes Feuerzeug daraus hervor. Sie ließ es in der Hand kreisen, dann öffnete sie mit einem Fingerschnippen den Deckel.

Richter Harman beugte sich zu ihr hinunter. »Äh … Ms. Pentecost? In meinem Gerichtssaal ist Rauchen verboten.«

»Verzeihen Sie, Euer Ehren. Ich rauche nicht«, erklärte sie ihm. »Wie Sie ja wissen, leide ich unter Multipler Sklerose, und wenn ich meinen Händen etwas zu tun gebe, lässt sich das Zittern besser unter Kontrolle halten.«

Was nicht wirklich gelogen war. Aber fast.

»Sollte es als störend empfunden werden, kann ich es gerne wegstecken«, fügte sie mit genau kalkuliertem Leidensdruck in der Stimme hinzu.

»Das ist schon in Ordnung, Euer Ehren«, schaltete sich Whitsun ein und lächelte mitfühlend. »Ms. Pentecost ist gesundheitlich angeschlagen. Und wenn es dabei hilft, ihre Nerven zu beruhigen …«

Ich verpasste Whitsun kaum hörbar ein paar unschöne Namen, was den Reportern rechts und links ein leises Lachen entlockte. Es würde keine Gelegenheit geben, die Geschworenen genauer über Multiple Sklerose aufzuklären – dass ihr Körper hin und wieder schlappmachte, aber ihr Geist niemals.

Trotzdem hatten wir bekommen, was wir wollten.

Ms. P drehte das Feuerzeug in der Hand, ließ es auf- und zuschnappen. Wieder und wieder.

»Würden Sie Ihre Frage vielleicht noch einmal wiederholen, Mr. Whitsun?«, bat sie.

»Könnte man davon ausgehen, dass Sie nicht annähernd so viele Schlagzeilen gemacht hätten, wenn Sie der Polizei keinen Verdächtigen präsentiert hätten?«

»Ja, das könnte man sagen.« Drehen, aufschnappen, zuschnappen. »Und wenn ich Sendak nicht erwischt hätte, hätte er weiter Mietskasernen angezündet.«

Ein schwacher, ziemlich später Seitenhieb, den Whitsun einfach ignorierte.

»Bei einer früheren Aussage haben Sie sich ausführlich über die Beweise ausgelassen, die angeblich gegen Mr. Sendak vorliegen, allerdings ist mir aufgefallen, dass Sie dabei zu erwähnen vergaßen – oder Mr. Clark zu fragen vergaß – , dass Sie meinem Mandanten zuvor schon begegnet waren. Wann genau war das?«

»Am Schauplatz des zweiten Brandes, wenige Tage nach der Tat«, antwortete Ms. P. »Angeblich war er dort, um den Feuerwehrleuten bei der Absicherung des Gebäudes zu helfen.«

»›Angeblich‹? Ms. Pentecost, welchen Beruf übt mein Mandant aus?«

»Er ist Sicherheitsinspektor bei der New Yorker Feuerwehr.«

»Ganz genau!«, rief Whitsun. »Es ist also wenig überraschend, dass mein Mandant sich dort aufhielt, oder etwa nicht? Er ging dort lediglich seiner Arbeit nach.«

Whitsun war gut. Er ließ keine Gelegenheit aus, die Jury daran zu erinnern, dass Ms. Pentecost eine Zivilistin war, die sich ungefragt einmischte.

»Was hat mein Mandant zu Ihnen gesagt, als er Sie dort zwischen den Trümmern entdeckte?«, fragte Whitsun weiter.

»Er hat mich aufgefordert zu gehen.«

Whitsun lachte leise. »Oh, ich denke, es war doch eine ziemlich nachdrückliche Aufforderung. Wie lauteten noch gleich seine genauen Worte? Und keine Sorge wegen des derben Vokabulars – wir sind schließlich alle erwachsen.« Wieder warf er den Geschworenen dieses unbeschwerte Grinsen zu, das prompt erwidert wurde. Allerdings nicht von meinem Boss.

»Seine genauen Worte waren: ›Hör zu, du trampeliges Miststück, verschwinde von hier, sonst lasse ich dich wegschaffen.‹«

Drehen, aufschnappen, zuschnappen.

Whitsun riss in gespieltem Entsetzen die Arme hoch und drehte sich zu seinem Mandanten um. Sendaks verlegenes Lächeln war selbst in der letzten Reihe noch ansatzweise zu erkennen. Wie oft sie das wohl geübt hatten? Bestimmt nicht so oft wie Ms. P und ich den Trick mit dem Feuerzeug.

»›Trampeliges Miststück‹? Wie kam er denn darauf?«

»Ich war über die Überreste eines Türstocks gestolpert.«

Whitsun schüttelte den Kopf.

»Da hat mein Mandant wohl keinen besonders guten ersten Eindruck bei Ihnen hinterlassen, oder?«

»Um ehrlich zu sein, hat Sendak eigentlich gar keinen Eindruck bei mir hinterlassen«, erklärte Ms. Pentecost gelassen. »Zu jenem Zeitpunkt ist er mir kaum im Gedächtnis geblieben.«

Drehen, aufschnappen, zuschnappen.

Sendak rutschte auf seinem Stuhl herum und schlug immer wieder die Beine übereinander.

»Das kann ich nur schwer glauben, Ms. Pentecost, wenn man bedenkt, wie derbe er Sie angegangen ist.«

»Oh, es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht als Miststück bezeichnet werde.« Das brachte ihr ein paar leise Lacher von der Geschworenenbank ein.

»Und doch konnten Sie es ihm kaum übel nehmen«, betonte Whitsun. »Sie befanden sich an einem Tatort. Als Zivilistin. Und das ohne einen wirklichen Auftrag. Sie sind dort herumspaziert und haben Beweismittel durcheinandergebracht. Da hätte ich vermutlich auch zu gewissen sprachlichen Mitteln gegriffen.«

Clark erhob sich. »Euer Ehren, Mr. Whitsun stellt Mutmaßungen an.«

»Verzeihung, Euer Ehren. Ich ziehe diese Anmerkung zurück. Manchmal lasse ich mich zu sehr mitreißen.«

Langsam entwickelte ich einen regelrechten Hass auf dieses zuvorkommende Lächeln.

Die Nummer, die Ms. Pentecost hier abziehen wollte, wäre während der Befragung durch den Staatsanwalt wesentlich leichter zu inszenieren gewesen, denn dann hätten wir das Drehbuch dazu selbst schreiben können. Aber sie hatte darauf bestanden, es während des Kreuzverhörs zu machen.

»Mr. Sendak wird dann weniger wachsam sein, und was noch wichtiger ist, sein Anwalt wird nicht neben ihm sitzen. Zu diesem Zeitpunkt wird er schon eine Weile dort gesessen und sich die Schilderung seiner Verbrechen angehört haben. Verbrechen, auf die er stolz ist und die seinem tiefsitzenden Bedürfnis nach Kontrolle entspringen, seiner Gier nach Macht. Seine Fassade wird brüchig sein. Ich denke, dann braucht es nur noch einen Stoß in die richtige Richtung, um sie einstürzen zu lassen.«

Theoretisch war Sendak bereits weichgeklopft worden. Man hatte die Zeugen der Anklage angewiesen, immer nur seinen Nachnamen zu benutzen, ohne das respektvolle Mister davor – als wäre er ein Ding, keine Person. Und sie hatten möglichst oft Begriffe wie »feige« oder »schwach« einfließen lassen.

Kleine Nadelstiche.

Der Trick mit dem Feuerzeug gehörte auch zu diesem Paket. Ein identisches Feuerzeug hatte er bei seiner Verhaftung bei sich gehabt. Nun sollte es seine Aufmerksamkeit auf sich lenken, dafür sorgen, dass er sich voll und ganz auf Ms. Pentecost einschoss und nicht weiter die Jury manipulierte. Zwei Wochen lang hatte ich meinen Boss gedrillt, damit sie sicher mit dem Ding umgehen konnte.

All diese Techniken hatten wir bei unserem letzten großen Fall aufgeschnappt, bei dem ein angebliches Medium ähnliche Tricks angewendet hatte, um seinen Kunden ihre Geheimnisse zu entlocken.

Ms. P erklärte mir, dieser Schachzug ähnele einem Fechtmanöver. Ihr Interesse an diesem Sport war geweckt worden, nachdem ich ihr einen Gehstock mit integriertem Schwert zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie benannte das Manöver mit einem französischen Wort, das ich damals nicht aussprechen konnte und das mir inzwischen komplett entfallen ist.

»Dabei lässt man die Deckung sinken und provoziert einen Angriff, um dadurch die Chance zu bekommen, den Gegner zu durchbohren.«

Für all jene Leser, die nicht zu den Liebhabern des Fechtsports gehören: Wir setzten quasi alles auf eine Karte.

Und auch wenn wir nicht gerade das beste Blatt auf der Hand hatten, bestand immer noch die Chance, dass die Geschworenen sich zu einem Schuldspruch entschlossen. Zumindest eine kleine Chance. Ich hatte am Vorabend etwas rumtelefoniert, und unter den Buchmachern fand sich eigentlich keiner, der auf einen klaren Freispruch tippte. Allerdings standen die Quoten fünf zu zwei für ein Patt, bei dem sich die Jury nicht auf ein Urteil einigen konnte. Und der Staatsanwalt würde sicher kein zweites Mal in diesen sauren Apfel beißen wollen.

So sah es nun also aus: Das war unsere letzte und einzige Chance, Sendak für immer wegzusperren. Dafür musste Ms. P lediglich den besten Strafverteidiger der Stadt überlisten und den Angeklagten dazu bringen, den Geschworenen zumindest für einen Moment sein wahres Gesicht zu zeigen, nachdem er seit knapp einem Jahr daran arbeitete, genau das eben nicht zu tun.

Wenn ich behaupte, dass mir das nicht den Schweiß auf die Stirn trieb, ist das nicht gelogen. Dafür war meine Bluse am Rücken vollkommen durchnässt.

Whitsun holte zum nächsten Schlag aus.

»Sie haben ausgesagt, Sie wären Mr. Sendak zwei Wochen später erneut begegnet, am Schauplatz des nächsten Brandes. Ist das so richtig?«

»Ja, das ist korrekt. Er stand auf der anderen Straßenseite und beobachtete das Feuer.«

»So wie auch Hunderte andere Menschen, nicht wahr?«

»Das ist korrekt.«

»Und trotzdem haben Sie sich sofort auf ihn eingeschossen. Haben Ihre Ermittlung auf ihn ausgerichtet. Es gab nicht den Hauch eines Beweises, aber Sie haben beschlossen, dass er einen passenden Kandidaten abgibt. Ist es nicht so?«

»Das ist korrekt«, sagte Ms. P wieder.

»War er der Einzige dort, der eine Verbindung zur Feuerwehr hatte?«

»Nein.«

»Nein, denn es gab auch noch einige Feuerwehrmänner, die gerade dienstfrei hatten, davon hörten und dort auftauchten. Weil das nun einmal ihr Job ist. Auch wenn sie gerade nicht im Dienst sind. Um die Bewohner dieser Stadt zu schützen.«

Für einen Moment befürchtete ich, Clark könnte wieder Einspruch erheben, aber er war klug genug, die Klappe zu halten. Er überließ die Sache meinem Boss.

»Ms. Pentecost, ist es nicht so, dass Sie Ihren Zorn gegen Mr. Sendak richteten, weil Ihre erste Begegnung mit ihm so unglücklich verlaufen war? Weil er Ihnen ganz frech ins Gesicht gesagt hatte, dass eine Amateurin an einem Tatort nichts verloren hat? Weil er Sie beleidigt hatte? Waren Sie deshalb nicht von Anfang an voreingenommen gegenüber meinem Mandanten?«

Drehen, aufschnappen, zuschnappen.

»Ja.«

Sämtliche Anwesenden hielten den Atem an, Whitsun eingeschlossen.

»Sie geben zu, dass Sie meinem Mandanten gegenüber voreingenommen waren?«

Nur mit Mühe schaffte Whitsun es, sich seine Freude nicht anmerken zu lassen.

»Absolut, ich gebe es zu«, bestätigte Ms. P gelassen. »Allerdings nicht, weil er mich beleidigt hatte. Er sah einfach aus wie ein Brandstifter.«

Diese Feststellung löste erneutes Raunen aus, und diesmal brachte Richter Harman seinen Hammer vehement zum Einsatz. Überall wurden Blicke getauscht, manche fragend, andere vollkommen ratlos. Nur Whitsun stand wie versteinert da. Er sah aus wie ein Kerl, der in Frankreich über ein Feld läuft und plötzlich ein leises Klicken unter seinem Fuß spürt.

Die offensichtliche Frage wäre gewesen: »Was meinen sie damit: ›Er sah aus wie ein Brandstifter‹?«

Aber die oberste Regel in jedem Gerichtssaal lautet, dass man niemals eine Frage stellen darf, deren Antwort man nicht kennt, und Whitsun hatte nicht die leiseste Ahnung, was wohl noch aus dem Mund meines Bosses kommen würde, wenn er Ms. P unter Druck setzte.

Im Grunde genommen blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: Er konnte nicht weiter darauf eingehen, allerdings hatte die Jury den Kommentar jetzt gehört und würde sich dann im Stillen fragen, was sie damit gemeint haben könnte. Außerdem würde Clark es dann im weiterleitenden Verhör aufgreifen, und dann lag der Ball nicht mehr in Whitsuns Feld.

Die andere Möglichkeit: Der »echte Perry Mason« fuhr mit extrem gut ausgetüftelten Fragen fort und hoffte, die Zeugin so im Griff zu behalten.

Drehen, aufschnappen, zuschnappen. Am Tisch der Verteidigung rutschte Sendak so rastlos herum, als hätte ihm jemand eine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt.

Nachdem er kurz überlegt hatte, baute sich Whitsun direkt vor dem Zeugenstand auf. Unwillkürlich musste ich lächeln. Er wollte also versuchen, Lillian Pentecost in den Griff zu kriegen.

Gott möge ihm beistehen.

»Sie waren also der Meinung, mein Mandant – ein hart arbeitender, rechtschaffener Bürger, dem nie auch nur ein Vergehen zur Last gelegt wurde, nicht einmal ein Strafzettel, und der sein Leben der Aufgabe gewidmet hat, diese Stadt ein wenig sicherer zu machen – sähe aus wie ein Brandstifter? Nur deshalb haben Sie Ihren übermäßigen Einfluss bei Polizei und Staatsanwaltschaft geltend gemacht, wodurch sein Leben vollkommen aus den Fugen geriet?«

Mein Boss deutete ein Achselzucken an.

»Soweit ich weiß, war sein Leben zu diesem Zeitpunkt bereits aus den Fugen geraten«, erwiderte Ms. P. »Einige Monate zuvor hatte ihn doch seine Frau verlassen, oder nicht?«

Wieder wurde leise gemurmelt, und Sendak zuckte deutlich sichtbar zusammen. Ich konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, aber die Geschworenen schon. Und was auch immer sie dort sahen, erregte offenbar ihre Aufmerksamkeit.

Wieder beugte Richter Harman sich vor. »Ms. Pentecost, ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Seine Frage war berechtigt. Lillian Pentecost war keine offenherzige Frau, dafür war sie bekannt. Sie hatte schon öfter im Zeugenstand gesessen, als ich an beiden Händen abzählen konnte, aber sie hatte nie zuvor bei einer Aussage so eindeutig Stellung bezogen.

»Es geht mir gut«, versicherte sie.

Drehen, aufschnappen, zuschnappen.

Bestimmt wusste Whitsun, dass irgendetwas im Busch war, aber der Köder war einfach zu verlockend. Die entscheidende Zeugin der Anklage, jene Frau, die seinen Mandanten am liebsten auf dem elektrischen Stuhl sehen wollte, hatte zugegeben, dass sie von Anfang an mit Vorurteilen belastet gewesen war.

Er muss die Falle gerochen haben. Aber vermutlich dachte er sich, dass er selbst im schlimmsten Fall genug in der Hand hatte, um in Berufung gehen zu können. Minenfeld hin oder her, er schritt weiter voran.

»Ms. Pentecost, was genau hatte mein Mandant denn an sich, das Sie bei Ihrer ersten Begegnung zu dem Schluss führte, er sei ein Brandstifter?«, fragte er mit einer dicken Portion Skepsis in der Stimme.

Mein Boss holte tief Luft und beugte sich kaum merklich vor. Und jeder im Saal, sei es nun unbewusst oder nicht, ahmte ihre Bewegung nach.

»Brandstiftung ist ein Verbrechen, das von Feiglingen begangen wird«, erklärte sie. »Aus der Ferne, von jemandem, der Abstand hält und genießt. Ein Mann, der solche Verbrechen begeht, ist oft angespannt, nervös, gibt sich übermäßig defensiv, denn er weiß, dass er weniger wert ist als die Menschen in seiner Umgebung. Ihm macht es Spaß, die wenigen Menschen, die sich ihm unterordnen müssen, kleinzuhalten und niederzumachen. Oder zumindest versucht er es. Genau diese Reaktion hat Sendak mir gegenüber gezeigt.«

Während sie sprach, drehte sie das Feuerzeug zwischen ihren langen Fingern, ließ es scheinbar entspannt auf- und zuschnappen. Wer nicht zu genau hinsah, glaubte, ihre Aufmerksamkeit sei ganz auf Whitsun gerichtet. Doch in Wahrheit fixierte nur ihr rechtes Auge – das Glasauge – den Verteidiger. Mit ihrem gesunden Auge blickte sie über seine Schulter hinweg zu Sendak.

Wieder drehte sich das Feuerzeug, dann ließ sie es aufschnappen und betätigte den Zündmechanismus. Eine kleine Flamme schwebte nun in ihrer Hand.

»Ein Mann, der solche Verbrechen begeht, ist von kleinem Wuchs und körperlich schwach«, fuhr sie fort. »Brandstiftung wird typischerweise von Männern begangen, aber nicht von starken und gesunden Männern. Vermutlich hat er auch nicht im Krieg gedient. Keine Waffengattung wird ihn genommen haben.«

»Euer Ehren, ich ziehe die Frage zurück«, verkündete Whitsun.

Ms. P ignorierte ihn.

»Ein Brandstifter ist kein Mann, er ist eine Kakerlake. Verkriecht sich in Ritzen und Spalten und kommt nur nachts aus seinem Versteck.«

»Ms. Pentecost, die Frage wurde zurückgezogen«, mahnte Richter Harman.

»Ich bin gleich fertig, Euer Ehren«, versicherte Ms. P, ohne dabei aus dem Takt zu geraten. Während sie weitersprach, glitt ihr Daumen immer wieder durch die Flamme, vor und zurück wie ein Metronom. »Deshalb wusste ich, dass du es warst. Ich hätte es schon wissen müssen, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Diesen kleinen, langweiligen Beamten mit dem blassen Streifen am Finger, wo früher einmal ein Ehering saß, der nun aber verschwunden ist, weil du es einfach nicht schaffst, eine Frau glücklich zu machen, nicht wahr?«

»Ms. Pentecost!« Der Richter ließ den Hammer knallen, aber mein Boss machte einfach weiter.

»Deshalb hast du ganze Häuserblocks angezündet, in denen glückliche Familien lebten. Du wolltest sie brennen sehen. All diese Frauen und Männer, die so viel glücklicher waren als du, so viel besser als du, so viel – «

Sendak sprang so unvermittelt auf, dass sein Stuhl bis in die erste Zuschauerreihe rutschte. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er über den Tisch hechten und sich auf meinen Boss stürzen. Vielleicht hätte er es sogar getan, wenn die Gerichtsdiener nicht in Aktion getreten wären. Erst als Sendak die vorrückenden Uniformen sah, hielt er inne und ließ die wüste Beschimpfung, die er schon halb hervorgestoßen hatte, unvollendet ausklingen.

Richter Harman griff zum Hammer, und Whitsun eilte zu seinem Klienten. Die Reporter neben mir waren so geschockt, dass sie sich nicht einmal Notizen machten.

Und die Geschworenen?

Alle zwölf waren sichtlich angewidert. Nun hatten sie einen kurzen Blick auf das erhaschen können, was wir erlebt hatten, als Sendak festgenommen worden war. Das Raubtier. Die tollwütige Bestie, die hinter der friedlichen Fassade lauerte.

Es fehlte zwar der Schaum vor dem Mund, trotzdem reichte es aus. Ich konnte regelrecht sehen, wie sich die Waagschale zur anderen Seite hin senkte.

Mein Französisch mag mies sein, aber ich bin gut darin, in Gesichtern zu lesen. Und ich weiß, wie man schuldig buchstabiert.

Ich ging hinaus, um den Wagen zu holen.

Kapitel 2

»Es ist ein Desaster, ein absolutes Desaster. So etwas habe ich noch nie erlebt, und ich bin jetzt seit über vierzig Jahren im Geschäft. Eine Sturmschneise ist nichts dagegen.«

Mein Boss warf mir einen fragenden Blick zu.

Ich drückte eine Hand auf das untere Ende meines Telefonhörers, während sie ihren weiter ans Ohr drückte. »Eine Naturkatastrophe«, erklärte ich ihr. »Normalerweise wetterbedingt, aber nicht zwangsläufig.«

Ms. Ps freie Hand – die, mit der sie das Feuerzeug eingesetzt hatte – ruhte in einer Schüssel mit Eiswasser. Der Kraftaufwand hatte Schmerzen und ein spürbares Zittern in den Fingern zur Folge gehabt. Das Eiswasser diente allerdings weniger der Heilung, es war eher eine kühlende Ablenkung.

Wir saßen an unseren beiden Schreibtischen mit den beiden Telefonen im Büro von Pentecost Investigations, das sich in dem gemütlichen Brownstonehaus in Brooklyn befand, welches wir unser Zuhause nannten. Wir waren gerade erst vom Gericht zurückgekommen. Während der Fahrt hatte ich Ms. P das Telegramm lesen lassen. Sie beschwerte sich darüber, dass ich es ihr nicht schon früher gezeigt hatte, woraufhin ich ebenso motzig erwiderte, dass wir klare Prioritäten hätten, weshalb das vollkommen sinnlos gewesen wäre. Als wir den Gerichtssaal verlassen hatten, hatte Whitsun um eine Verfahrenspause gebeten, woraufhin er und Clark ins Büro des Richters gebeten wurden.

Bei unserer Heimkehr dann erwartete uns bereits das Ergebnis, das uns von unserer Haushälterin Mrs. Campbell mit ihrem unnachahmlichen schottischen Akzent verkündet wurde: Harman konnte keinerlei Verfahrensfehler erkennen, schließlich hatte Whitsun die Frage selbst gestellt, und Ms. Pentecost hatte lediglich wahrheitsgemäß geantwortet.

Dass der Verteidiger sich erkundigt hatte, ob man möglicherweise noch einen Deal aushandeln könne, zeigte mir, dass er die Mienen der Geschworenen ebenso gedeutet hatte wie ich. So wie ich Clark kannte, würde er sich auf nichts einlassen, was unter einem Strafmaß von zwanzig Jahren lag.

Ms. P konzentrierte sich nun wieder auf den Mann am anderen Ende der Leitung. Big Bob Halloways Stimme klang, als wäre sie eine Million Meilen von uns entfernt – als befände er sich auf dem Mond und nicht im Randbezirk eines Kuhkaffs irgendwo in Virginia.

»Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust, Mr. Halloway«, sagte sie nun. »Wie genau ist Ms. Donner denn gestorben?«

»Erstochen. Von hinten.« Trotz des störenden Rauschens in der Leitung war sein Zorn unverkennbar. »Kurz nach Ende der letzten Runde am Dienstag.«

Wieder ein fragender Blick. »Runde?«, flüsterte sie hilflos.

»Kurz nach Ende der letzten Vorstellung«, erklärte ich ebenso leise.

»Das Mädchen von Mysterio hat sie gefunden, sie lag einfach da«, ergänzte Big Bob. »Verdammt noch mal das Traurigste, was ich je gesehen habe, und ich habe schon eine Menge trauriger Dinge gesehen.«

Es lag nicht an der schlechten Verbindung, dass seine Stimme brach. Das war aufrichtige Trauer, wie ich sie bei dem abgebrühten Zirkusdirektor noch nie gehört hatte. Und ich hätte auch gut darauf verzichten können.

Aber ich konnte ihn verstehen.

Ruby war so ziemlich die Erste gewesen, der ich in die Arme gelaufen war, als ich im Teenageralter – gerade von zu Hause abgehauen – bei H & H Unterschlupf gesucht hatte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie sie mir die dreckverkrustete Kappe vom Kopf gezogen und naserümpfend gesagt hatte: »Wenn wir nur ordentlich schrubben, finden wir irgendwo da drunter bestimmt eine ansehnliche junge Frau.« Das war das erste Mal gewesen, dass mich jemand als Frau bezeichnet hatte, ob nun ansehnlich oder nicht.

Einfach jeder hatte Ruby geliebt. Wie sollte es auch anders sein?

Nur nicht derjenige, der sie als Messerblock missbraucht hatte.

»Befindet sich der Zirkus noch immer in Stoppard?«, fragte Ms. P.

»Ja, wir sind noch hier«, bestätigte Big Bob. »Dienstag war unser erster Abend. Oder zumindest der erste mit Publikum. Zweiwöchiges Gastspiel, wir sind also noch bis Sonntag in einer Woche hier. Dann bauen wir ab und ziehen weiter nach Charlotte. Können nicht länger bleiben. Die Verträge sind alle unterschrieben, und gültige Verträge sind heutzutage Mangelware.«

Heute war Donnerstag. Uns blieben also noch zehn Tage, bevor der Tatort und alles drum herum eingepackt und aus der Stadt geschafft wurde.

»Werden die Behörden Sie denn einfach so ziehen lassen?«, fragte Ms. P verwundert. »Es ist doch recht überraschend, dass man so vielen«, beinahe hätte sie Verdächtigen gesagt, nahm dann aber eine schnelle Kurskorrektur vor, »Menschen, die dem Opfer nahestanden, erlaubt, die Stadt zu verlassen, bevor der Fall aufgeklärt ist.«

»So was in der Art hat der Polizeichef auch gesagt, als er das erste Mal hier war. Aber heute Morgen hat er es sich dann anders überlegt. Er meinte, wir könnten jederzeit gehen.«

»Was hat sich denn geändert?«, wollte Ms. P wissen.

Außer Knistern und Rauschen war in der Leitung nichts zu hören.

»Mr. Halloway?«

»Na ja, er hat jetzt jemanden am Haken«, meinte Big Bob zögernd. »Will? Bist du auch noch dran?«

»Klar, bin da.«

»Tut mir echt leid, dass ich es dir sagen muss, aber … sie haben den Russen verhaftet. Er sitzt seit gestern Morgen bei ihnen in der Zelle. Und heute haben sie ihn offiziell angeklagt.«

Es dauerte ein paar Herzschläge, bis ich das verarbeitet hatte.

»Kalishenko? Die glauben, er hätte Ruby getötet?«

»Ja, das glauben sie.«

»Wie zum Teufel kommen die denn auf so etwas?«

»Das war sein Messer in ihrem Rücken.«

Wieder nur Knistern und Rauschen.

Valentin Kalishenko gehörte zu den alten Hasen bei H & H: Messerwerfer, Schwertschlucker, Feuerspucker und einer meiner Mentoren aus jener Zeit. Ich würde nicht so weit gehen, den Verrückten Russen als Vaterersatz zu bezeichnen. Eher war er eine Art ständig betrunkener Onkel, der mich bereits in sehr jungen Jahren mit spitzen Gegenständen spielen ließ.

»Das hat überhaupt nichts zu bedeuten.« Ich zerrte an dem Knoten in meinen Haaren. »Er hatte ungefähr hundert von diesen Dingern.«

»Ich weiß«, antwortete Big Bob.

»Und er hat sie ständig überall rumliegen lassen.«

»Ich weiß.«

»Was ist mit Fingerabdrücken?«, wollte ich von ihm wissen. »Haben sie an dem Messer welche gefunden?«

»Nur verschmierte, denke ich. Zumindest haben die Cops so etwas gesagt. Irgendetwas über das Material, mit dem der Griff umwickelt ist, an dem keine guten Abrücke haften bleiben.«

»Es handelt sich also um sein Messer, aber ohne Abdrücke. Das ist gar nichts. Was haben sie noch?«

»Am Telefon will ich nicht weiter ins Detail gehen«, wehrte Bob ab. »Du weißt, wie es in diesen Kleinstädten ist. Da weiß man nie, wer alles mithört.«

Ms. Pentecost räusperte sich, trank einen Schluck von ihrem Honigwein und fragte: »Was genau beabsichtigen Sie, Mr. Halloway?«

»Was ich beabsichtige?«

»In Ihrem Telegramm hieß es, Sie bräuchten Unterstützung«, präzisierte Ms. P. »Welche Art von Unterstützung?«

»Ich will, dass Sie Rubys wahren Mörder finden!«

»Dann glauben Sie also nicht, dass Mr. Kalishenko für ihren Tod verantwortlich ist?«

Ein wirkliches Schweigen war die folgende Stille nicht, aber es trat definitiv eine Pause ein.

»Ich … äh … ich will das jetzt nicht genauer ausführen, aber hier unten wird eindeutig mit gezinkten Karten gespielt. Die Cops verteilen Cold Decks und Alibis wie an einer Imbissbude, aber die Wahrheit steht bei denen nicht auf der Speisekarte.«

Fragender Blick.

»Ein Spiel, das man nicht gewinnen kann«, erklärte ich. »Aber nicht wirklich manipuliert, weshalb es technisch gesehen legal ist.«

»Ich will mich hier nicht durchschnorren«, betonte Big Bob. »Ich kann Sie ganz offiziell engagieren.«

»Bitte bleiben Sie in der Leitung, Mr. Halloway.«

Sie hielt mit einer Hand die Sprechmuschel ihres Hörers zu und signalisierte mir, ihrem Beispiel zu folgen.

»Also.«

»Also.«

»Was hältst du davon?« Mein Boss lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.

»Um es mit Ihren Worten zu sagen: Ich habe nicht annähernd genug Informationen, um eine Antwort auf diese Frage zu formulieren.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, sagte sie nickend. »Versuchen wir also, es etwas einzugrenzen: Wäre Mr. Kalishenko zu einem Mord fähig?«

»Absolut.«

Eine ihrer Augenbrauen hob sich ein wenig.

»Jeder ist zu einem Mord fähig«, rief ich ihr ins Gedächtnis. »Ich wäre dazu fähig, Sie wären dazu fähig. Das hängt natürlich immer von den Umständen ab.«

»Und im Fall von Mr. Kalishenko müssten das welche Umstände sein?«

Ich dachte kurz nach.

»Notwehr«, schlug ich dann vor.

»Selbstverständlich. Was noch?«

»Um jemanden zu beschützen«, ergänzte ich. »Um seine Familie zu beschützen.«

»Seine Familie?«

Plötzlich stieg eine Erinnerung in mir auf und drohte mich zu verschlingen. Eine Spelunke irgendwo jenseits der Appalachen. Nach Bier stinkender Atem in meinem Gesicht, raue Hände an meinem Hals. Dann Kalishenko mit seinen Messern und jede Menge Blut.

»Der Zirkus ist seine Familie.« Mühsam kehrte ich in die Gegenwart zurück. »Er würde einfach alles für uns tun. Das schließt Ruby mit ein. Was heißt, dass ich meine Annahme, er wäre dazu fähig, widerrufe. Ich glaube nicht, dass er es getan hat. So etwas würde er niemals tun. Nicht bei einem von uns.«

Ms. Pentecost musterte mich schweigend. Jetzt, wo ich all das in die Maschine tippe, wird mir klar, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging. Ich hatte nicht »sie« und »ihnen« gesagt, sondern »uns«.

Ich verortete mich selbst ebenfalls auf diesem Familienstammbaum. Heute, da ich sie noch besser kenne als damals, kann ich mir gut vorstellen, dass dies einen gewissen Einfluss auf ihre Entscheidung hatte.

Sie nahm die Hand vom Hörer.

»Mr. Halloway, sind Sie noch dran?«

»Ja.«

»Wir machen uns gleich morgen früh auf den Weg nach Virginia.«

Ich lehnte mich zurück, während die beiden die Details klärten. Mein Blick streifte das riesige Ölgemälde, das hinter Ms. Ps Schreibtisch hing. Es zeigte einen mächtigen gelben Baum irgendwo in der Prärie, unter dem eine Frau in einem blauen Kleid lag. Ihr Gesicht verlor sich in den Schatten. Seit beinahe vier Jahren studierte ich dieses Bild nun schon, doch ich konnte mich noch immer nicht entscheiden, ob sie sich dort ausruhte oder ob sie dort hingefallen war.

Wartete sie auf ihren Liebsten?

Oder wartete sie auf den Tod?

Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie Big Bob die beste Reiseroute von New York nach Stoppard beschrieb und versprach, eine Unterkunft und einen Wagen für uns bereitzustellen.

Ich malte mir aus, wie Ruby in irgendeinem zertrampelten Maisfeld mitten im Nirgendwo lag. War es schnell gegangen, oder hatte es lange gedauert? Hatte sie es kommen sehen? Hatte sie gespürt, wie die Dunkelheit sie immer fester umschloss, und gewusst, was das bedeuten musste?

Ich war noch immer in dieser Vorstellung gefangen, als mein Boss Big Bob versicherte, dass wir uns am folgenden Nachmittag sehen würden, und anschließend den Hörer auflegte.

Dann zog sie die freie Hand aus der Wasserschüssel und trocknete sie mit dem Geschirrtuch ab, das Mr.s Campbell bereitgelegt hatte. Vorsichtig bewegte sie die Finger. Ihre Haut war rau und gerötet, und es war offensichtlich, dass sie Schmerzen hatte.

»Laut Mr. Halloway geht morgen früh um halb sieben ein Zug an der Penn Station, mit dem wir bis Fredericksburg fahren können, wo dann ein Fahrer auf uns wartet«, erklärte sie mir.

Ich nickte stumm.

»Auch wenn der Zirkus in gut einer Woche weiterzieht, sollten wir uns besser auf einen längeren Aufenthalt einstellen«, fuhr sie fort. »Am besten packen wir für drei Wochen.«

Wieder nickte ich halbherzig.

»Will?«

»Ja?« Ich war selbst überrascht, wie rau meine Stimme klang.

Man muss ihr zugutehalten, dass sie sich jede sinnlose Frage nach meinem Befinden sparte. Stattdessen ließ sie mir einfach einen Moment Zeit, um wieder zu mir zu kommen.

»Ja, drei Wochen klingt gut. Lieber auf Nummer sicher gehen«, befand ich schließlich. »Soll ich auch was einpacken für den Fall, dass es Ärger gibt?«

»Da verlasse ich mich auf dein Urteilsvermögen.«

»Auch gut«, erwiderte ich. »Also das Päckchen für spezielle Ärgernisse.«

Kapitel 3

Unsere Reise begann mit dem ersten Hahnenschrei. Vor der Penn Station hievten Ms. Pentecost und ich zusammen mit Mrs. Campbell unser Gepäck aus dem Kofferraum des Cadillac und auf den Wagen eines wartenden Dienstmanns. Ich habe die Tendenz, immer zu viel einzupacken, weshalb unsere schweren Koffer den Wagen beinahe umkippen ließen.

»Diesmal ist nur eine Leiche drin«, scherzte ich, während ich dem Gepäckträger sein Trinkgeld gab. Er nahm den Dollar mit einem leicht verschlafenen Lächeln entgegen.

Mrs. Campbell drückte uns so fest an sich, dass einige Rippen in Gefahr waren, wobei sie zum fünften Mal an diesem Morgen anbot, uns zu begleiten. Ebenfalls zum fünften Mal erklärten wir ihr, dass wir jemanden brauchten, der in Brooklyn die Stellung hielt, und dass wir bei diesem Fall eher Sahnetorten als Kugeln abbekommen würden.

»Passen Sie gut auf sie auf«, befahl sie, allerdings war ich mir nicht ganz sicher, an wen diese Aufforderung gerichtet war.

Wir winkten zum Abschied. Betreten sah ich zu, wie sie mitten auf der Seventh Avenue einen U-Turn hinlegte und dabei beinahe die Stoßstange eines Busses mitnahm.

Dann folgten der Boss und ich unserem Gepäck zum Bahnsteig, wo der Zug bereits wartete. Die Koffer landeten dort, wo Koffer nun einmal hingehören, und wir suchten uns gegenüberliegende Plätze in einem der Passagierwagen.

Ms. Pentecost holte umgehend eine dicke Akte aus ihrer Umhängetasche. Auf dem Deckel klebte ein getipptes Etikett mit der Aufschrift Olivia Waterhouse – ein Überbleibsel von unserem letzten großen Fall, dem Ms. P jede freie Minute widmete. Sie war sich absolut sicher, dass wir es eines Tages wieder mit dieser sehr speziellen Dame zu tun bekommen würden.

Ich war davon weniger überzeugt. Die werte Professorin war wie vom Erdboden verschluckt, seit Monaten hatte man nichts von ihr gehört oder gesehen.

Na ja, so ganz stimmte das nicht. Kurz nachdem Dr. Waterhouse einen auf Houdini gemacht hatte, waren von einem der anrüchigsten Hypothekengeber der Stadt mehrere Hundert Briefe an seine ärmsten Klienten verschickt worden, in denen ihnen die Darlehensschulden offiziell erlassen und das Eigentum an ihren Immobilien vollständig überschrieben wurde. Drei Tage später hatte sich der Mann an einem Deckenventilator erhängt.

Es gab keinerlei Beweis dafür, dass Waterhouse ihre Finger im Spiel hatte. Aber meiner Meinung nach trug das eindeutig ihre Handschrift, und mein Boss sah das ganz genauso.

Geistesabwesend strich ich über die Narbe auf meiner linken Wange. Noch so ein Erinnerungsstück an diesen Fall. Die Wunde war sauber verheilt, aber die Ärzte hatten mir gesagt, dass mich die schmale Kerbe wohl noch bis ins hohe Alter morgens im Spiegel begrüßen würde.

Während mein Boss zum hundertsten Mal dieselben Seiten studierte, kramte ich in meiner Umhängetasche (Ersatz für eine Handtasche) herum, bis ich meine Ausgabe von Das Herz ist ein einsamer Jäger fand.

Ms. Pentecost hatte mich wieder und wieder gedrängt, die tiefen Gräben in meiner Allgemeinbildung aufzufüllen. Ich war mit fünfzehn von zu Hause abgehauen, und auch davor war meine schulische Ausbildung nicht gerade die beste gewesen. Es folgten fünf Jahre Zirkusarbeit, dann vier Jahre als Ms. Pentecosts Laufbursche. Fundierte Bildung sah anders aus.

Deshalb hatte mein Boss vorgeschlagen, ich solle meine üblichen Detektivromane gegen etwas Handfesteres eintauschen. Ich entschied mich für Carson McCullers’ Geschichte über einen Taubstummen, der irgendwo im Hinterland zum Vertrauten seiner Mitmenschen wird. Hauptsächlich fiel meine Wahl auf dieses Buch, weil McCuller genauso alt gewesen war wie ich, als es veröffentlicht wurde – dreiundzwanzig. Berufstätige Frauen wie wir mussten zusammenhalten.

Die Fahrt von der Penn Station bis nach Fredericksburg in Virginia dauerte gute fünf Stunden, und ich hatte mir fest vorgenommen, mit dem Roman ein großes Stück voranzukommen.

Irgendwo zwischen Newark und Philly wurde mir bewusst, dass ich den letzten Absatz ganze fünf Mal gelesen hatte, ohne dass etwas hängen geblieben wäre, also gab ich es auf und griff stattdessen zur neuesten Ausgabe von Strange Crime, aber nicht einmal der Artikel über Lügendetektoren und die besten Möglichkeiten, sie auszutricksen, konnte mich fesseln.

Da sie es nicht gewohnt war, zu einstelligen morgendlichen Uhrzeiten wach zu sein, war Ms. P bereits wieder eingeschlafen; ihr nicht sonderlich zartes Schnarchen ließ keinen Zweifel zu. Ich zog die Akte aus ihren schlaffen Fingern und packte sie ein.

Dann versuchte ich, ebenfalls ein Schläfchen zu machen, aber meine Nerven hatten eindeutig etwas dagegen.

Ich mochte keine Züge.

Nur die U-Bahn zählte nicht dazu: Dort konnte man ungefähr alle zwei Minuten aussteigen, wenn einem die Richtung, in die es ging, nicht passte. Dann nahm man eben ein Taxi oder ging zu Fuß.

Aber bei Fernzügen blieb einem keine andere Wahl. Man hatte keine Chance, noch schnell die Richtung zu wechseln oder spontan seine Meinung zu ändern. Die Route wurde vor hundert Jahren einmal festgelegt, und der musste man dann bis zum Ende folgen.

Wie in einem eisernen Sarg.

Ms. Pentecost hat mir einmal erklärt, das sei eine Begleiterscheinung meiner Klaustrophobie. Ich erwiderte darauf, ich hätte keine Klaustrophobie. Ich mochte einfach keine Orte, von denen ich nicht wegkam, was eine vollkommen vernünftige Empfindung war, für die man nun wirklich keinen viersilbigen Fachausdruck erfinden musste.

Schließlich beschloss ich, mir ein wenig die Beine zu vertreten, also verließ ich leise unser Abteil und machte mich auf den Weg zum Speisewagen. Dort kaufte ich mir einen Kaffee und einen Bagel und suchte mir einen Platz an einem leeren Tisch ganz hinten.

Während draußen die Landschaft vorbeizog, ließ ich meine Gedanken zu Ruby und meinen fünf Jahren bei Hart & Halloway wandern.

Angekommen war ich bei H & H als erschöpftes, unterernährtes, geschundenes Mädchen, das verzweifelt einem Leben entkommen wollte, von dem es schon damals wusste, dass es in keine gute Richtung lief. Die Vorstellung einer farbenfrohen Welt voller Abenteuer, wo ich nie länger als ein paar Wochen am Stück blieb … das klang einfach himmlisch.

Allerdings lernte ich schnell, dass die Zirkuswelt nicht viel mit dem Himmel gemeinsam hatte – doch sie war auch meilenweit von der speziellen Hölle entfernt, in der ich zuvor gelebt hatte. Anfangs war ich Dungschipper, mistete Ställe und Käfige aus und musste mich um alles kümmern, was die vierbeinigen Zirkusmitglieder unter sich gehen ließen.

Irgendwann stieg ich dann in die feste Hilfsarbeitermannschaft auf und verkaufte Süßigkeiten im Zelt, bis ich in die Rolle als Kalishenkos reizende Assistentin hineinstolperte. Meine Vorgängerin hatte sich von irgendeinem glücklichen Kerlchen schwängern lassen, woraufhin ich zwangsrekrutiert wurde. Man quetschte mich in einen aufgemotzten Badeanzug, und ich durfte zwölf Stunden am Tag meine Pailletten vollschwitzen, während der Mann, den alle nur den »Verrückten Russen« nannten, Messer auf mich warf.

Interessant wurde die Sache eigentlich erst, als ich anfing, sie zurückzuwerfen.

Kalishenko war der Meinung, ich hätte Potenzial, also fing er an, mir die Kniffe seines Handwerks beizubringen. Das wiederum inspirierte andere Künstler dazu, mich ebenfalls unter ihre Fittiche zu nehmen, und so erlernte ich die Grundlagen der Magie, Akrobatik, Pferdedressur, Schlangenbeschwörung, Kunstschießerei, Wahrsagerei und von allem, was noch so dazwischenlag – dazu gehörten auch ein paar Lektionen im Burlesquetanz, die ich nur einmal zur Anwendung brachte. Je weniger darüber gesagt wird, desto besser.

Langer Rede, kurzer Sinn: Am Ende meiner Zirkuszeit war ich eine Art eierlegende Wollmilchsau, die bei so ziemlich jedem als Assistentin einspringen konnte, wenn Not am Mann war.

Bis ich Ms. Pentecost begegnete und ihr das Leben rettete, indem ich dem Mann, der sie umbringen wollte, ein Messer zwischen die Schulterblätter warf. Das führte dazu, dass sie mich als ihre Assistentin einstellte, weil sie ein gewisses Potenzial in mir sah.

Aber eben nur, weil Kalishenko das bereits vorher entdeckt hatte.

Ich dachte zurück an die ersten Tage meiner Ausbildung bei ihm. Damals warf ich bei fünf Versuchen fünfmal daneben, und Kalishenko bedachte mich mit einer dröhnenden Schimpftirade.

»Was soll der Scheiß? Das kannst du besser. Du weißt das. Ich weiß das. Also mach es besser!«

Mach es besser. Als ob das so einfach wäre.

»Soll ich vielleicht glauben, das beim ersten Mal war nur Unfall? Als du mir fast das Ohr abgesäbelt hast? War das ein Unfall?«

»Da habe ich nicht drüber nachgedacht«, brüllte ich zurück. »Ich war einfach angepisst und habe geworfen.«

Kalishenkos Bart teilte sich weit genug, um sein Grinsen zu zeigen.

»Gut! Das ist gut! Da können wir anfangen. Sei wütend«, forderte er. »Sei wütend und wirf.«

»Wenn du mir weiter so ins Ohr schreist, dürfte das mit der Wut kein Problem sein.«

Er legte beide Hände auf meine Schultern und drehte mich Richtung Zielscheibe.

»Blick auf das Ziel. Spüre das Messer in deiner Hand. Sein Gewicht. Und jetzt stell dir jemanden vor, der dieses Messer verdient hat. Einen Menschen, auf den du das Messer werfen willst. Einen Menschen, der dein Blut zum Kochen bringt. Einen Menschen, der dich schlecht behandelt hat, der dir wehgetan hat. Stell ihn dir genau vor, da, vor der Zielscheibe. Siehst du diesen Menschen, Willowjean?«

Ich sagte, ich sähe ihn.

»Und nun wirf.«

Ich warf. Das Messer bohrte sich wenige Zentimeter vom Zentrum entfernt in die Holzscheibe.

Kalishenko klatschte in die Hände.

»Na also!«, rief er. »Jetzt, da du nicht mehr denkst, können wir anfangen.«

Neun Jahre später war von dem unbeholfenen Teenager, der unbedingt beweisen wollte, was er alles aushielt, nicht mehr viel übrig.

Okay, manches war schon noch da. Aber nicht viel.

Ich verdankte Kalishenko mein Leben – in mehr als einer Hinsicht.

Ich war bei der dritten Tasse Kaffee angekommen, als Ms. P den Speisewagen betrat, wobei sie vorsichtig mit dem Gehstock das leichte Schwanken des Zuges ausglich. Ich winkte, damit sie zu mir an den Tisch kam.

»Noch einmal: Guten Morgen. Kaffee? Frühstück?«

»Nur Kaffee«, bat sie, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb.

Ich winkte dem Kellner und bat um eine zweite Tasse.

»Wo sind wir jetzt?«, erkundigte sich Ms. P.

»Gerade durch Philly gefahren. Das hat Sie wahrscheinlich auch geweckt. Wir müssten bald in Wilmington sein.«

Der Kellner brachte ihren Kaffee, und sie dankte ihm, nippte an dem Gebräu, starrte aus dem Fenster und wartete darauf, dass das Koffein seine Wirkung zeigte. Sobald ihr Getriebe ausreichend geschmiert war, wandte sie sich mir zu.

»Beschreibe mir Ms. Donner.«

So ist mein Boss – verschwendet keine Minute.

»Ach, gute eins siebzig groß, circa sechzig Kilo schwer, braune Augen, braune Haare. Was die unverwechselbaren Merkmale angeht, davon hatte sie ungefähr dreihundert, vom Schlüsselbein aus abwärts überall verteilt.«

»Was bist du wieder amüsant.«

Ihr Miene sagte etwas anderes.

»Eigentlich eine ganz typische Zirkusgeschichte«, begann ich. »Mädchen aus der Kleinstadt träumt vom glamourösen Showgeschäft, packt seinen Krempel und geht nach New York. Dort stellt sie dann fest, dass sie weder schauspielern noch singen oder tanzen kann. Sie ist zwar hübsch genug, um es als Model zu versuchen, aber das sind ungefähr zehntausend andere auch, die sich alle um dieselben Jobs streiten. Eines Tages verschlägt es sie nach Coney Island, wo sie an einer Tätowierstube vorbeikommt. Aus einer Laune heraus geht sie rein und lässt sich das erste Tattoo stechen. Etwas daran fasziniert sie so sehr, dass es sie nicht mehr loslässt. Im Laufe des nächsten Jahres werden noch Hunderte weitere Bilder in ihre Haut gestochen. Irgendwann begegnet sie einem Mädchen, das einen Typen kennt, der Big Bob Halloway kennt. Beim nächsten Gastspiel wird sie im Zirkus vorstellig. Big Bob erkennt ihr Potenzial und engagiert sie für das Spektakulum.«

»Und das alles hast du von Ms. Donner erfahren?«

»Klar doch. Sie hat die Geschichte ständig erzählt. Das Publikum liebt so etwas«, erklärte ich. »Ich meine, klar, viele empfanden sie wohl eher als warnendes Beispiel: Mädels, bleibt hübsch daheim, sonst müsst ihr euch am Ende vor einem sexwütigen Gaffermob zur Schau stellen. Wobei sie immer gerne übersehen haben, dass sie selbst ein Teil dieses Mobs waren.«

Aber Ruby war viel mehr gewesen als nur Haut, Tinte und ein strahlendes Lächeln. Das hatte ich von Anfang an begriffen. Auch vollständig bekleidet stach sie aus der Menge heraus – und das zwischen Leuten, von denen wohl keiner als unauffällig bezeichnet worden wäre.

Auf dem Times Square ist einmal Susan Hayward an mir vorbeigelaufen. Auf meiner Liste der Filmschönheiten stand sie eigentlich gar nicht so weit oben, und trotzdem strahlte sie eine Lebendigkeit aus, mit der die ganzen Trottel um sie herum einfach nicht mithalten konnten. Genau so war auch Ruby.

Ein Mädchen in Technicolor, umgeben von einer schwarz-weißen Welt.

»Sie war erst ein paar Jahre dabei, als ich kam«, fuhr ich fort. »War gerade erst ein vollwertiges Mitglied der Truppe geworden. Aber man hat ihr vertraut. Sie war einer dieser Menschen, an die man sich wendet, wenn man ein Problem hat. Dabei war sie keine Glucke oder so. Diese ›oh, du armes Häschen‹-Nummer war nicht ihr Ding. Sie war eher der zupackende Typ.«

»Könntest du das genauer erklären?«

»Na ja, zum Beispiel, als Lulu plötzlich in anderen Umständen war – das war Kalishenkos frühere Assistentin. Da war es Ruby, die die nötigen Anrufe machte, einen Termin für sie vereinbart und einen Platz für sie gefunden hat, wo sie sich erholen konnte. Damit will ich nicht sagen, dass jeder sie geliebt hätte. Sie hatte ein ziemlich loses Mundwerk, vor allem, wenn sie getrunken hatte. Aber selbst jene, die nicht scharf auf ein Autogramm waren, haben sie respektiert.«

»Und wie stand Mr. Kalishenko zu ihr?«

Obwohl ich mit dieser Frage gerechnet hatte, beantwortete ich sie nur ungern.

»Er war nicht gerade ein Fan von ihr. Was aber auf Gegenseitigkeit beruhte.«

»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«

»Ich weiß nicht, ob man das auf einen einzelnen Punkt eingrenzen kann. Er hat immer gestichelt, weil ihre Nummer keine besonderen Fähigkeiten erforderte. Dass sie sich ja nur ein paar Tausend Mal pieksen lassen, sich ausziehen und das Ergebnis präsentieren müsse. Sie wiederum meinte, jemand, der sich tätowieren lasse, habe auf jeden Fall mehr Arsch in der Hose als jemand, der sich besäuft und dann mit Messern auf kleine Mädchen wirft. Sie nannte ihn Säufer, er sie eine Hochstaplerin. So ging das immer hin und her – zwei Menschen, die partout nicht miteinander konnten.« Ich zog eine resignierte Grimasse.

In diesem Moment fuhr der Zug in den Bahnhof von Wilmington ein. Wir unterbrachen unser Gespräch, als um uns herum hastig Rechnungen beglichen und Gepäckstücke zusammengesucht wurden.

Draußen vor dem Fenster wurden beinahe synchron vier Dutzend Hüte aufgesetzt, und eine Herde Bürohengste verließ den Bahnsteig und strömte hin zu jenen, die ihre Gehaltsschecks ausstellten. Vermutlich in einer der Chemiefabriken oder Gießereien, die auch nach Kriegsende noch dick im Geschäft waren. Mindestens die Hälfte dieser Männer war vor ein oder zwei Jahren vermutlich noch in Übersee gewesen, stets darum bemüht, sich nicht in die Luft sprengen zu lassen.

Und nun waren sie hier, arbeiteten nach der Stechuhr, und der gefährlichste Teil des Tages war die Überquerung der Straße auf dem Weg ins Büro. Bestimmt war das eine Erleichterung für sie.

Wenn ich mir allerdings die hängenden Mundwinkel ansah, die in jedem dieser Gesichter zu finden waren, konnte ich mit meiner Annahme auch gründlich falschliegen.

Wir verließen Wilmington, und der Zug glitt zwischen rauchenden Fabrikschloten hindurch, am Ufer eines Flusses entlang, der so verdreckt war, dass der Gowanuskanal dagegen wie ein Wellnessbad wirkte.

»Und wie sieht es mit Mr. Kalishenko aus?«, fragte Ms. P weiter.

»Der war schon Teil der Truppe, bevor Big Bob den Laden übernommen hat«, erklärte ich ihr. »Er ist direkt nach der Revolution aus Russland eingewandert, so um 1917, 1918 herum.«

»Mit seiner Familie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat nie über seine Familie gesprochen. Mal abgesehen von der Behauptung, er stamme von Rasputin persönlich ab.«

Natürlich ließ ich an dieser Stelle unerwähnt, dass ich ihm die Geschichte jahrelang abgekauft hatte, weil ich schlichtweg keine Ahnung hatte, wer Rasputin war.

»Ich glaube, seine Familie ist tot«, fuhr ich fort. »Aber ganz ehrlich: Ich weiß mehr über Ihren persönlichen Hintergrund als über seinen, und Sie halten Ihre Biografie ja besser unter Verschluss als Fort Know seine Kassenbücher.«