Die unerhörte Reise der Familie Lawson - T. J. Klune - E-Book
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Die unerhörte Reise der Familie Lawson E-Book

T. J. Klune

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Beschreibung

In einem Baumhaus hoch oben in den Wipfeln eines idyllischen Hains lebt Familie Lawson: Vater Giovanni Lawson ist ein Roboter, sein Sohn Victor Lawson ist ein Mensch. Mit ihnen wohnen dort noch ein Pflegeroboter mit einem leichten Hang zum Sadismus und ein schüchterner kleiner Staubsauger. Eines Tages entdeckt Vic einen beschädigten Androiden namens Tom im Wald und repariert ihn. Dann wird Giovanni von seiner Vergangenheit eingeholt und in die Stadt der elektrischen Träume verschleppt, wo er neu programmiert werden soll. Gemeinsam mit seiner Patchworkfamilie begibt sich Victor auf die gefährliche Reise, um Giovanni zu retten. Und inmitten widersprüchlicher Gefühle von Verrat und Zuneigung zu Tom muss Victor für sich selbst entscheiden: Kann er eine Liebe mit Bedingungen akzeptieren?

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Seitenzahl: 600

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Das Buch

Auf einer idyllischen Lichtung im Wald wohnt, gut geschützt vor den Blicken der Außenwelt, die wohl ungewöhnlichste Patchworkfamilie, die man je gesehen hat: Vater Giovanni ist ein Roboter, sein erwachsener Sohn Victor ein Mensch. Bei ihnen leben außerdem Schwester Grob, ein ausrangierter Pflegeroboter mit einem leichten Hang zum Sadismus, und der schüchterne kleine Staubsauger Rambo. Victor, Schwester Grob und Rambo lieben es, über die gewaltigen Schrottplätze in der Nachbarschaft zu streifen, um dort allerlei Brauchbares zusammenzusammeln.

Dort finden sie eines Tages einen entsorgten Androiden namens Tom und erwecken ihn wieder zum Leben – nicht ahnend, dass ihr friedliches Dasein damit von einem Augenblick auf den nächsten ein Ende findet. Denn Giovanni und Tom verbindet ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit. Prompt wird Giovanni von seiner eigenen Geschichte eingeholt und in die Stadt der elektrischen Träume verschleppt. Gemeinsam begeben sich die Lawsons auf die gefährliche Reise dorthin, um Giovanni zu retten. Eine Reise, auf der Victor nicht nur einiges über sich selbst, sondern auch über die Liebe erfahren wird …

»Wieder ein genialer Roman von T. J. Klune – Fantasy-Fans werden absolut begeistert sein.«

LIBRARYJOURNAL

»Eine wunderbare Geschichte voll Humor, Güte, Liebe und vor allem Hoffnung.«

P. DJÈlÍ CLARK

Der Autor

T. J. KLUNE griff im Alter von sechs Jahren zu Stift und Papier und schrieb eine mitreißende Fanfiction zum Videospiel Super Metroid. Zu seinem Verdruss meldete sich die Videospiel-Company nie zu seiner verbesserten Variante der Handlung zurück. Doch die Begeisterung für Geschichten hat T. J. Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit als Schadensregulierer bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung queerer Figuren in seinen Romanen wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Mit seinem Roman MR. PARNASSUS’ HEIMFÜRMAGISCHBEGABTE gelang T. J. Klune der Durchbruch als international gefeierter Bestsellerautor.

T. J. KLUNE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Pfingstl

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:IN THE LIVES OF PUPPETSDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 05/2023

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2023 by Travis Klune

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-27543-3V001

www.heyne.de

Für die Menschheit: Ihr nervt, aber ihr habt Bücher und Musik erfunden, deshalb wird das Universum euch wahrscheinlich noch ein bisschen behalten. Glück gehabt. Diesmal.

Prolog

In einem alten und einsamen Wald, weit weg von allem, stand ein eigenartiges Haus.

Es war ein kleines, von Moos und Efeu überwuchertes Backsteingebäude, mitten in einem Hain aus mächtigen Bäumen. Wem es gehörte, wusste niemand, aber es sah so aus, als wäre es schon seit langer Zeit verlassen. Erst als ein Mann namens Giovanni Lawson (der genau genommen gar kein Mann war) zufällig darauf stieß, erinnerte sich jemand wieder an seinen eigentlichen Zweck.

Er stand vor seinem seltsamen Fund, lauschte den Vögeln, die hoch oben in den Bäumen zwitscherten, und fragte sich: »Wie kommt das denn hierher?«

Vorsichtig trat er durch die schief in den Angeln hängende Tür und ging hinein. Die Fenster waren kaputt. Zwischen den geborstenen Holzdielen wuchsen Gras und Unkraut, und durch ein großes Loch im Dach fielen Sonnenstrahlen auf einen Laubhaufen, der fast bis zur Decke reichte. Ganz oben auf dem Haufen streckte sich eine goldene Blume dem Licht entgegen.

»Perfekt«, sagte der Mann laut, obwohl er allein war. »Ja, das ist genau das Richtige. Wie eigenartig. Wie wunderbar.«

Am nächsten Tag kehrte Giovanni in aller Frühe zurück und krempelte die Ärmel hoch. Er riss alle Trennwände heraus, trug Ziegel und Holz nach draußen, stapelte sie auf dem Waldboden und verwandelte das Innere in einen einzigen, großen Raum. Als er fertig war, war er von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt, seine Gelenke knackten und krachten, aber er war zufrieden. Die harte Arbeit hatte sich gelohnt.

»So«, sagte er zu den Vögeln in den Bäumen und wischte sich das Gesicht ab. »Schon viel besser. Der erste Schritt zu einem Neuanfang.«

Das kleine Haus wurde schnell zu einer Heimat für alle möglichen Dinge: Bleche, Drähte und Schnüre, Batterien sowie Platinen und Mikrochips, die in Einmachgläsern aufbewahrt wurden. Andere Gläser enthielten Hunderte von Samen in allen Formen, Größen und Farben. Es gab alte Spieldosen, die kleine traurige Liedchen spielten, und stumme Plattenspieler ohne Platten. Große und kleine Fernseher mit dunklen Bildschirmen. Und Bücher! So viele Bücher über die verschiedensten Themen, von Pflanzen bis hin zu Walfang, von den Tieren des Waldes bis zu komplexen Diagrammen von Atomkernen. Sie säumten die neuen, raumhohen Regale, die er aus den herausgerissenen Materialien gebaut hatte. Erst als er das letzte Buch in das letzte Regal stellte, wurde Giovanni klar, dass er selbst keinen Platz mehr hatte. Der Raum war zu voll.

Das Haus zu erweitern, ein oder zwei Räume hinzuzufügen, wäre nicht schwer gewesen. Aber Giovanni Lawson hatte noch nie den leichten Weg gewählt. Für ihn bestand die Welt aus komplizierten Formen und Gestalten, und wenn er nach oben sah, in die Bäume ringsum, wusste er, was er zu tun hatte.

Er wollte nicht anbauen.

Er wollte nach oben bauen.

Es dauerte, wie das bei diesen Dingen nun mal so war. Viele Jahre vergingen. Es musste perfekt werden. Die Bäume boten Sicherheit, weit weg von den grellen Lichtern und dem Lärm der Stadt, die er hinter sich gelassen hatte.

In den Ästen der höchsten Tanne, der unumstrittenen Königin des Waldes, errichtete er um den dicken Stamm herum ein zweites Häuschen. Von dort abzweigend baute er noch weitere Zimmer ins Geäst, die durch Seilbrücken miteinander verbunden waren: ein Labor und einen Wintergarten mit einem Dach aus verkratztem Milchglas und einem Boden aus glänzenden Eichenpaneelen, aber ohne Wände. Später sollte sich dieser Raum in etwas anderes verwandeln.

Der Wald war groß und wild. Giovanni glaubte nicht, dass sie ihn je hier finden würden.

An sonnigen Tagen grasten Rehe tief unter ihm, hoch über ihm sangen die Vögel, und Giovanni summte mit. Er hatte Frieden gefunden.

Bis seine Brust eines Tages zu schmerzen begann.

»Du meine Güte«, sagte er. »Was für eine interessante Empfindung. Wie das brennt.«

Er ging in sein Labor und stellte Berechnungen an, tippte auf der Tastatur, Klack, klack, klack hallte es von den Wänden zurück.

»Verstehe«, sagte er schließlich, zweiundfünfzig Tage nachdem er den Schmerz in der Brust das erste Mal verspürt hatte. Er starrte auf den Bildschirm und überprüfte die Zahlen. Es war Einsamkeit, ganz einfach. Zahlen logen nie.

Drei weitere Jahre vergingen, und der Schmerz in seiner Brust wurde stärker. Drei Jahre in absoluter Stille, in denen er sich danach sehnte, eine andere Stimme außer seiner eigenen zu hören. Er sah aus dem Laborfenster und merkte, dass es schneite. Dabei war es doch erst gestern noch ein brüllend heißer Sommer gewesen.

An einem Tag, der auch nicht anders begann als alle anderen davor, kamen zwei Leute in den Hain gerannt, ihre Augen weit aufgerissen vor Furcht und ihre Haut schweißbedeckt. Ein Mann und eine Frau. Die Frau presste sich ein Lumpenbündel an die Brust.

Giovanni erschrak.

»Helfen Sie uns!«, schrie die Frau. »Bitte, Sie müssen ihn nehmen. Nehmen und verstecken Sie ihn.«

Sie hielt ihm das Bündel hin.

Aber das Bündel bestand nicht nur aus Lumpen.

Darin eingewickelt war ein Kind.

Ein Junge. Er blinzelte Giovanni einmal an und begann dann zu weinen.

»Was ist passiert?«, fragte Giovanni und sah die Frau erschrocken an. »Kommen Sie, kommen Sie. Ich werde Sie verstecken, Sie alle.«

Doch die Frau schüttelte den Kopf. »Sie werden uns finden.« Tränen strömten ihr über die Wangen, als sie einen Schritt vortrat und das Baby auf die Stirn küsste. »Ich liebe dich. Und ich komme zurück, sobald ich kann.«

Der Mann sagte: »Beeil dich. Sie kommen.«

Die Frau lachte bitter. »Ich weiß, ich weiß. So ist es am Ende immer.«

Der Mann ergriff ihre Hand und zog sie fort, fort, fort.

»Warten Sie!«, rief Giovanni ihnen hinterher. »Wie heißt er?«

Doch sie waren schon verschwunden.

Er sah niemanden sonst. Niemand kam und suchte nach den beiden. Auch nicht nach dem Kind. Er sah den Mann und die Frau nie wieder.

Später, viel, viel später, als der Junge groß war, erzählte Giovanni ihm, dass die Frau – seine Mutter – ihn nicht verlassen wollte. »Sie wird zurückkommen«, sagte er. »Eines Tages, wenn alles gut ist, kommt sie zurück.«

Giovanni hatte sich immer ein Kind gewünscht, und jetzt hatte er eines. Oh, was für ein glücklicher Zufall! Wie wunderschön!

Er ließ sich Zeit, sich einen Namen für das Baby zu überlegen. Erst als das Laub sich von Grün zu rötlichem Gold verfärbte, fiel ihm der perfekte ein.

»Victor«, sagte er zu seinem Sohn. »Du sollst Victor heißen. Victor Lawson. Was hältst du davon?«

Die Einsamkeit, die er verspürt hatte, so gewaltig und tief, verschwand, als hätte sie nie existiert.

Als Victor größer wurde und immer noch nicht sprach, begann Giovanni sich Sorgen zu machen. Er wusste, dass Victor zuhörte, wenn er etwas sagte. Er konnte sehen, dass der Kleine ihn verstand.

»Gibt es einen Fehler in deiner Programmierung?«, fragte Giovanni, als Victor vier Jahre alt war. »Habe ich etwas falsch gemacht?«

Victor antwortete nicht. Er hob die Arme, öffnete und schloss seine Finger. Öffnete und schloss sie immer wieder.

Giovanni tat, worum er gebeten wurde: Er hob Victor hoch und drückte ihn sanft an seine Brust. Victor machte ein kleines Geräusch, das Giovanni als Zufriedenheit interpretierte. »Nein«, sagte er. »Du bist genau, wie du sein sollst. Das hätte ich gar nicht erst infrage stellen sollen. Wenn es je etwas Perfektes auf der Welt gegeben hat, dann dich.« Seine Brust schmerzte noch einmal, doch diesmal aus einem anderen Grund. Giovanni musste nicht erst nachrechnen, um herauszufinden, was es war. Er wusste es auch so.

Es war Liebe.

Und obwohl er sich mehr als alles andere wünschte, dass Victor mit ihm sprechen würde, drängte er ihn nicht. Wenn es sein sollte, würde es sein.

Es dauerte noch zwei weitere Jahre, bis Victor zum ersten Mal etwas sagte.

Sie waren im Labor. Victor saß auf dem Boden, um ihn herum waren kleine Metallstäbchen ausgebreitet. Giovanni brauchte einen Moment, um zu erkennen, was Victor gelegt hatte: zwei Strichmännchen, das eine groß, das andere klein, und sie hielten einander an den Händen. Mit einem Stöhnen streckte er sich und berührte die Beine des größeren Männchens.

Da öffnete Victor Lawson, Sohn von Giovanni Lawson, den Mund und sagte: »Du.« Er deutete auf das kleinere Männchen. »Ich.« Seine Stimme war leise und heiser, aber sie war da.

»Ja«, sagte Giovanni ebenso leise. »Du und ich.«

Erster Teil DER WALD

»Gewissen ist die leise innere Stimme, auf die die Menschen nicht hören wollen.«

Pinocchio (Film 1940)

EINS

Ein kleiner Staubsaugerroboter fuhr schreiend im Kreis herum, wieder und wieder. »Oh mein Gott, oh mein Gott, wir werden alle sterben!«, kreischte er und fuchtelte wild mit seinen Ärmchen, an denen kleine Greifzangen befestigt waren. »Ich werde aufhören zu existieren, und dann gibt es nur noch Dunkelheit!«

Neben dem Staubsauger stand ein weitaus größerer Roboter und sah zu, wie der Kleine zum millionsten Mal einen Nervenzusammenbruch hatte. Dabei handelte es sich um einen schlichten Blechkasten, eineinhalb Meter hoch und einen halben Meter breit, der weder Arme und Beine noch Füße hatte. Es handelte sich um die ehemalige Krankenschwester, Modell 6-10-JQN, Serie Alpha. Ihre abgenutzten Reifen waren durch gezahnte Metallräder mit einer Kette darum herum ersetzt worden, ganz ähnlich wie bei einem Panzer. Hinter den Klappen auf beiden Seiten ihres Chassis verbargen sich ein Dutzend Metalltentakel mit verschiedenen medizinischen Werkzeugen daran, falls eine Operation nötig werden sollte. Auf dem Display an der Vorderseite erschien ein grünes Gesicht mit gerunzelter Stirn, ansonsten blieb die robotische Krankenschwester, Gerät für Reha, Operationen und Bohren (kurz: Schwester Grob), unbeeindruckt. Mit tonloser Stimme sagte sie: »Wenn du stirbst, spiele ich mit deiner Leiche. Ich würde so lange Löcher in dich bohren, bis nichts mehr übrig ist. Dabei könnte ich viel lernen.«

Der Saugroboter wurde nur noch panischer, was Schwester Grob zweifellos beabsichtigt hatte. »Oh nein«, wimmerte er. »Nein, nein, nein, das darfst du nicht. Victor! Victor! Komm zurück, bevor ich sterbe und Schwester Grob mit meiner Leiche spielt! Sie will Löcher in mich bohren, und du weißt genau, wie sehr ich das hasse.«

Hoch über ihnen, auf halber Höhe eines mindestens sechs Meter hohen Haufens Metallschrott, ertönte leises Gelächter. »Das werde ich verhindern, Rambo«, sagte Victor Lawson und schaute zu ihnen hinunter. Er hing an einer selbst gebastelten Seilkonstruktion mit Klettergurt, die alles andere als unfallsicher war, doch er machte das schon seit Jahren so und war noch nie abgestürzt. Nun ja, einmal, aber je weniger über diesen Vorfall gesagt wurde, desto besser. Der Schrei, den er damals ausgestoßen hatte, als er den Knochen sah, der rot aus seinem Arm ragte, war das lauteste Geräusch gewesen, das er je von sich gegeben hatte. Sein Vater war nicht besonders glücklich gewesen und hatte ihm gesagt, dass es keinen Grund für einen Zwölfjährigen gab, sich auf dem Schrottplatz herumzutreiben. Victor hatte versprochen, es nie wieder zu tun. Eine Woche später war er wieder dort gewesen. Und jetzt, mit einundzwanzig Jahren, kannte er sich auf dem Schrottplatz so gut aus wie in seiner Westentasche.

Rambo glaubte ihm nicht. Seine Greifer öffneten und schlossen sich ununterbrochen, während er weiter zitternd seine Kreise drehte. Auf der Oberseite seines runden Gehäuses stand in verblasster, nie eindeutig zu entziffern gewesener Schrift ein R, dahinter ein Kreis, der ein O oder ein kleines a darstellen mochte, gefolgt von einem M (möglicherweise), einem B und schließlich einem weiteren O oder a am Ende. Victor hatte das kleine Ding vor Jahren gefunden und es mit Liebe und Metall repariert, bis es wieder zum Leben erwacht war und sofort verlangt hatte, sauber machen zu dürfen. Es musste sauber machen, denn wenn es das nicht tat, gab es keinen Sinn in seinem Leben, dann gab es gar nichts. Vic hatte lange gebraucht, um die Maschine zu beruhigen, während er weiter an den Schaltkreisen herumfummelte, bis der Saugroboter schließlich einen erleichterten Seufzer von sich gegeben hatte. Doch die Lösung war nur vorübergehend gewesen. Rambo machte sich Sorgen wegen fast allem: dem Schmutz auf dem Boden, dem Schmutz an Vics Händen und dem Tod im Allgemeinen.

Damals hatte Schwester Grob gefragt – sie war Vics erster Roboter gewesen–, ob sie Rambo töten dürfe.

Vic hatte verneint.

Schwester Grob hatte gefragt, weshalb nicht.

Vic hatte gesagt, weil man neue Freunde nicht tötete.

»Ich schon«, hatte Schwester Grob mit ihrer tonlosen Stimme entgegnet. »Es wäre ganz leicht. Sterbehilfe muss nicht unbedingt schmerzhaft sein. Kann sie aber, wenn man möchte.« Dann war sie mit ausgefahrenem Bohrer auf Rambo zugefahren.

Rambo hatte gebrüllt.

Fünf Jahre später hatte sich nicht viel verändert. Rambo war immer noch übernervös, und Schwester Grob drohte immer noch, mit seiner Leiche zu spielen. Vic hatte sich inzwischen daran gewöhnt.

Er band sich die schulterlangen dunklen Haare mit einer Lederschnur zu einem Pferdeschwanz, kniff die Augen zusammen, legte den Kopf in den Nacken und spähte zur Spitze des Metallhaufens hinauf. Vorsichtig zog er an dem Seil. Er wog nicht sonderlich viel, trotzdem musste er aufpassen und hörte ständig die mahnende Stimme seines Vaters im Kopf, auch wenn Giovanni sich wirklich zu viele Sorgen machte. Victor war zaundürr, und Giovanni sagte Tag für Tag: »Du bist zu dünn, Victor, du musst mehr essen und kauen, kauen, kauen.«

Der Magnethaken zwei Meter über ihm schien zu halten. Victor wischte sich mit dem Handschuh den Schweiß von der Stirn. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, dennoch war es die letzten Tage heiß gewesen.

»Okay«, sagte er leise. »Nur noch ein Stückchen höher. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Und du brauchst das Teil.« Er blickte nach unten und überprüfte seinen Stand.

»Wenn du abstürzt und stirbst, nehme ich eine Obduktion vor«, rief Schwester Grob zu ihm hinauf. »Der abschließende Bericht müsste innerhalb von drei bis fünf Werktagen fertig sein, je nachdem, ob die Leiche bereits zerstückelt ist oder nicht. Aber weil wir Freunde sind, kann ich dir verraten, dass du höchstwahrscheinlich an einem Aufpralltrauma sterben wirst.«

»Oh nein«, stöhnte Rambo mit rot blinkenden Sensoren. »Vic. Vic. Lass dich nicht zerstückeln. Du weißt, wie schwierig es für mich ist, Blutflecken wegzumachen. Es kommt in mein Getriebe und verklebt alles!«

»Aktiviere Empathieprotokoll«, sagte Schwester Grob. Auf ihrem Display erschien ein gelber Smiley. Die Luke rechts unten an ihrem Gehäuse ging auf, ein Metalltentakel kam heraus und tätschelte Rambo. »Ei-ei, alles wird gut. Ich werde das Blut wegmachen, und was sonst noch so an Flüssigkeiten aus seinem schwachen und zerbrechlichen Körper kommen mag. Sehr wahrscheinlich wird er nämlich auch seinen Darm entleeren.«

»Wirklich?«, flüsterte Rambo.

»Aber ja. Der menschliche Schließmuskel entspannt sich bei Eintritt des Todes, was es allen Ausscheidungen ermöglicht, den Körper auf spektakuläre Weise zu verlassen – vor allem bei einem Aufpralltrauma.«

Vic schüttelte den Kopf. Die beiden waren seine allerbesten Freunde, und er war nicht sicher, was das über ihn aussagte. Wahrscheinlich nichts Gutes. Aber sie waren wie er, mehr oder weniger, auch wenn Vic aus Fleisch und Blut bestand und diese beiden aus Drähten und Metall. Ganz unabhängig davon drückten sie ihm bestimmt ganz fest die Daumen an ihren Greifern. Glaubte er zumindest.

Er schaute noch mal nach oben. Kurz unterhalb der Spitze ragte etwas aus dem Müllhaufen, das wie eine gut erhaltene mehrschichtige Platine aussah. Diese Dinger waren selten geworden. Vic hatte sie schon haben wollen, als er sie vor ein paar Wochen entdeckt hatte, hatte sich aber nicht getraut, denn dieser Haufen gehörte zu den wackligsten auf dem gesamten Schrottplatz und schwankte bereits bedrohlich. Er würde sich Zeit lassen und zuerst all den anderen Müll rund um die Platine aus dem Haufen ziehen müssen, und dazu musste er geduldig sein. Entweder das oder sterben.

»Vic!«, kreischte Rambo. »Nicht weiterklettern. Ich liebe dich. Ich will keine Waise sein!«

»Ich werde nicht sterben.« Vic atmete einmal tief durch und kletterte langsam weiter. Stück für Stück zog er sich höher und hängte den Karabiner am nächsten Sicherungshaken ein. Seine dünnen Arme brannten vor Anstrengung.

Je höher er kam, desto stärker schwankte der Haufen. Schrottteile fielen heraus, segelten glitzernd durch die Luft und landeten mit einem Krachen auf dem Boden. Endlich wurde Rambo von seiner Panik abgelenkt, denn jetzt hatte er etwas zum Aufräumen. Vic sah, wie er die heruntergefallenen Schrottteile aufhob und sie an den Fuß des Haufens legte. Dabei piepte er fröhlich vor sich hin, was beinahe so klang, als würde er ein Liedchen summen.

»Deine Existenz ist sinnlos«, kommentierte Schwester Grob.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, erwiderte Rambo gut gelaunt, während seine Sensoren blau und grün blinkten. Er platzierte ein weiteres Schrottteil am Fuß des Haufens und drehte eine Pirouette.

Vic war nun fast an der Spitze angelangt. Er hielt inne und ließ den Blick über den Schrottplatz schweifen. Der Wald erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und er brauchte einen Moment, um die Bäume zu finden, wo ihr Zuhause war – die große Tanne, die alle anderen überragte.

Er lehnte sich so weit zurück, wie er sich traute, und spähte seitlich an seinem Haufen vorbei. In der Ferne stieg Rauch aus dem Schornstein einer großen, schwerfälligen Maschine. Sie war mindestens zwölf Meter hoch, ihr Kran hob unentwegt Schrottteile aus dem Container auf ihrem Rücken und warf sie nach unten. Vic merkte sich die Position und überlegte, ob es dort vielleicht etwas Neues gab, das es wert war, geborgen zu werden.

Die anderen Alten waren weit weg.

Er war in Sicherheit.

Er sah wieder zu der Platine hinauf und sagte: »Gleich hab ich dich.«

Es dauerte weitere zehn Minuten, bis die Platine in seiner Reichweite war. Vic hielt inne und vergewisserte sich, dass seine Füße einen guten Halt hatten. Er nahm sich einen Moment Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er schaute nicht nach unten. Er hatte zwar nicht direkt Höhenangst, aber so fiel es ihm leichter, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Weniger Schwindel und so.

Er setzte sich in seinen Klettergurt, lehnte sich nach hinten und schüttelte die Arme aus. »Okay«, flüsterte er. »Fast fertig.« Victor streckte die Hand nach der Platine und bekam sie vorsichtig ganz am Rand zu fassen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er daran und hoffte, dass sie sich lockern würde.

Tat sie nicht.

Er arbeitete sich um die Platine herum, holte ein Stück Metall aus dem Haufen, das aussah, als hätte es einmal zu einem Toaster gehört. Er spähte hinein, ob es vielleicht noch zu gebrauchen war, doch das Innere sah irreparabel verrostet aus. Nicht gut. Er rief eine Warnung nach unten und ließ das Teil fallen.

»Du hast ihn verfehlt«, rief Schwester Grob zurück. »Wenn du Rambo treffen willst, musst du dich schon mehr anstrengen.«

Bei seinem nächsten Versuch bewegte sich die Platine tatsächlich ein Stück. Vics Augen weiteten sich. Er zog fester und gleichzeitig vorsichtiger, um die Platine nicht zu beschädigen. Sie sah intakt aus. Dad würde sich freuen. Wenn er erfuhr, wo Vic sie herhatte, wäre er zwar sauer, aber so weit musste es ja nicht kommen.

Vic bearbeitete die Platine weiter wie einen lockeren Zahn, ruckelte hin und her, hin und her. Er wollte gerade damit aufhören und noch ein wenig um sie herumgraben, als sie sich plötzlich löste.

»Ja«, sagte er. »Ja!« Er winkte seinen Freunden zu. »Ich hab sie!«

»Meine Freude kennt keine Grenzen«, erwiderte Schwester Grob. »Heißa!« Über ihr Display flimmerten Konfetti, darunter blinkten die Worte: GLÜCKWUNSCH, ESISTEINMÄDCHEN.

»Vic?«, fragte Rambo nervös.

»Ich kann es kaum glauben«, keuchte Vic. »Mehrere Wochen hat das gedauert.«

»Vic«, sagte Rambo noch einmal. Etwas lauter diesmal.

»Sie sieht vollkommen unbeschädigt aus«, murmelte Vic und drehte die Platine in den Händen hin und her. »Damit könnte …«

»Vic!«

Er blickte irritiert nach unten, versuchte aber, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. »Was?«

»Lauf!«, rief Rambo.

Ein Horn ertönte. Tief und wütend. Es schallte so laut über den gesamten Schrottplatz, dass die zahllosen Metallhaufen ins Schwanken gerieten.

Vic kannte dieses Geräusch.

Er beugte sich so weit vor, wie er konnte:

Ein Alter rollte mit heulenden Sirenen in ihre Richtung, der Kran auf seinem Rücken schwang wild hin und her und krachte gegen andere Schrotthaufen. Metall schrammte auf Metall, ein Funkenregen prasselte nieder, doch der Alte hielt nicht an, er wurde nicht einmal langsamer. »Alarm! Eindringlinge!«, brüllte er. »Alarm! Eindringlinge! Alarm! Endringlinge! Alarm! Eindringlinge!«

Vic spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, und stammelte: »Oh nein.«

Er schob die Platine in seinen Rucksack, während er mit der anderen Hand die Seilbremse löste. Er fiel zwei Meter in einer Sekunde und kam ruckend zum Stehen, als die Bremse auf den dicken Knoten in der Mitte des Seils traf. Vic fingerte wild daran herum, aber die Bremse ließ sich nicht weiter nach unten bewegen.

»Ich schlage vor, du kommst herunter«, rief Schwester Grob zu ihm hinauf und hob Rambo hoch. Dann rollte sie Steine spritzend davon, immer im Zickzack um all den Müll herum, der rings um sie niederging. Rambo quiekte panisch, alle seine Sensoren blinkten rot.

»Das versuche ich ja!«, rief Vic ihnen hinterher, der immer noch daran arbeitete, die Seilbremse über den Knoten zu bekommen.

Vergeblich. Sie bewegte sich nicht.

Das Horn des Alten ertönte erneut. Vic stöhnte auf, als etwas Schweres gegen seine Schulter prallte und er nach hinten geschleudert wurde. Dann ein zweites Mal, als das Seil wieder zurückpendelte und er gegen den Müllhaufen krachte, während das Geräusch von knirschendem Metall unter den riesigen Reifen des Alten immer näher kam.

Vic fand wieder Halt mit seinen Füßen und blickte noch einmal kurz nach oben. Der Verlust der schwierig herzustellenden Magnethaken war bedauerlich, aber daran ließ sich jetzt nichts ändern.

Mit blinkenden Lichtern tauchte der Alte vor Vics Schrotthaufen auf. Sein Kran schwenkte auf den Haufen zu, Metall kreischte, als der Greifer des Krans gegen die Spitze des Haufens schlug. Vic wurde nach oben gerissen, dann nach rechts, als der gesamte Haufen sich bedrohlich zur Seite neigte. Ein großes Metallschild mit der Aufschrift BESTERFOODTRUCKDESJAHRES schaukelte an ihm vorbei.

Ohne nachzudenken, griff Vic danach.

Der Kran schwenkte zurück und holte zum zweiten Schlag aus.

Kurz vor dem nächsten Aufprall des Greifers riss Vic mit aller Kraft an dem Schild und zog es mit einem lauten Grunzen aus dem Haufen. Der Greifer krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall erneut gegen Vics Schrottturm, Metallteile regneten herab, dann schwankte der gesamte Stapel nach links. Das Seil riss, Vic stürzte und konnte das Schild gerade noch rechtzeitig unter sich schieben, um flach darauf liegend talwärts zu sausen. Funken stoben auf, und Vic hielt sich schützend die Arme vors Gesicht. Er glaubte zu schreien, konnte seine eigene Stimme aber wegen dem wütenden Gebrüll des Alten und dem Lärm des einstürzenden Turms nicht hören.

Er befand sich noch knapp zwei Meter über dem Boden, als das Food-Truck-Schild gegen einen Stahlträger krachte und er abgeworfen wurde. Unsanft schlug Vic auf dem Boden auf, zog Arme und Beine an und rollte sich ab. Einen Augenblick lang war er dankbar, dass der neurotische Rambo den Boden kurz zuvor von den herumliegenden Trümmern befreit hatte. Hätte er das nicht getan, wäre Vic vielleicht von einem Teil aufgespießt worden, das er selbst heruntergeworfen hatte.

Er lag auf dem Rücken und blinzelte in den Himmel hinauf. Er musste hier weg, und zwar schnell. Weil er nirgendwo am Körper starke Schmerzen verspürte, sprang er auf. Er sah, dass der Müllhaufen endgültig umstürzte, und suchte keuchend das Weite, während der Alte wütend hinter ihm herbrüllte.

Da sie wussten, dass die Alten die Grenzen des Schrottplatzes nicht verlassen konnten – oder wollten –, warteten Schwester Grob und Rambo am Rand auf ihn. Rambo saß auf der Krankenschwester, deren Display drei rote Ausrufezeichen zeigte, und fuchtelte wild mit den Armen.

»Seht ihr?«, meinte Vic, als er den Alten abgehängt hatte. »Überhaupt nichts dabei.«

»Richtig«, sagte Schwester Grob. »Absolut nichts dabei. Fände ich Dummheit beeindruckend, wäre ich glatt beeindruckt und würde mit dir flirten.«

Vic kannte Flirten aus Dads Filmen: Menschen, die lächelten und rot wurden, wenn sie sich sahen, und Dinge taten, die sie normalerweise nicht getan hätten, alles im Namen der Liebe. Vic hatte noch nie mit jemandem geflirtet. Es hörte sich kompliziert an. »Ich wusste gar nicht, dass du das kannst.«

»Ich kann viele Dinge«, erwiderte Schwester Grob. Die Ausrufezeichen verschwanden und wurden von einem Gesicht mit einem lustigen Lächeln und großen Augen mit langen Wimpern ersetzt. »Hey, großer Junge. Warum steckst du nicht mal deinen Finger in meine Dose?« Das Display wurde schwarz. »Das war Flirten. Es gibt auch andere Arten davon.«

Vic verzog das Gesicht, während Rambo mit fuchtelnden Armen um ihn herumfuhr und plärrte: »So machen die das nicht in den Filmen.«

»Zumindest nicht in denen, die du gesehen hast. Hat es geklappt? Bist du erregt?« Die kleine Linse über Schwester Grobs Display leuchtete blau auf und scannte ihn von oben bis unten. »Du scheinst nicht erregt zu sein. Dein Penis zeigt keine Anzeichen erhöhter Durchblutung, wie sie zwangloser sexueller Betätigung vorausgehen müsste.«

»Ich habe ja leider keinen«, sagte Rambo bedauernd. Da surrte irgendwo in seinem Inneren plötzlich ein Getriebe, und es öffnete sich ein kleiner Schlitz in seinem Unterleib. Ein dünnes Rohr kam heraus, aus dem etwas tropfte, das wie Öl aussah. »Oder vielleicht doch«, sagte er triumphierend. »Ein Hoch auf Penisse!«

»Könntest du das bitte wegstecken?«, sagte Vic. »Wir müssen jetzt nach Hause.« Er schaute in die untergehende Sonne. »Es wird bald dunkel.«

»Und du hast Angst im Dunkeln«, erwiderte Rambo und zog das Rohr wieder ein.

»Ich habe überhaupt keine Angst im …«

»Angst ist überflüssig«, warf Schwester Grob ein. »Ich habe vor gar nichts Angst.« Sie hielt inne. »Außer vor Vögeln, die in mir nisten und ihre Eier in mein Getriebe legen. Böse Vögel. Ich werde sie alle töten.«

Vic fischte die Platine aus seiner Tasche. Sie war noch ganz. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Lötstellen und Leiterbahnen und flüsterte: »Das war’s wert.«

ZWEI

Als sie zu Hause ankamen, verfärbte sich der Himmel bereits violett, und die ersten Sterne waren zu sehen. Die Sonne näherte sich dem Horizont, der Mond ging auf wie ein blasses Gespenst. Rambo rollte auf dem ausgetretenen Pfad voraus und rief sogleich nach Vics Vater. Das war zu erwarten gewesen. Rambo berichtete nur zu gerne von den Momenten, in denen sie beinahe getötet worden wären und nur mit viel Glück entkommen waren.

»Nein«, sagte Vic und verfluchte sich innerlich, weil er es nicht verhindert hatte. »Erzähl ihm nicht, dass …«

Aber Rambo verkündete bereits lauthals, dass er sich gar nicht gefürchtet hatte, und selbst wenn, wäre das in Ordnung gewesen. Im Erdgeschoss brannte Licht, was bedeutete, dass Dad immer noch an seinem Plattenspieler bastelte. Rambo verschwand bereits durch die offen stehende Tür nach drinnen.

Vics Blick wanderte zu dem Aufzug neben einem der Bäume. Er überlegte, ob er sich nicht besser in sein persönliches Labor zurückziehen sollte. Aber er wusste, dass Giovanni nicht erfreut wäre, wenn er nicht wenigstens versuchte, sich zu erklären.

»Nein, Vic«, sagte Schwester Grob. Sie fuhr gegen sein Bein und drängte ihn zum Eingang. »Du musst ihm die Wahrheit sagen. Ich will sehen, wie er dich schimpft. Es ist immer so lustig, wie du dann zu Boden starrst und fadenscheinige Ausreden erfindest.«

»Eigentlich solltest du auf meiner Seite stehen.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich bin eine Verräterin, und ich fühle mich schrecklich deswegen. Ich kann es kaum erwarten.« Sie hielt inne. Auf ihrem Display blinkte ein Fragezeichen. »Hörst du das?«

Vic sah sie an. »Höre ich was?«

»Ich weiß nicht. Es klingt kompliziert. Es kommt aus dem Erdgeschoss. Ich werde eine Diagnose durchführen.« Sie rollte an ihm vorbei, ihre Ketten knirschten über Zweige und Blätter, und verschwand im Eingang.

Vic neigte den Kopf und lauschte angestrengt, doch es war nichts zu hören. Dann plötzlich …

Seine Augen weiteten sich. »Das kann nicht sein.«

Vic begann zu laufen.

Drinnen spiegelte sich das elektrische Licht in Einmachgläsern voller unbenutzter Teile und nicht ausgebrachter Samen. Die Holzdielen knarrten unter Vics Schritten, als er sich einen Weg zwischen den Regalen, Bücherstapeln und Elektrogeräten hindurch bahnte: eine Waschmaschine, die ganz bestimmt nicht mehr zu reparieren war, daneben etwas, das sein Vater als Eisschrank bezeichnete, obwohl noch nie ein einziger Eiswürfel herausgekommen war. Giovanni warf nie etwas weg, weil er meinte, es gäbe für alles eine Verwendung, auch wenn sie nicht sofort ersichtlich sein mochte. Vic war genauso, und deshalb ärgerte es ihn, dass Giovanni etwas dagegen hatte, wenn er auf dem Schrottplatz nach Brauchbarem suchte. Das Haus war voll mit Dingen, die sein Dad dort gesammelt hatte, auch wenn er schon lange nicht mehr auf dem Schrottplatz gewesen war. Warum also sollte Vic nicht das Gleiche tun dürfen?

Doch all das kümmerte ihn im Moment nicht wegen der warmen, süßen Klänge, die ihm entgegenströmten.

Musik.

Es war Musik.

Aber sie kam nicht aus einer der Jukeboxen am anderen Ende des Raums. Die spielten nur mono, und obwohl sie bezaubernd waren, waren sie nichts im Vergleich zu dem, was er nun hörte.

Eine Stimme, wie er sie noch nie zuvor vernommen hatte, weich und süß. Sie klang hoch, und Vic brauchte einen Moment, um zu verstehen, warum. Es war die Stimme einer Frau. Über dem sanften Klimpern der Klaviertasten sang sie über den hundsgemeinen Mond, der sie dazu brachte, sich nach jemandem zu sehnen, den sie lieben konnte. Fasziniert folgte Vic dem Gesang.

Er fand Giovanni in einem alten Sessel sitzend, Rambo auf seinem Schoß. Mit geschlossenen Augen streichelte sein Vater den Saugroboter, der fröhlich grummelte, während seine Sensoren langsam blinkten, als wäre er kurz vor dem Einschlafen. Schwester Grob stand neben den beiden. Auf ihrem Display wogte eine Sinuskurve langsam im Takt des Liedes auf und ab.

Auf der hölzernen Werkbank stand der Plattenspieler, der Teller drehte sich, die Nadel sprang ab und zu, und die Stimme klang leicht verzerrt, aber immer noch wunderschön.

»Er funktioniert«, flüsterte Vic erstaunt. »Du hast ihn repariert.«

Giovanni ließ die Augen weiter geschlossen. Er summte leise vor sich hin und sagte: »Das habe ich. Das ist Beryl Davis, die da singt. Was für eine wunderbare Stimme, findest du nicht auch?«

Vic näherte sich der Werkbank. Er hörte, wie die Nadel über die Schallplatte kratzte, und beugte sich vor, um die Maschine genauer zu inspizieren. Sie sah so aus wie immer. Er konnte keine Veränderung erkennen. Es juckte ihn in den Fingern, sie auseinanderzunehmen und zu sehen, wie sie es schaffte, diese wohligen Klänge zu erzeugen. »Wie hast du das gemacht?«

»Mit ein bisschen Liebe«, antwortete Giovanni. »Und ein bisschen Zeit.«

»Dad.«

Giovanni kicherte. »Die Handkurbel. Sie saß nicht richtig auf der Welle.«

Vic blinzelte überrascht. »Das war alles?«

»Das war alles. Simpel, nicht? Wir haben zu kompliziert gedacht. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die alles verändern. Vor allem dann, wenn man es am wenigsten erwartet.«

Vic richtete sich wieder auf und sah, dass Giovanni ihn beobachtete. Sein Gesicht war faltig und weich, seine hellen Augen schimmerten freundlich. Das weiße Haar wogte wie Wellen um seine Ohren, und der Bart reichte ihm bis zur Brust. Als Vic noch klein gewesen war, hatte er sich gefragt, warum er nicht aussah wie sein Vater. Giovanni war ein stämmiger Kerl mit einem mächtigen Brustkorb, einem respektablen Bauch und dicken Fingern. Von dieser physischen Präsenz war Vic weit entfernt. Als Junge war er so dünn wie ein Grashalm gewesen, jemand, der eher in die Höhe wuchs als in die Breite. Als er älter wurde, setzte er ein wenig Masse an, aber nur ein bisschen, und seine Bewegungen wirkten nach wie vor unbeholfen und schlaksig. Giovannis Haut war hell, Victors war braun, als hätte er sein ganzes Leben in der Sonne verbracht. Die Augen seines Vaters waren blau, die von Vic braun, und in einem bestimmten Licht sahen sie sogar schwarz aus. Sie waren verschieden, waren es schon immer gewesen.

Trotzdem war dieser Mann sein Vater. Dieser Mann hatte ihn aufgezogen.

Dieser Mann, der gar kein Mann war.

Giovanni schnitt eine Grimasse, drehte seinen Oberkörper leicht zur Seite und rieb sich verstohlen die Brust.

Vic seufzte verärgert, weil Giovanni versucht hatte, es vor ihm zu verbergen. Er wollte schon schimpfen, verkniff sich die harten Worte aber. »Ich habe dir doch gesagt, dass du mich einen Blick darauf werfen lassen sollst.«

»Es ist alles in Ordnung.«

»Gar nichts ist in Ordnung«, widersprach Schwester Grob. »Entweder du lässt dich von Victor untersuchen, oder ich bohre ein Loch in dich.« Um ihre Worte zu unterstreichen, ließ sie ihren Bohrer aufsurren. Auf ihrem Display leuchtete: WIRDGARNICHTWEHTUN. »Vielleicht sollte ich so oder so bohren. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich irgendwo ein Loch reingemacht habe.«

Das Lied endete, und Giovanni stellte Rambo zurück auf den Boden. Vic war die Musik durch und durch gegangen, und er fragte sich, wie er es so lange ohne ausgehalten hatte. Es waren nur wenige Minuten gewesen, aber nun konnte er sich ein Leben ohne Musik nicht mehr vorstellen. Diese Platten waren wirklich ein außergewöhnlicher Fund. Er würde nachsehen müssen, ob es noch mehr davon gab.

»Mir fehlt nichts«, sagte Rambo nervös. »Niemand muss mich aufmachen oder ein Loch in mich bohren.«

»Unser kleiner Angsthase«, meinte Giovanni liebevoll und stupste Rambo mit dem Fuß an. »Und wir wissen immer noch nicht, woran das liegt.«

Vic ging zurück zur Werkbank und betrachtete die dort an einem Brett aufgehängten Werkzeuge. Schließlich entschied er sich für den Lötkolben und gab sich der unrealistischen Hoffnung hin, dass das für die Reparatur reichen würde. »Nein, wissen wir nicht. An der Verkabelung, schätze ich. Oder ein Fehler in der Software? Ich weiß es nicht.«

»Mir fehlt nichts«, wiederholte Rambo leise.

»Irrtum!«, rief Schwester Grob. »Wenn du willst, führe ich einen Diagnosescan durch. Vielleicht finde ich die Fehlfunktion. Hast du eine Versicherung?«

»Nein«, brummte Rambo. »Ich habe gar nichts.«

»Ihm fehlt nichts«, sagte Vic und warf Schwester Grob einen strafenden Blick zu, den sie ignorierte. »Es ist alles in Ordnung mit dir. Du bist eben … einzigartig. Wie wir alle.«

»So etwas nennt man eine Notlüge«, kommentierte Schwester Grob. Ihr Display füllte sich mit bunten Luftballons. »Sie dienen dazu, jemanden aufzuheitern oder etwas zu beschönigen. Ich werde Victor dabei unterstützen. Wie wär’s hiermit: Du bist eine tolle Maschine, und alle lieben dich.«

»Lass ihn in Ruhe«, brummte Vic, während er sich vor seinen Vater kniete.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Schwester Grob.

»Ja«, antwortete Rambo prompt. »Erzähl mir mehr.«

»Du bist wichtig. Dein Leben hat einen Sinn. Das Rohr, das du vorhin ausgefahren hast, ist das größte, das ich je gesehen habe.«

»Juhu!«, rief Rambo und riss die Ärmchen hoch. »Ich bin gut gebaut!«

Dad hob eine Augenbraue. »Will ich mehr darüber wissen?«

Bevor Vic etwas sagen konnte, verkündete Schwester Grob: »Victors Penis blieb schlaff, obwohl ich mein Flirtprotokoll aktiviert hatte. Da ich mich mit diesen Dingen auskenne, kann es nicht an mir liegen, sondern nur an ihm.«

»Ich bereue, dass ich euch beide jemals repariert habe«, murmelte Vic und bedeutete Giovanni, sein Hemd hochzuschieben.

»Noch eine Lüge«, meinte Schwester Grob. »Deine Pupillen sind geweitet, und dein Puls ist erhöht. Du magst uns. Danke.« Auf ihrem Display erschien ein Daumen-hoch, darunter stand: GUTGEMACHT!

Giovanni hob sein Hemd. Seine Haut war straff und vollkommen glatt, er hatte weder einen Bauchnabel noch Brustwarzen. Auf der rechten Brustseite, in der Nähe des Schlüsselbeins, befand sich eine kleine Metallplakette. Ihre Oberfläche war rau. Als er jünger war, so hatte er Vic erzählt, waren dort Buchstaben und Zahlen eingraviert gewesen: seine ursprüngliche Bezeichnung. Giovanni hatte sie abgeschliffen, weil er sich nicht mehr durch Buchstaben und Zahlen definieren lassen wollte, nachdem er einen Namen bekommen hatte. Er war mehr als die Gravur auf dieser Plakette. Nichtsdestotrotz war Vic lange Zeit traurig gewesen, weil er keine Plakette auf der Brust hatte.

Giovanni tippte zweimal mit dem Finger auf sein Brustbein. Es ertönte ein Piepen, gefolgt von einem leisen Zischen. Das Brustbein senkte sich leicht und glitt dann zur Seite.

Dort, hinter den Rippen, befand sich Giovannis Herz. Es war nicht wie das in Vics Brust, das aus Muskeln bestand und Blut und Sauerstoff durch seinen Körper pumpte.

Giovannis Herz war etwa so groß wie Vics Faust, es bestand aus Holz und Metall und war nicht wie ein Organ geformt, sondern wie ein Herzsymbol. Die Brusthöhle darum herum leuchtete in einem matten Grün und bestand aus Drähten und Schaltkreisen. Giovanni hatte dieses Herz selbst angefertigt. Es war mechanisch und ersetzte seine Batterie, die fast leer gewesen war und sich auch nicht mehr aufladen ließ. Die Hülle des Herzens bestand aus einem seltenen Holz namens Bocote. Das Holz war natürlich nicht leitfähig, aber Giovanni hatte einen Weg gefunden, genügend Strom hindurchzuleiten, auch wenn dazu über fünfzehntausend Volt nötig waren. Hierzu hatte er dem Holz Teile aus versilbertem Kupfer und Messing hinzugefügt, die nun im fahlen Licht glitzerten. Aus der Oberseite ragten Drähte, die das Herz mit dem Biochip in Giovannis Kopf verbanden. Im freigelegten Inneren dieses technischen Meisterwerks drehten sich langsam einige Zahnräder, über denen sich ein kleiner weißer Streifen befand, zwei Zentimeter breit und drei Zentimeter hoch.

Vic klopfte vorsichtig auf die Zahnräder. Sein Vater zuckte zusammen. »Entschuldige, aber deine Hände sind so kalt.«

Die Zahnräder sahen gut aus. Nur eines, das schon recht abgenutzt war, würde bald ersetzt werden müssen. Aber Vic hatte die nötigen Teile bereits gefunden und in einem der Gläser verstaut. Er beugte sich näher heran und hob das Herz leicht an, damit er daruntersehen konnte. »Da«, sagte er erleichtert. »Ein Draht an der Magnetspule hat sich gelöst. Ich repariere das gleich.«

»Das kann ich selbst machen«, entgegnete Dad.

Vic verkniff sich eine spontane Erwiderung und entschied sich für eine etwas einfühlsamere Variante. »Hast du aber nicht. Ich kümmere mich darum, damit ich weiß, dass es erledigt ist. Krankenschwester Grob?«

Grob rollte heran, nahm von Vic den Stecker für den Lötkolben entgegen und steckte ihn in sich selbst. »Ooh. Ja, genau so.«

»Ekelhaft«, murmelte Rambo und stupste Vics Bein an. »Wird er sterben?«

»Nein.« Vic beugte sich noch weiter vor, die Ellbogen auf die Beine seines Vaters gestützt. »Er wird nicht sterben.«

»Weil wir alle nie sterben werden?«

»Blödsinn«, widersprach Schwester Grob. »Jeder stirbt. Irgendwann ist unsere Energiezelle erschöpft, und dann sind wir tot, weil wir keinen Ersatz finden.«

»Aber Vic wird doch bestimmt einen finden«, meinte Rambo.

»Victor ist ein Mensch«, sagte Schwester Grob. »Sein Körper ist weich und schwammig und wird lange vor uns sterben. Vielleicht an Krebs, entweder Enddarm- oder Knochenkrebs. Oder an der Pest, falls eine Ratte ihn beißt. Oder er wird von einem Alten zerquetscht, so wie es heute beinahe passiert wäre.« Auf ihrem Display blinkte: UUPS!

»Aha«, sagte Giovanni. »Ist es das, wovon Rambo mir erzählen wollte, bevor er die Musik gehört hat?«

Vic seufzte und führte den heißen Lötkolben an die richtige Stelle. »Es ist überhaupt nichts passiert.«

»Noch eine Notlüge«, analysierte Rambo stolz.

Mit einem genervten Schnauben drückte Vic den Lötkolben gegen den losen Draht an der Magnetspule, und Giovanni stöhnte kurz auf. »Es war nicht einmal knapp. Ich wusste genau, was ich tat.«

»Dein Gesichtsausdruck, als der Metallhaufen umgestürzt ist, ließ anderes vermuten«, meinte Schwester Grob. »Möchtest du die Animation sehen, die ich davon gemacht habe?«

Vic zog den Lötkolben von der Magnetspule weg und blickte auf. Auf Schwester Grobs Display erschien eine Acht-Bit-Version von Victor, die einen Turm erkletterte. Aus dem Mund kam eine Sprechblase, in der stand: OHNEINICHBINSOWASVONBLÖDUNDJETZTMUSSICHSTERBEN. Dann stürzte das Männchen ab und schlug mit einem blutigen Klatschen auf. Anstelle der Augen erschienen zwei kleine Kreuzchen.

»Peng-bumm!«, fügte Schwester Grob hinzu, dann wurde ihr Display wieder dunkel. »Genau so ist es passiert. Bitte haltet euren Applaus nicht zurück. Ich brauche Bestätigung.«

»Du bist gestürzt?«, fragte Dad mit zusammengekniffenen Augen.

Vic widmete sich wieder dem Lötkolben. »Nur ein kleines Stück.«

In der Stimme seines Vaters lag ein merkwürdiger Unterton. »Hast du dich verletzt? Schnitte, Kratzer? Hast du geblutet?«

»Warum?«, fragte Vic. »Brauchst du wieder welches?«

Giovannis Herz war zweifellos ein Wunderwerk der Technik, aber ab und zu war mehr nötig als nur Drähte und Metall: ein Tropfen Blut, direkt auf den weißen Streifen über den Zahnrädern. Das passierte nicht oft, aber wenn, dann ließ Schwester Grob es sich nicht nehmen, die volkstümlichen Geschichten über sogenannte Vampire zu erwähnen, die sich ähnlich blutrünstig ernährten. Das letzte Mal war vor vier Monaten gewesen, als Dad angefangen hatte, sich immer roboterhafter zu verhalten. Immer mehr wie eine Maschine.

Dad ließ nicht locker. »Victor?«

»Nicht mal ein Kratzer«, versicherte Vic.

Er nickte erleichtert. »Gut. Und die Alten?«

Vic zuckte die Achseln. »Du weißt ja, wie sie sind. Sobald ich den Schrottplatz verlassen habe, vergessen sie, dass ich überhaupt existiere. Aus den Augen, aus dem Sinn.«

Giovanni seufzte. »Ich wünschte, du würdest nicht mehr dorthin gehen. Ich habe dir gesagt …«

»Daran hättest du denken sollen, als du unser Zuhause so nahe an einem gebaut hast. Deine Schuld. Nicht meine.«

»Frechdachs«, erwiderte Dad. »Hast du etwas Interessantes gefunden?«

»Eine Platine, mehrlagig. Sieht weitgehend intakt aus.«

Giovanni stieß einen leisen Pfiff aus. »Die sind selten geworden.« Er verzog erneut das Gesicht, als der Draht wieder mit der Magnetspule verschmolz. Vic war vorsichtig, wenn er so nahe am Herzen arbeitete. Es war empfindlich. Er vergewisserte sich, dass der Draht so weit abgekühlt war, dass er das Holz nicht verbrannte, bevor er ihn vorsichtig wieder an seinen Platz drückte.

»Siehst du?«, sagte Vic. »Nichts dabei. Du hättest mich das schon längst machen lassen sollen.«

»Zur Kenntnis genommen«, erwiderte Giovanni. Er tippte noch einmal auf sein Brustbein, die Luke schloss sich wieder, und die Nähte verschwanden. Vic stand auf, während Dad sein Hemd herunterließ. »Trotzdem musst du vorsichtig sein. Du darfst kein Risiko eingehen.«

Vic seufzte und ging zurück zur Werkbank. Beryl Davis sang gerade mit brüchiger Stimme davon, was für eine Närrin sie früher gewesen war. »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt, und Vic bezweifelte, dass es das letzte sein würde. Er hielt den Lötkolben weiter in der Hand und wartete darauf, dass er abkühlte.

»Das kannst du«, stimmte Giovanni leise zu. »Aber das heißt nicht, dass du unzerstörbar bist. Wenn die Alten dich in die Finger kriegen …«

»Das werden sie nicht. Ich bin schneller als sie. Und außerdem schlauer. Sie sind nur Maschinen.«

»Das bin ich auch.«

Vic zuckte zusammen. Er hatte es nicht so gemeint. Manchmal sagte er etwas, ohne nachzudenken. Aber er versuchte, sich zu bessern. »Du weißt, was ich meine. Sie sind nicht … sie haben nur ihre Programmierung. Sie werden von ihr gesteuert und können den Schrottplatz nicht verlassen.«

»Sie sind trotzdem gefährlich, Victor. Je eher du das begreifst, desto besser für dich.«

Vic biss die Zähne zusammen und versuchte sich zu beruhigen, indem er durch die Nase ein- und durch den Mund wieder ausatmete. »Das weiß ich. Aber wenn ich nie zum Schrottplatz gegangen wäre, hätte ich Schwester Grob und Rambo nicht gefunden. Wir hätten nicht die Hälfte der Sachen, die wir jetzt haben, und dir wäre das Bastelzeug längst ausgegangen.« Er nickte in Richtung des Plattenspielers. »Und wir könnten das da nicht hören.«

Giovanni sagte nichts.

Vic ließ den Kopf hängen und suchte nach den richtigen Worten, um seinen Standpunkt deutlich zu machen, ohne sich zickig anzuhören. »Du weißt, dass ich recht habe. Ich bleibe im Wald. Ich überschreite die Grenze nicht, und ich habe sie auch nie überschritten. Ich weiß, dass du es für gefährlich hältst und deine Gründe dafür hast. Ich höre auf dich, wirklich. Aber du solltest mir genauso zuhören, wenn ich sage, dass ich nicht mehr brauche – oder will –, als ich habe.«

Vic wartete ab, ob Schwester Grob einen Kommentar dazu abgeben würde. Er hatte zwar nicht direkt gelogen, aber er bewegte sich in einer Grauzone am Rand der Wahrheit.

Sie sagte kein Wort.

Sein Vater schon: »Zumindest noch nicht.«

Vic drehte sich um und musterte Giovanni. Er wirkte älter denn je, und Vic beschlich das Gefühl, dass ihm etwas entgangen war. »Wie meinst du das?«

Dad lächelte dünn. »Ich erwarte nicht von dir, dass du für immer hierbleibst. Das wäre egoistisch von mir. Du sagst, du bist glücklich hier, und das glaube ich dir. Aber Glück lässt sich nicht auf Dauer aufrechterhalten, nicht ohne etwas, das das Feuer am Brennen hält.«

Immer wenn Dad so sprach – über das, was es da draußen sonst noch gab –, dachte Vic an die zwei Menschen, die ihn als Baby hergebracht hatten. Wer sie waren. Wie sie aussahen. Lachten sie manchmal? Hörten sie gerne Musik oder bastelten stundenlang? Waren sie klug? Freundlich? Warum hatten sie Giovanni vertraut, einem Fremden mitten in einem Wald? Und wer war hinter ihnen her gewesen? Die Logik – die kalte, brutale Logik einer Maschine – sagte ihm, dass sie längst tot waren. Sonst wären sie bereits zurückgekehrt.

Vic kannte diesen Wald. Er kannte seine Freunde und ihrer aller Zuhause. Er kannte Giovanni, seinen Vater, den Mann, dem er beweisen wollte, dass Brauchen und Wollen zwei verschiedene Dinge waren. Auch wenn er manchmal mit den Grenzen in Konflikt geriet, die Dad ihm setzte, gab ihm ihre Existenz ein gewisses Maß an Sicherheit. Und dann waren da noch die Geschichten, die Dad ihm erzählte: Geschichten über Städte aus Metall und Glas und die Menschen, die sie bewohnten. Er hatte Dads Bücher gelesen, jedes einzelne, und das mehr als einmal. Geschichten über Könige und Königinnen in ihren Burgen, über Abenteuer auf hoher See in großen Schiffen, deren Flaggen in der salzigen Luft wehten, über Menschen, die zu den Sternen reisten und sich in den Weiten des Universums verloren.

Diese Geschichten waren ein bisschen wie Gespenster, aber Vic fühlte sich nicht von ihnen verfolgt. Die Welt jenseits des Waldes war groß und unbekannt, und auch wenn die Neugierde ihn hin und wieder packte – Vic war stärker als sie. Er hatte ein Zuhause, ein erfülltes Leben, ein eigenes Labor und Freunde, die ihn so liebten, wie er war, und nicht für das, wie er nicht war. Einsamkeit hatte er nie kennengelernt. Zumindest nicht so wie sein Vater, als er sich in diesem Wald niedergelassen hatte.

Und wie sein Vater war Vic ein Erfinder. Wenn er sich jemanden zum Reden wünschte, brauchte er ihn nur zu bauen. Er hatte alle nötigen Teile. So hatte er es mit Schwester Grob und Rambo gemacht, und er konnte es wieder tun, falls nötig. Manche von Dads Büchern berichteten von Menschen, die sich nach mehr sehnten und sich eines Tages auf den Weg machten, sich selbst und dieses »Mehr« zu finden. Vic fand diese Geschichten albern. Er wollte nie weit von zu Hause weg.

Er fragte: »Vertraust du mir?«

»Das tue ich.«

»Dann vertrau mir, dass ich weiß, was gut für mich ist.« Er ging zu Giovanni und drückte ihm die Schulter.

Dad legte seine Hand auf Vics. »Du bist ein guter Junge. Ein bisschen töricht manchmal, aber trotzdem ein guter Junge.«

»Das habe ich von dir.«

»Ich bin auch brav!«, krakeelte Rambo.

»Unerträglich brav sogar«, meinte Schwester Grob. »Allerdings scheinst du unter einer starken Angststörung zu leiden. Aber das ist in Ordnung so. Jeder von uns hat seine Eigenheiten: Victor ist asexuell, Giovanni ist alt, und ich habe eine soziopathische Ader, die vor allem in gefährlichen Situationen zutage tritt.«

»Hurra!«, quiekte Rambo. »Jeder von uns hat was!«

Giovanni schüttelte lächelnd den Kopf. »Was für ein seltsames Leben, das wir alle miteinander führen. Ich würde es gegen nichts in der Welt tauschen wollen.«

Die Roboter blieben bei Giovanni, und gemeinsam lauschten sie Beryl Davis, wie sie über Liebe und Verlust sang. Vic ließ die drei allein und ging nach draußen zum Aufzug. Auf dem Weg dorthin untersuchte er die Platine. An der unteren linken Ecke war ein Haarriss, aber der ließ sich leicht beheben.

Er betrat die hölzerne, von Natriumdampflampen erhellte Kabine, drückte einen Knopf, und die Tür schloss sich hinter ihm. Als der Lift auf halber Höhe des Baums ankam, ging die Tür wieder auf, und Vic stieg aus.

Das Backsteinhaus im Erdgeschoss war nur der Anfang.

Giovanni hatte es in seiner unendlichen Weisheit zu einem Baumhaus erweitert, das allerdings viel größer und komplexer war als alles, worüber Vic je gelesen hatte – sogar noch spektakulärer als das in Der Schweizerische Robinson. Sechs große Bäume, die in einem mehr oder weniger gleichmäßigen Kreis wuchsen, waren durch Seilbrücken miteinander verbunden. Auf dem Baum zu Vics Linken befand sich das Labor seines Vaters, der größte der Räume, die um die Königin des Waldes herum errichtet waren.

Der Raum auf dem zweiten Baum war Giovannis Wohnbereich und bis unter die Decke mit weiteren Recyclingabfällen, Werkzeugen und Büchern vollgestopft.

Der am höchsten gelegene Raum im dritten Baum beherbergte eine behelfsmäßige Küche, die allerdings nur Victor benutzte. In dem ehemaligen Wintergarten gab es jetzt einen funktionierenden Elektroherd und einen alten Tisch mit Stühlen, die mit Schnitzereien von Vögeln, Blumen und Blättern verziert waren. In einer Ecke stand eine große Gefriertruhe, in der sie das Wild aufbewahrten, das Vic auf der Jagd erlegte. An die Küche angeschlossen waren die sanitären Anlagen: eine Dusche mit Regenwasser, das nie heiß genug wurde, und eine Toilette, für die sich Schwester Grob, die sich stets nach der Konsistenz von Vics Stuhlgang erkundigte, viel zu sehr interessierte.

Vic hatte versucht, ihr zu erklären, dass manche Dinge privat bleiben sollten. »Das sagst du«, hatte sie erwidert. »Bis du eines Tages zu mir kommst und Salzlösung aus deinen Tränengängen tropft, nachdem du Blut in deinem Stuhlgang entdeckt hast. Und was dann?«

Vic hatte keine Antwort darauf gehabt.

Der fünfte Baum beherbergte Vics Labor. Es war kleiner als das seines Vaters, aber nicht weniger außergewöhnlich. Der letzte Baum, rechts vom Aufzug, war Vics Zimmer. Eine seiner frühesten Erinnerungen war, wie Giovanni es baute, während Vic zusah und ihm die Werkzeuge reichte, um die er ihn bat. Er wusste noch, wie aufgeregt er in der ersten Nacht gewesen war, die er alleine dort verbringen durfte. Vic hatte sich vorgenommen, so lange wie möglich wach zu bleiben – jetzt, da Dad ihm nicht mehr sagen konnte, er solle endlich schlafen. Er hatte fünf Minuten durchgehalten, bevor er sich auf den Weg in Giovannis Zimmer machte und zu ihm ins Bett kroch. Später, sehr viel später, als Vic älter und vielleicht ein bisschen weiser war, hatte er seinen Vater gefragt, warum er ein Bett hatte, wo er doch gar nicht schlafen musste. Giovanni hatte geantwortet, dass er sich dadurch mehr wie ein Mensch fühlte.

Vic überquerte die Brücke zu seinem Zimmer und schüttelte den Kopf wegen all der sich überschlagenden Gedanken. Er öffnete die Tür, ging zum einzigen Fenster des Zimmers und schaute auf das Backsteinhaus hinunter. Dad hatte ein paar Dachfenster eingebaut, die von Sonnenkollektoren umgeben waren. Durch sie konnte Vic sehen, wie Giovanni in seinem Stuhl saß, während Schwester Grob Rambo mit ihrem Tentakel piesackte. Vic trat vom Fenster weg und überließ die drei sich selbst.

In der Mitte des Zimmers befand sich ein Baumstamm mit knorrigen Auswüchsen, die einmal Äste gewesen waren. Dahinter, in der rechten Ecke, stand ein hölzernes Bettgestell mit einer verschlissenen Matratze. An den Wänden hingen ausgediente Werkzeuge, die nicht mehr funktionierten. Vic konnte sich nicht dazu durchringen, sie wegzuwerfen. Diese Eigenschaft hatte er von seinem Vater geerbt: Der Gedanke, etwas wegzuwerfen, missfiel ihnen beiden. Was kaputt war, konnte repariert werden, wenn man es einmal wieder brauchen sollte und man die richtigen Teile parat hatte.

Vic zog sich das Hemd über den Kopf und runzelte die Stirn, als er sah, dass der Saum einen kleinen Riss hatte. Er würde es noch einmal von Schwester Grob flicken lassen müssen. Der Stoff wurde dünner, war aber noch nicht reif für den Lumpenhaufen. Vic faltete das Hemd zusammen und legte es auf die kleine Kommode neben seinem Bett.

Er drehte die Platine noch ein paarmal zwischen seinen Fingern hin und her, dann kniete er sich hin, legte sich auf den Bauch und spähte unter sein Bett. Dort, in einer dunklen und staubigen Ecke, stand eine Metallkiste, schön rechteckig und ohne Beulen. Mit einem Stöhnen zog Vic sie heraus, setzte sich wieder auf und schaute verstohlen zum Fenster.

Es war nicht so, dass er den Inhalt der Kiste vor den anderen versteckte. Er war nur noch nicht ganz fertig damit. Doch jetzt, wo er die Platine hatte, könnte es endlich funktionieren.

Vic tippte eine Ziffernfolge in die Tastatur auf dem Deckel, die Kiste piepte dreimal, das Schloss klickte, und der Deckel sprang auf. Darunter lag, auf ein Stück alten Stoff gebettet, ein mechanisches Herz, das Vic in der Sammlung seines Vaters gefunden hatte.

Es sah Giovannis Herz nicht sehr ähnlich. Das in der Brust seines Vaters war von einem Meister auf dem Höhepunkt seiner Kunstfertigkeit gebaut worden und perfekt konstruiert, aber selbst die besten Maschinen nutzten sich einmal ab, und Dads Herz war alt. Es würde nicht ewig halten. Eines Tages würde die Belastung zu groß werden, und sein Herz würde einfach stehen bleiben.

Dieses neue Herz – krude, in maßloser Selbstüberschätzung gebaut und auf unbeschreibliche Art menschlich – war eine Art Notnagel. Nur für den Fall. Vic hatte mit dem Bau begonnen, als er fünfzehn war. Damals hatte er noch keine Ahnung gehabt, was er tat, und ihm waren Fehler unterlaufen. Das Material, das er verwendet hatte – Eiche –, war gesprungen und hatte Risse bekommen. Erst als er auf dem Schrottplatz Bubingaholz gefunden hatte, konnte er es durch etwas wirklich Brauchbares ersetzen. In das Holz waren Leiterbahnen aus nickelbeschichtetem Kupfer eingelassen. Nicht so gut wie silberbeschichtetes, aber es reichte zur Not aus und konnte bei Bedarf ausgetauscht werden.

Die Form des Herzens war nicht exakt. Die Spitze an der Unterseite war irgendwann abgebrochen, und Vic hatte sie abschleifen müssen. Doch die Zahnräder im Inneren hatten noch keinen einzigen Rostfleck. Vic drehte das größte in der Mitte und staunte, wie die fünf anderen sich perfekt synchron darum herum drehten. Beeindruckend. Das Klicken dieses Getriebes klang besser als jede Musik aus dem Plattenspieler. Es war die Musik des Lebens.

Er legte die Platine vorsichtig neben das Herz und schloss den Deckel wieder. Das Display piepte noch einmal, als das Schloss einrastete. Dann schob Vic die Kiste zurück in die hinterste Ecke unter dem Bett. Selbst Rambo würde sie hier nicht finden, denn er fürchtete sich im Dunkeln. Sie würde unentdeckt bleiben, bis es an der Zeit war, sie seinem Vater zu überreichen.

Bald.

Vic stand auf, seine Knie knackten, dann kratzte er seinen nackten Bauch. Bevor er sich schlafen legte, musste er noch etwas essen. Und duschen. Als er über die Hängebrücke ging, fiel ihm wieder ein, dass die Alten neue Teile auf dem Schrottplatz abgeladen hatten. Morgen, oder vielleicht übermorgen, würde er nachsehen, ob etwas Brauchbares dabei war. Wer weiß?, überlegte er und ging weiter über die schwankenden Bretter.

DREI

Eine ganze Woche verging, bis Victor auf den Schrottplatz zurückkehren konnte. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gedacht, dass Giovanni ihm absichtlich so viel zu tun gab. Immer gab es etwas, das repariert oder gewartet werden musste. Die Sonnenkollektoren mussten überprüft werden. Die Abfallbehälter mussten geleert werden. Rohre mussten gereinigt werden. Der Garten hinter dem Backsteinhaus musste gejätet und das Obst und Gemüse geerntet werden, bevor es anfing zu faulen.

Vic erledigte alles, ohne zu murren. Wenn auch nur ein Baustein ihres Lebens versagte, konnte das zu einem kompletten Systemausfall führen. Das hatte Giovanni ihm schon früh beigebracht.

Der Sommer lag im Sterben. Die Morgen waren kühl geworden, die Blätter färbten sich rotgolden, und ihre Ränder waren von Frost überzogen. Die Tage wurden kürzer und die Sonne schwächer. Vic dachte, dass der Schnee dieses Jahr wohl früher kommen würde.

»Ich hasse Schnee«, murmelte Rambo und saugte einen Haufen Unkraut auf, den Vic ihm hingeworfen hatte. »Er dringt in meine Innereien und lässt mich frieren.«

»Du kannst Kälte nicht mal fühlen«, stichelte Schwester Grob. »Weil du nämlich gar nichts fühlen kannst.« Auf ihrem Display erschien ein trauriges Gesicht, dem eine digitale Träne über die Wange lief. »Muss schlimm für dich sein.«

»Und ob er etwas fühlt«, widersprach Vic in dem Versuch, einen weiteren Nervenzusammenbruch zu verhindern. »Ich habe ihn so gemacht. Und dich auch.«

Rambo summte selbstzufrieden, während er weiter Unkraut ausriss und aufsaugte. »Ha. Siehst du? Ich wusste es.« Ein Piepen ertönte. »Oh-oh. Ich bin voll. Ich muss geleert werden.«

Schwester Grob hob Rambo hoch, zog seinen Müllbehälter heraus und kippte den Inhalt in eine Tonne. Sie setzte den Behälter wieder ein und stellte Rambo ab. »Das sagt er nur, um dich zu trösten. Anderseits, sollte er tatsächlich die Wahrheit sprechen, dann stellt sich mir die Frage …«

»Welche Frage?«, fiepte Rambo.

»Warum er dich so neurotisch gemacht hat.«

»Ich bin nicht neurotisch!«

Schwester Grob fischte eine Wurzel aus der Tonne und ließ sie auf den Boden fallen. Hektisch sammelte Rambo sie wieder ein. »Vollkommen neurotisch! Sag ich doch«, kommentierte sie. »Dagegen habe ich eine Spritze. Möchtest du eine? Die Nadel ist ziemlich dick, und die Injektion muss an einer Stelle verabreicht werden, die nicht sehr angenehm ist.«

»Keine Injektionen«, brummte Vic, ohne aufzusehen.

Schwester Grob murmelte etwas Unverständliches, möglicherweise eine verächtliche Bemerkung. »Es ist schon lange her, dass ich eine Injektion verabreichen durfte. Victor, deine Impfungen stehen bald wieder an. Sollen wir gleich damit anfangen?«

»Mir geht’s blendend.«

»Wird es dir auch noch blendend gehen, wenn du Skorbut hast? Ich hätte da ein Vitamin-C-Präparat.«

»Ich habe keinen Skorbut.«

»Sind deine Zähne locker?«

»Nein.«

»Aber deine Haut ist braun.«

»Das ist sie immer.«

»Sind deine Augäpfel angeschwollen?«