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Willkommen zurück auf der wunderbaren Insel Marsyas inmitten des azurblauen Ozeans. Hier bietet Arthur Parnassus magisch begabten Kindern, die zu Waisen geworden sind, ein Zuhause. Und hier hat Arthur seine große Liebe Linus Baker kennengelernt. Die Kinder und Linus sind Arthurs kostbarster Schatz. Doch sein Leben war nicht immer leicht, und als ein neuer Bewohner auf die Insel zieht und Arthurs dunkle Vergangenheit an die Öffentlichkeit kommt, droht sein Traum von einem glücklichen, freien Leben für alle magisch Begabten zu zerplatzen …
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Seitenzahl: 676
»Du solltest den Phönix öfter rauslassen«, murmelte Phee, während ihr schon die Augen zufielen. »Er ist ein Teil von dir. Warum versteckst du ihn, wenn wir dich so gerne fliegen sehen?«
»Fliegen«, sagte der Phönix mit kehliger Stimme und die Meeresbrise trug das Wort davon.
Arthur Parnassus und Linus Baker haben es beinahe geschafft: Sie haben sechs magisch begabten Kindern auf der Insel Marsyas ein Zuhause gegeben. Und bald soll der junge Yeti David die bunteste Familie, die man sich vorstellen kann, vervollständigen. Wenn jetzt noch der Antrag auf Adoption genehmigt wird, fehlt Arthur und Linus nichts mehr zu ihrem Glück.
Doch es kommt anders: Bei einer Anhörung durch die Behörde verliert Arthur die Kontrolle und verwandelt sich in einen Phönix – mit katastrophalen Folgen. Die Behörde schickt die verkniffene Inspekteurin Harriet Marblemaw nach Marsyas. Sie soll überprüfen, ob Arthur und Linus überhaupt geeignet sind, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die Familie droht auseinandergerissen zu werden. Um seine Kinder und seine große Liebe Linus vor dem Schlimmsten zu bewahren, muss sich Arthur der größten Herausforderung seines Lebens stellen – sich selbst, und zwar mit allen Facetten, die er verkörpert.
Im Alter von sechs Jahren griff T. J. KLUNE zu Stift und Papier und schrieb eine mitreißende Fanfiction zum Videospiel »Super Metroid«. Zu seinem Verdruss meldete sich die Videospiel-Company nie zu seiner Variante der Handlung zurück. Doch die Begeisterung für Geschichten hat T. J. Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit als Schadensregulierer bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung queerer Figuren in seinen Romanen wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Mit seinem Roman Mr. Parnassus‘ Heim für magisch Begabte gelang T. J. Klune der Durchbruch als international gefeierter Bestsellerautor. Von T. J. Klune sind im Heyne Verlag außerdem erschienen: Das unglaubliche Leben des Wallace Price, Die unerhörte Reise der Familie Lawson, Aus Sternen und Staub sowie die Extraordinaries- Reihe mit den Bänden Die Außergewöhnlichen, Neue Helden und Alte Geheimnisse.
T.J. KLUNE
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Pfingstl
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:SOMEWHEREBEYONDTHESEADer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe: 11/2024 Redaktion: Lisa Scheiber
Copyright © 2024 by Travis Klune
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32015-7V002
www.heyne.de
Gewidmet der Transgender-Community weltweit:
Ich sehe euch, ich höre euch, ich liebe euch.
Diese Geschichte ist für euch.
»Wir stehen an einem Scheideweg. Der Zweck dieser Anhörung – und jeder weiteren, die noch folgen mag – ist zu bestimmen, welche Veränderungen an den bestehenden Vorgaben und Verordnungen für magische Wesen vorzunehmen sind – wenn überhaupt. Wie die Presse nicht müde wurde zu berichten, sind die Behörden für die Betreuung Magischer Minderjähriger und Magischer Erwachsener seit Kurzem Gegenstand eingehender Untersuchungen. Mit der Auflösung des Allerhöchsten Managements sind eben jene Behörden ohne zentrale Führung.«
Als Arthur Parnassus von der Fähre stieg und die Insel nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder betrat, glaubte er, er würde an Ort und Stelle in Flammen aufgehen. Er tat es nicht, aber es war knapp. Das Feuer in ihm brannte so heiß wie schon lange nicht mehr. Es verlangte ihn danach, aus seinem Körper auszubrechen, seine Flügel zu strecken und sich in die Lüfte zu erheben. Den vertrauten, salzigen Wind in seinem Gefieder zu spüren. Doch er wusste, wenn er diesem Wunsch nachgab, standen die Chancen gut, dass er einfach davonfliegen und diesen Ort für immer hinter sich lassen würde. Aber das ging nicht. Er war nicht ohne Grund zurückgekehrt.
Der Besitzer der Fähre, ein störrischer Kerl mit pockennarbigem Gesicht, schmutzigem Overall und dem bezaubernden Namen Merle, rief von der drei Meter höher gelegenen Reling zu ihm herunter: »Ich hoffe, Sie sind sich Ihrer Sache sicher. Sobald ich weg bin, sitzen Sie hier fest. Nach Einbruch der Dunkelheit fahre ich nicht mehr raus.«
Arthur sah den Fährmann nicht an. Er war wie hypnotisiert vom Anblick der unbefestigten Straße zu seinen Füßen. Sie führte direkt in einen Wald, der so dicht war, dass die Strahlen der mittäglichen Sonne kaum das Moos und die auf dem Boden liegenden Blätter erreichten. Das Geräusch der am weißen Strand leckenden Brandung erfüllte seine Ohren und erinnerte ihn an seine Kindheit: an die guten Zeiten und die schlechten, alles. »Danke, Merle. Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.« Er hob den Kopf. »Ich denke, ich komme zurecht. Sollte ich aufs Festland zurückkehren müssen, rufe ich Sie.«
»Wie? Es gibt kein Telefon auf der Insel. Keinen Strom und kein Wasser.«
»Das wird sich bald ändern. Alles Nötige dafür soll morgen um Punkt zehn angeliefert werden. Sie bringen es doch rüber, oder?«
Merle machte ein finsteres Gesicht, aber Arthur sah kurz das gierige Blitzen in seinen Augen.
»Der Preis könnte raufgehen«, meinte Merle mit einem etwas hochnäsigen Schniefen. »Treibstoff ist nicht billig, und eine einzelne Person hin und her zu …«
»Natürlich«, sagte Arthur. »Ich werde Sie angemessen für Ihre Mühen entlohnen.«
Merle blinzelte. »Nun, tja, wahrscheinlich.« Er betrachtete die beiden Koffer, die links und rechts von Arthur standen. Der eine alt, der andere neu. »Warum haben Sie überhaupt übergesetzt?«
Kaum eine Wolke am Himmel. Überall das gleiche Blau, oben wie unten. Das Ende eines langen, warmen Sommers. Andererseits war Arthur immer warm. Die salzige Luft kitzelte ihn in der Nase, und er atmete ein, bis seine Lunge randvoll davon war. »Warum nicht?«
»Diese Insel ist ein schrecklicher Ort«, antwortete Merle mit einem Schaudern. »Es soll Gespenster hier geben, hab ich gehört. Unbewohnt. Schon lange.« Er spuckte über die Reling. »Und als sie noch bewohnt war, durften wir nicht darüber reden. Alles streng geheim, wissen Sie.«
»Ich weiß«, murmelte Arthur. Dann hob er die Stimme: »Merle, Sie kennen nicht zufällig einen Mann namens Melvin?«
»Was? Woher … Das war mein Vater.«
»Dachte ich’s mir«, erwiderte Arthur. Ouroboros. Die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt. Vielleicht war es ein Fehler. Das Dorf, von dem sie abgelegt hatten, sah von hier aus noch genauso aus wie schon vor Jahren: Gebäude in pastellfarbenen Rosa-, Gelb- und Grüntönen, Leute in Sommerkleidung, sorglos und in Sicherheit. Und warum auch nicht? Sie waren Menschen. Diese Welt war für sie gemacht.
Auch die Fähre war noch dieselbe, war nur im Lauf der Jahre ein wenig aufgemöbelt worden: ein neuer Anstrich und neue Sitze als Ersatz für die alten und kaputten. Selbst Merle passte perfekt ins Bild. Mit seinen stumpfen Augen und den nach unten gezogenen Mundwinkeln sah er fast aus wie Melvin. Alles war gleich.
Bis auf Arthur. »Ich habe ihn mal gekannt, früher.« Und dich auch, hätte er beinahe hinzugefügt und dachte an den mürrischen Teenager, der stets mit seinem Wischmopp auf der Fähre herumgeschlichen war.
Merle schnaubte. »Tot. Zehn Jahre schon.«
»Mein aufrichtiges Beileid.«
Merle winkte ab. »Woher kannten Sie ihn?«
Arthur lächelte. »Ich melde mich wieder«, sagte er, nahm seine beiden Koffer und straffte die Schultern. Endlich. Es war an der Zeit, zu sehen, was es zu sehen gab, und zu hoffen, dass sein Unterfangen nicht vergebens war. »Ich werde Ihre Hilfe nicht vergessen, doch jetzt muss ich los! Bis bald, guter Mann.«
Die Straße schlängelte sich durch den dichter werdenden Wald, eine Brise ließ das Blätterdach wackeln und Schatten über den Boden tanzen. Arthur schwitzte nicht – noch nicht –, aber der Weg war länger, als er ihn in Erinnerung hatte. Ach, die Jugend, dachte er, endlose Energiereserven. Eine Strecke mochte eine Meile lang sein oder sechs oder sieben, es spielte keine Rolle. Und jetzt, mit beinahe vierzig, war Arthur eigentlich ganz gut in Form, aber die Tage, an denen er endlos laufen konnte, lagen lange zurück.
Er kam an eine Biegung und blieb stehen. Bäume versperrten den Weg.
Fünf insgesamt, sie standen mitten auf der Straße, die Stämme so dicht beieinander, dass es dazwischen kein Durchkommen gab. Sie ragten hoch auf, bis in den Himmel über ihm, und sahen weit älter aus, als es eigentlich möglich war. Hundert Jahre oder mehr. Aber das konnte nicht sein. Als er das letzte Mal hier war, hatten diese Bäume noch nicht hier gestanden, ja nicht einmal Setzlinge.
Was bedeutete, dass es etwas anderes sein musste. Oder besser gesagt: jemand anderes. Aber nicht die Bäume, nein. Arthur wurde beobachtet.
Er stellte seine Koffer ab und näherte sich dem Baum in der Mitte. Die Rinde war aufgesprungen und fühlte sich rau an, als er seine Hand darauf legte. »Bist du da?«, fragte er. »Müsstest du eigentlich. Das hier ist dein Werk, würde ich vermuten.«
Als Antwort erklang das Lied eines Vogels.
»Du kennst mich«, sprach Arthur weiter. »Oder den, der ich einmal war.« Er lachte, aber es lag keine Heiterkeit darin. »Ich bin hierher zurückgekehrt in der Hoffnung, mehr aus diesem Ort zu machen, als er einst war.« Er schloss die Augen und lehnte die Stirn an den Stamm. »Ich werde es allein tun, wenn ich muss, aber nicht ohne deine Erlaubnis.«
Er öffnete die Augen wieder und der Stamm begann zu beben. Arthur trat einen Schritt zurück und beobachtete, wie die Wurzeln der Bäume vor ihm sich mit einem leisen, zitternden Rumpeln aus der Erde lösten. Wie Fühler streckten sie sich nach links und rechts in den Wald, gruben sich dort in den Boden, zogen sich wieder zusammen und holten ächzend ihre Stämme nach. Die Straße war jetzt wieder passierbar.
Nur der mittlere Baum stand noch da. Seine Blätter zitterten und seine Zweige klapperten, als er sich nach Arthur streckte. Er zuckte nicht zurück, als einer der Zweige über seine Wange strich und ein frisches Blatt seine Nase kitzelte.
In dem Kitzeln war ein Flüstern: Der Junge. Der Junge mit dem Feuer ist nach Hause gekommen.
»Ja«, flüsterte er zurück. »Ich bin wieder da.«
Der Boden unter dem Stamm knackte und riss auf, als der Baum sich herumdrehte, seine Wurzeln wie Füße benutzte und auf ihnen von der Straße ging, hinein in den Wald. Sobald er einen Platz gefunden hatte, senkten sich die Wurzeln zurück in die Erde. Die Löcher, die er im Boden hinterlassen hatte, füllten sich von selbst wieder auf, und einen Moment später war die Straße vor Arthur genauso glatt wie die hinter ihm.
»Danke«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. »Falls und wenn du bereit bist, werde ich da sein.« Dann nahm er sein Gepäck und ging weiter.
Der Moment, als er aus dem Wald trat und das Haus nach achtundzwanzig Jahren zum ersten Mal wieder sah, bot keine Überraschungen. Durch die Sonne von hinten erhellt ragte es am Rand einer Klippe hoch auf. Vor dem Haus stand ein steinerner Springbrunnen, das verwitterte, grün-schwarz gefleckte Becken war leer. Das Mauerwerk machte einen leicht verfallenen Eindruck. Einige Ziegel hatten Sprünge, Splitter davon lagen halb zugewachsen im Gras. Scheiben waren geborsten, um die weißen Fensterrahmen rankte sich der Efeu, der die halbe Vorderseite des Hauses bedeckte. Der Turm, der sich oben auf dem Dach gut sieben Meter hoch erhob, sah aus, als würde er bei der kleinsten Berührung einstürzen. Neben dem Haus erstreckte sich ein Garten mit Blumen in Gold-, Rot- und Pinktönen, die inzwischen auch den Pavillon überwucherten, in dessen Holz einst ein Junge mit Feuer in den Adern seine Initialen geritzt hatte, um zu beweisen, dass er existierte: AFP. Arthur Franklin Parnassus.
Ein Stück abseits des Hauses stand noch ein weiteres Gebäude, das er noch nie gesehen hatte. Es war nicht da gewesen, als er als Kind von hier weggegangen war – nach seiner langen Gefangenschaft in der Dunkelheit gegen das grelle Sonnenlicht anschreiend, während ein starker Arm ihn die Treppe hinauf zu einem wartenden Fahrzeug zog. Das andere Gebäude war klein und aus ganz ähnlichen Ziegeln erbaut wie das, das er in seinen Träumen immer wieder gesehen hatte. Er wusste, dass das sogenannte Waisenhaus im Lauf der Jahre immer wieder den Eigentümer gewechselt hatte, aber soweit er es beurteilen konnte, wohnte hier schon eine ganze Weile niemand mehr. Das kleine, offensichtlich für Gäste gedachte Nebengebäude würde es einstweilen auch tun. Die Fenster waren intakt, und das Dach schien auch besser in Schuss als das des Haupthauses, welches bei Stürmen einige Dachschindeln eingebüßt zu haben schien.
Er stellte sein Gepäck in der Nähe der Verandatreppe ab und ging weiter. Es war wie in einem Traum. Der Pfad durch den Garten war schwer zu finden, die Pflanzen und Sträucher standen dicht an dicht, alles war überwuchert. Arthur bahnte sich einen Weg durch das verwilderte Dickicht, vorbei am Pavillon und zur Rückseite des Hauses, wo sich direkt am Sockel eine Doppeltür befand, hinter der eine Treppe nach unten führte. Die von schwarzen Brandflecken übersäten Türflügel waren mit einem rostigen Vorhängeschloss abgesperrt. Doch Arthur hatte den Schlüssel. Er hatte alle Schlüssel.
Er ging nicht hinein. Er wusste, was dort unten war: rußgeschwärzte Mauern mit hineingeritzten Strichen. Ewige Dunkelheit, abgesehen von seinem Feuer.
Hinter Arthur erhob sich ein Geist und schlang ihm einen Arm um den Hals, nahm ihn in einen Würgegriff. »Du hast nichts Besseres verdient«, knurrte der Geist ihm ins Ohr. »Ich werde dir schon zeigen, wo du hingehörst, Bursche. Sag es. Was bist du? Sag es.«
»Eine Abscheulichkeit«, murmelte Arthur und der Arm verschwand.
So stand er da und starrte die Tür an, während die Sonne weiter über den Himmel wanderte.
Er konnte es nicht. Er wusste nicht, wie er überhaupt auf die Idee gekommen war. Zu viel. Es war einfach zu viel. Arthur raufte sich die Haare und ging zurück zur Vorderseite des Hauses. Sein Gepäck war immer noch da, wo er es abgestellt hatte.
Er bückte sich, legte die Finger um die Griffe seiner Koffer.
»Arthur«, sagte eine Stimme laut und deutlich, als würde direkt vor ihm auf der Veranda jemand stehen.
Er hob den Kopf. Es war niemand da.
Nein, das stimmte nicht ganz. Denn er sah etwas, das ihm bei seiner Ankunft gar nicht aufgefallen war: eine winzig kleine gelbe Blume auf der untersten Verandastufe. Sie war kaum so groß wie sein Daumennagel und hatte sich durch das verzogene Holz einen Weg ans Sonnenlicht gebahnt.
Arthur ging langsam darauf zu. Als er die Veranda erreichte, kauerte er sich hin und berührte die zarten gelben Blütenblätter mit den Fingerspitzen. Sie fühlten sich warm an von der Sonne. Wiedergeburt. Beharrlichkeit. Farbe. Leben. Alles, was wichtig war, in der kleinstmöglichen Verpackung.
Er lächelte und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er, wie seine Brust sich ein Stückchen weitete. »Nun«, sagte Arthur, »wenn du das kannst, kann ich es auch, denke ich.«
Der Sommer verwandelte sich allmählich in Herbst, die Farbe der Blätter veränderte sich, die Luft war nicht mehr so warm. Arthur stand auf der Veranda und schliff das Geländer ab, um es neu zu streichen. Er hatte an Weiß gedacht, das würde gut zu den Fenstersimsen passen, die er bereits renoviert hatte. Merle hatte sich als große Hilfe erwiesen, obwohl er ständig murrte wegen der Materialien, die Arthur Woche für Woche auf die Insel bringen ließ. Sobald er sein Geld bekam, wurde das Gemurre allerdings weniger. Er hatte sogar widerwillig dabei geholfen, die Sachen in einen kastanienbraunen Lieferwagen zu laden, den Arthur vor ein paar Wochen gekauft hatte.
Arthur war mit den Schleifarbeiten auf der Veranda beinahe fertig, und es war an der Zeit zu überprüfen, ob der Fugenmörtel zwischen den Küchenfliesen auch richtig trocknete. Er wollte gerade wieder ins Haus gehen, als er ein Flattern in seinen Gedanken spürte, sanft wie Schmetterlingsflügel auf seiner Haut.
Er sah zur Straße.
Eine Frau in einem fließenden weißen Gewand stand dort. Sie hielt den Kopf geneigt, ihre Füße waren nackt und ihr weißer Afro sah aus wie eine Wolke. Weiße und rosafarbene Blüten schimmerten in ihrem Haar, öffneten und schlossen sich in der Nachmittagssonne. Ihre Haut hatte einen wunderschönen, tiefen Braunton. Sie schien kein Alter zu haben und ihr jugendliches Gesicht stand im Widerspruch zu den dunklen Augen, die alt und unsicher wirkten.
Ihre durchsichtigen Flügel – vier an der Zahl, die aus ihrem Rücken wuchsen, jeder davon länger als Arthurs Arme – zitterten leicht. Das Sonnenlicht schien durch sie hindurch und malte eine Kaskade von Farben auf den Boden. Ihre nackten Arme ruhten an ihren Seiten, ihre schlanken Finger zuckten.
Arthur ging langsam die Stufen hinunter. Unten angekommen blieb er stehen und war nervöser, als er erwartet hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, wo er anfangen sollte.
Die Frau betrachtete über seine Schulter hinweg das Haus, dann sah sie wieder ihn an. »Du bist hier.« Sie klang genauso, wie er sie in Erinnerung hatte: weich, melodisch, mit einem Anflug von Melancholie.
»Das bin ich«, erwiderte er.
»Weshalb?«
»Weil es das Richtige ist«, sagte Arthur schlicht.
Sie nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet, und ging einen Schritt auf ihn zu. Frisches Gras spross aus der Erde, dort, wo ihre Füße gewesen waren. Hinter ihr sah Arthur eine lange Spur gräserner Abdrücke, die ihren Weg die Straße entlang markierten.
»Dieses Haus«, sagte sie. »Es hätte abbrennen müssen.«
»Ja.«
»Und trotzdem bist du hier.«
Arthur lächelte still in sich hinein. »Ja, hier bin ich. Und du ebenso. Wieder vereint.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wie hältst du das aus? Kannst du es ertragen, hier zu sein? Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen …« Sie seufzte und ihre Flügel senkten sich ein Stück. »Ich hatte überlegt, es zu zerstören, nachdem … nachdem ihr alle weg wart. Ich hatte daran gedacht, herzukommen und es von der Erde verschlingen zu lassen.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Aber du hast es nicht getan.«
»Nein«, bestätigte sie, »habe ich nicht.« Sie schaute weg, ihr Blick ging hinaus zwischen die Bäume. »Jetzt frage ich mich, warum. Warum ich abgewartet habe und weshalb ich heute überhaupt hergekommen bin.«
»Das kann ich dir nicht beantworten«, erwiderte Arthur. »Alles, was ich tun kann, ist, dir zu sagen, dass die Dinge diesmal anders laufen werden. Ich werde den Kindern geben, was sie nie hatten: einen Ort, an dem sie sein können, was immer sie sein wollen. Ganz gleich, was ihre Fähigkeiten sind und wo sie herkommen.«
»Das schaffst du nicht allein.«
»Doch«, sagte er. »Und ich werde, wenn ich muss.«
»Nein«, widersprach sie, »wirst du nicht.« Sie marschierte an ihm vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen, und pflückte ihm das Schleifpapier aus der Hand. Mit einem leisen Murmeln stieg sie die Stufen hinauf und betrachtete stirnrunzelnd das Geländer. Dann nickte sie und machte an der Stelle weiter, wo Arthur aufgehört hatte zu schleifen.
»Dein Kleid«, sagte er. »Möchtest du nicht lieber …«
Sie hielt kurz inne. »Das ist schon in Ordnung. Es ist nur ein Kleid.«
Er sah ihr eine ganze Weile lang zu, seine Füße unfähig, sich zu bewegen. Als sie ihm schließlich einen Blick zuwarf, sagte er: »Hallo, Zoe.«
»Hallo, Arthur«, erwiderte Zoe Chapelwhite und ihre Unterlippe zitterte. »Ich …« Dann, in einem hastigen Atemzug: »Es tut mir leid, was …«
Er hob die Hand. »Du musst das nicht sagen. Musstest du nie.«
»Aber ich habe nichts unternommen, um …«
»Zoe«, unterbrach er. »Dich trifft keine Schuld. Zu keinem Zeitpunkt. Du hättest riskiert, dass sie dich entdecken, und wenn das passiert wäre, wären sie auch hinter dir her gewesen.«
»Das werden wir nie erfahren«, erwiderte sie, den Blick auf das Geländer gerichtet.
»Mag sein«, räumte Arthur ein. »Und trotzdem bist du hier. Was sagt das über dich aus? Etwas Gutes, denke ich.«
Mit feuchten Augen zitierte Zoe: »Überlasst mir eure müden, eure armen, eure gedrängten Massen, die sich nach Freiheit sehnen, die Zurückgewiesenen eurer überfüllten Küsten.«
»Emma Lazarus«, erwiderte Arthur erfreut. »Ja, Zoe. Wir werden sie alle aufnehmen.«
»Du meinst es ernst«, flüsterte sie.
»Das tue ich«, bestätigte er. »Ich könnte jede Hilfe gebrauchen, aber wenn du es nicht kannst, verstehe ich das. Ich werde weitermachen wie bisher. Es wird vielleicht ein bisschen länger dauern, aber ich werde es schaffen.«
Sie blieb.
Sie brauchten fast ein Jahr, um das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Wenn alles so lief, wie Arthur hoffte, würde jedes noch so kleine Detail überprüft werden, und er wusste, wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit nicht in Ordnung war, würde man es gegen ihn verwenden.
Eines Tages sagte Zoe zu ihm, er solle aufhören.
»Was?«, fragte er und blickte von der Stelle an der Küchenwand auf, die er gerade ausbesserte. Es war nicht unbedingt notwendig, aber er hatte bemerkt, dass die Farbe an der Stelle beim Trocknen kleine Blasen geworfen hatte – vielleicht zwei Zentimeter im Durchmesser –, und das ging nicht. Alles musste perfekt sein.
»Komm mit«, sagte Zoe.
Arthur schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es gibt mehr zu tun denn je. Morgen wird der Mulch geliefert und an den Pavillon will ich gar nicht erst denken. Einer der Nägel in den Bodenbrettern hat sich gelockert, und das bedeutet, dass ich das gesamte Haus nach losen Nägeln absuchen muss, um zu verhindern …«
»Arthur, die Arbeiten sind fertig«, beharrte Zoe. »Das sind sie schon seit fast einem Monat. Du weißt es, ich weiß es.« Sie sah ihn lange an. Dann: »Geh in dein Büro. Du weißt, was jetzt zu tun ist.« Sie wandte sich zum Gehen und blieb in der Küchentür noch einmal stehen. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Früher war die Insel größer. Wusstest du das?«
Sie ging und Arthur starrte ihr hinterher.
Er tat, wie Zoe ihm geheißen hatte. Auf dem Bürotisch stand eine alte Schreibmaschine. Ein weißes Blatt Papier war bereits eingespannt und neben der Maschine lag ein ganzer Stapel davon. Das oberste Blatt war in spitzer, schlanker Handschrift beschrieben. Zoe hatte ihm eine Nachricht hinterlassen.
Es ist Zeit, sie nach Hause zu holen.
Z
Arthur lachte. Er weinte. »Ich habe Angst«, flüsterte er. »Mehr als je zuvor in meinem Leben.«
Dann begann er zu tippen und hörte erst auf, als er fertig war.
An die zuständige Abteilung der Behörde für die Betreuung Magischer Minderjähriger,
mein Name ist Arthur Parnassus. Ich schreibe Ihnen, um Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten. Ich habe ein ganz bestimmtes Haus auf der Insel Marsyas in Besitz genommen. Im letzten Jahr habe ich das Haus zusammen mit einigen Mitarbeitern renoviert, um es wieder bewohnbar zu machen und ein weiteres Mal als Heim für verwaiste magisch begabte Kinder zu nutzen. Anbei finden Sie Fotos, die die Früchte unserer Arbeit dokumentieren.
Dann tat er, was ihm damals als Zehnjährigem nicht gelungen war: Er brachte den Brief zur Post. Als er ihn im Dorf in den Briefkasten warf, fiel ihm etwas auf, das er noch nie gesehen hatte. Der Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Dort, im Fenster des alten Postamts, hing ein Poster von einer Familie. Ein Junge und ein Mädchen, beide strohblond und mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Die Gestalten links und rechts von ihnen schienen ihre Eltern zu sein. Hand in Hand spazierten sie zu viert über eine sonnendurchflutete Wiese voller Wildblumen. Darunter stand in fetten Großbuchstaben etwas, das Arthur ungläubig wieder und wieder las.
DERSCHUTZIHRERFAMILIEBEGINNTMITIHNEN!
SEHEN – MERKEN – MELDEN!
Und darunter wiederum: GEFÖRDERTVONDENBEHÖRDENFÜRDIEBETREUUNGMAGISCHERMINDERJÄHRIGERUNDMAGISCHERERWACHSENER.
Er wirbelte herum und rannte zurück zur Fähre.
Ein Monat verging. Dann zwei. Dann drei und vier und fünf. Aber Arthur verzweifelte nicht. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie eine Antwort erhalten würden.
Dann, an einem kühlen, windigen Tag, läutete es an der Tür.
Ein Mann stand auf der Veranda, in der einen Hand einen Koffer, in der anderen eine Aktentasche. Er war jünger, als Arthur erwartet hatte – ungefähr dreißig, und außerdem gut aussehend. Sein dunkles, gewelltes Haar war leicht zerzaust von der Überfahrt. Sein schwarzer Anzug schien auf seine schlanke Figur maßgeschneidert, seine Krawatte leuchtete in einem aggressiven Rot und an seinen Halbschuhen klebte Staub von der Straße.
»Guten Tag!«, sagte er. »Ich suche einen Mr. Arthur Parnassus.«
Arthur streckte die Hand aus. Ein kleiner Test. »Sie stehen direkt vor ihm.«
Der Mann zögerte nur kurz, dann schüttelte er Arthurs Hand. Sein Händedruck war fest, die Haut warm. Er lächelte. »Ah! Wie schön. Ich komme im Auftrag des Allerhöchsten Managements der Behörde für die Betreuung Magischer Minderjähriger. Mein Name ist Charles Werner. Ich bin hier, um mit Ihnen über Ihren Vorschlag zu sprechen. Wir haben Ihnen ebenfalls einen Vorschlag zu machen. Er ist ein wenig … unorthodox, aber ich denke, er könnte Sie interessieren.«
Ein Köder, das wusste Arthur. Und doch tat er das Einzige, was ihm übrig blieb: Er trat zur Seite und bat Charles Werner herein.
Später stand Arthur Parnassus auf dem Steg und beobachtete, wie die Fähre sich näherte. An Bord befand sich ein Kind. Das erste, aber nicht das letzte. Die Sonne stand tief und verwandelte die Wellen in kleine wandernde Berge aus Feuer.
Zoe stand neben ihm und fragte: »Hast du Angst?«
»Ach«, sagte er. »Ja, schon. Vor vielen Dingen. Aber hiervor? Nein, niemals. Es gibt keinen Grund, mich zu fürchten.«
Und in seinem Kopf ein verführerisches Flüstern: Sie sind es, die Angst haben sollten.
Er verbannte die Stimme zurück in die Tiefen seines Bewusstseins, und während die Fähre anlegte, begann Arthur Parnassus leise zu singen: »Somewhere … beyond the sea … somewhere waiting for me …«
Somewhere beyond the sea
my lover stands on golden sands
and watches the ships that go sailin’.
Irgendwo jenseits des Ozeans
steht mein Geliebter auf goldenem Sand
und blickt den Schiffen nach, die hinausfahren.
Jahre später, an einem warmen Junimorgen, öffnete Arthur Parnassus seine Augen und runzelte die Stirn. Die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinfielen, waren zu hell. Sein schlaftrunkener Verstand brachte ihn auf den beängstigenden Gedanken, dass ein gewisser Sohn des Teufels etwas damit zu tun haben könnte. Letzte Woche hatte er gedroht, die Sonne auf die Erde stürzen zu lassen, nachdem er eine Standpauke bekommen hatte, weil er versucht hatte, eine Figur aus Lehm, die er nach einem heftigen Sturm gemacht hatte, zum Leben zu erwecken. Arthur hatte ihn von Kopf bis Fuß mit Dreck beschmiert vorgefunden, die Figur war schon halb fertig. Als Arthur ihn daran erinnerte, dass es nicht in Ordnung war, einem Klumpen Erde ein Bewusstsein einzuhauchen, schwor der Junge, dass er sich rächen und Arthurs Heimatplaneten vernichten würde. Das tat er häufig bei solchen Gelegenheiten, weshalb Arthur sich keine allzu großen Sorgen gemacht hatte. Andererseits schien Lucy regelrecht fixiert auf die Lehmfigur gewesen zu sein, von der jetzt nur noch ein formloser Klumpen übrig war.
Als er einen Blick auf den Wecker neben dem Bett warf, wurde Arthur klar, dass nicht das Ende der Welt bevorstand, sondern etwas viel, viel Schlimmeres. Er richtete sich ruckartig auf: Es war acht Uhr zweiunddreißig an einem Samstagmorgen und im Haus war alles still.
Für jemanden mit sechs Kindern mit unterschiedlichen Gestalten und magischen Fähigkeiten war Verschlafen nichts weiter als ein schöner, ferner Traum. Kinder – vor allem diese Kinder – schienen das Konzept von Zeit nicht zu verstehen. Erst am Vortag war ein gallertartiger grüner Blob um halb sechs Uhr morgens in ihr Zimmer gestürmt und hatte mit seiner matschigen Stimme geschrien, er habe aus Versehen Tinte aus seiner Nase gespritzt, wobei er nicht einmal gewusst habe, dass er das überhaupt könne. »Ich habe mir keinen Stift in die Nase gesteckt oder so. Wie konnte das dann passieren? Mein Gott, glaubst du, ich werde jetzt ein Mann? Und wie kriegt man die Tinte von der Decke?«
Das führte natürlich zu einem längeren Gespräch, an dessen Ende die Tinte als ein mögliches Vorzeichen der Pubertät gewertet wurde, worüber der Blob-Junge zunächst eine Grimasse zog, um sich dann vorzustellen, wie er wohl mit einem Schnurrbart und einer Matte Brusthaar aussehen würde. Als Arthur sich wieder hingelegt hatte, waren drei weitere Kinder hereingekommen, und da war es gerade einmal sechs Uhr morgens gewesen.
Jetzt, mit Mitte vierzig, fiel ihm auf, dass sechs Uhr morgens viel früher kam als früher. Seine Gelenke knirschten und knackten, während er sich streckte, und das helle Haar (mit grauen Strähnen, die täglich mehr zu werden schienen) stand ihm in allen Richtungen vom Kopf ab. Sein Rücken knackte genüsslich, als er seine nackten Zehen nach oben bog. Seine verworrenen Gedanken wurden klarer und die letzten Reste des Schlafs verschwanden.
Wo waren die Kinder?
Er drehte sich zu dem Haufen neben ihm um. Die Bettdecke war hochgezogen, sodass nur ein Schopf schütteren braunen Haares zu sehen war, dazu erklang leises Schnarchen. Arthur schüttelte den Haufen und spähte in Richtung der Tür, die zu dem kleinen angrenzenden Zimmer führte. Sie stand offen. Der Bewohner – der Sonnen-Werfer und Erden-Zerstörer – war verschwunden. Zu sehen war nur ein halb gemachtes Bett, ein (verschiedenfarbiges) Paar Socken auf dem Boden und kaputte Schallplatten an den Wänden.
»Was ist?«, murmelte der Haufen. »Nein, Oma, ich werde dir nicht helfen, die Süßkartoffeln zu suchen.«
»Linus«, sagte Arthur und schüttelte den Haufen noch einmal. »Wach auf. Etwas stimmt nicht.«
Arthur wäre beinahe aus dem Bett gefallen, als Linus Baker sich plötzlich aufrichtete und sich mit wildem Blick umsah. »Wer war es?«, fuhr er auf, sein Schlafanzug verknittert, seine Haare zerzaust. »Wer hat die Süßkartoffeln aus Omas Keller geklaut?«
Linus blinzelte. »Keine Ahnung, warum ich das gerade gesagt habe.« Er tätschelte seinen üppigen Bauch. »Ich muss schlecht geträumt haben. Das kommt davon, wenn man vor dem Zubettgehen noch Torte isst.« Dann ließ er die Hand sinken und runzelte die Stirn. »Arthur? Warum starrst du mich so an?«
»Weil ich dich anbete«, antwortete Arthur und meinte jedes einzelne Wort.
»Oh«, machte Linus mit rotem Gesicht. »Nun, ja, mir geht es zufällig genauso. Hast du mich deshalb geweckt? Das ist nett, aber … Warum ist es draußen so hell? Wie viel Uhr haben wir?«
»Halb neun.«
Linus’ Augen wurden tellergroß. »Am Morgen? Ausgeschlossen! Sie haben uns noch nie so lange schlafen lassen. Das Längste war bis 6:42 Uhr, und das auch nur, weil sie bei Zoe übernachtet haben. Und trotzdem sind sie in aller Früh reingeplatzt und haben uns geweckt.« Er eilte zur Tür und schnappte sich die beiden blauen Morgenmäntel vom Haken. »Was in aller Welt machst du noch im Bett, Arthur? Wir müssen sie suchen!«
Arthur stand auf, doch anstatt von Linus seinen Mantel entgegenzunehmen, legte er ihm die Hände auf die Wangen und küsste ihn fest – Morgenatem hin oder her. Linus blinzelte leicht verwirrt, und Arthur hoffte, dass ihr Leben für immer so bleiben würde.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte Linus.
»Weil ich konnte.«
»Verstehe. Du könntest es gleich noch einmal machen, wenn du möchtest.«
»Wirklich?« Arthur schloss die Augen und beugte sich vor, um genau das zu tun. Dann spürte er eine Hand im Gesicht, die ihn sanft, aber entschlossen zurückschob.
»Du könntest«, sagte Linus. »Oder wir gehen nachsehen, warum wir so lange schlafen durften. Ich schwöre, wenn sie wieder ein Tier mitgebracht haben, weil es angeblich ihr Freund ist, bekommen sie was zu hören.«
»Das letzte war doch gar nicht so schlimm«, widersprach Arthur und schlüpfte in seinen Morgenmantel.
Linus schnitt eine Grimasse. »Eine Eidechse, die genauso groß war wie Calliope und versucht hat, meine Slipper zu fressen.«
»Und du hast die Situation mit deiner üblichen Souveränität gemeistert, indem du sie kreischend als Boa constrictor bezeichnet hast.«
»Ich weiß, dass du dich aus irgendeinem Grund für witzig hältst. Du bist es sogar, aber jetzt ist nicht der richtige Moment für Witze. Jetzt ist der Moment für Panik.«
»Vielleicht ist alles in Ordnung und wir überreagieren«, schlug Arthur in dem Versuch vor, halbwegs vernünftig zu bleiben.
Linus verdrehte die Augen. »Du weißt genauso gut wie ich, dass man bei den Kindern überhaupt nicht überreagieren kann. Erinnerst du dich, als Talia … Wo ist Calliope?«
Calliope, das sogenannte Geschöpf des Bösen. Sie war eigentlich eine Katze, aber anders als alle anderen Katzen, die Arthur je gesehen hatte. Es lag nicht nur an ihrer Größe – ihr wunderschön flauschiges Fell ließ sie weit größer erscheinen, als sie tatsächlich war –, auch nicht an ihrer schwarzen Färbung mit dem weißen Fleck auf der Brust. Nein, es waren ihre leuchtend grünen Augen, die sie so besonders machten. Mit denen sie ständig alles beobachtete und zweifellos den Untergang eines jeden plante, den sie der Ehre ihrer Gegenwart für unwürdig hielt. Arthur wusste, dass Menschen dazu neigen, ihre Haustiere zu vermenschlichen und ihre Intelligenz über die Maßen zu preisen (»Er ist so schlau! Inzwischen beherrscht er sogar den Trick, den ich ihm sechs Monate lang beigebracht habe!«). Aber Calliope war anders. Wenn Arthur es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, dass sie die menschliche Sprache verstand. Aber wie Katzen nun einmal so waren, genügte sie sich selbst und neigte dazu, den Rest der Welt einfach zu ignorieren.
In den meisten Nächten lag sie zusammengerollt am Fußende ihres Bettes und schnurrte warnend, wenn sie ihre Beine auch nur einen Zentimeter bewegten. Doch Calliopes Platz war leer. Auf der Decke, die Sal für sie gestrickt hatte, lagen nur ein paar Büschel schwarzer Haare. Als Sal sie ihr überreichte, hatte Calliope so laut miaut, dass man es im ganzen Haus hören konnte.
»Sie muss bei ihnen sein«, überlegte Arthur. »Und das bedeutet, dass es ihnen gut geht. Sie würde nicht zulassen, dass ihnen etwas zustößt.«
»Stimmt genau«, bestätigte Linus. »Ich bedaure jeden, der versucht, ihnen krumm zu kommen, wenn sie dabei ist. Von einer Katze die Augen ausgekratzt zu bekommen, ist sicherlich sehr schmerzhaft.«
Auf dem langen Flur war alles still. Die Türen zu den Kinderzimmern standen offen und die Räume dahinter waren leer. Der Schreibtisch in Sals Zimmer stand vor dem Fenster wie immer, seine Schreibmaschine war in dem Koffer aus Eichenholz verstaut, den Arthur und Linus ihm zu Weihnachten geschenkt hatten. Aus Chaunceys Zimmer roch es leicht nach Salz, denn der Boden war von warmem Meerwasser bedeckt, das durch beheizte Rohre vom Ozean hereingepumpt wurde. Und in Phees Zimmer hingen Dutzende von Pflanzen von der Decke, die Wände waren von einem großen Gemälde geschmückt, das einen Wald zeigte, an dem alle Kinder mitgewirkt hatten – alle mit ihren unterschiedlichen Talenten: Lucys Bäume sahen aus wie Skelette, während die von Talia grüner Zuckerwatte an braunen Stäbchen ähnelten. Apropos Braun: In Talias Zimmer gab es nicht eine einzige Pflanze, stattdessen waren die Wände von Korkplatten bedeckt, an denen eine prächtige Sammlung von Gartengeräten hing.
Als Letztes kletterte Arthur die Leiter zum Dachboden hinauf und spähte durch die Luke in das Halbdunkel dahinter. Theodores Nest: Decken, Handtücher und ein Ziegelstein, mit dem er eine dreiwöchige Liebesaffäre gehabt hatte.
Aber kein Lindwurm.
Eigentlich hatte Arthur nicht in Panik geraten wollen, aber nicht zu wissen, wo die Kinder waren, ließ ihm eiskalt werden. Zoe hätte sie zwar gewarnt, wenn jemand die Insel ungebeten betreten hätte, doch das linderte seine Sorge auch nicht sonderlich.
»Irgendwas gefunden?«, rief Linus vom unteren Ende der Leiter herauf.
»Nein«, antwortete Arthur und kletterte wieder hinunter.
»Wo könnten sie sein? Sie würden nicht einfach verschwinden, ohne Bescheid zu sagen, und das bedeutet …«
Ein dumpfer Schlag aus dem Erdgeschoss, gefolgt von einem lauten Krachen.
»Die Küche«, sagten Arthur und Linus gleichzeitig.
Als sie die Treppe erreichten, die ins Erdgeschoss führte, und nach unten spähten, wurden sie sogleich ruhiger: Phee saß auf der untersten Stufe, ihr feuerrotes Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden und ihre Flügel flatterten leicht. Die Waldelementare trug Shorts und ein grünes Tanktop, ihre blassen Schultern waren von Sommersprossen gesprenkelt. Kurz nach ihrem zwölften Geburtstag hatte sie ihren ersten Wachstumsschub gehabt und war ein ganzes Stück in die Höhe geschossen. Fast wie einer ihrer Bäume.
Vor ihr stand Chauncey, der gallertartige grüne Junge mit Tentakeln voller Saugnäpfen. Aus seinem Kopf ragten dünne, knapp unterarmlange Stiele, an deren Enden sich seine Augen befanden. Sie hüpften aufgeregt auf und ab. Er trug einen Trenchcoat, der um die Taille – oder die Brust, so genau konnte man das bei ihm nicht sagen – von einem Gürtel zusammengehalten wurde.
»Glaubst du, sie haben es gehört?«, fragte Chauncey mit seiner Stimme, die klang, als würde jemand in einem Metalleimer das Wasser aus einem dicken Schwamm pressen.
»Pst«, zischte Phee. »Nicht so laut.«
Die Stiele zogen sich zusammen, bis Chaunceys Augen auf seinem Körper ruhten. »Glaubst du, sie können mich hören?«, flüsterte er.
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Phee und zupfte an seinem Mantel. »Sie schnarchen schließlich beide.«
Linus schnaubte leise und Arthur lächelte.
»Oh«, sagte Chauncey. »Schnarche ich etwa auch?«
»Du bist ein Junge, also wahrscheinlich ja«, antwortete Phee. »Warum hast du eigentlich deinen Trenchcoat an?«
Chauncey plusterte sich auf. »Wir sind in geheimer Mission unterwegs, und jeder weiß, dass man sich auf einer Geheimmission so anziehen muss.« Er schlug den Mantelkragen hoch. »Geheimagent Chauncey, zu Diensten.«
»Ich dachte, du wolltest Hotelpage werden?«
»Ich kann beides«, erwiderte er. »Geheimnisse lüften und Gepäck tragen. Das nennt man undercover arbeiten. Das habe ich in einem Buch gelesen.« Seine Augen drehten sich um 360 Grad. »Kann ich dir etwas verraten, das ich noch nie jemandem erzählt habe?«
»Klar«, meinte Phee. »Was denn? Geht es dir nicht gut?«
Er schlug mit einem Tentakel nach ihr. »Natürlich geht es mir gut. Exzellent sogar.«
Linus stieß Arthur sanft mit dem Ellbogen an. »Hast du das gehört?«, flüsterte er aufgeregt. »Mein Vokabelunterricht macht sich allmählich bemerkbar.«
»Exzellent bedeutet so viel wie sehr gut, hervorragend«, führte Chauncey unterdessen aus.
Phee lachte. »Und was wolltest du mir erzählen?«
»Richtig«, sagte Chauncey. »Bist du schon mal durch den Wald gelaufen und hast einen Pinienzapfen auf dem Boden gesehen, und niemand hat dir gesagt, dass du den Zapfen nicht essen darfst?«
»Nun, sicher. Aber …«
»So ein Glück«, keuchte Chauncey. »Ich nämlich auch! Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige. Jetzt bin ich aber erleichtert.«
»Aber … hast du den Pinienzapfen gegessen?«
»Habe ich«, verkündete Chauncey stolz. »Rate mal, nach was er geschmeckt hat.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Chauncey beugte seine Augenstiele bis auf wenige Zentimeter an Phees Gesicht heran. »Weißt du noch, wie Talia Pekannusskuchen backen wollte, aber wir hatten keine Pekannüsse mehr, also hat sie stattdessen Candy Corn genommen, in dem so viel Zucker ist, dass Linus gesagt hat, die Zähne würden uns davon aus dem Mund faulen? Aber wir haben ihn trotzdem gegessen und drei Tage lang nicht geschlafen, weil wir plötzlich Farben riechen konnten?«
»So hat der Pinienzapfen geschmeckt?«, fragte Phee mit einem Stirnrunzeln.
»Nein, aber mir gefällt die Geschichte einfach. Der Pinienzapfen hat schrecklich geschmeckt und ich musste ihn ewig kauen.«
Phee hustete, doch es klang so, als müsste sie ein Lachen unterdrücken. »Du … hast das ganze Ding gegessen?«
Chauncey blinzelte, erst mit dem linken Auge, dann mit dem rechten. »Ja. Warum?«
»Weibliche Pinienzapfen haben essbare Samen, Pinienkerne«, erklärte sie. »Sie schmecken ein bisschen süß und ein bisschen nussig. In Italien macht man Kekse daraus.«
Chaunceys Haut verfärbte sich zu Piniennadelgrün. »Willst du damit sagen, dass ich ein Mädchen gegessen habe? Oh nein.« Er warf seine Tentakel in die Luft. »Das wollte ich nicht! Ich bin über diesen Zapfen gestolpert und dann ist er mir einfach … in den Mund gefallen?«
»Oje«, machte Linus. Dann: »Nicht ein Wort, Parnassus. Nicht ein einziges Wort.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Phee. »Pflanzen können männlich oder weiblich sein, aber nicht so wie du und ich. Sie sind zwar lebendig, aber anders. Viele Pflanzen sind Hermaphroditen, das heißt, sie sind sowohl männlich als auch weiblich. Rosen und Lilien zum Beispiel. Wenn ich weiblich sage, meine ich damit einfach die Pflanzen, die Samen produzieren.«
Chauncey blinzelte. »Ahhh. Jetzt verstehe ich. Es ist also nicht so, als hätte ich einen Menschen gegessen, nur weil ich einen Pinienzapfen verspeist habe.«
»Genau.«
»Gott sei Dank.« Chauncey schaute weg und seine Haut wurde erbsengrün. »Sie haben auch so schon genug Angst vor mir.«
»Das kann ich nicht zulassen«, murmelte Linus und machte sich auf den Weg die Treppe hinunter.
Arthur hielt ihn sanft an der Hand zurück und schüttelte den Kopf.
Linus’ Mund verzog sich zu einem Schnauben. »Ich muss verhindern, dass Chauncey glaubt, er …«
»Ich weiß«, sagte Arthur leise. »Aber lass uns Phee eine Chance geben.«
Phee streckte die Hand und zog Chauncey an seinem Trenchcoat zu sich auf die Treppe. Chauncey schlang einen Tentakel um sie und schmiegte seine Augenstiele an ihren Kopf.
»Ist etwas passiert?«, fragte Phee.
Chauncey seufzte. »Vielleicht.«
»Willst du darüber reden?«
»Vielleicht.«
»Du musst aber nicht, vor allem, wenn du noch nicht bereit dazu bist.« Sie streichelte ihm über den Rücken.
»Es war eine blöde Situation«, murmelte Chauncey. »Eine Frau kam herein. Sie hatte ungefähr sieben Koffer. Und Mr. Swanson« – der Chefpage des Hotels und Chaunceys größter Held – »war mit einem anderen Kunden beschäftigt, also bin ich hin, um ihr zu helfen.«
»Natürlich, du bist schließlich hilfsbereit«, erwiderte Phee.
»Aber als ich anbot, ihre Taschen zu nehmen, hat sie gebrüllt, eine Meeresschnecke würde versuchen, ihr Gepäck zu stehlen.«
»Eine Meeresschnecke?«, fragte Phee. »Ich bitte dich. Sie hätte sich glücklich schätzen sollen.«
»Das findest du auch, nicht wahr?«, erwiderte Chauncey und löste sich aus ihrer Umarmung. »Mr. Swanson hat sie gehört und kam sofort zu uns. Ich dachte, er würde ihre Taschen nehmen, aber weißt du, was er getan hat?«
»Was?«
»Er hat zu mir gesagt, dass solche Leute in unserem schönen Haus nicht willkommen sind, und dann hat er sie rausgeworfen!«
»Wow.« Phee klang aufrichtig beeindruckt und Arthur ging es genauso. »Ich wette, sie ist ganz schön wütend geworden.«
»Und wie. Ich dachte, sie würde gleich explodieren«, bestätigte Chauncey. »Aber Mr. Swanson sagte nur, dass es Zeit fürs Mittagessen ist. Dann aßen wir Sandwiches, und er erzählte mir von all den anderen Pagen, die er in seinem Leben kennengelernt hat.«
»Aber?«, fragte Phee.
»Aber«, sagte Chauncey, »ich verstehe es einfach nicht. Ich will doch nur helfen. Ich kann nichts für mein Äußeres. Es ist nicht meine Schuld, dass …«
»Du so höllisch gut aussiehst«, beendete Phee den Satz.
Chauncey blinzelte sie an. »Was?«
»Du siehst toll aus«, wiederholte sie. »Und vor allem: einzigartig. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so aussieht wie du. Deine Augen? Hau mir ab, sind die cool. Glaubst du, einem von uns würde ein Trenchcoat auch nur annähernd so gut stehen wie dir? Weißt du noch, wie komisch ich aussah, als ich deine Pagenmütze anprobiert habe? Aber wenn du sie aufhast, möchte ich sofort meine Tasche packen, damit du sie für mich tragen kannst. Und dabei will ich gar nicht verreisen.«
»Ich bin ziemlich gut im Gepäcktragen.«
»Das bist du«, bestätigte Phee. »Ich kann dir nicht versprechen, dass so etwas nie wieder passieren wird. Aber wenn es passiert, musst du immer daran denken, dass es an ihnen liegt, nicht an dir.«
»Ich bin kein Monster«, beharrte Chauncey.
»Richtig«, sagte Phee. »Du bist Chauncey. Der beste Chauncey, den es gibt.«
»Und ich sehe höllisch gut aus.«
»Zum Teufel, ja.«
»Und ich kann so viele Pinienzapfen essen, wie ich will, weil sie keine Menschen sind.«
»Nur dass es sich dann komisch anfühlen wird, wenn du auf die Kloschüssel musst.«
»Ich sitze gerne auf der Kloschüssel, also keine Sorge!«
Aus der Küche kam ein weiteres Krachen, gefolgt von äußerst fantasievollen Flüchen, die die betreffende Person garantiert nicht in diesem Haus gelernt hatte.
»Eitrige Eselshoden!«
»Folge mir«, flüsterte Arthur und zog Linus ein Stück von der Treppe weg bis vor die Tür zu Sals Zimmer. Dort zwinkerte er Linus zu, rekelte sich genüsslich und stieß ein herzhaftes Gähnen aus. Dann hob er die Stimme, damit seine Worte auch am Fuß der Treppe zu hören waren. »Oh, was habe ich gut geschlafen! Du doch sicher auch, lieber Linus?«
»Und ob!«, schrie Linus fast. »Wie es gerade in der Küche aussehen mag, interessiert mich überhaupt nicht. Ich konzentriere mich viel lieber darauf, wie erholt ich bin!«
Dann mussten sie sich beide das Lachen verkneifen, als Chauncey brüllte: »Alle auf Gefechtsstation! Sie kommen!«
Weiterer Lärm ertönte aus der Küche und Lucy rief: »Aber wir sind noch nicht fertig! Du musst sie aufhalten!«
Als Arthur und Linus zurück zur obersten Treppenstufe gingen, lächelten Phee und Chauncey wie die Unschuld in Person zu ihnen hinauf.
»Guten Morgen«, sagte Arthur fröhlich, während er mit Linus die Treppe hinunterging. »Phee, Chauncey, habt ihr gut geschlafen?«
»Sehr gut«, trällerte Chauncey. »Und noch besser ist, dass wir in der Zwischenzeit nichts Verbotenes getan haben!«
»Noch nicht«, erwiderte Linus. Er und Arthur umarmten Phee und Chauncey innig, und als sie damit fertig waren, sagte Linus: »Irgendwie ist uns heute Morgen die Zeit entglitten. Ihr wisst nicht zufällig etwas darüber, oder?«
»Wer, wir?«, fragte Phee mit klimpernden Wimpern.
»Wir haben keine Ahnung, wovon du redest«, meinte Chauncey.
»Hmm«, machte Arthur. »Nun, ich denke, wir sollten allmählich das Frühstück vorbereiten. Linus, warum siehst du nicht nach, wo die anderen Kinder sind? Ich gehe inzwischen in die Küche und …«
Phee und Chauncey eilten zu der Schwingtür, die zur Küche führte, und blockierten den Durchgang. »Das geht nicht«, erklärte Phee. »Hier ist … besetzt.«
Durch die Bullaugen in der Schwingtür sah Arthur ein kleines, fliegendes Reptil, das mit einem Schneebesen in den Krallen knapp unter der Decke seine Kreise zog. Im nächsten Moment erschien Sals Gesicht in einem der Bullaugen. Seine Augen weiteten sich, dann verschwand er wieder und Lucy rief: »Was soll das heißen, sie stehen direkt vor der Tür?«
»Wir werden solchen Ärger bekommen«, sagte Talia, die nicht zu sehen war. »Wie hast du den Teig überhaupt an die Decke bekommen?«
»Durch sorgfältiges Zielen«, antwortete Lucy.
»Oh nein!«, keuchte Chauncey. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich mit Arthur und Linus etwas besprechen wollte! Ganz viele Dinge!«
»Nenn mir zwei«, sagte Linus und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Kartoffeln und Portugal«, antwortete Chauncey prompt.
»Was ist damit?«, fragte Arthur.
»Ich habe absolut keine Ahnung«, erwiderte Chauncey. »Tut mir leid, Phee. Ich habe mein Bestes getan.«
»Das … hast du vermutlich«, meinte Phee. »Nun, unsere Tarnung ist aufgeflogen, also können wir es auch gleich hinter uns bringen.« Sie blickte zu Linus und Arthur auf. »Es war unser aller Idee. Wenn also jemand Hausarrest bekommen muss, dann wir alle.«
»Das klingt ernst«, kommentierte Arthur besorgt.
»Mehr als nur ein bisschen beunruhigend«, ergänzte Linus.
»Nur einen klitzekleinen Moment, bitte«, sagte Phee, nahm Chauncey an einem seiner Tentakel und trat rückwärts mit ihm durch die Tür. Obwohl sie sich alle Mühe gab und die Flügel der Schwingtür gerade so weit aufdrückte, dass sie beide hindurchschlüpfen konnten, erhaschten Arthur und Linus doch einen kurzen Blick auf den Raum dahinter.
Als die Türflügel sich wieder geschlossen hatten, fragte Linus: »Was war das an den Wänden?«
»Sah aus wie Ketchup«, überlegte Arthur. »Ist das nicht wunderbar?«
»Wir scheinen sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Bedeutung dieses Wortes zu haben.«
»Dann solltest du vielleicht mal eine deiner Vokabelstunden besuchen«, neckte Arthur.
Aus der Küche kamen leise Stimmen. Aber da diese Stimmen sechs Kindern gehörten, noch dazu diesen Kindern, war leise nicht ganz zutreffend.
»Sie wissen Bescheid!«, flüsterte Chauncey laut. »Sie stehen direkt vor der Tür und wissen alles. Wir sind verloren.«
»Lucy«, fragte Phee, »was zum Teufel hast du mit der Theke gemacht?«
»Ich hatte Probleme beim Eieraufschlagen«, antwortete er. »Und dann ist Calliope über die Theke getappt und jetzt haben wir wunderschöne klebrige Pfotenabdrücke überall.«
»Aber wie sind die Abdrücke an die Decke gekommen?«, fragte Chauncey.
»Ich habe beim Butterabmessen aus Versehen die Schwerkraft umgekehrt«, antwortete Lucy.
»Ah«, machte Chauncey. »Das klingt logisch. Ich wette, das passiert vielen Leuten. Kuchenbacken ist schließlich nicht gerade einfach.«
Theodore zwitscherte laut und Sal sagte: »Theodore hat recht. Wir sollten die Verantwortung für das Chaos übernehmen, das wir angerichtet haben.«
»Du hast kein Chaos angerichtet«, widersprach Talia. »Das war Lucy. Und ich. Denn es wäre nicht fair, dass einer allein alle Eier zerschlagen darf.«
»Das wollte ich auch gar nicht«, schnaubte Lucy. »Aber als ich dir eines gegeben habe, hast du es gegen die Wand geworfen!«
»Richtig«, bestätigte Sal. »Wir stecken trotzdem alle zusammen drin.«
»Genau«, sagte Chauncey. »Lasst uns unseren verdienten Hausarrest gemeinsam absitzen. Wer ist dafür? Warum hebt niemand einen Tentakel?«
Aus Theodores Kehle kamen zwei Klickgeräusche, gefolgt von einem leisen Knurren, und die Kinder brachen in Gelächter aus. »Ja, das würde Linus ähnlich sehen«, bestätigte Phee prustend. »Und ich wette, er wird knallrot im Gesicht.«
Linus schnaubte leise. »Also, mein Gesicht …«
»Ist tatsächlich ein bisschen rot«, flüsterte Arthur. »Bist du etwa krank, mein lieber Linus?«
»Pah, diese Witze machen sie nur wegen dir.«
»Okay«, sagte Sal gerade. »Du lenkst sie ab, Phee, während wir anderen aufräumen. Je schneller wir arbeiten, desto früher sind wir fertig.«
Phee schlüpfte durch die Doppeltür und lächelte breit. »Hallo!«, sagte sie, als hätten Arthur und Linus nicht jedes einzelne Wort gehört. »Danke für eure Geduld. Ich weiß das sehr zu schätzen.«
»Wunderbar«, erwiderte Arthur. »Können wir jetzt in die Küche?«
»Äh«, machte Phee und warf einen Blick über die Schulter. »Vielleicht … ein bisschen noch? Oh! Da fällt mir ein, dass ich dich etwas sehr, sehr Wichtiges fragen wollte, Linus. Ich konnte während der letzten Minute an nichts anderes denken.«
»Dann mal raus damit«, erwiderte Arthur. »Wir warten gespannt.«
»Richtig«, sagte Phee. »Also, ähm.« Sie zuckte zusammen, als in der Küche etwas auf den Boden fiel. Doch bevor Arthur einen Kommentar dazu geben konnte, platzte sie heraus: »Deine Organe!«
Linus stöhnte. »Das schon wieder? Wie oft muss ich Talia noch erklären, dass ich, sollte es einmal nötig werden, auf jeden Fall wiederbelebt werden will und sie meine Leber, Lunge und Nieren nicht entnehmen darf. Ich weiß ohnehin nicht, wie sie auf die Idee kommt, dass meine Organe ein guter Dünger für ihre Rosen wären, denn das sind sie nicht.«
»Das habe ich ihr auch zu erklären versucht«, erwiderte Phee. »Und dann habe ich sie daran erinnert, dass es so oder so nur eine Frage der Zeit ist. Also: win-win!«
»Wir haben gehört, was du zu Chauncey gesagt hast«, warf Arthur leise ein.
Phee wand sich unbehaglich. Von all ihren Kindern war sie das größte Rätsel. Sie liebte ihre Geschwister über alles und stand voll und ganz hinter ihnen. Arthur kannte sie als mitfühlend, freundlich und mehr als nur ein bisschen reizbar. Doch sie hatte nach wie vor Probleme mit Komplimenten. Wenn er zu dick auftrug, winkte sie nur ab und wechselte das Thema. Trotzdem – oder gerade – deshalb hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, ihr mindestens einmal am Tag zu sagen, wie stolz er auf sie war.
»Das war kein großes Ding. Chauncey hat jemanden zum Reden gebraucht und ich war da. Jeder hier im Haus hätte das Gleiche getan wie ich.« Sie zuckte die Achseln und schaute weg.
»Vielleicht«, meinte Arthur. »Aber Chauncey ist damit nicht zu mir gekommen, auch nicht zu Linus oder einem der anderen, sondern zu dir, Phee. Er teilt seine Glücksmomente mit dir und seine Sorgen.«
»Er sollte überhaupt keine Sorgen haben!«, fuhr Phee auf. »Ich dachte, die Dinge sollten besser werden. Das habt ihr zumindest gesagt.« Sie atmete tief durch. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Das war nicht fair.«
»Das war absolut fair«, widersprach Linus. »Denn genau das waren unsere Worte. Und ich wünschte, ich hätte eine bessere Antwort für dich, außer dass diese Dinge eben Zeit brauchen. Es tut mir leid.« Dann nahm er ihre Hand.
Phee schaute zu Linus auf, und da bemerkte Arthur die Sanftheit in ihren Augen – eine Schwachstelle in ihrer sonst so undurchdringlichen Rüstung. Ab und zu gewährte Phee ihm einen Blick auf das Mädchen, das dahintersteckte, und er schätzte diese Momente genauso sehr wie Theodore seine Knöpfe.
»Danke, Linus«, sagte sie. »Du bist in Ordnung.«
Er drückte ihre Hand. »Für dich tue ich alles. Gehen wir jetzt in die Küche oder willst du …«
Noch bevor Linus zu Ende gesprochen hatte, drang Lucys Stimme aus der Küche. Sie klang hocherfreut: »Du kannst Feuer speien? Heilige Scheiße, Theodore! Lass uns all das hier einfach wegbrennen!«
»Das war unser Stichwort«, sagte Arthur.
»Das kommt davon, wenn man verschläft«, murmelte Linus. »Gerade wenn du denkst, du hättest eine wohlverdiente Extrastunde Schlaf bekommen, spuckt jemand Feuer.«
Arthur drückte die Doppeltür so hektisch auf, dass die Flügel gegen die Wand knallten. Das Gespräch in der Küche verstummte augenblicklich und alle erstarrten.
Zuerst sah er Lucy, der einen Stuhl quer durch die Küche zog und konzentriert die Zunge zwischen den Zähnen hervorstreckte. Seine Augen waren rot unterlaufen (wie so oft, wenn er etwas Gefährliches tat) und die zwei Haarwirbel über seinen Ohren sahen beinahe aus wie Hörner. Zu seinen ausgefransten karierten Shorts und dem wallenden weißen Hemd trug er eine rosa Schürze mit Rüschenbesatz.
Dann war da noch Talia, die kleine, untersetzte Gnomin, die mindestens ein Dutzend Eier auf den Armen balancierte. Das Ende ihres dichten weißen Barts krümmte sich zu einer kleinen Locke. Die Spitze ihrer roten Mütze war nach links gebogen und ein weißes Haarbüschel hing ihr in die Stirn. Sie trug eine blaue Weste, einen schwarzen Gürtel um die Taille, eine braune Hose und schwarze Arbeitsstiefel, die ihr bis zu den Knien reichten und von Flecken übersät waren, bei denen es sich um Eigelb zu handeln schien. Die nackte Haut auf ihrem Gesicht und ihren Händen war gebräunt von den vielen Stunden, die sie im Garten verbrachte. Ihre kirschroten Lippen formten sich zu einem O und ihre blauen Augen verengten sich.
Arthurs Blick wanderte weiter zu Sal, dem Gestaltwandler, der sich binnen eines Wimpernschlags von einem Jungen in einen kleinen flauschigen Zwergspitz verwandeln konnte. Mit seinen fünfzehn Jahren war er das älteste Kind auf der Insel und die anderen schauten zu ihm auf. Der einst so stille Junge fand allmählich seine Stimme und sprach immer mehr von den Worten aus, die er zu Papier brachte und die alle verzauberten, die das Glück hatten, sie lesen zu dürfen. Er war inzwischen genauso groß wie Linus – sehr zu dessen Leidwesen –, und obwohl er offensichtlich gerade erst das Teenageralter erreicht hatte (er klagte über die wenigen Pickel auf seiner Nase und der Stirn), war er eine alte Seele. Seine dunklen Augen sahen praktisch alles. Auch er trug Shorts (hellbraun), dazu ein kurzärmeliges Hemd (in einem warmen Gelbton) mit perlmuttfarbenen Druckknöpfen, die gut zu seiner dunkelbraunen Haut passten. Seine Haare waren jetzt länger, nachdem Zoe ihm gezeigt hatte, wie er seine krausen Locken pflegen musste.
Chauncey saß in einem Wischeimer gleich neben Sal und hatte eine Seifenblase zwischen den Augenstielen. Hinter ihm auf dem Tresen, gleich neben dem Waschbecken, hatte sich die machiavellistische Raubkatze Calliope ausgestreckt. Ihr Schwanz zuckte gefährlich hin und her, während sie sich Teig von der rechten Vorderpfote leckte und Arthur abschätzig musterte.
Und dann natürlich Theodore, der mit weit aufgerissenem Maul seine spitzen Lindwurmzähne zur Schau stellte. Er stand auf den Hinterbeinen, die Flügel ausgebreitet und den Kopf nach hinten geneigt. Rauch stieg aus seinen schlitzförmigen Nasenlöchern auf. Als er Arthur bemerkte, klappte er hastig sein Maul zu und schluckte herunter, was auch immer er hatte ausspucken wollen. Einen Moment später rülpste er eine schwarze Rauchwolke und versuchte sogleich, sie mit seinen Flügeln auseinanderzutreiben, damit Arthur sie nicht sah.
»Äh«, sagte Lucy. »Ich kann alles erklären.«
»Kannst du das?«, fragte Arthur milde, während Phee und Linus sich hinter ihn stellten. »Für mich hat es sich nämlich so angehört, als wolltest du Theodore dazu animieren, Feuer zu speien.«
»Genau das habe ich auch getan!«, bestätigte Lucy. »Wie gut du mich inzwischen kennst. Wir brauchen diesen Stuhl doch nicht, oder? Er gehört Linus, aber er meinte, dass er beim Essen eigentlich lieber steht.«
Linus schnaubte. »Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Theodore?«, fragte Arthur. »Stimmt das? Kannst du Feuer spucken?«
Der Lindwurm sah Sal kurz an. Der nickte. Theodore begann zu schnalzen und zu knurren, breitete die Flügel aus und bewegte seinen Kopf auf und ab.
Arthur hörte aufmerksam zu, während Theodore erklärte, dass er vor ein paar Tagen mit einer Hitze in der Brust aufgewacht war, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Anfangs ignorierte er das Gefühl, aber dann begann es ihn am ganzen Körper zu jucken, als würde er jeden Moment aus der Haut fahren. Er hatte niemandem etwas davon erzählt, weil er hoffte, es würde von alleine wieder weggehen. Aber dann war er heute Morgen aufgewacht, hatte gegähnt und sich gestreckt – und einen kleinen Feuerstoß ausgeatmet. Es hatte nicht wehgetan, fügte er hinzu, sondern sich sogar gut angefühlt – wie steife Muskeln, die endlich wieder bewegt wurden. Dann zwitscherte er eine Frage, die selbst Arthur nicht beantworten konnte.
»Das weiß ich nicht«, sagte er und tippte sich ans Kinn. »Ich dachte immer, dass Lindwürmer zwar von Drachen abstammen, selber aber kein Feuer spucken können. Linus? Hast du schon mal von einem feuerspeienden Lindwurm gehört?«
»Nein«, gestand Linus. »Zugegeben, Theodore ist der einzige Lindwurm, den ich kenne, aber ich dachte immer, sie können es nicht. Aus irgendeinem Grund fehlt bei ihnen die Drüse, die das entzündliche, ölige Gemisch absondert, das man dafür braucht.«
»Es ist grün«, trällerte Chauncey aus seinem Eimer. »Wie ich.«
»Grünes Feuer«, überlegte Arthur. »Hast du es unter Kontrolle?«
Theodore zögerte einen Moment, dann nickte er.
Arthur trat einen Schritt zurück und sagte: »Könntest du es mir zeigen?«
Theodore begann aufgeregt zu tänzeln, seine Krallen klapperten über den Kachelboden, während er sich voller Vorfreude im Kreis drehte. Dann winkte er mit seinem rechten Flügel, damit alle einen Schritt zurücktraten und er genug Platz hatte. Linus meinte, das Haus sei vielleicht nicht der beste Ort für eine Demonstration, wurde aber überstimmt, als alle (einschließlich Arthur) ihn ausbuhten. Linus erinnerte sie daraufhin an die letzte Veranstaltung mit offenem Feuer im Haus (Talias Geburtstag – zu viele Kerzen und nicht genug Feuerlöscher). »Deshalb sollten wir überlegen, ob wir nicht besser nach draußen …«
In diesem Moment warf Theodore den Kopf zurück und kniff die Augen zusammen. Ein Schimmern wanderte über die schwarzen Schuppen auf seinem Rücken in Richtung Kopf. Als er das kleine Maul öffnete, schlug Arthur der wohlige Geruch von Rauch und Flammen entgegen. Dann schoss ein grüner Feuerstrahl aus Theodores Rachen, mindestens einen Meter lang und enorm heiß. Das Schauspiel dauerte nur ein paar Sekunden, dann erlosch der Flammenstrahl wieder, aber Theodore war sichtlich zufrieden mit sich, blähte die Brust und hüpfte freudig auf und ab, während zwischen seinen Zähnen immer noch Rauch hervorquoll.
Das heißt, er war zufrieden, bis das Banner, das über dem Tisch hing, zu brennen anfing. Arthur wirbelte herum, hob einen Arm und saugte das Feuer in seine Handfläche, wo es eine kleine, knisternde Kugel bildete, die sofort verlosch, als er die Finger darum schloss.
»Gut gemacht, Theodore«, kommentierte Arthur angemessen beeindruckt.
»Noch mal!«, brüllte Lucy und warf die Fäuste in die Luft. »Noch mal!«
»Genau deshalb spucken wir im Haus kein Feuer«, sagte Linus mit in die Hüften gestemmten Händen. »Man kann nicht einfach … Es gibt kein …« Er runzelte die Stirn. »Warum steht auf dem Banner über dem Tisch HAPPYBIRT?«
»Bis gerade eben hat es noch HAPPYBIRTHDAY geheißen«, antwortete Sal und kratzte sich im Nacken.
»Mir gefällt HAPPYBIRT besser«, meinte Talia und warf die Eier in den Wischeimer, woraufhin Chauncey verkündete, er sei jetzt eine Eierflockensuppe. »Es klingt albern und toll, genau wie Lucy.«
»Happy Birt!«, krähte Lucy.
»Ich wusste, dass uns das um die Ohren fliegen würde«, murmelte Phee.
»Oh nein«, flüsterte Chauncey, während die Eiersuppe um ihn herum schwappte. »Was sollen wir jetzt singen? Das Happy-Birthday-Lied funktioniert mit Happy Birt nicht. HAAAAAAPPPYBIRTTOYOU! Seht ihr? Das klingt einfach nicht.«
Linus schüttelte den Kopf. »Es hat auch niemand Geburtstag. Als Nächster ist Chauncey dran, und zwar im August.«
Arthur schloss die Augen, als ihm plötzlich klar wurde, worum es hier eigentlich ging. Das Chaos in der Küche, der Teig an den Wänden und an der Decke und die Pfotenabdrücke überall waren ein vergleichsweise kleiner Preis für das, wie die Kinder sich angestrengt hatten.
Er öffnete die Augen wieder und Sal sagte: »Du hast Geburtstag, Linus.«
Linus lachte. »Was? Natürlich nicht. Mein Geburtstag ist im …« Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er an den Fingern abzählte. »Wartet. Welcher Tag ist heute?«
»Der achte Juni«, murmelte Arthur. »Dein Geburtstag.«
»Mein …« Linus sah sich in der Küche um. Das HAPPY-BIRT