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Linus Baker ist ein vorbildlicher Beamter. Seit Jahrzehnten arbeitet er in der Sonderabteilung des Jugendamtes, die für das Wohlergehen magisch begabter Kinder und Jugendlicher zuständig ist. Nie war er auch nur einen Tag krank, und das Regelwerk der Behörde ist seine Gute-Nacht-Lektüre. Linus' eintöniges Dasein ändert sich schlagartig, als er auf eine geheime Mission geschickt wird. Er soll das Waisenhaus eines gewissen Mr. Parnassus', das sich auf einer abgelegenen Insel befindet, genauer unter die Lupe nehmen. Kaum dort angekommen, stellt Linus fest, dass Mr. Parnassus' Schützlinge eher etwas speziell sind – einer von ihnen ist möglicherweise sogar der Sohn des Teufels! In diesem Heim kommt Linus mit seinem Regelwerk und seiner Vorliebe für Vorschriften nicht weit, das merkt er schnell. Eher widerwillig lässt er sich auf dieses magische Abenteuer ein, das ihn auf der Insel erwartet, und erfährt dabei die größte Überraschung seines Lebens ...
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Das Buch
»Wo zum Teufel bin ich da nur reingeraten?«, flüsterte Linus, als der sanfte Wind den Brief in seiner Hand flattern ließ.
Linus Baker – vierzig, übergewichtig, Single – ist ein vorbildlicher Beamter der Behörde für die Betreuung Magischer Minderjähriger. In seinen siebzehn Jahren Dienstzeit war er nie auch nur einen einzigen Tag krank, er lebt in ständiger Furcht vor seiner Vorgesetzten Ms. Jenkins, und Vorgaben und Verordnungen, das Regelwerk der Behörde, ist seine Gute-Nacht-Lektüre. Eines Tages wird Linus zu seinem Entsetzen vor das Allerhöchste Management zitiert, wo er – zu seinem noch größeren Entsetzen – einen Spezialauftrag erhält: Er soll einen Monat lang das Waisenhaus eines gewissen Mr. Arthur Parnassus, das sich auf einer abgelegenen Insel befindet, genauer unter die Lupe nehmen. Also packt Linus notgedrungen seinen Koffer und macht sich mit seiner übellaunigen Katze Calliope auf die Reise ins Unbekannte. Kaum auf der Insel angekommen, stellt er fest, dass Mr. Parnassus‘ Schützlinge alles andere als gewöhnliche magische Minderjährige sind – einer von ihnen ist möglicherweise sogar der Sohn des Teufels! Bei Mr. Parnassus und seinen Kindern kommt Linus mit seiner Vorliebe für Regeln und Vorschriften nicht weit, das merkt er schnell. Eher widerwillig lässt er sich auf das magische Abenteuer ein, das ihn erwartet, und erfährt dabei die größte Überraschung seines Lebens …
Der Autor
Im Alter von sechs Jahren griff T.J. Klune zu Stift und Papier und schrieb seine erste Geschichte – eine mitreißende Variante des Videospiels Super Metroid. Die Begeisterung für Geschichten hat T.J. Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung seiner Figuren wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Sein Roman Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte stand wochenlang auf der USAToday- und der New York Times-Bestsellerliste.
T.J. KLUNE
MR. PARNASSUS’ HEIM FÜR MAGISCH BEGABTE
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetztvon Charlotte Lungstrass-Kapfer
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:THE HOUSE IN THE CERULEAN SEA
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Deutsche Erstausgabe 05/2021
Redaktion: Martina Vogl
Copyright © 2020 by Travis Klune
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München, unter Verwendung einer Illustration von Red Nose Studio
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-27285-2V002
www.heyne.de
Für all jene, die mich von Anfang an begleitet haben:Seht nur, was wir geschaffen haben. Danke.
»Oje.« Linus Baker wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das ist höchst ungewöhnlich.«
Was noch untertrieben war. Fasziniert sah er zu, wie ein elfjähriges Mädchen namens Daisy mehrere Holzklötze über ihrem Kopf schweben ließ. Die Bauklötze flogen in konzentrischen Kreisen träge um sie herum. Daisy runzelte angestrengt die Stirn, und zwischen ihren Zähnen lugte die Zungenspitze hervor. So ging das gut eine Minute lang, bis die Klötze schließlich langsam zu Boden sanken. Wirklich erstaunlich, wie weit ihre Kontrolle reichte.
»Ich verstehe.« Linus schrieb eifrig auf seinen Notizblock. Sie befanden sich im Büro der Heimleitung, einem ordentlich aufgeräumten Raum mit dem typischen, von der Regierung genehmigten braunen Teppichboden und abgenutztem Mobiliar. An den Wänden hingen abscheuliche Bilder von Lemuren in verschiedenen Posen. Zuvor hatte die Heimleiterin sie Linus stolz präsentiert, ihm von ihrer Leidenschaft für die Malerei berichtet. Ja, wäre sie nicht Leiterin dieses speziellen Waisenhauses geworden, würde sie jetzt sicher als Lemurenbändigerin beim Zirkus arbeiten oder eine eigene Galerie führen, um ihre Kunst mit der ganzen Welt zu teilen. Linus war zwar der Meinung, die Welt wäre besser dran, wenn die Bilder dieses Zimmer niemals verließen, doch er behielt diesen Gedanken für sich. Schließlich war er nicht hier, um sich als Laienkunstkritiker zu versuchen. »Und wie oft … äh … du weißt schon … Wie oft lässt du Gegenstände schweben?«
Die Heimleiterin, eine untersetzte Frau mit krausem Haar, trat vor. »Oh, nur ganz selten«, sagte sie schnell. Ihr Blick huschte nervös hin und her, und sie rang die Hände. »Vielleicht ein- oder zweimal … im Jahr?«
Linus hustete dezent.
»Monat«, korrigierte sie sich hastig. »Ich Dummerchen. Warum sagte ich denn Jahr? Kleiner Versprecher. Genau, ein- oder zweimal im Monat. Sie wissen ja, wie das ist. Je älter die Kinder werden, desto eher … tun sie es.«
»Stimmt das?«, wandte sich Linus an Daisy.
»Oh ja«, nickte das Mädchen. »Ein- oder zweimal im Monat, nicht öfter.« Dabei strahlte sie ihn so treuherzig an, dass Linus sich fragte, ob ihr die Antworten vor seiner Ankunft eingeimpft worden waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passierte, und sicher auch nicht das letzte Mal.
»Natürlich.« Sie warteten schweigend, während sein Stift wieder über das Papier kratzte. Er spürte ihre Blicke, konzentrierte sich aber auf die Worte. Nur mit Aufmerksamkeit erlangte man Akkuratesse. Er war ein gründlicher Mensch, und sein Besuch in diesem Waisenhaus war gelinde gesagt erhellend gewesen. Nun musste er so viele Details wie möglich festhalten, um seinen Abschlussbericht fertigzustellen, wenn er ins Büro zurückkam.
Die Heimleiterin zupfte nervös an Daisy herum, strich ihr das wirre schwarze Haar aus der Stirn und steckte es mit Schmetterlingsspängchen fest. Daisy starrte nur traurig die Holzklötze auf dem Boden an, als wünschte sie sich, sie würden noch einmal in die Luft steigen. Ihre buschigen Augenbrauen zuckten.
»Hast du es denn unter Kontrolle?«, fragte Linus.
Noch bevor Daisy den Mund aufmachen konnte, sagte die Heimleiterin: »Natürlich. Wir würden ihr niemals gestatten …«
Linus hob die Hand. »Es wäre mir lieber, Madam, wenn ich das von Daisy selbst hören könnte. Natürlich zweifele ich nicht daran, dass Sie nur das Beste für sie wollen, aber meiner Erfahrung nach sind Kinder wie Daisy meist etwas … unverblümter.«
Die Heimleiterin schien noch etwas sagen zu wollen, weshalb Linus vielsagend eine Augenbraue hob. Daraufhin nickte sie und trat seufzend einen Schritt zurück.
Nachdem er seine Notizen abgeschlossen hatte, drückte Linus die Kappe auf den Stift und schob ihn zusammen mit dem Block zurück in seine Aktentasche. Dann stand er auf und ging vor Daisy in die Hocke; seine Knie protestierten knirschend.
Daisy hatte die Augen weit aufgerissen und kaute auf ihrer Unterlippe herum.
»Daisy? Hast du es unter Kontrolle?«
Sie nickte langsam. »Glaube schon? Seit ich hier bin, habe ich niemandem mehr wehgetan.« Ihre Mundwinkel sanken herab. »Nicht seit Marcus. Ich mag es nicht, Leuten wehzutun.«
Er war geneigt, ihr das zu glauben. »Das sagt ja auch niemand. Aber manchmal haben wir die … Gaben, die uns geschenkt wurden, nicht ganz unter Kontrolle. Was nicht unbedingt immer die Schuld desjenigen ist, der die Gabe in sich trägt.«
Diese Erklärung sorgte offenbar nicht dafür, dass sie sich besser fühlte. »Wessen Schuld ist es dann?«
Linus blinzelte überrascht. »Nun ja, ich denke, verschiedene Faktoren spielen eine Rolle. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass extreme Gefühlslagen solche Vorfälle auslösen können: Traurigkeit, Wut, sogar Freude. Vielleicht warst du einfach so glücklich, dass du aus Versehen den Stuhl auf deinen Freund Marcus geschleudert hast?« Was der Grund gewesen war, warum man ihn überhaupt hergeschickt hatte. Marcus war ins Krankenhaus geschickt worden, damit sein Schwanz untersucht wurde. Er war böse umgeknickt worden, und die Klinik hatte das sofort der Behörde für die Betreuung Magischer Minderjähriger gemeldet, ganz vorschriftsmäßig. Die Meldung hatte eine Untersuchung zur Folge, weshalb Linus den Auftrag erhalten hatte, sich dieses Waisenhaus anzusehen.
»Ja«, nickte Daisy, »genau so war’s. Marcus hat mich so glücklich gemacht, als er mir meine Buntstifte geklaut hat, dass ich aus Versehen einen Stuhl auf ihn geschleudert habe.«
»Verstehe. Hast du dich bei ihm entschuldigt?«
Wieder wanderte ihr Blick hinunter zu den Klötzen, und sie scharrte verlegen mit den Füßen. »Ja. Und er hat gesagt, er wäre mir nicht böse. Er hat die Buntstifte sogar für mich gespitzt, bevor er sie zurückgegeben hat. Weil er das besser kann als ich.«
»Wie nett von ihm«, sagte Linus. Er hätte dem Mädchen gerne die Schulter getätschelt, aber das wäre nicht angemessen gewesen. »Und ich weiß, dass du ihm nicht wehtun wolltest. Nicht mit Absicht. Vielleicht halten wir in Zukunft kurz inne und denken nach, bevor wir uns von unseren Emotionen überwältigen lassen. Wie klingt das für dich?«
Sie nickte entschlossen. »Oh ja. Ich verspreche, innezuhalten und nachzudenken, bevor ich nur mit der Kraft meiner Gedanken Stühle durch die Gegend werfe.«
Linus seufzte leise. »Ich denke nicht, dass ich das so …«
Irgendwo in den Tiefen des alten Hauses ertönte eine Glocke.
»Kekse«, hauchte Daisy und rannte zur Tür.
»Aber nur einen«, rief die Heimleiterin ihr hinterher. »Sonst verdirbst du dir den Appetit fürs Abendessen!«
»Bestimmt nicht!«, rief Daisy zurück, bevor sie die Tür hinter sich zuknallte. Linus hörte das Trappeln ihrer leichten Schritte, als sie Richtung Küche davonrannte.
»Oh doch«, murmelte die Heimleiterin und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. »Das schafft sie jedes Mal.«
»Ich finde, sie hat ihn sich verdient«, sagte Linus.
Die Frau fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, bevor sie ihm einen wachsamen Blick zuwarf. »Nun, das war’s dann also. Sie haben mit allen Kindern gesprochen. Sie haben sich das Haus angesehen. Sie konnten sich davon überzeugen, dass Marcus wohlauf ist. Und trotz dieses … Vorfalls mit dem Stuhl ist doch wohl offensichtlich, dass Daisy niemandem schaden möchte.«
Er hielt ihre Einschätzung für richtig. Marcus war es um einiges wichtiger gewesen, Linus dazu zu kriegen, dass er auf dem Gips an seinem Schwanz unterschrieb, als Daisy in Schwierigkeiten zu bringen. Linus hatte sich geweigert und ihm erklärt, das stünde ihm nicht zu. Doch Marcus hatte seine anfängliche Enttäuschung schnell überwunden. Nicht zum ersten Mal war Linus erstaunt darüber gewesen, wie unverwüstlich die Kinder gegenüber so ziemlich allem waren. »Ja, schon.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie mir sagen werden, was Sie in Ihrem Bericht …«
Linus war empört. »Ganz sicher nicht. Wie Sie sehr wohl wissen, erhalten Sie eine Kopie des Berichts, nachdem ich ihn eingereicht habe. Erst dann werden Sie über den Inhalt in Kenntnis gesetzt, und keinen Augenblick früher.«
»Selbstverständlich«, sagte die Heimleiterin hastig. »Ich wollte damit nicht andeuten, dass Sie …«
»Es freut mich, dass wir da einer Meinung sind. Und die BBMM wird das sicher auch positiv vermerken.« Er hantierte mit seiner Aktentasche und schob den Inhalt so lange herum, bis alles zu seiner Zufriedenheit geordnet war. Dann klappte er sie zu und ließ die Schlösser einrasten. »Nun, wenn sonst nichts mehr ansteht, werde ich mich nun verab…«
»Die Kinder mögen Sie.«
»Ich mag sie ebenfalls. Sonst würde ich nicht das tun, was ich tue.«
»Das ist nicht bei allen aus Ihrem Metier der Fall.« Sie räusperte sich. »Genauer gesagt, bei den Sachbearbeitern.«
Linus blickte sehnsüchtig zur Tür. Dabei war er doch schon fast draußen gewesen. Er drückte die Aktentasche wie einen Schild vor die Brust, als er sich wieder zu der Heimleiterin umdrehte.
Die war aufgestanden und kam nun um den Schreibtisch herum. Aus Gewohnheit wich Linus einen Schritt zurück. Doch sie kam nicht näher, sondern lehnte sich nur an den Tisch. »Wir hatten auch schon … andere«, erzählte sie.
»Tatsächlich? Nun, das war natürlich zu erwarten, aber …«
»Die sehen die Kinder gar nicht richtig«, fuhr sie fort. »Sie sehen nicht ihre Persönlichkeit, sondern nur das, wozu sie fähig sind.«
»Man sollte ihnen eine faire Chance geben, wie allen Kindern. Wie sollen sie denn je auf eine Adoption hoffen, wenn man sie behandelt, als wären sie etwas, wovor man sich fürchten muss?«
Die Heimleiterin schnaubte höhnisch. »Eine Adoption.«
Linus warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Verzeihung. Auf Ihre Art sind Sie wirklich herzerwärmend. Ihr Optimismus ist beinahe ansteckend.«
»Ja, ich bin ein echter Sonnenschein«, erwiderte Linus trocken. »Nun, wenn es sonst nichts mehr gibt … Ich finde allein …«
»Wie können Sie diesen Job machen?«, platzte es aus ihr heraus. Sofort wurde sie kreidebleich, als könnte sie nicht fassen, was sie da gerade gesagt hatte.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Für die BBMM arbeiten.«
Linus’ Nacken wurde feucht, und ein Schweißtropfen sickerte unter seinen Hemdkragen. In diesem Büro war es schrecklich warm. Zum ersten Mal seit Langem wünschte er sich, er wäre draußen im Regen. »Was stimmt denn nicht mit der BBMM?«
Sie zögerte. »Das war nicht als Kritik gemeint.«
»Was ich mal stark hoffen möchte.«
»Es ist nur …« Sie stieß sich von der Tischkante ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Fragen Sie sich nicht manchmal …«
»Nein, niemals«, antwortete Linus sofort. »Was denn?«
»Was mit einem Ort wie diesem geschieht, wenn Sie Ihren Abschlussbericht eingereicht haben? Was dann aus den Kindern wird?«
»Solange ich nicht zu einem erneuten Besuch veranlasst werde, gehe ich davon aus, dass sie alle eine fröhliche und glückliche Kindheit verleben, bis sie irgendwann fröhliche und glückliche Erwachsene werden.«
»Die noch immer behördlichen Reglementierungen unterliegen, einfach nur, weil sie sind, was sie sind.«
Linus fühlte sich in eine Ecke gedrängt. Auf so etwas war er nicht vorbereitet. »Ich arbeite nicht für die Behörde für die Betreuung Magischer Bürger. Wenn Sie in dieser Hinsicht Bedenken haben, sollten Sie das der BBMB zu Gehör bringen. Ich konzentriere mich einzig und allein auf das Wohlergehen von Kindern.«
Die Heimleiterin lächelte traurig. »Aber sie bleiben nun einmal keine Kinder, Mr. Baker. Irgendwann werden sie alle erwachsen.«
»Und sie werden von Ihnen mit dem entsprechenden Rüstzeug ausgestattet, falls sie das Waisenhaus im entsprechenden Alter verlassen, ohne adoptiert worden zu sein.« Er schob sich rückwärts einen Schritt auf die Tür zu. »Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich muss meinen Bus erwischen. Ich habe einen recht weiten Heimweg, da möchte ich ihn nicht verpassen. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Und noch einmal: Sobald mein Bericht eingereicht ist, werden Sie eine Kopie für Ihre Akten bekommen. Sollten Sie noch Fragen haben, lassen Sie es uns wissen.«
»Eigentlich hätte ich noch …«
»Reichen Sie sie schriftlich ein«, rief Linus über die Schulter, während er schnell durch die Tür trat. »Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören.« Er zog die Tür hinter sich zu und hörte, wie der Riegel einrastete. Dann atmete er einmal tief durch. »Das hast du ja prima hingekriegt, alter Junge. Sicher schickt sie dir jetzt Hunderte von Fragen.«
»Ich kann Sie immer noch hören«, rief die Heimleiterin durch die geschlossene Tür.
Linus zuckte erschrocken zusammen und eilte den Flur hinunter.
Er wollte das Waisenhaus gerade durch den Haupteingang verlassen, als fröhliches Gelächter aus der Küche ihn innehalten ließ. Wider besseres Wissen folgte er dem Geräusch. Dabei kam er an den Plakaten vorbei, die in jedem von der BBMM zugelassenen Waisenhaus an den Wänden hingen. Sie zeigten sanft lächelnde Kinder und Botschaften wie Wir sind am glücklichsten, wenn wir auf unsere Betreuer hören oder Ein stilles Kind ist ein gesundes Kind und Wer braucht schon Magie, wenn er Fantasie hat?
Vorsichtig steckte er den Kopf durch die angelehnte Küchentür.
An einem großen Esstisch saß eine Gruppe Kinder zusammen.
Ein Junge, an dessen Armen blaue Federn wuchsen.
Ein Mädchen, dessen Lachen etwas Hexenhaftes hatte, was gut passte, da sie laut ihrer Akte eine solche war.
Das älteste Mädchen am Tisch hatte eine so verführerische Stimme, dass es mit seinem Gesang Schiffe auf tödliche Riffe locken konnte. Linus war entsetzt gewesen, als er ihre Akte gelesen hatte.
Dann saß dort noch ein Selkie, ein kleiner Junge mit weichem Pelz an den Schultern.
Und natürlich Daisy und Marcus. Seite an Seite saßen sie, während Daisy begeistert den Gips an seinem Schwanz bewunderte und ihn mit Kekskrümeln vollspuckte. Marcus, der den Schwanz auf dem Tisch abgelegt hatte, strahlte, dass seine Sommersprossen leuchteten. Dann fragte er, ob sie ihm auch ein Bild auf den Gips malen würde, am besten mit ihren Buntstiften. Sie hatte auch sofort ein paar Ideen: »Eine Blume. Oder einen Käfer mit spitzen Zähnen und einem Stachel.«
»Ooooh«, staunte Marcus. »Den Käfer. Du musst den Käfer für mich malen.«
Linus wandte sich zufrieden ab.
Erneut machte er sich auf den Weg zur Haustür, wo er seufzend feststellte, dass er wieder einmal seinen Schirm vergessen hatte. »Ach, verdammt …«
Er öffnete die Tür, trat in den Regen hinaus und machte sich auf den langen Weg nach Hause.
»Mr. Baker!«
Linus stöhnte innerlich. Der Tag war bisher so gut verlaufen. Na ja, irgendwie. Zwar prangte nun ein orangefarbener Dressingfleck auf seinem weißen Hemd, der von dem schlaffen Salat stammte, den er an der Essensausgabe erworben hatte – ein hartnäckiger Fleck, der nur weiter verschmiert war, als er ihn hatte wegwischen wollen. Und der Regen, der donnernd auf das Dach trommelte, schien keinerlei Anstalten zu machen, sich auch nur abzuschwächen. Natürlich hatte Linus wieder seinen Schirm zu Hause vergessen.
Doch abgesehen davon war der Tag bisher gut verlaufen.
Überwiegend gut.
Das Klappern der Computertastaturen ringsum verstummte, als Ms. Jenkins sich näherte. Sie war eine strenge Frau mit so straff zurückgebundenen Haaren, dass diese ihre zusammengewachsenen Augenbrauen bis auf die Mitte ihrer Stirn hochzogen. Hin und wieder fragte sich Linus, ob sie eigentlich auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben gelächelt hatte. Wohl eher nicht. Ms. Jenkins war eine mürrische Frau mit dem Gemüt einer gereizten Natter.
Außerdem war sie seine Vorgesetzte, und Linus Baker lebte in ständiger Furcht davor, sie zu verärgern.
Nun zog er nervös seinen Hemdkragen zurecht, während sie sich zwischen den vielen Schreibtischen hindurch auf ihn zubewegte. Ihre Absätze knallten laut auf den kalten Steinboden. Dicht hinter ihr lief ihr Assistent, ein widerlicher Schleimer namens Gunther, wie immer mit einem Klemmbrett und einem abartig langen Bleistift ausgestattet, mit dem er all jene aufzuschreiben pflegte, die nachlässig zu arbeiten schienen. Am Ende jedes Tages wurde diese Aufstellung zusammengefasst, und es wurden entsprechend Strafpunkte in die Wochenliste eingetragen. Wer am Ende der Woche mehr als fünf Strafpunkte hatte, bekam einen Eintrag in die Personalakte. Was nun wirklich niemand wollte.
Wo Ms. Jenkins und Gunther vorbeimarschierten, zogen die Kollegen die Köpfe ein und gaben sich extrem beschäftigt, aber Linus durchschaute sie mühelos: Sie würden alle eifrig lauschen, um herauszufinden, was Linus angestellt hatte und welche Strafe über ihn verhängt würde. Vermutlich würde man ihn zwingen, früher nach Hause zu gehen, und ihm den Tag vom Gehalt abziehen. Oder er würde länger bleiben müssen und den Tag trotzdem vom Gehalt abgezogen bekommen. Im schlimmsten Fall würden sie ihn feuern, seine berufliche Laufbahn wäre beendet, und er würde gar kein Gehalt mehr bekommen, von dem ihm etwas abgezogen werden konnte.
Unfassbar, dass heute erst Mittwoch war.
Noch schlimmer wurde es, als Linus erkannte, dass in Wirklichkeit erst Dienstag war.
Ihm wollte partout nichts einfallen, was er verbrochen haben könnte, außer vielleicht, dass er eine Minute zu spät aus seiner viertelstündigen Mittagspause zurückgekommen war. Oder vielleicht war auch sein letzter Bericht nicht zufriedenstellend gewesen. Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte er zu viel Zeit auf den Versuch verschwendet, den Fleck aus seinem Hemd zu waschen? Oder war ein Tippfehler in seinem Bericht gewesen? Sicher nicht. Der war makellos gewesen, im Gegensatz zu seinem Hemd.
Doch Ms. Jenkins’ verkniffener Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes für Linus. Normalerweise fand er es hier im Büro immer ziemlich kalt, aber jetzt war ihm unangenehm warm. Obwohl ein kühler Luftzug durch den Raum wehte – noch verschlimmert durch das trostlose Wetter –, spürte er Schweiß in seinem Nacken. Sein Computermonitor schien plötzlich viel greller zu leuchten, und er musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig zu atmen. Bei seiner letzten Untersuchung hatte der Arzt gesagt, Linus’ Blutdruck sei zu hoch, und ihm dringend geraten, die Stressfaktoren in seinem Leben zu reduzieren.
Ms. Jenkins war ein Stressfaktor.
Ein Gedanke, den er besser für sich behielt.
Sein schmaler Schreibtisch befand sich ziemlich genau in der Mitte des Großraumbüros: Reihe L, Tisch 7, in einem Raum mit 26 Reihen à 14 Tischen. Zwischen den einzelnen Tischen war kaum Platz. Ein dünner Mensch passte zwar problemlos hindurch, aber wer ein paar Pfund mehr auf den Rippen hatte (wobei die Betonung selbstverständlich auf ein paar liegen musste) … Hätte man ihnen persönlichen Tinnef auf den Schreibtischen gestattet, hätte das für jemanden wie Linus in einer Katastrophe enden können. Da solcherlei Dinge aber verboten waren, lief es hauptsächlich darauf hinaus, dass er mit seinen breiten Hüften an die Tische stieß und trotz hastiger Entschuldigungen böse Blicke zugeworfen bekam. Das war einer der Gründe, warum er meistens abwartete, bis kaum noch jemand da war, bevor er abends nach Hause ging. Das und die Tatsache, dass er kürzlich vierzig geworden war und nichts vorzuweisen hatte außer einem winzigen Häuschen, einer missmutigen Katze, die vermutlich alles und jeden überleben würde, und einem stetig wachsenden Bauchumfang, den sein Arzt mit merkwürdig fröhlicher Miene abgeklopft und gepikt hatte, während er über die Wunder einer Diät schwafelte.
Daher auch der schlaffe Salat aus der Essensausgabe.
Hoch oben an den Wänden hingen grauenhaft fröhliche Schilder mit Sätzen wie: Sie leisten tolle Arbeit und Legen Sie Rechenschaft ab über jede Minute Ihres Tages, denn eine nicht festgehaltene Minute ist eine verschwendete Minute. Wie sehr Linus diese Schilder doch hasste.
Er drückte seine Hände flach auf den Tisch, um sich nicht die Nägel in die Handballen zu rammen. Mr. Tremblay (Reihe L, Tisch 6) schenkte ihm ein finsteres Lächeln. Er war wesentlich jünger als Linus und schien seine Arbeit in vollen Zügen zu genießen. »Jetzt sind Sie dran«, raunte er Linus zu.
Ms. Jenkins baute sich vor seinem Tisch auf und presste die Lippen zusammen. Wie üblich schien sie ihr Make-up in einem dunklen Raum ohne Spiegel aufgetragen zu haben, dafür aber reichlich. Grelles Magenta leuchtete auf ihren Wangen, und ihr Lippenstift sah aus wie Blut. Sie trug einen schwarzen, bis zum Kinn zugeknöpften Hosenanzug. Traumhaft schlank war sie, bestand eigentlich nur aus Knochen mit straff darüber gespannter Haut.
Gunther hingegen wirkte so frisch und fröhlich wie Mr. Tremblay. Angeblich war er der Sohn einer wichtigen Persönlichkeit, vermutlich aus dem Allerhöchsten Management. Linus redete eigentlich nicht viel mit seinen Kollegen, aber diese Gerüchte waren auch bis zu ihm vorgedrungen. Überhaupt hatte er schon früh im Leben herausgefunden, dass die Menschen oft seine Anwesenheit (oder Existenz) vergaßen, wenn er sich still verhielt. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter ihm einmal gesagt, er könne mit der Wandfarbe verschmelzen, die man ja auch nur wahrnahm, wenn man an sie erinnert wurde.
»Mr. Baker«, sagte Ms. Jenkins nun wieder. Eigentlich spuckte sie ihm seinen Namen beinahe entgegen.
Gunther stand neben ihr und grinste auf Linus hinunter. Doch es war kein freundliches Grinsen. Seine Zähne waren makellos weiß und gerade, und er hatte ein Grübchen am Kinn. Gutaussehend, auf eine gruselige Art. Sein Lächeln wäre vielleicht sogar hübsch gewesen, wenn es bis zu seinen Augen vorgedrungen wäre. Aufrichtig fand Linus Gunthers Lächeln allerdings nur, wenn er unangekündigte Kontrollen durchführte und mit seinem langen Bleistift einen Strafpunkt nach dem anderen notierte.
Vielleicht war es das. Vielleicht bekam Linus nun seinen ersten Strafpunkt, was er wie durch ein Wunder hatte vermeiden können, seit Gunther eingestellt worden war und sein Punktesystem etabliert hatte. Ihm war natürlich bewusst, dass sie ständig überwacht wurden. An der Decke hingen große Kameras, die alles aufzeichneten. Wenn jemand bei einem Verstoß erwischt wurde, erwachten die dicken Lautsprecher an den Wänden knisternd zum Leben, und es wurden Strafpunkte ausgerufen für Reihe K, Tisch 2 oder Reihe Z, Tisch 13.
Linus war nie bei schlechtem Zeitmanagement erwischt worden. Dafür war er viel zu clever. Und zu ängstlich.
Vielleicht aber nicht clever und ängstlich genug.
Bestimmt bekam er nun einen Strafpunkt.
Oder vielleicht bekam er auch fünf Strafpunkte, das ergäbe dann einen Eintrag in der Personalakte, der wie ein Schandfleck seine siebzehn Jahre Dienst bei der Behörde überschatten würde. Vielleicht hatten sie den Dressingfleck bemerkt. Hinsichtlich der Berufskleidung galten strenge Vorschriften. Sie waren detailliert aufgelistet auf den Seiten 242-246 der VORGABENUND VERORDNUNGEN, dem Mitarbeiterhandbuch der Behörde für die Betreuung Magischer Minderjähriger. Vielleicht hatte jemand den Fleck gesehen und ihn gemeldet. Das würde Linus kein bisschen überraschen. Und waren andere nicht schon wegen wesentlich geringerer Vergehen gefeuert worden?
Das wusste Linus mit Sicherheit.
»Ms. Jenkins«, begrüßte er sie beinahe flüsternd, »wie schön es doch ist, Sie zu sehen.« Lüge. Es war niemals schön, Ms. Jenkins zu sehen. »Was kann ich für Sie tun?«
Gunthers Grinsen wurde noch breiter. Also vermutlich zehn Strafpunkte. Immerhin war das Dressing orange. Er würde nicht einmal einen Pappkarton brauchen. Ihm gehörte in diesem Raum nichts außer der Kleidung, die er am Körper trug, und dem Mauspad. Es war mit dem verblassten Bild eines weißen Sandstrands bedruckt, dahinter das blaueste Meer der Welt. Und ganz oben stand: Wärst du nicht gerne hier?
Oh ja. Jeden Tag aufs Neue.
Ms. Jenkins hielt es nicht für nötig, Linus’ Begrüßung zu erwidern. »Was haben Sie getan?«, wollte sie von ihm wissen. Ihre Augenbrauen hingen nur knapp unter ihrem Haaransatz, was physisch eigentlich unmöglich sein sollte.
Linus schluckte schwer. »Verzeihung, aber ich fürchte, ich weiß nicht, worauf Sie sich beziehen.«
»Schwer zu glauben.«
»Oh. Äh … Entschuldigung?«
Gunther kritzelte etwas auf sein Klemmbrett. Vermutlich trug er Linus gerade noch einen Strafpunkt ein, wegen der sichtbaren Schweißflecken unter seinen Achseln. Gegen die er im Moment rein gar nichts tun konnte.
Ms. Jenkins schien seine Entschuldigung nicht anzunehmen. »Sie müssen irgendetwas getan haben.« Darauf beharrte sie strikt.
Vielleicht sollte er den Fleck einfach beichten. Das wäre wie wenn man sich ein Pflaster abreißt: besser schnell und in einem Rutsch, als es ewig rauszögern. »Ja. Nun ja, sehen Sie, ich versuche, mich gesünder zu ernähren. Sozusagen eine Diät.«
Ms. Jenkins starrte ihn finster an. »Eine Diät?«
Linus nickte verkrampft. »Auf ärztliche Anweisung.«
»Ein paar Pfund zu viel auf den Rippen, wie?«, fragte Gunther, dem diese Feststellung eine diebische Freude zu bereiten schien.
Linus wurde rot. »Denke schon.«
Gunther grunzte mitfühlend. »Aber besser spät als nie, schätze ich.« Er klopfte sich mit dem Klemmbrett auf den flachen Bauch.
Gunther war einfach widerlich. Auch diesen Gedanken behielt Linus für sich. »Wie schön.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, meckerte Ms. Jenkins. »Was in Dreiteufelsnamen haben Sie getan?«
Besser, er brachte es hinter sich. »Ein Missgeschick. Wirklich ungeschickt. Ich habe versucht, den Salat zu essen, aber dieses Kohlblatt hatte seinen eigenen Kopf und ist mir von …«
»Keine Ahnung, was Sie da faseln«, unterbrach ihn Ms. Jenkins, beugte sich vor und stützte beide Hände auf seinen Schreibtisch. Sie klopfte mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln auf das Holz. Es klang wie klappernde Knochen. »Seien Sie still.«
»Jawohl, Ma’am.«
Sie starrte ihn an.
Sein Magen schien sich zu verknoten.
»Bei mir ging die Anweisung ein«, sagte sie gedehnt, »dass Sie morgen früh zu einem Meeting erscheinen sollen. Mit dem Allerhöchsten Management.«
Damit hatte er nicht gerechnet. So ganz und gar nicht. Genauer gesagt war das, was Bedelia Jenkins gerade gesagt hatte, auf der Liste aller Möglichkeiten der wirklich allerletzte Eintrag gewesen.
Er blinzelte verwirrt. »Wie bitte?«
Sie richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und umfasste ihre Ellbogen. »Ich habe Ihre Berichte gelesen. Sie waren bestenfalls annehmbar. Sie können sich also vorstellen, wie überrascht ich war, als ich ein Memo erhalten habe, in dem nach Linus Baker verlangt wird.«
Plötzlich wurde Linus eiskalt. Während seiner gesamten Laufbahn war er nie zu einem Meeting mit dem Allerhöchsten Management gerufen worden. Und gesehen hatte er die Mitglieder des Allerhöchsten Managements auch nur zu Weihnachten, beim jährlichen Feiertagsmittagessen, wenn das Allerhöchste Management vorne im Büro Aufstellung nahm und angetrockneten Schinken und klumpiges Kartoffelpüree aus Aluschalen verteilte, immer mit dem Hinweis, ihre Untergebenen hätten sich dieses köstliche Mahl durch ihre harte Arbeit redlich verdient. Selbstverständlich musste das feine Mahl dann am Schreibtisch verzehrt werden, weil die viertelstündige Mittagspause mit der Wartezeit in der Schlange verrechnet wurde, aber trotzdem.
Es war September. Bis zu den Weihnachtsfeiertagen dauerte es noch Monate.
Und nun wollten sie ihn laut Ms. Jenkins persönlich sprechen. Ihm war noch nie zu Ohren gekommen, dass so etwas passiert wäre. Und es verhieß mit Sicherheit nichts Gutes.
Ms. Jenkins sah aus, als erwartete sie eine Antwort von ihm. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, entschied er sich für: »Vielleicht ist da ja ein Fehler passiert.«
»Ein Fehler«, wiederholte Ms. Jenkins. »Ein Fehler?«
»Äh … ja?«
»Das Allerhöchste Management macht nie Fehler«, schleimte Gunther.
Ach ja, richtig. »Dann weiß ich auch nicht.«
Ms. Jenkins gefiel diese Antwort nicht. In diesem Moment begriff Linus, dass sie auch nicht mehr wusste als das, was sie ihm gesagt hatte, und aus unerfindlichen Gründen löste diese Vorstellung ein leises, fieses Glücksgefühl in ihm aus. Gut, es ging mit unermesslicher Angst einher, aber es war trotzdem da. Was sagte das wohl über ihn aus? Er wusste es nicht.
»Oh, Linus«, hatte seine Mutter einmal gesagt, »es ist nicht nett, sich am Leid anderer zu ergötzen. Das ist wirklich unschön.«
Linus gestattete sich niemals, sich an etwas zu ergötzen.
»Sie wissen es nicht?« Ms. Jenkins klang, als würde sie zum großen Schlag ausholen. »Vielleicht haben Sie ja eine Beschwerde eingereicht? Vielleicht gefallen Ihnen meine Personalführungstechniken nicht, und Sie dachten, Sie könnten mich einfach übergehen? Ist es das, Mr. Baker?«
»Nein, Ma’am.«
»Also gefallen Ihnen meine Personalführungstechniken?«
Kein bisschen. »Ja.«
Wieder kratzte Gunthers Bleistift über das Klemmbrett.
»Was genau gefällt Ihnen denn an meinen Personalführungstechniken?«, wollte Ms. Jenkins wissen.
Gute Frage. Linus verabscheute es, zu lügen. Selbst von der kleinsten Notlüge bekam er schon Migräne. Und wenn man einmal damit anfing, wurde es immer leichter und leichter, bis man irgendwann Hunderte von Lügen im Kopf behalten musste. Da war es doch wesentlich einfacher, ehrlich zu sein.
Doch es gab Momente, wo es einfach nicht anders ging. So wie jetzt. Und eigentlich musste er ja auch nicht wirklich lügen. Manch eine Wahrheit ließ sich leicht verdrehen und blieb trotzdem noch wahr. »Sie sind von Autorität geprägt.«
Jetzt erreichten ihre Augenbrauen tatsächlich den Haaransatz. »Ja, nicht wahr?«
»Absolut.«
Sie hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Sofort blätterte Gunther in den Unterlagen auf seinem Klemmbrett und reichte ihr ein cremefarbenes Blatt Papier. Sie hielt es zwischen den Fingerspitzen, als befürchtete sie, allein die Berührung des Blattes könnte einen ekligen Ausschlag hervorrufen. »Neun Uhr morgen früh, Mr. Baker. Pünktlich. Gott helfe Ihnen, wenn Sie sich verspäten. Natürlich werden Sie die verlorene Zeit später nacharbeiten. Am Wochenende, falls nötig. Bei Ihnen ist noch mindestens für eine Woche kein Außeneinsatz anberaumt.«
»Selbstverständlich«, sagte Linus schnell.
Wieder beugte sie sich zu ihm hinunter und senkte die Stimme, bis sie nur noch flüsterte. »Und falls ich herausfinden sollte, dass Sie sich über mich beschwert haben, werde ich Ihnen das Leben zur Hölle machen. Haben Sie das verstanden, Mr. Baker?«
Allerdings. »Jawohl, Ma’am.«
Sie ließ das Blatt auf seinen Schreibtisch fallen. Es rutschte bis an die Ecke und wäre fast auf den Boden gesegelt. Aber Linus traute sich nicht, es abzufangen; nicht, solange sie noch so drohend über ihm aufragte.
Schließlich fuhr sie auf dem Absatz herum und rief allen zu, dass sie schleunigst zurück an die Arbeit gehen sollten, falls sie wüssten, was gut für sie sei.
Sofort setzte das Klappern der Tastaturen wieder ein.
Gunther blieb neben dem Schreibtisch stehen und starrte Linus mit unergründlicher Miene an.
Linus rutschte nervös auf seinem Stuhl herum.
»Mir ist vollkommen schleierhaft, warum sie ausgerechnet nach Ihnen verlangen«, stellte Gunther schließlich fest und verzog den Mund wieder zu diesem furchtbaren Grinsen. »Da gäbe es doch sicher … geeignetere Kandidaten. Ach, und Mr. Baker?«
»Ja?«
»Sie haben einen Fleck auf dem Hemd. Das ist inakzeptabel. Ein Strafpunkt. Sorgen Sie dafür, dass es nicht wieder vorkommt.« Damit wandte er sich ab und folgte Ms. Jenkins durch die Reihen.
Linus hielt den Atem an, bis die beiden Reihe B erreicht hatten, dann stieß er ihn explosionsartig aus. Wenn er nach Hause kam, würde er sofort sein Hemd waschen müssen, sonst gingen diese Schweißflecken niemals wieder raus. Ohne genau zu wissen, was er eigentlich empfand, fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Gereizt fühlte er sich, ja. Und vermutlich auch ängstlich.
Am Nebentisch verrenkte sich Mr. Tremblay ganz unverhohlen den Hals, um einen Blick auf das Blatt zu werfen, das Ms. Jenkins zurückgelassen hatte. Schnell nahm Linus es an sich, sorgfältig darauf achtend, es nicht zu zerknittern.
»Das war ja zu erwarten«, stellte Mr. Tremblay viel zu fröhlich fest. »Ich frage mich, wie mein neuer Tischnachbar wohl sein wird …«
Linus ging nicht darauf ein.
Der grüne Schein seines Computermonitors fiel von hinten auf das Blatt und ließ die dick gedruckten Worte noch unheilvoller erscheinen.
Dort stand:
BEHÖRDEFÜRDIEBETREUUNGMAGISCHERMINDERJÄHRIGERMEMORANDUMDESALLERHÖCHSTENMANAGEMENTS
CC: BEDELIAJENKINS
MR. LINUSBAKERHATAMMITTWOCH, DEM 6. SEPTEMBER, UMNEUNUHRMORGENSINDENBÜROSDESALLERHÖCHSTENMANAGEMENTSVORSTELLIGZUWERDEN.
ALLEIN.
Das war alles.
»Oje«, flüsterte Linus.
Als es am Nachmittag fünf schlug, fingen die Leute um Linus herum an, ihre Computer herunterzufahren und ihre Mäntel anzuziehen. Fröhlich plappernd verließen sie das Büro. Nicht einer von ihnen wünschte Linus einen schönen Abend. Wenn überhaupt, warfen sie ihm im Vorbeigehen stechende Blicke zu. Wer zu weit weg gesessen hatte, um zu verstehen, was Ms. Jenkins gesagt hatte, war später am Wasserspender bestimmt flüsternd über die neuesten Spekulationen in Kenntnis gesetzt worden. Sicher waren diese Gerüchte alle haarsträubend und vollkommen haltlos, aber da Linus selbst nicht wusste, warum er vorgeladen worden war, konnte er nichts gegen sie vorbringen.
Er wartete bis halb sechs, bevor er ebenfalls Feierabend machte. Inzwischen war das Großraumbüro so gut wie leer, allerdings brannte in Ms. Jenkins’ Zimmer am anderen Ende des Raumes noch Licht. Linus war sehr dankbar, dass er auf dem Weg nach draußen nicht dort vorbeimusste. Noch eine Begegnung mit ihr würde er heute wohl nicht verkraften.
Sobald sein Monitor dunkel war, stand er auf und nahm seinen Mantel von der Stuhllehne. Er zog ihn an und erinnerte sich stöhnend daran, dass er ja den Regenschirm zu Hause vergessen hatte. Und es klang ganz so, als wäre das Wetter kein bisschen freundlicher geworden. Wenn er sich beeilte, erwischte er vielleicht noch seinen Bus.
Er stieß auf dem Weg nach draußen nur gegen sechs Tische in vier verschiedenen Reihen. Natürlich rückte er alles wieder sorgfältig zurecht.
Heute Abend würde es wieder nur Salat für ihn geben. Ohne Dressing.
Er verpasste den Bus.
Er sah noch die Rücklichter durch den Regen schimmern, als dieser die Straße hinunterrumpelte. Die Werbung am Heck zeigte eine lächelnde Frau und den Slogan Sehen – Merken – Melden! Registrierung hilft uns allen! Selbst im strömenden Regen war er noch deutlich lesbar.
»War ja klar«, murmelte Linus.
Der nächste Bus fuhr in fünfzehn Minuten.
Er hielt sich die Aktentasche über den Kopf und wartete.
Er stieg an der Haltestelle aus, die ein paar Blocks von seinem Haus entfernt war. Natürlich hatte der Bus zehn Minuten Verspätung gehabt.
»Ziemlich nass da draußen«, informierte ihn der Fahrer.
»Gut beobachtet«, erwiderte Linus, als er auf den Bürgersteig trat. »Wirklich. Vielen Dank für …«
Die Türen knallten zu, und der Bus fuhr an. Das rechte Hinterrad rollte durch eine tiefe Pfütze, das Wasser spritzte hoch und durchnässte Linus’ Hose bis hinauf zu den Knien.
Seufzend machte sich Linus auf den Weg nach Hause.
Es war eine ruhige Gegend, deren Straßenlaternen sogar im eisigen Regen einladend schimmerten. Die Häuser hier waren nicht groß, aber die Straße war mit dicht belaubten Bäumen gesäumt, deren Blätter gerade anfingen, die Farbe zu wechseln: Dumpfes Grün wurde zu sogar noch dumpferem Rot und Gold. Vor Lakewood 167 wuchsen bescheiden vor sich hin blühende Rosen. In Lakewood 193 wohnte ein Hund, der jedes Mal aufgeregt winselte, wenn er Linus sah. Und an dem Baum vor Lakewood 207 hing eine Reifenschaukel, obwohl die Kinder, die dort lebten, offenbar der Ansicht waren, sie wären bereits viel zu alt, um sie noch zu benutzen. Linus hatte nie eine Reifenschaukel gehabt. Er hatte immer eine haben wollen, aber seine Mutter war der Meinung gewesen, das wäre viel zu gefährlich.
Er bog rechts ab, in eine kleinere Straße, und dort, auf der linken Seite stand es: Hermes Way 86.
Sein Zuhause.
Es war nicht viel. Ein winziges Häuschen, dessen Gartenzaun dringend erneuert werden musste. Aber es hatte eine hübsche Veranda, auf der man den Tag an sich vorbeiziehen lassen konnte, wenn einem danach war. In einem Beet im Vorgarten ragten große Sonnenblumen auf, die sich immer leicht im Wind wiegten. Jetzt, im Regen, waren ihre Blüten allerdings geschlossen; außerdem dämmerte es bereits. Der Regen hielt nun schon seit mehreren Wochen an: meist als fieser Nieselregen, durchsetzt von gleichförmigen Güssen.
Es war nicht viel. Aber es gehörte Linus ganz allein.
Er blieb am Briefkasten stehen und nahm die Post mit. Offenbar war es ausschließlich Werbung, anonym adressiert an DIE Hausbewohner. Linus konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Brief bekommen hatte.
Er war gerade auf der Veranda angekommen und versuchte vergeblich, die Nässe von seinem Mantel zu klopfen, als vom Nachbarhaus jemand seinen Namen rief. Seufzend fragte er sich, ob er wohl damit durchkommen würde, wenn er sich einfach taub stellte.
»Denken Sie nicht mal daran, Mr. Baker«, folgte es prompt.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mrs. Klapper.«
Edith Klapper, eine Frau unbestimmbaren Alters (obwohl Linus der Meinung war, sie habe alt hinter sich gelassen und sei in das sagenumwobene Gebiet von vorsintflutlich weitergereist), saß wie üblich im Frotteebademantel auf ihrer Veranda und rauchte ihre Pfeife. Der Rauch waberte um ihre bauschig auftoupierten Haare. Gerade hustete sie röchelnd in ein Taschentuch, das vermutlich schon vor gut einer Stunde hätte entsorgt werden müssen. »Ihre Katze war wieder in meinem Garten und hat die Eichhörnchen gejagt. Sie wissen, was ich davon halte.«
»Calliope macht, was sie will«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Ich habe keine Kontrolle darüber.«
»Vielleicht sollten Sie es mal versuchen«, giftete Mrs. Klapper.
»Genau. Ich mache mich sofort dran.«
»Wollen Sie mir etwa frech kommen, Mr. Baker?«
»Würde mir nicht im Traum einfallen.« Wie oft hatte er schon davon geträumt?
»Dachte ich mir. Feierabend für heute?«
»Ja, Mrs. Klapper.«
»Wieder mal kein Date, wie?«
Linus klammerte sich krampfhaft an seiner Aktentasche fest. »Kein Date.«
»Keine kleine Freundin irgendwo?« Sie sog an ihrer Pfeife und stieß den Qualm durch die Nase aus. »Oh, Verzeihung. Muss mir kurz entfallen sein. Sie haben es ja nicht so mit Frauen, richtig?«
Als ob ihr das jemals entfallen würde. »Nein, Mrs. Klapper.«
»Mein Enkel ist Buchhalter. Sehr solide. Größtenteils. Er neigt ein wenig zum ungezügelten Alkoholismus, aber ich würde es mir nie anmaßen, über seine Laster zu urteilen. Buchhaltung ist harte Arbeit. So viele Zahlen. Ich werde ihm sagen, dass er Sie anrufen soll.«
»Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht tun.«
Sie lachte krächzend. »Zu gut für ihn, oder wie?«
Linus war sprachlos. »Ich … ich bin nicht … ich habe keine Zeit für solche Sachen.«
Mrs. Klapper schnaubte höhnisch. »Vielleicht sollten Sie in Erwägung ziehen, sich die Zeit zu nehmen, Mr. Baker. Es ist nicht gesund, in Ihrem Alter noch allein zu sein. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn Sie sich irgendwann das Hirn wegschießen. Die Immobilienpreise im Viertel würden in den Keller gehen.«
»Ich leide nicht unter Depressionen!«
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ach nein? Warum in aller Welt nicht?«
»Gibt es sonst noch etwas, Mrs. Klapper?«, fragte Linus zähneknirschend.
Sie wedelte abfällig mit der Hand. »Schön, dann gehen Sie. Ziehen Sie sich Ihren Pyjama an, legen Sie eine alte Schallplatte auf und tanzen Sie in Ihrem Wohnzimmer herum, wie immer.«
»Ich hatte Sie doch gebeten, mich nicht mehr durchs Fenster zu beobachten!«
»Natürlich haben Sie das.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schob die Pfeife zwischen die Lippen. »Natürlich haben Sie das.«
»Gute Nacht, Mrs. Klapper!« Er schob den Schlüssel ins Schloss und drehte den Knauf.
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er die Haustür hinter sich zu und verriegelte sie.
Calliope, Geschöpf des Bösen, saß mit zuckendem Schwanz auf der Bettkante und starrte ihn mit ihren grünen Augen an. Dann fing sie an zu schnurren. Bei den meisten Katzen war das ein beruhigendes Geräusch; in Calliopes Fall wies es darauf hin, dass sie hinterhältige Pläne für schändliche Taten schmiedete.
»Du sollst nicht in den Nachbargarten gehen«, rügte er sie, während er sein Jackett auszog.
Sie schnurrte unbeeindruckt weiter.
Linus hatte sie vor ungefähr zehn Jahren zufällig gefunden, ein winziges Kätzchen, das unter seiner Veranda hockte und schrie, als stünde sein Schwanz in Flammen. Zum Glück war das nicht der Fall, aber sobald er zu ihr unter die Veranda gekrochen war, fauchte sie ihn an, ihr schwarzes Fell sträubte sich, und sie machte einen Buckel. Da er nicht abwarten wollte, bis sein Gesicht mit Katzenkratzfieber infiziert wurde, war er hastig zurückgekrochen und ins Haus verschwunden. Wenn er sie nur lange genug ignorierte, würde sie schon irgendwann weiterziehen.
Was sie nicht getan hatte.
Stattdessen hatte sie fast die ganze Nacht gejault. Er hatte versucht zu schlafen. Sie war zu laut. Er schob sich das Kissen über den Kopf. Half nicht. Schließlich holte er eine Taschenlampe und einen Besen, mit dem er die Katze so lange zu piken gedachte, bis sie verschwand. Sie erwartete ihn auf der Veranda, direkt vor der Haustür. Er war so überrascht, dass er den Besen fallen ließ.
Sie spazierte ins Haus, als wäre es ihr höchsteigenes Heim.
Und sie blieb, egal wie viele Drohungen Linus ausstieß.
Sechs Monate später gab er es auf. Zu diesem Zeitpunkt waren im Haus bereits Spielzeuge, ein Katzenklo und mehrere Näpfe mit dem Namenszug Calliope aufgetaucht. Er war sich nicht ganz sicher, wie das passiert war, aber so war es nun einmal.
»Eines Tages wird Mrs. Klapper dich erwischen«, prophezeite er der Katze nun, als er seine nasse Kleidung ablegte. »Und dann werde ich nicht da sein, um dich zu retten. Du wirst dir ein Eichhörnchen einverleiben, und sie wird … Okay, ich weiß nicht, was sie tun wird. Aber irgendetwas wird sie tun. Und ich werde kein bisschen traurig sein.«
Calliope blinzelte träge.
Er seufzte. »Na schön. Ein bisschen traurig vielleicht.«
Linus zog seinen Pyjama an und knöpfte das Oberteil zu. Auf der Brust war sein Monogramm eingestickt,LB. Ein Geschenk der Behörde zum fünfzehnjährigen Dienstjubiläum. Er hatte ihn sich an seinem Jahrestag aus einem Katalog aussuchen dürfen. Einem Katalog mit zwei Seiten: Auf der einen Seite stand der Pyjama zur Auswahl, auf der anderen ein Kerzenständer.
Er hatte sich für den Pyjama entschieden, denn er hatte schon immer etwas mit Monogramm besitzen wollen.
Nun nahm er die nassen Sachen und verließ das Schlafzimmer. Das dumpfe Poltern hinter ihm zeigte, dass er verfolgt wurde.
Er stopfte die nasse Arbeitskleidung in die Waschmaschine und ließ sie durchlaufen, während er sein Abendessen vorbereitete.
»Ich brauche keinen Buchhalter«, erklärte er Calliope, die ihm inzwischen um die Beine strich. »Mich beschäftigen ganz andere Dinge. Der morgige Tag zum Beispiel. Warum muss ich mir eigentlich ständig über den nächsten Tag den Kopf zerbrechen?«
Beinahe schon instinktiv ging er zu seiner alten Victrola hinüber. Nachdem er die ordentlich aufgereihten Alben in der Schublade unter dem Plattenspieler eine Weile hin und her geschoben hatte, fand er schließlich, was er suchte. Er ließ die Schallplatte aus ihrer Hülle gleiten, legte sie auf den Teller und setzte die Nadel auf.
Wenig später verkündeten die Everly Brothers singend, dass sie einfach nur träumen müssten.
Im Wiegeschritt ging Linus in die Küche zurück.
Trockenfutter für Calliope.
Salat aus der Tüte für Linus.
Er schummelte, aber nur ein kleines bisschen.
Ein Tröpfchen Dressing hat noch niemandem geschadet.
Leise sang er zur Musik: »Whenever I want you, all I have to do is dream.«
Würde man Linus Baker fragen, ob er einsam sei, hätte das wohl zunächst nur einen erstaunten Blick zur Folge. Dieser Gedanke war ihm völlig fremd, ja, er fand ihn beinahe schockierend. Und auch wenn er schon von der kleinsten Lüge Kopfschmerzen und Magengrummeln bekam, würde er vermutlich mit Nein antworten – obwohl er tatsächlich einsam war. Sehr einsam.
Und ein Teil von ihm würde es vermutlich sogar glauben. Denn er hatte schon vor langer Zeit akzeptiert, dass manche Menschen – egal wie großherzig sie waren, egal wie viel Liebe sie zu geben hatten – eben einfach allein blieben. So war ihr Platz im Leben definiert, und Linus hatte im Alter von siebenundzwanzig Jahren herausgefunden, dass er wohl zu diesen Menschen gehörte.
Wobei kein spezielles Ereignis diese Gedanken ausgelöst hatte. Nein, er fühlte sich einfach … fader als andere. Als wäre er von einer kristallklaren Welt umgeben, in der er selbst trübe und blass blieb. Als wäre er nicht dazu bestimmt, von anderen gesehen zu werden.
Damals hatte er das für sich akzeptiert, und nun war er vierzig, litt unter hohem Blutdruck und hatte einen Rettungsring an den Hüften. Sicher, manchmal betrachtete er sich im Spiegel und fragte sich, ob er vielleicht etwas sah, was andere nicht sahen. Blasse Haut hatte er. Seine dunklen Haare waren kurz, stets ordentlich, allerdings schienen sie oben am Hinterkopf etwas dünner zu werden. An Mund und Augen zeigten sich Fältchen. Runde Wangen. Der Rettungsring an den Hüften hätte von der Dicke her einem Motorroller als Reifen dienen können, doch wenn er nicht aufpasste, würde er irgendwann auf einen LKW passen. Er sah aus wie … na ja.
Er sah aus wie fast jeder, der die vierzig erreicht hatte.
Während er nun in seiner winzigen Küche in seinem winzigen Haus saß, seinen Salat mit ein oder zwei Tröpfchen Dressing aß, den Everly Brothers dabei zuhörte, wie sie Little Susie darum baten, endlich aufzuwachen (»Wake up, Little Susie, wake up!«), und sich den Kopf darüber zerbrach, was ihn am nächsten Tag beim Allerhöchsten Management erwarten könnte, wäre Linus Baker niemals auf den Gedanken gekommen, dass er einsam sein könnte.
Immerhin gab es Leute, die noch viel weniger hatten als er. Er hatte ein Dach über dem Kopf, Hasenfutter im Magen und einen Pyjama mit Monogramm.
Außerdem tat das nichts zur Sache.
Er hatte keine Zeit, in aller Stille herumzusitzen und solch albernen Gedanken nachzuhängen. Manchmal war die Stille auch dröhnend laut. Nein, das ging einfach gar nicht.
Anstatt seine Gedanken also herumstreifen zu lassen, griff er zu seiner privaten Ausgabe der VORGABEN UND VERORDNUNGEN (die kompletten 947 Seiten, für knapp zweihundert Dollar erworben; im Büro hatte er zwar ein Exemplar, aber irgendwie war es ihm richtig erschienen, auch eines für zu Hause anzuschaffen), und beugte sich über die in winziger Schrift gedruckten Zeilen. Was auch immer der nächste Tag ihm bringen würde, es war auf jeden Fall gut, sich vorzubereiten.
Am nächsten Morgen war er fast zwei Stunden früher im Büro als sonst. Außer ihm war niemand da; wahrscheinlich lagen sie alle noch sorglos in ihren Betten.
Er ging zu seinem Tisch, setzte sich hin und schaltete den Computer ein. Doch auch das vertraute grüne Glimmen konnte ihn nicht trösten.
Angestrengt versuchte er, so viel Arbeit wie möglich zu erledigen, hatte dabei aber die ganze Zeit das Ticken der Uhr oben an der Wand im Ohr.
Um Viertel vor acht füllte sich das Büro langsam. Ms. Jenkins erschien um Punkt acht Uhr, erkennbar durch das laute Klappern ihrer Absätze. Linus kauerte sich auf seinem Platz zusammen, spürte aber ihren stechenden Blick auf sich.
Er versuchte zu arbeiten. Er versuchte es wirklich. Doch die grünen Buchstaben auf dem Monitor verschwammen vor seinen Augen. Nicht einmal die VORGABEN UND VERORDNUNGENkonnten ihn beruhigen.
Um genau 8:45 Uhr erhob er sich von seinem Platz.
An den Tischen ringsum drehte man sich um und starrte ihn an.
Ohne diese Blicke zu beachten, schluckte Linus noch einmal, nahm seine Aktentasche und ging durch die Reihen.
»Verzeihung«, murmelte er jedes Mal, wenn er gegen einen Tisch stieß. »Tut mir leid. Entschuldigung. Liegt das an mir, oder rücken die Tische wirklich immer enger zusammen? Verzeihung. Tut mir leid.«
Ms. Jenkins stand in ihrer offenen Bürotür, als er das Großraumbüro verließ. Neben ihr kritzelte Gunther mit seinem langen Bleistift auf seinem Klemmbrett herum.
Die Büros des Allerhöchsten Managements befanden sich im fünften Stock des Dienstgebäudes der Behörde für die Betreuung magischer Minderjähriger. Über diese fünfte Etage kursierten diverse Gerüchte, von denen die meisten höchst beunruhigend waren. Linus war noch nie dort gewesen, ging aber davon aus, dass zumindest ein Teil der Geschichten wahr sein musste.
Er war allein im Fahrstuhl, als er den Knopf drückte, von dem er nie geglaubt hätte, dass er ihn einmal berühren würde.
Die funkelnde, goldene Fünf.
Der Aufzug setzte sich in Bewegung, nur Linus’ Magen schien unten im Keller zu bleiben. Es war die längste Fahrstuhlfahrt, die er je gemacht hatte; beinahe zwei Minuten dauerte sie. Dass die Kabine im Erdgeschoss hielt und sich mit Menschen füllte, war nicht gerade hilfreich. Man wollte in den zweiten, dritten oder vierten Stock, aber niemand in den fünften.
In der zweiten Etage stieg eine Handvoll Menschen aus. In der dritten sogar noch mehr. Und der Rest von ihnen fuhr bis in den vierten Stock. Als die Letzten ausstiegen, warfen sie Linus neugierige Blicke zu. Er versuchte zu lächeln, was aber eher zu einer Fratze wurde.
Als der Fahrstuhl weiter in die Höhe glitt, war er wieder allein.
Bis sich die Türen der Kabine im fünften Stock erneut öffneten, stand ihm der Schweiß auf der Stirn.
Dass sich hinter den Türen ein langer, kalter Flur mit Steinboden und goldenen, trüben Wandleuchten auftat, war ihm auch keine Hilfe. Die Fahrstühle bildeten das eine Ende des Korridors. Am anderen Ende befand sich eine große Doppeltür aus Holz neben einer blickdichten Glaswand. Über der Tür hing ein Metallschild:
ALLERHÖCHSTES MANAGEMENTZUTRITT NUR MIT TERMIN
»Okay, alter Junge«, flüsterte Linus. »Du schaffst das.«
Eine Botschaft, die seine Füße allerdings nicht erreichte, denn die wollten sich einfach nicht vom Boden lösen.
Die Kabinentür glitt wieder zu. Linus ließ es geschehen. Doch der Fahrstuhl rührte sich nicht.
In diesem Moment sah Linus deutlich vor sich, wie er hinunterfuhr ins Erdgeschoss, das BBMM-Gebäude verließ und einfach immer weiterlief, bis er nicht mehr konnte, nur um zu sehen, wohin ihn der Weg führte.
Das klang gut.
Stattdessen drückte er noch einmal auf die Fünf.
Die Kabinentüren öffneten sich.
Er räusperte sich. Das Geräusch hallte den Flur entlang.
»Nicht der richtige Moment für Feigheit«, rügte er sich leise. »Kopf hoch. Wer weiß, vielleicht geht es ja um eine Beförderung. Eine große Beförderung. Eine mit mehr Gehalt, dann könntest du endlich diese Reise machen, von der du schon immer geträumt hast. Der Strand. Das blaue Meer. Wärst du nicht gerne dort?«
Doch, wäre er. Unheimlich gerne sogar.
Langsam trat Linus in den Flur hinaus. Links von ihm schlug der Regen gegen die Fensterscheiben. Die Lampe in der Wandhalterung zu seiner Rechten flackerte. Seine Sohlen quietschten auf den Steinfliesen. Er zog seine Krawatte zurecht.
Es dauerte vier Minuten, bis er das andere Ende des Flurs erreichte. Laut seiner Uhr war es fünf Minuten vor neun.
Er versuchte, die Tür zu öffnen.
Abgeschlossen.
Neben der Doppeltür gab es ein Fenster, dessen Innenseite durch ein Metallgitter versperrt war. Daneben befand sich eine Metallplatte mit einem kleinen Knopf.
Linus rang kurz mit sich, dann drückte er den Knopf. Hinter dem Metallgitter ertönte ein lauter Summer. Linus wartete.
Er sah sein Spiegelbild im Fenster. Es zeigte einen Mann mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen. Schnell strich er noch einmal über seine Haare, die an einer Seite immer widerspenstig in die Höhe ragten. Half nicht viel. Wieder rückte er seine Krawatte zurecht, nahm die Schultern zurück, zog den Bauch ein.
Das Metallgitter hinter dem Fenster wurde hochgeschoben.
Zum Vorschein kam eine gelangweilt wirkende junge Frau, die hinter ihren grellroten Lippen einen Kaugummi schnalzen ließ. Anschließend erschien eine pinke Blase, die sie platzen ließ, bevor sie den Kaugummi wieder einsog. Als sie fragend den Kopf neigte, hüpften ihre blonden Locken. »Kann ich helfen?«, fragte sie.
Linus versuchte zu sprechen, doch es kam nichts raus. Nachdem er sich geräuspert hatte, nahm er einen neuen Anlauf: »Ja. Ich habe um neun Uhr einen Termin.«
»Bei wem?«
Eine interessante Frage, deren Antwort er selbst nicht kannte.
»Ich … weiß nicht genau.«
Ms. Kaugummiblase starrte ihn an. »Sie haben einen Termin, aber Sie wissen nicht, bei wem?«
Ja, das klang ungefähr richtig. »Äh … ja?«
»Name?«
»Linus Baker.«
»Wie putzig.« Ihre perfekt manikürten Finger huschten über eine Tastatur. »Linus Baker. Linus Baker. Linus Baker. Linus …« Sie riss erstaunt die Augen auf. »Oh, verstehe. Einen Moment, bitte.« Mit einem Knall glitt das Metallgitter wieder hinunter. Linus blinzelte verwirrt. Was sollte er jetzt tun? Er wartete.
Eine Minute verging.
Dann noch eine.
Dann noch eine.
Dann …
Das Metallgitter wurde wieder hochgeschoben. Ms. Kaugummiblase schien nun wesentlich interessierter zu sein als vorher. Sie lehnte sich vor, bis ihr Gesicht beinahe die Scheibe berührte. Bei jedem ihrer Atemzüge beschlug das Glas. »Sie werden erwartet.«
Linus wich einen Schritt zurück. »Und von wem?«
»Von allen«, erklärte sie, während sie ihn eingehend musterte. »Vom gesamten Allerhöchsten Management.«
»Oh«, sagte Linus betroffen. »Wie nett. Und sind wir uns auch ganz sicher, dass sie mich sprechen wollen?«
»Sie sind doch Linus Baker, oder nicht?«
Das konnte er nur hoffen, denn er wusste nicht, wie er jemand anders sein sollte. »Das bin ich.«
Es summte wieder, und an der Tür neben Linus klickte es. Lautlos schwangen die Türflügel auf. »Dann ja, Mr. Baker«, bestätigte sie, eine Wange vom Kaugummi ausgebeult. »Dann wollen sie mit Ihnen sprechen. Und ich würde mich an Ihrer Stelle beeilen. Das Allerhöchste Management wartet nicht gerne.«
»Sehr richtig«, nickte Linus. »Wie sehe ich aus?« Er zog den Bauch noch etwas weiter ein.
»Als hätten Sie keine Ahnung, was Sie tun«, antwortete sie noch, dann rasselte das Metallgitter wieder herab.
Sehnsüchtig blickte Linus zu den Fahrstühlen am anderen Ende des Korridors zurück.
Wärst du nicht gerne hier?, fragten sie ihn.
Oh doch. Sehr gerne sogar.
Er tat von dem Fenster zurück und näherte sich der offenen Tür.
Dahinter lag ein runder Raum mit einer gläsernen Rotunde. In seiner Mitte stand ein Springbrunnen mit einem steinernen Mann in einem Mantel. Das Wasser sprudelte in einem endlosen Strom aus seinen ausgestreckten Händen hervor. Die kalten grauen Augen waren zur Decke gerichtet. Und um ihn herum, sich fest an seine Beine klammernd, standen lauter kleine Steinkinder, denen das Wasser auf die Köpfe plätscherte.
Rechts von Linus öffnete sich eine Tür. Ms. Kaugummiblase kam aus ihrem Kabuff. Sie strich ihr Kleid glatt und schnalzte laut mit ihrem Kaugummi. »Durch die Scheibe haben Sie aber größer ausgesehen«, stellte sie fest.
Da Linus nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, sagte er vorsichtshalber gar nichts.
Sie seufzte gequält. »Bitte folgen Sie mir.« Mit kleinen, schnellen Schritten, die an einen Vogel erinnerten, ging sie davon. Erst nachdem sie den Raum schon halb durchquert hatte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Das war kein nett gemeinter Vorschlag.«
»Ach ja.« Linus hatte es so eilig, ihr zu folgen, dass er beinahe über seine eigenen Füße stolperte. »Verzeihung. Ich … ich war nur noch nie hier.«
»Offensichtlich nicht.«
Eine leise Ahnung sagte ihm, dass er gerade beleidigt worden war, aber er begriff nicht ganz, wie genau. »Sind sie … Wirklich alle?«
»Seltsam, nicht wahr?« Sie machte eine frische Blase und ließ sie fröhlich platzen. »Und ausgerechnet bei Ihnen. Ich wusste bis gerade eben nicht einmal, dass Sie überhaupt existieren.«
»Das höre ich oft.«
»Kann ich mir kaum vorstellen.«
Ja, das war eindeutig eine Beleidigung. »Wie sind sie denn so? Ich habe sie bisher nur zu Gesicht gekriegt, wenn sie mir klumpigen Kartoffelbrei serviert haben.«
Ms. Kaugummiblase blieb abrupt stehen und warf einen Blick über die Schulter. Linus vermutete, dass sie ihren Kopf wohl auch ganz herumdrehen konnte, wenn sie das nur wollte. »Klumpigen Kartoffelbrei?«
»Beim Weihnachtsmittagessen?«
»Ich mache diesen Kartoffelbrei. Und zwar von Hand.«
Linus wurde blass. »Na ja, ich … das ist ja auch Geschmackssache … Sicher sind Sie …«
Ms. Kaugummiblase räusperte sich zornig und ging weiter.
Kein guter Start.
Auf der anderen Seite der Rotunde blieben sie vor einer schwarzen Tür stehen. Ziemlich weit oben war ein goldenes Namensschild angebracht. Das Schild war leer. Ms. Kaugummiblase hob die Hand und tippte dreimal mit dem Fingernagel gegen die Tür.
Ein Schlag, noch einer, dann …
… glitt die Tür langsam auf.
Drinnen war es dunkel.
Stockdunkel.
Ms. Kaugummiblase trat beiseite und sah Linus auffordernd an. »Nach Ihnen.«
Unsicher spähte er in die Dunkelheit. »Hmm, na ja, vielleicht könnten wir einen neuen Termin vereinbaren. Sie wissen ja sicher, wie beschäftigt ich bin. Ich muss noch eine Menge Berichte fertigstellen …«
»Treten Sie ein, Mr. Baker«, hallte eine tiefe Stimme durch die offene Tür.
Ms. Kaugummiblase grinste.
Linus wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dabei hätte er beinahe seine Aktentasche fallen gelassen. »Dann sollte ich wohl besser eintreten.«
»Sieht ganz so aus«, fand auch Ms. Kaugummiblase.
Also tat er das.
Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, dass die Tür mit einem Knall hinter ihm zufallen würde, trotzdem erschreckte er sich fast zu Tode. Schützend drückte er seine Aktentasche an die Brust. In der Dunkelheit war es schwer, sich zu orientieren, außerdem war er sicher, gerade in eine Falle getappt zu sein. Bestimmt würde er nun den Rest seines Lebens blind umherirren. Das wäre beinahe so schlimm, wie gefeuert zu werden.
Aber dann flammten vor seinen Füßen Lichter auf und schufen einen hellen Pfad. Sanft und gelblich schimmerten sie, wie ein goldener Ziegelweg. Vorsichtig löste sich Linus von der Tür. Als beim ersten Schritt nichts passierte, wagte er einen zweiten.
Der Pfad aus Lichtern war länger, als er erwartet hatte, und schließlich verbreiterte er sich vor seinen Füßen zu einem Kreis. Da er nicht wusste, wo er sich hinstellen sollte, blieb er erst einmal stehen. Hoffentlich musste er gleich nicht vor etwas Schrecklichem weglaufen.
Nun sprang über ihm noch ein Licht an, ein wesentlich grelleres. Blinzelnd schaute Linus nach oben. Es sah aus, als wäre ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet.
»Sie dürfen Ihre Aktentasche abstellen«, verkündete eine tiefe Stimme irgendwo über ihm.
»Ach, das geht auch so«, versicherte Linus und klammerte sich noch fester an die Tasche.
Und dann gingen über ihm noch mehr Lampen an, so plötzlich, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Sie ließen vier Gesichter erscheinen, die Linus als die des Allerhöchsten Managements wiedererkannte. Weit über Linus’ Kopf saßen sie und blickten über eine hohe Steinwand zu ihm hinunter. In ihren Mienen spiegelte sich Interesse in verschiedensten Abstufungen.
Drei Männer und eine Frau waren es, und obwohl Linus schon in seinen frühen Jahren bei der BBMM ihre Namen auswendig gelernt hatte, konnte er sich jetzt an keinen einzigen mehr erinnern. Sein Gehirn war zu der Erkenntnis gelangt, dass momentan eine technische Störung vorlag, und strahlte nur noch ein verpixeltes Testbild aus.
Von links nach rechts nickte er jedem der Gesichter einmal zu, wobei er krampfhaft versuchte, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen.
Die Frau trug ihr Haar in einem kurzen Bob und hatte eine Brosche in Form eines großen Käfers angesteckt, dessen Panzer bunt schillerte.
Einer der Männer hatte eine Glatze und Hängebacken. Er hielt sich schniefend ein Taschentuch an die Nase, und als er sich räusperte, klang es nach einer ziemlichen Menge Schleim.
Der zweite Mann war dürr wie ein Zaunpfahl. Wenn er sich zur Seite drehte, war er wahrscheinlich unsichtbar. Auf seiner Nase saß eine Brille mit halbmondförmigen Gläsern, die viel zu groß war für sein Gesicht.
Der letzte Mann war jünger als die anderen, wohl ungefähr in Linus’ Alter, auch wenn sich das schwer sagen ließ. Sein Haar war leicht gewellt, und er war so attraktiv, dass es beinahe einschüchternd wirkte. Linus erkannte ihn sofort: Er teilte immer den trockenen Schinken aus, gewürzt mit einem Lächeln.
Und nun war er der Erste, der das Wort ergriff: »Vielen Dank, dass Sie zu diesem Meeting erschienen sind, Mr. Baker.«
Linus’ Mund war ganz trocken. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Äh … gern geschehen?«