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Der falsche Schein einer dörflichen Idylle: Der abgründige Roman »Die unerwünschte Fremde« von Jutta Mülich jetzt als eBook bei dotbooks. Auf der Suche nach einer lange verschollenen Verwandten verschlägt es die junge Alice Goldberg in ein kleines Dort an der Nordseeküste – doch der strahlend blaue Himmel, die friedliche Landschaft und die tiefe Mittagsstille sind trügerisch: Hier scheinen sich hinter jedem freundlichen Lächeln, hinter jedem gepflegten Garten Fremdenfeindlichkeit und dunkle Geheimnisse zu verbergen. Was mit misstrauischen Blicken, gemurmelten Verdächtigungen und ersten Einschüchterungsversuchen beginnt, wird für Alice bald zur echten Gefahr. Vielleicht wäre es besser, sie würde das Dorf so schnell wie möglich verlassen? Aber vielleicht ist es dafür längst zu spät … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologisch fesselnde Roman »Die unerwünschte Fremde« von Jutta Mülich wird Fans von Juli Zehs »Über Menschen« und Dörte Hansens »Mittagsstunde« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 549
Über dieses Buch:
Auf der Suche nach einer lange verschollenen Verwandten verschlägt es die junge Alice Goldberg in ein kleines Dort an der Nordseeküste – doch der strahlend blaue Himmel, die friedliche Landschaft und die tiefe Mittagsstille sind trügerisch: Hier scheinen sich hinter jedem freundlichen Lächeln, hinter jedem gepflegten Garten Fremdenfeindlichkeit und dunkle Geheimnisse zu verbergen. Was mit misstrauischen Blicken, gemurmelten Verdächtigungen und ersten Einschüchterungsversuchen beginnt, wird für Alice bald zur echten Gefahr. Vielleicht wäre es besser, sie würde das Dorf so schnell wie möglich verlassen? Aber vielleicht ist es dafür längst zu spät …
Über die Autorin:
Jutta Mülich (1953–2011) hatte zeit ihres Lebens drei große Leidenschaften: die Musik, das Schreiben und die Liebe zu ihrer Familie, ihren beiden Kindern und ihrem Ehemann. Sie arbeitete als Erzieherin in Kindergärten, als Studienrätin mit den Fächern Musik und Deutsch, sang in Chören, musizierte im Familienkreis und trat als Sängerin auf, schrieb Musicals für die Schule, aber auch ein Opernlibretto für den Komponisten Jens Peter Ostendorf. Als Schriftstellerin veröffentlichte sie zahlreiche Erzählungen, Kurzgeschichten und Romane. So hätte es weitergehen können. Es gab noch so viel, aber es kam anders.
Jutta Mülich veröffentlichte bei dotbooks bereits »Liebe kommt ganz unverhofft« und »Jeden Mittwoch um halb sieben«.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2022
Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel »Alice oder Die Sintflut« beim Donat Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Donat Verlag
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/schankz, Masterclass_Photographer und AdobeStock/Oliver Stockphoto
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-213-1
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Jutta Mülich
Die unerwünschte Fremde
Ein Dorfroman
dotbooks.
Alice Goldberg
Alexander Goldberg, deren Vater
Isolde Lümbach, Alice’ Großmutter, verstorben
Leonore Schierling geborene Lümbach
Heinrich Schierling, Leonores Ehemann, verstorben
Dr. Jakob Fuchs, Apotheker
Fanny Lang, Wirtin der »Gartenlaube«
Dorchen Schlüter, Haushälterin der Schierlings
Krakow, Heinrichs Faktotum
Mathilde und Werner Bull, Fannys Nachbarn
Tatjana Bull, deren Tochter
Heinz Bull, deren Sohn
Sevim und Gunnar, Bio-Bauern
Ingrid, deren Schwiegermutter
Dr. Edith Schmitz, Landärztin
Carl Renken, deren Lebensgefährte
Dr. Weiß, Psychotherapeutin
Maren, Dorchen Schlüters Nichte
Frau Kück, angestellte Apothekerin
Für Walter, Anna und Lukas Mülich
Alle Personen des Romans wie auch das erwähnte Dorf sind frei erfunden. Wer sich dennoch in Heinrich Schierling oder Krakow, in den Bulls oder in der schweigenden Bevölkerung wiederzuerkennen glaubt, wird hoffentlich vor sich selbst erschrecken.
Durch ihre geschlossenen Lider dringt Licht, ungewohnt nach endlosen Stunden der Finsternis, ungewohnt auch die Vorwärtsbewegung nach so vielen Tagen der Starre. Der Krankenwagen wird langsamer und biegt offenbar in die Hauptstraße ein. Erneut gibt der Fahrer Gas. Ununterbrochen geht es jetzt voran, sanft, nahezu schwebend, immer weiter. Das gleichmäßige Summen dauert an. Wenn es gestört würde, könnte sie vielleicht wach bleiben, möglicherweise sogar die Augen öffnen, aber es summt und summt. Nur einen Moment noch verweigert sie sich dem verlockenden Sog in den Schlaf…
Ein altes, faltiges Gesicht, der Blick traurig und voller Lebensangst. – Sterbensangst? Sie erschrickt. Entfernt ähneln die Augen des Greises denen ihres Vaters. »Liebes Fräulein, lassen Sie es gut sein. Machen Sie sich nicht unglücklich … nicht unglücklich!« Plötzlich ist der alte Herr verschwunden, und es wird laut. Schwere Stiefel kicken gegen leere Dosen. Mit solchen Stiefeln wird in Gesichter getreten, sie hat es gesehen. Aber niemand kümmert sich darum, weder um die Stiefel mit den weißen Schnürbändern noch um das unisone Gebrüll aus weit aufgerissenen Mündern. Alle essen, trinken, lachen, und sie reden, als verstünden sie einander selbst im Höllenlärm ihrer Untergangsgesänge. Es ist so beängstigend gemütlich. Was feiern sie nur? Eine Totenfeier?
Sie läuft davon, schneller und schneller, ringt nach Luft; ihr Herz rast. Wenn der Wagen sie einholt, ist sie verloren! Einsam steht sie zwischen verkohlten Mauern, aus denen der Gestank verbrannten Fleisches aufsteigt. Flammen schlagen aus zerspringenden Fenstern. Jakob ist dort drinnen. Sie ruft, brüllt seinen Namen; niemand hört sie. Endlich ist er neben ihr, legt seinen Arm um ihre Schultern. Sehnsüchtig neigt sie ihm das Gesicht zum Kuss entgegen. – Und schreit, schreit laut und schrill, weil auch er brennt.
»Jakob!«
Ihr Atem geht heftig, als sie erwacht. Der Notarzt macht sich an ihrer Hand zu schaffen; sie blinzelt, bemerkt die Spritze. »Ruhig, Alice, du hast nur geträumt, alles ist gut!«, sagt Alexander, und die Hand ihres Vaters streichelt sanft ihre Wange.
Sie schließt die Augen, atmet gleichmäßig.
Ja, alles ist gut, das Dorf friedlich, eine Idylle! Wer achtet auf die Brandstifter?
Das vertraute Duftgemisch aus Möbelpolitur, Essigreiniger und Parfüm hing noch in der Luft und erinnerte an die Bewohnerin der mit schweren Teppichen und elegantem Stilmobiliar ausgestatteten Wohnung. Alice Goldberg saß ihrem Vater gegenüber an dem von einer winterlich schwachen Mittagssonne beschienenen Esstisch ihrer verstorbenen Großmutter und durchblätterte einen Aktenordner, wobei sie hin und wieder mit geübter Geste ihr langes strohblondes Haar über die Schultern zurückwarf. Nur leises Papierrascheln und das hastige Ticken einer kostbaren Porzellanuhr, die zu berühren Alice in ihren Kinderjahren aufs Strengste untersagt worden war, durchbrachen die Stille. Sie blickte auf, reckte sich und beobachtete lächelnd, dass nicht nur die matt schimmernde Mahagoniplatte, sondern auch Alexanders immer ein wenig gebräunte Stirn, dort, wo die noch weitgehend dunklen Haare bereits einer beginnenden Glatze wichen, das Sonnenlicht reflektierte. Seiner beträchtlichen Körpergröße wegen musste er sich tief über den Tisch beugen, um bei der Lektüre den Kopf bequem in einer Hand aufstützen zu können. Mit der anderen jonglierte er seine Brille, die ihm beim Lesen eher hinderlich war. Seine schön geformten Hände ließen durchaus an einen Geigenvirtuosen denken, was angesichts der Profession seiner Mutter, die Violine unterrichtet hatte, gar nicht einmal so abwegig wäre. Alexander jedoch spielte kein Instrument. Er hatte es stattdessen in der Finanzwelt zu beachtlicher Meisterschaft gebracht.
Alice schüttelte erneut ihr Haar zurück und kramte aus dem an der Stuhllehne baumelnden Lederrucksack ein Kaugummi hervor, das sie aus seiner Verpackung schälte und genüsslich zwischen ihre Lippen schob. In wenigen Tagen, wenn Isoldes Nachlass geordnet war, würde sie endlich in den Skiurlaub starten. Befreit von allen Zwängen, vom Studium, dem Prüfungsdruck und nicht zuletzt von ihrer Beziehung, deren unumgängliches Ende sich so quälend in die Länge gezogen hatte.
Kauend wandte sie sich Isoldes nächstem Aktenordner zu, schlug ihn gelangweilt auf und verharrte überrascht, wobei sie einer alten Gewohnheit nachkam, die man ihr schon als Kind erfolglos auszutreiben versucht hatte und der sie auch im Alter von fünfundzwanzig Jahren noch verfiel. Laut zerknallte eine riesige Kaugummiblase. Alexander fuhr erschrocken auf.
»Leonore Schierling, geborene Lümbach! – Wer mag das sein?«, rief Alice, bevor noch ein Tadel über Alexanders Lippen kommen konnte. Er starrte sie verständnislos an. Sie wiederholte den Namen, entnahm dem Ordner das Schriftstück und schubste es schwungvoll zum anderen Ende des Tisches hinüber. Kopfschüttelnd überflog er die Zeilen und las sie ein zweites Mal: »… wird zu gegebener Zeit Herrn Heinrich Schierling zugestellt. Das von Ihnen zu einem früheren Zeitpunkt hinterlegte Schreiben an Frau Leonore Schierling, geborene Lümbach, händigen wir Ihnen hiermit auftragsgemäß aus.« Alexander blickte ratlos auf den Briefbogen und murmelte: »Geborene Lümbach? Eigenartig, Isolde erwähnte sie nie.«
»Derselbe Geburtsname – das kann doch kein Zufall sein«, sagte Alice und ließ unter Alexanders missbilligendem Blick eine weitere Kaugummiblase leise im Mund verschwinden. »Sie behauptete doch immer, sie habe keine Verwandtschaft mehr.«
Alexander trat hinter ihren Stuhl, und gemeinsam prüften sie alle weiteren Unterlagen, doch weder tauchte das vom Notar erwähnte Schreiben auf noch wurde der Name Lümbach in anderem Zusammenhang ein weiteres Mal erwähnt.
»Vielleicht ist diese Leonore Schierling längst tot«, sagte Alice enttäuscht.
»Das ist eher unwahrscheinlich«, widersprach Alexander, »sieh dir das Datum an, der Brief ist kein halbes Jahr alt!«
»Aber warum hat Isolde uns belogen?« »Frau Schierling ist nicht da!«, gab eine Frau mit norddeutschem Akzent mürrisch Auskunft, als Alice sich telefonisch nach ihrer möglichen Verwandten erkundigte. Auf ihre Frage, wann die Dame des Hauses denn zu erreichen sei, folgte längeres Schweigen und, wenn Alice sich nicht sehr täuschte, unterdrücktes Schluchzen.
»Mit wem spreche ich, bitte?«
»Schlüter!«, tönte es akzentuiert aus dem Hörer. Alice’ Gesprächspartnerin setzte offenbar voraus, dass jedermann ihre Funktion im Hause Schierling kenne.
»Darf ich später noch einmal anrufen, Frau Schlüter?«
»Jo, nützt aber nichts. Frau Schierling liegt im Krankenhaus, hatte einen Unfall.«
»Oh, das tut mir leid!«
Wieder Pause am anderen Ende.
»Könnte ich vielleicht Herrn Schierling sprechen?«
Keine Antwort, Frau Schlüter weinte.
»Hallo, sind Sie noch da?«
»Herrn Schierling, den können Sie auch nicht sprechen.« Lautes Ausschnauben ließ Alice erschreckt vom Hörer zurückzucken, und als sie ihn wieder ans Ohr legte, erfuhr sie, dass Herr Schierling bei jenem Unfall gestorben sei und in zwei Tagen beerdigt würde.
»Mein herzliches Beileid!«
»Ich bin nur die Haushälterin!« Frau Schlüter nahm nichts, das ihr nicht zustand.
Alice dankte ihr höflich, aber noch während sie sich verabschiedete, wurde am anderen Ende aufgelegt.
»Ich fahre hin!«, sagte sie.
***
Alice schreckte aus unruhigem Halbschlaf auf, als der Zug über eine Weiche rumpelte. Vor dem Fenster floss karg beschneite Landschaft vorüber. – Norddeutscher Januar, Winter in Grau! Fröstelnd schlang sie den Schal enger um ihren Hals und zog die Ärmel des Wollpullovers über die kalten Hände. In diese Region reiste man besser im Sommer, doch der Besuch bei Leonore Schierling duldete im Gegensatz zum eilig stornierten Skiurlaub keinen Aufschub.
Ihre wachsende Beklemmung beim Abschied hatte sie vor Alexander nicht verbergen können. Während er das Gepäck in den Kofferraum hievte, versuchte er, ihr Mut zu machen. Ein norddeutsches Dorf sei Idylle pur, sie werde sich prächtig vom Großstadtleben erholen. Da in diesem Moment ein Lieferwagen mit qualmendem Auspuff direkt vor ihnen startete, fügte er hustend hinzu: »Die Nordseeluft wird dir ganz sicher gut tun.«
Alice gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und wies ihn darauf hin, dass er noch vor Kurzem sehr überzeugend für Bergluft plädiert habe.
»Wo auch immer, lass dir ein bisschen den Wind um die Nase wehen! Diese Leonore ist doch vielleicht ganz liebenswert«, sagte er und fügte augenzwinkernd hinzu: »Verwandte müssen einander ja nicht unbedingt ähneln.«
Alice hoffte es inständig. Isolde hatte aus Eitelkeit darauf bestanden, sich von ihrer Enkelin nur mit dem Vornamen ansprechen zu lassen. Da sie schon ohne Mutter hatte aufwachsen müssen, hätte Alice ganz gern zumindest eine richtige Oma gehabt und verpasste Isolde, als diese ihr sowohl die Anrede als auch jegliche großmütterliche Wärme versagte, insgeheim den Namen Schneekönigin. Wenn Leonore Schierling eine Verwandte war, kannte sie doch gewiss Isoldes Vergangenheit, möglicherweise sogar deren ›Tristan‹. Über den hatte die Schneekönigin mit Ausnahme der Information, er sei vor der Geburt ihrer Tochter gestorben, konsequent geschwiegen, so dass Alice’ Mutter Zeit ihres kurzen Lebens nichts über ihren Vater in Erfahrung brachte. Auch Alice war dies nicht gelungen; Alexander und sie fahndeten in den Unterlagen ihrer Großmutter vergeblich nach Hinweisen. Isoldes Herkunft blieb ebenfalls undurchsichtig. Ihre Familie sei in den Kriegswirren umgekommen und sie selbst unter Obhut fremder Menschen aus dem Osten geflohen. Weitere Fragen verbat sie sich. Zu schmerzlich seien die Erinnerungen.
Sehr viel besser orientiert als über Isoldes Lebensgeschichte war Alice über die ihrer früh verstorbenen Großeltern väterlicherseits. Alexander schilderte sie als außerordentlich warmherzig und sprach voller Hochachtung von seiner Mutter, die während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft trotz massiver Einmischungen aus ihrer Familie zu seinem Vater gehalten hatte. Nur mithilfe ausländischer Genossen gelang es ihm, sich und seine junge Frau rechtzeitig nach England in Sicherheit zu bringen. Schon früh war ihm klar geworden, wohin all die uniformierten und begeisterungsfähigen jungen Menschen marschieren würden, und er machte in seinen Artikeln keinen Hehl daraus. Warum er nach vielen Verhören, wenn auch mit zerschlagenen Rippen und in einer erbärmlichen Verfassung, schließlich doch wieder frei gelassen wurde, konnte sich später niemand erklären, er selbst am allerwenigsten. »Ich lebe noch, wenn auch ganz aus Versehen!«, pflegte er zu sagen. Als er sich den englischen Streitkräften zur Verfügung stellte, hinderte ihn sein schlechter Gesundheitszustand, gegen seine zu Feinden gewordenen Landsleute anzutreten. Während des Exils gab seine Frau weiterhin Geigenstunden, und er selbst versuchte, seine Artikel unterzubringen. Wenige Tage vor der deutschen Kapitulation wurde Alexander geboren, und seine Eltern kehrten mit dem Säugling in die alte Heimat zurück. Viele Freunde und Verwandte waren ermordet worden – verschleppt, vergast, erschlagen. Von den Überlebenden wagten sich nur wenige zurück nach Deutschland.
Alexanders Vater war bald wieder für verschiedene Zeitschriften tätig, erholte sich aber nie von dem Wissen um sein eher zufälliges Überleben unter Millionen anderer, die in für ihn so vorstellbarer Weise zu Tode gemartert worden waren. Er starb wenige Jahre nach der bangen Rückkehr in das befreite Deutschland.
Alice wurde erstmals mit diesem Teil der Familiengeschichte konfrontiert, als die Entschärfung einer Bombe die Evakuierung ihrer Schule notwendig machte und ihre ambitionierte Lehrerin daraufhin den Zweiten Weltkrieg zum Unterrichtsgegenstand erhob. »Fragt doch mal die alten Leute, wie sie die Zeit erlebt haben!« Einige Kinder erzählten von Bombenangriffen, vom Heranrücken der Roten Armee auf der einen, vom Amerikaner auf der anderen Seite, von Luftschutzkellern, Trümmersuche, Hunger und vom hoffnungsvollen und meist doch ergebnislosen Warten auf Heimkehrer. Alice konnte keine Zeitzeugen in ihrer Familie befragen, wusste aber, dass ihre Großeltern nach England geflohen waren.
»Goldberg, das ist vermutlich ein jüdischer Name, nicht wahr?« Die junge Pädagogin war sehr interessiert, und Alice, die bislang keine besondere Aufmerksamkeit von ihr erfahren hatte, genoss die plötzliche Zuwendung, konnte aber die Frage nicht beantworten und zuckte ratlos mit den Schultern. Am folgenden Tag entrissen einige ältere Schüler ihr im Bus die Büchertasche und schmierten mit einem dicken Edding »Judensau« darauf. So war es zu ausführlichen Erklärungen Alexanders gekommen. Sein Vater sei jüdischer Abstammung gewesen, berichtete er, aber dessen Eltern waren lange vor Hitler konvertiert. Erst im Dritten Reich habe man ihnen beigebracht, was Judentum in Deutschland bedeute.
Alexander begleitete seine Tochter nach dem Vorfall mehrere Wochen morgens auf ihrem Schulweg, und mittags wurde sie von der Haushälterin abgeholt. Alice war niemand mehr zu nahe getreten, Jahre später aber hatte sie hilflos mit ansehen müssen, wie ihre türkische Klassenkameradin brutal zusammengeschlagen wurde, als diese ihrem Bruder zu Hilfe eilen wollte, der von einer Gruppe Skinheads völlig grundlos angegriffen worden war. Als einer der Glatzköpfe dem Mädchen mit seinem schweren Stiefel ins Gesicht trat, verlor es ein Auge. Diese furchtbare Verletzung schien das Kind vergleichsweise leichter zu verkraften als die Entscheidung seiner verstörten Eltern, es zurück in die Türkei zu schicken. »Ich bin doch hier zu Hause«, hatte die Kleine ihren Vater angefleht, »ich will hier bleiben!« Alice sah sie nie wieder.
***
Der Zug fuhr durch einsame Gegenden, und das bisschen, was aufreißende Nebelschwaden hin und wieder erkennen ließen, vermittelte einen Vorgeschmack auf die winterliche Tristesse norddeutscher Küstenlandschaft. Bremen! Hier endete die ICE-Anbindung; der raue Norden begann, unerschlossen, kalt und bedrohlich. Letzteres bestätigte sich, als Alice nach Verlassen des Zuges sofort auf eine Bande zumeist glatzköpfiger Stiefelträger traf. Einer von ihnen kickte eine Bierdose in Richtung jugendlicher Fußballfans, die euphorisch singend grün-weiße Werder-Bremen-Fahnen schwenkten. Als sich einer von ihnen, ein Dunkelhaariger mit großen braunen Augen, umwandte und die Verursacher der Störung aufmerksam musterte, zog ihn eine hübsche Kleine, deren langes blondes Haar keck von einer Werder-Mütze gekrönt wurde, besorgt zurück und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Auch von der zweiten Dose ließ sich niemand provozieren. Als die dritte flog, schwappte Bier heraus, und Alice, die sich unwillkürlich den fröhlichen Fußballfans genähert hatte, bekam einen Schwall davon an ihre Hose. Wütend wandte sie sich den feixenden Männern zu, als sich ihr plötzlich ein kleiner alter Herr in den Weg stellte. Er hob sein zerknittertes Gesicht, musterte sie eindringlich und griff nach ihrem Arm. »Kommen Sie, liebes Fräulein, lassen Sie es gut sein! Machen Sie sich nicht unglücklich!«, raunte er. Sie nickte lächelnd in furchtsame, bernsteinfarbene Augen, die sie an Alexander erinnerten. Sein wie im Schmerz verzogener, in einem dichten Faltenwald liegender Mund lächelte jedoch nicht zurück. »Nicht unglücklich«, wiederholte er traurig und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Die jugendlichen Fußballfans verstummten und sahen betreten vor sich hin. Alice blickte auf die auskullernde Dose und kämpfte den Wunsch nieder, sie zu den Glatzköpfen zurückzuschleudern. Sie sah sich nach dem alten Herrn um, konnte ihn aber nirgends mehr entdecken. Die Randalierer überholten sie wenig später auf der Treppe, grölten im Schutz ihres Pulks Obszönitäten und verschwanden in Richtung Bahnhofshalle.
Wie immer, wenn sie sich auf unbekanntem Terrain befand, kaufte Alice eine regionale Tageszeitung. Als sie sich vom Kiosk abwandte, wäre sie beinahe über einen Koffer gestolpert, doch ein kräftiger Arm bewahrte sie vor dem Sturz. Ihr Retter, der gleichzeitig der Fallensteller gewesen sein dürfte, entschuldigte sich und zog sein Gepäckstück zur Seite. Alice hätte sich vielleicht gar nicht weiter mit ihm befasst, fühlte sich aber vom tiefen, warmen Klang seiner Stimme so sehr angezogen, dass sie ihn aufmerksam betrachtete. Sekundenlang verlor sich ihr Blick in seinen hellen blauen Augen, bevor er zu den offenbar etwas widerspenstigen Haaren wanderte. Diese waren von verwaschenem Blond, und ein paar Strähnen fielen ihm locker in die Stirn. Skiurlaub, dachte Alice, denn deutlich hoben sich die Konturen einer Sonnenbrille vom ansonsten gebräunten Gesicht des etwa dreißigjährigen Mannes ab. Viel lieber als hier in der Bahnhofshalle hätte sie ihn irgendwo auf der Piste getroffen, am Lift vielleicht oder an der Hotelbar. Diese flüchtige Zufallsbegegnung ließ hingegen kaum erwarten, ihn je wiederzusehen. Allein um seine Stimme noch einmal zu hören, hätte sie es sich gewünscht.
»Nein, nein, es war mein Fehler!«, wies sie seine Entschuldigung zurück und löste sich aus der Verzauberung, weil sie auf den Bahnsteig zurückkehren musste. Die Erinnerung an den Fremden erfüllte sie noch, als sie den Zug schon bestiegen hatte. Kaum nahm sie Platz, öffnete sich die Abteiltür, und der Skiurlauber trat lächelnd ein. Hatte er sie gesucht? Alice lächelte zurück und vermochte ihre Freude über sein unerwartetes Erscheinen kaum zu verbergen.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, erkundigte er sich höflich, während er seinen Koffer bereits in die Ablage wuchtete. Alice nickte und spürte einem dezenten, aber hinreißenden Duft nach, der kurzzeitig zu ihr herüberwehte, als ihr attraktiver Mitreisender seine Jacke auszog. Manchmal, dachte sie, wenn auch wirklich sehr, sehr selten, stimmt einfach alles an einem Mann, sogar sein Aftershave!
Wieder lächelten sie einander an, als beide gleichzeitig den Weser-Kurier hervorzogen. Alice blätterte zunächst ziellos, bis ihr Blick auf der Seite mit den Todesanzeigen haften blieb, wo ein Heinrich Schierling von seiner ›Bremer Kameradschaft‹ betrauert wurde. Leonores Ehemann? War er beim Militär gewesen, oder was hatte es für eine Bewandtnis mit dieser Kameradschaft? Sie blätterte weiter und las einen kurzen Artikel über den Zustand dreier Opfer eines Brandanschlags auf ein Asylbewerberheim. Zwei schwer verletzte Erwachsene schwebten inzwischen nicht mehr in Lebensgefahr, aber ein kleines Mädchen konnte die Intensivstation wegen seiner schweren Verbrennungen noch immer nicht verlassen. Von den Tätern fehlte jede Spur. Ort des schrecklichen Geschehens war ausgerechnet das Dorf, in dem auch Leonore Schierling lebte. Alice ließ die Zeitung sinken und bemerkte, dass ihr Gegenüber sie beobachtete. Empört wies er auf das Blatt. »Haben Sie das gelesen? Eine unglaubliche Barbarei!«
Jakob Fuchs war Apotheker und lebte und arbeitete seit dem vergangenen Frühling in jenem Dorf, erfuhr Alice. »Es ist erschreckend, welch ergiebigen Nährboden die ausländerfeindlichen Täter dort vorfinden!«, sagte er. Keinesfalls handele es sich um den ersten Überfall, aber nie meldeten sich Zeugen. Dabei treibe die Horde Rechtsradikaler schon lange ihr Unwesen und verzeichne in jüngerer Zeit enormen Zulauf, insbesondere auch unter Schülern. Bereits nach den ersten Schmierereien am Asylbewerberheim hatte Fuchs sich gemeinsam mit anderen besorgten Bürgern zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen. Sie wollten weiteren Gewalttaten Vorbeugen und insbesondere der immer massiveren Anwerbung Jugendlicher entgegen wirken. Ein heimtückischer Brandanschlag auf einen türkischen Imbisswagen in der Vorweihnachtszeit war dennoch nicht zu verhindern gewesen, genauso wenig wie der auf das Asylbewerberheim. Erst jetzt habe sich herausgestellt, dass es im Dorf einen generösen Sponsor gäbe, der die rechtsradikale Szene seit Langem finanziell unterstütze. »Und ausgerechnet der war mein Chef!« Wo Jakob Fuchs ist, dachte Alice, werde ich mich vor niemandem fürchten, nicht einmal vor diesen finsteren Gestalten. – Auch nicht vor Leonore Schierling, der sie mit jeder Minute näher rückte und die doch zunehmend im Hintergrund verschwand.
Unbedingt sollte der Wiederaufbau des ausgebrannten Wohnheimes forciert werden, fuhr Jakob fort, und Alice bereitete es Schwierigkeiten, ihm inhaltlich zu folgen, weil seine ungewöhnliche Stimme ihre Aufmerksamkeit in eine völlig andere Richtung lenkte. »Es wäre unerträglich, wenn zusammen mit den Gewalttätern auch jene schweigende Bevölkerungsgruppe obsiegte, die klammheimlich Applaus spendet, weil ihnen die Vertreibung der Ausländer aus ihrem Dorf recht gelegen kommt. Wir haben uns bemüht, das absurde Misstrauen der Bevölkerung zu durchbrechen. Eine Frauengruppe arbeitet sehr effektiv, und eine Handvoll Männer hat sich gefunden, die für die Kinder vor dem Heim einen Bolzplatz anlegte, der auch die Dorfjugend ein wenig ködern sollte, um die Fremdheit zu überwinden. « Er schüttelte enttäuscht den Kopf. »Bei der Vorbereitung des Weihnachtsmarktes waren wir noch so zuversichtlich, aber dann …«
Das traditionelle Angebot war durch eine afrikanische Trommelgruppe, eine spanische Tanzformation und auch durch verschiedene ausländische Imbissstände bereichert worden. »Die Stimmung war anfangs unglaublich gut, und die Darbietungen wurden positiv aufgenommen. «, erzählte Jakob Fuchs. Dann aber sei zu vorgerückter Stunde, als die Stände bereits geschlossen waren, der türkische Imbisswagen plötzlich in Flammen aufgegangen, und all ihre Bemühungen hätten sich buchstäblich in Rauch aufgelöst. »Seitdem nennen wir uns Feuerlöscher, aber wir sind, wie man an dieser neuerlichen Brandstiftung sieht, nicht besonders erfolgreich.«
»Und die Täter laufen frei im Dorf herum?« Ein mit ihm befreundeter Journalist, der bestens mit der Nazi-Szene vertraut sei, habe die Identität des Sponsors ans Licht gefördert. »Jahrelang hat er offenbar in diesen faschistischen Trupp investiert, ohne dass irgendjemand davon wusste. Er kam vor ein paar Tagen bei einem Unfall ums Leben und wird morgen beerdigt«, sagte er beinahe ärgerlich. »Ihn wird niemand mehr zur Rechenschaft ziehen können.«
Handelte es sich etwa um Leonores Ehemann? Auch ein Unfallopfer und die Beerdigung ebenfalls morgen? Bevor sie sich erkunden konnte, verlangsamte sich die Fahrt; Bremerhaven-Hauptbahnhof war erreicht.
***
Als sie gemeinsam die Treppe hinunterstiegen, blickte Fuchs auf die Uhr. »Mein Anschlusszug geht erst in einer halben Stunde. – Wie sieht es bei Ihnen aus, darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
Selbst auf die Gefahr hin, ihren Zug zu verpassen und das Reiseziel vielleicht nie zu erreichen, hätte Alice seine Einladung nicht abgelehnt. Plötzlich aber trat eine etwa fünfzigjährige Frau in ihren Weg und durchkreuzte das geplante Rendezvous.
»Fanny, das ist aber eine Überraschung!«, rief Jakob erfreut, »kommst du mich abholen?«
Fanny hatte ein warmes Lachen. Warm war auch der Braunton ihrer Haare, der Ausdruck ihrer dunklen Augen und der Tonfall, in dem sie Jakob begrüßte. Alice wusste nicht, ob sie die liebenswürdige Fremde eher um seinen Kuss auf die Wange oder mehr noch alle beide um die vertraute Art ihres Umgangs miteinander beneiden sollte.
»Darf ich vorstellen? Alice Goldberg«, sagte Jakob, »und dies ist Fanny Lang, meine liebste Nachbarin.« Er war verblüfft, als Fanny sagte: »auf Frau Goldberg habe ich gewartet. Schön, dass Sie Jakob bereits kennen gelernt haben. Ich denke, wir nehmen ihn mit, auch wenn er hier eigentlich noch gar nichts zu suchen hat.«
Fanny war, wie Alice dem Gespräch der beiden auf dem Weg zum Parkplatz entnahm, ziemlich aufgebracht, weil irgendjemand den Apotheker frühzeitig aus dem Urlaub zurückberufen hatte.
Von der Rückbank des Kombis aus lauschte sie den zwischen Fanny und Jakob ausgetauschten Neuigkeiten. Hauptsächlich ging es um den Brandanschlag und dessen Folgen.
»Für Leonore war es ein entsetzlicher Schock, von Heinrichs Machenschaften zu erfahren«, sagte Fanny mitleidig. »Obwohl sie sich über seinen Charakter natürlich längst keine Illusionen mehr machte, hätte sie wirklich nicht damit rechnen können, dass er die Jagd auf wehrlose Ausländer unterstützte. – Niemand von uns ahnte, dass er soweit gehen würde, kein Mensch wusste doch, dass er in die Machenschaften der braunen Übeltäter verstrickt war.«
»Verstrickt ist untertrieben«, sagte Jakob »er war es doch, der im Hintergrund die Drähte zog, an denen die tumben Lümmel hingen, ohne es zu ahnen.«
Alice sank in sich zusammen; kein Zweifel, es ging um ihre Verwandten!
Als Jakob sich nach Frau Schierlings Befinden erkundigte, lachte Fanny vergnügt auf. »Ich war heute mit Mathilde bei ihr im Krankenhaus. Leonore hat sie quasi hinausgeworfen, woran man sieht, dass es ihr schon wieder besser geht.« Fanny schwieg, während sie einen Lieferwagen überholte. »Du kannst dir ja vorstellen, was anschließend los war«, nahm sie den Faden wieder auf. »Mathilde schimpfte während der Rückfahrt wie ein Rohrspatz.« Sie wandte sich zu Alice um: »Sie werden sie ganz sicher kennenlernen.« »Stimmt!«, seufzte Jakob. »Mathilde Bull entgeht niemand!« Durch beherztes Zugreifen verhinderte er das Abdriften des Kombis auf den Randstreifen, was Fanny eher gelassen zur Kenntnis nahm, um sich im nächsten Moment, diesmal den Blick allerdings auf die Fahrbahn gerichtet, bei Alice zu erkundigen, wie sie die Bahnfahrt ertragen habe.
Wenig später bereits passierten sie die mit einem reetgedeckten Willkommensschild markierte Dorfeinfahrt.
Fannys Einladung zum Abendessen lehnte Jakob zu Alice’ Bedauern ab. »Ich will sofort rüber zum Hof. Die Feuerlöscher versammeln sich heute bei Gunnar und Sevim, und es gibt eine Menge zu besprechen.«
Alice war enttäuscht, nicht dabei sein zu können. Ein freundlicher Händedruck, ein bestrickender Blick und die so wohltönende Versicherung, sich gewiss bald wiederzusehen, dann stellte er ihren Koffer im Eingang zum Gasthaus ab und überquerte winkend die Straße.
»Jakobs Haus ist wunderschön, nicht wahr? Eine ehemalige Remise, aber entzückend ausgebaut mit offener Galerie und sehr viel Holz«, missdeutete Fanny Alice’ versonnenen Blick. Nach dem Haus hatte sie sich ganz gewiss nicht umgesehen.
Sie folgte ihrer Wirtin durch eine Diele die Treppe hinauf und einen Flur entlang in ein hübsch eingerichtetes Einzelzimmer.
»Zum Glück ist es vergangene Woche fertig geworden«, sagte Fanny. »Und ich freue mich so, dass gerade Sie es einweihen.«
Ein bisschen überrascht von soviel Herzlichkeit sah Alice sich interessiert um. Ein Strauß bunter Alpenveilchen mit Kiefernzweigen schmückte den kleinen Schreibtisch, und auf einer Kommode zwischen den Fenstern, die jetzt, da die großen Linden vorm Haus kein Laub trugen, einen freien Ausblick auf Jakobs Remise und die Apotheke gewährten, stand eine Schale mit Obst. Fanny öffnete die Tür zu einem kleinen blauweiß gekachelten Bad und sah ihren Gast erwartungsvoll an.
»Es ist sehr hübsch und viel komfortabler als in meiner WG!«, lobte Alice. »Das Zimmer ist wirklich super, vielen Dank!«
»Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie doch einfach herunter. Sie können die Gaststube gar nicht verfehlen.«
Alice schloss, nachdem sie ausgepackt hatte, ihren Koffer und sah noch einmal hinüber zur Remise. Gerade betrat Jakob die Garage, und im nächsten Augenblick rollte sein Wagen auf die Straße und bog vor der Apotheke in den Waldweg ein. Erst als die Rücklichter verschwunden waren, ging Alice nach unten, wo Fanny ihr bereits durch die vollkommen leere Gaststube entgegen kam. Vor einem Jahr erst habe sie die Gartenlaube übernommen und bislang noch nicht alles renovieren können, sagte sie und strich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. »Die Möbel kosteten mich viel Zeit, und alles andere muss ich mir nach und nach vornehmen.« Alice bewunderte die schöne alte Theke und den Schrank mit Glasaufsatz dahinter. Auch die dunkle, etwa schulterhohe Holztäfelung war tadellos restauriert. Darüber aber klebten scheußliche grell gemusterte Tapeten. Fanny war Alice’ Blick gefolgt. »Die sind demnächst dran.«
Besonders gut lief der Laden offenbar nicht; auf ihrem Weg durchs Lokal entdeckte Alice weitere geschmacklose Details, die Fanny mit etwas Geld in der Kasse sicher längst eliminiert hätte: grässliche Kunststofflampen, die von einer Styropordecke herunterhingen, kalte Resopaltischplatten und einen abgetretenen PVC-Boden. Fanny beeilte sich, Alice so schnell wie möglich in die Küche zu lotsen. Hier war es hell und freundlich, auf dem offenbar nagelneuen Herd dampfte ein Topf mit Hühnersuppe, und ein Tisch in der gegenüberliegenden Ecke war festlich mit Kerzen gedeckt.
Alice aß mit gutem Appetit und genoss das belanglose Geplauder. Fanny gehörte nicht zu den Menschen, die andere sofort nach ihren Lebensumständen ausfragten. Da Alice gerade dabei war, die ihren neu zu ordnen, hätte sie auch kaum mehr zu sagen gewusst, als dass die Übersiedlung nach Hamburg beschlossene Sache war und ihr Zimmer bereits vor der neuen Partnerin ihres Exfreundes bewohnt wurde. Wer interessierte das unspektakuläre Ende ihrer Beziehung und des Münchener Intermezzos? Nein, sie vermisste nichts, und auf diese Erkenntnis hin ließ sie sich ihren Teller gern noch einmal füllen und hoffte, Jakob Fuchs würde Fannys Einladung beim nächsten Mal nicht wieder ausschlagen.
Den Kaffee tranken sie wenig später im Wohnzimmer, das über einen kurzen Flur zu erreichen war und von einem großen bollernden Kachelofen beherrscht wurde.
»Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, dass Tatjana den armen Jakob einfach frühzeitig aus dem Urlaub zurückbeordert hat!« sagte Fanny und reichte Alice eine Tasse. »Leonore war ausdrücklich dagegen.«
»Wer ist denn Tatjana?« Alice, die sich träge in einem Sessel vor dem Ofen ausgestreckt hatte, war plötzlich hellwach. Wie nahe musste einem jemand stehen, der zu einer solchen Order berechtigt war?
»Tatjana arbeitet drüben in der Apotheke und ist die Tochter meiner Nachbarin Mathilde, von der vorhin im Auto schon die Rede war.« Fanny setzte das kleine silberne Tablett mit Milch und Zucker wieder ab, als Alice dankend ablehnte. »Die Vertretungsfrage war längst geklärt«, fuhr sie fort, »und für die Beerdigung hätte Jakob nun wirklich nicht anreisen müssen.«
Alice war nicht ganz dieser Ansicht. Wäre sie ihm sonst je begegnet?
Fanny warf einen Blick auf die Uhr. »Ich schließe nur rasch auf, wir hören ja die Türglocke, falls jemand kommen sollte.«
Alice lehnte sich wohlig zurück, lauschte dem Knistern und Knacken im Ofen und dem etwas unheimlichen Heulen im Schornstein, wenn eine Windböe darüber hinwegtobte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, Jakob säße neben ihr am Feuer. Irritiert fuhr sie auf, als Fanny Gläser und eine Flasche klirrend auf dem Tisch abstellte. Das Etikett, offensichtlich in liebevoller Handarbeit hergestellt, enthielt allerdings eine Giftwarnung. »Den Kräuterlikör produzieren die Landfrauen selbst; er ist ausgezeichnet, auch wenn sie ihn ›Putzteufel‹ nennen, damit ihre Männer ihn nicht austrinken. Dorchen Schlüter, die zwar keinen Mann, aber vier Brüder hat, behauptet, es funktioniere erstaunlich gut.«
»Dorchen Schlüter …?«
»Sie kocht seit Menschengedenken bei Festen und Gesellschaften in der Gartenlaube.« Seufzend fügte Fanny hinzu: »Wenn es denn welche gibt!« Unwillig schüttelte sie den Kopf, als könne sie die Gedanken ans Geschäft damit vertreiben. »Außerdem ist Dorchen Haushälterin bei den Schierlings.«
Dorchen war schon ein seltsamer Name für einen Hausdrachen, dachte Alice in Erinnerung an ihr Telefonat. Gerade wollte sie ihre Gastgeberin über ihre mögliche Verwandtschaft mit Leonore aufklären, als sich die Zimmertür wie von Geisterhand berührt knarrend ein Stück öffnete. Alice atmete erleichtert auf, als sie eine Pfote entdeckte, die den Spalt erweiterte, bis sich, die rosa Nasenspitze voran, ein kugelrunder schwarz-weiß gescheckter kleiner Kater hindurchdrängeln konnte. Er umstrich Alice’ Beine einige Male, bevor er mit einem Satz auf ihren Schoß sprang und bald alle Viere in Richtung Ofen streckte. Sie kraulte ihn hinter dem Ohr, woraufhin er sofort behaglich zu schnurren begann und ihr genießerisch seinen Kopf entgegenreckte.
»Klein-Bolle!«, stellte Fanny ihr Haustier vor. Alice kullerte das schnurrende Bolle-Knäuel auf den Rücken und spielte mit seinen Pfötchen.
»Der Kater stammt von Gunnars und Sevims Bio-Hof. Ich kaufe Milch, Eier, Gemüse und Kartoffeln bei ihnen, halt alles, was die beiden so produzieren«, sagte Fanny. Und Jakob trifft sich dort mit den Feuerlöschern, dachte Alice und strich dem Kater liebevoll über sein weiches, warmes Fell.
»Als ich das kleine Untier zwischen seinen etwas zurückhaltenderen Geschwistern, die Vorderpfoten mitten in der Milchschale, entdeckte, war es um mich geschehen, ich musste ihn einfach mitnehmen. Sevim behauptet, ich hätte dadurch den Rest des Wurfs vorm sicheren Hungertod bewahrt.« Fanny stand auf, legte ein Scheit nach, und die Flammen warfen tanzende Lichter auf ihr Gesicht.
Eine schöne Frau, dachte Alice. Ob es auch einen Wirt zu dieser Wirtin gab? Während Fanny etwas von dem ›Putzteufel‹ in winzige Gläser schenkte, wanderte Alice’ Blick durch den Raum. Genauso getäfelt wie die Gaststube waren hier die Wände allerdings frisch gestrichen und der Parkettboden weitgehend mit Teppichen bedeckt. Den alten Bücherschrank hatte Fanny allem Anschein nach ebenfalls restauriert. Allein die Unordnung wild übereinandergestapelter Papiere auf dem Schreibtisch störte das harmonische Erscheinungsbild des Raumes. Kaum hatten sie miteinander angestoßen, rief die Eingangsglocke nach der Wirtin.
***
Fanny öffnete den Zapfhahn, bis sich eine ansehnliche Blume gebildet hatte, und griff zum nächsten Glas. Schließlich trug sie das Tablett zu ihren wenigen Gästen hinüber und schaute bekümmert zur Tür. Außer den vier jungen Männern schien niemand mehr einkehren zu wollen. Wieder nicht! Wie sollte sie jemals auf einen grünen Zweig kommen? All die Rechnungen und Mahnungen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten, hätte sie am liebsten direkt in den Ofen gefegt. Bezahlen konnte sie ohnehin nicht. In geschäftlichen Dingen war sie eine absolute Niete, das war gar nicht zu leugnen. Uwe hatte noch weitere Schwächen an ihr entdeckt, aber von ihm und seiner Kritik war sie zum Glück rechtskräftig geschieden.
Sie schrak zusammen, als Mathilde plötzlich aus dem Flur zwischen Küche und Gaststube trat, und ärgerte sich, wieder die Seitentür nicht verriegelt zu haben. Ihre Nachbarin nutzte dies Schlupfloch mit unbarmherziger Selbstverständlichkeit, als sei es speziell für ihre überfallartigen Besuche eingerichtet worden.
Je tiefer Fanny Einblick in die Alltagstragödie des nachbarlichen Familienlebens gewann, desto mehr Überwindung kostete sie der Umgang mit Mathilde Bull. Prompt setzte diese ihr Lamento über Leonores Undankbarkeit fort, das vorhin bereits die Heimfahrt vom Krankenhaus dominiert hatte. »Da soll einer schlau draus werden. Schickt ihre eigene Verwandte weg, um mit einer Fremden zu reden. Nichts gegen dich, Fanny, das weißt du, aber glaubt Leonore denn, sie kann sich alles erlauben?«
Die Frage war ebenso überflüssig, wie es Fannys Versuch gewesen wäre, darauf zu antworten.
»Und man ist noch immer so gutmütig und kümmert sich um sie!« Mathildes Kinnfalte schlabberte traurig über ihren seidigen schwarzen Kragen, der aus dem wild gemusterten Nylonkittel hervorlugte, unter dem sie noch die Trauerkleidung ihres nachmittäglichen Klinikbesuchs trug. Schwer atmend stemmte sie die Fäuste auf ihre ausladenden Hüften und spähte neugierig zu den jungen Männern hinüber.
Immer wieder staunte Fanny über die ungewöhnliche Metamorphose, wenn sie die heitere junge Frau auf den Fotos im Wohnzimmer der Bulls mit dem vierzig Jahre älteren Original verglich. Auf den Jugendbildnissen wirkte Mathilde in ihren fröhlichen Sommerkleidern so hübsch und unbeschwert. Wie jedoch diese Kleider den grässlichen Kitteln gewichen waren, hatte das vergnügte Lachen Verdruss und Missmut Platz gemacht, die mittlerweile ihre Züge prägten.
»Ich glaub manchmal«, fuhr sie, unbeeindruckt von Fannys Schweigen, fort, »Leonore interessiert sich kein bisschen für ihre Verwandten!«
Damit hatte Mathilde zweifellos recht, wobei von Verwandtschaft, wenn Fanny recht informiert war, eigentlich auch nicht die Rede sein konnte, denn Werner und Heinrich waren lediglich entfernte Cousins.
»Möchtest du etwas trinken?«, versuchte sie die Nachbarin von ihrem trüben Thema abzulenken.
»Na gut, mach mir man einen Potsdamer.« Mathilde watschelte um die Theke herum und quälte sich ächzend auf einen Barhocker.
Fanny pflegte trotz wachsender Aversion nachbarschaftlichen Umgang mit den Bulls. Sie war ›im anderen Teil Deutschlands‹ und in dem Bewusstsein aufgewachsen, ohne derartige Kontakte verloren zu sein.
Mathilde nahm einen kräftigen Schluck, worauf sie sofort mit einem ihrer umhäkelten Taschentücher den weißen Bierschaum fortwischte, der sich über ihrer Oberlippe verfangen hatte. In einem plötzlichen Stimmungsumschwung fuhr sie sich anschließend mit dem Tuch über die Augen und sagte weinerlich: »Die Beerdigung morgen steht mir ja schon so vor Kopp!« Als sei sie die Hauptleidtragende. Vielleicht war sie es?
»Ach so, warum ich überhaupt hier bin. Ich hab’ vorhin meine Brille bei dir im Wagen vergessen, vorne im Handschuhfach.«
Fanny bot an, sie zu holen, aber Mathilde sagte mit einem misstrauischen Blick auf die jungen Männer. »Nee, lass man lieber. Kannst hier doch nicht einfach wech. Bring sie mir man nachher eben rüber.«
Fanny atmete auf, als sich die Tür eine Viertelstunde später hinter ihrer Nachbarin schloss. Mindestens ebenso erleichtert musste Leonore vorhin gewesen sein. Mathildes Gejammer über Heinrichs Tod hatte sie nicht länger ertragen können, wie sie Fanny unter vier Augen gestand, nachdem sie die unliebsame Besucherin hinauskomplimentiert hatte. Die Schuld ihres Mannes an dem fürchterlichen Brandanschlag beschäftigte Leonore fortwährend, und dauernd repetierte sie die Frage, wie sie nur all die Jahre ihre Augen vor Heinrichs schmutzigen Aktivitäten hatte verschließen können.
Die Antwort war leicht zu finden. Schierlings Ehe reduzierte sich seit Langem auf das gemeinsame tägliche Mittagessen und wahrscheinlich auf den Streit um Leonores Ländereien. Sie weigerte sich strikt, diese an ihren Mann abzutreten, denn sie liebte das Wald- und Wiesengelände hinter ihrer Villa, das vom Fluss durchzogen wurde, in dem sie den Sommer über bei Wind und Wetter badete, und sie dachte keinesfalls daran, es sich durch abenteuerliche Bauvorhaben zerstören zu lassen. Heinrich war schon vor Jahren in die Wohnung über dem neuen Apothekenanbau eingezogen, um dort einem recht fröhlichen Leben mit verschiedenen Liebschaften zu frönen. Trotzdem fand er sich zum Essen regelmäßig in der Villa ein, vielleicht weil Dorchen Schlüter eine so ausgezeichnete Köchin war, vielleicht auch, um den Schein zu wahren. Schade, dass ihn der Verfall des einst so prachtvollen Hauses völlig kalt gelassen hatte. Leonore erhielt nie Geld für Reparaturen oder einen längst überfälligen Anstrich, aber das schien sie nicht zu stören, solange ihr nur das Atelier für ihre Malerei blieb.
Fanny ließ ihre Gäste allein und überprüfte nochmals den Saal. Besonders warm war es hier immer noch nicht, dabei liefen die Heizkörper seit dem frühen Morgen auf Hochtouren. Die Tische waren vorbildlich eingedeckt, und bis zum folgenden Nachmittag würde sich der Raum hoffentlich noch ausreichend erwärmen. Obwohl derartige Anlässe normalerweise in der Post begangen wurden, ließ Leonore den Beerdigungskaffee in der Gartenlaube ausrichten. Fanny war dankbar für diesen Auftrag und hatte sich sehr bemüht, dem Saal trotz seiner Mängel würdevollen Glanz zu verleihen. Draußen heulte der Sturm, und sie sah einen Augenblick dem wilden Tanz der Zweige vor den Fenstern zu. Hoffentlich würde es nicht noch kälter werden. Die Heizkosten fraßen sie auf!
Bevor sie in die Gaststube zurückkehrte, spähte sie ins Kachelofenzimmer, wo sich ein friedliches Bild bot. Alice war im Sessel eingeschlafen; die Züge ihres schmalen Gesichts wirkten entspannt wie die eines schlafenden Kindes, und Bolle, der auf ihren Knien ruhte, öffnete nur leicht die Augen, als er Fanny bemerkte. Leise schloss sie die Tür und kehrte hinter ihre Theke zurück.
Die Gäste unterhielten sich lebhaft und bestellten eine weitere Runde Bier. Fanny horchte auf, als plötzlich Heinrichs Name genannt wurde. Schallendes Gelächter folgte. Ein Witz auf Kosten des Verstorbenen? Sie konnte den jungen Leuten keinen Vorwurf daraus machen, immerhin hatte auch sie, als sie an Leonores Schreibtisch die Einladungen für die Beerdigung schrieb, mit seinem guten schweren Rotwein das plötzliche Ende des Heinrich Schierling begossen. Nachdem sie das Glas aus der geschliffenen Karaffe ein zweites Mal gefüllt hatte, war ihre Schrift auf den Briefumschlägen sogar ziemlich schwungvoll geworden. Gut, dass Dorchen nicht dabei gewesen war. Wie Mathilde hatte auch sie erstaunlicherweise sehr an Heinrich gehangen. Trotzdem verhielt sie sich Leonore gegenüber immer loyal, was sicher eines enormen Spagats bedurft hatte.
»Is keen Pott so scheep, passt jümmer een Deckel op«, sagte die Haushälterin, aber Heinrich war gewiss nicht der passende Deckel für Leonore, und Fanny verstand nur allzu gut, warum die Witwe keine Träne um ihn vergoss.
Diese Ansicht teilten auch Edith und Carl, die zusammen mit Fanny Leonores engsten Freundeskreis bildeten. Carl war es gelungen, die begabte Malerin endlich zu einer ersten Ausstellung zu überreden, doch nun würde deren Eröffnung leider in Abwesenheit der Künstlerin stattfinden.
Manch gemütlichen Weinabend hatte Fanny mit den dreien verlebt, und als sie kürzlich zu vorgerückter Stunde beiläufig erwähnte, die Urenkelin der früheren Gartenlaube-Wirtin zu sein, gerieten die Älteren regelrecht aus dem Häuschen. Warum sie denn das nicht längst erzählt habe! Die alte Franziska hätten sie noch gut gekannt und auch deren Sohn Fritz, der das Lokal bis zu seinem Tod geführt hatte. Selbst an dessen Schwester, Fannys Großmutter, erinnerte sich Carl, obwohl sie schon als junge Frau mit ihrem Mann nach Rostock gegangen war.
Beim Wein versanken sie in Jugenderinnerungen, und Fanny lauschte den alten Geschichten. Je tiefer sie in die Ereignisse ihrer Jugendzeit eindrangen, desto mehr verjüngten sich Leonores Züge.
Fanny korrigierte Carl, der sie für die Erbin des Gasthofs hielt. »Wie – du hast ihn nur gepachtet? Aber gehörte er nicht bis zu seinem Tod dem alten Fritz?«
»Ich weiß nicht viel über Großmutters Bruder, aber wahrscheinlich verkaufte er die Gartenlaube vor seinem Tod.«
»Etwa an Werner Bull?«, fragte Carl sichtlich überrascht.
Fanny lachte. »Tja, mir gehört sie jedenfalls vorläufig noch nicht.«
Bei dem Wort ›vorläufig‹ stieg ihr die Glut ins Gesicht, weil sie an die unbezahlten Rechnungen auf ihrem Schreibtisch denken musste.
Carl schüttelte den Kopf: »Weiß denn Bull von deiner Verwandtschaft mit Fritz?«
»Nein, darüber habe ich noch mit niemandem gesprochen.« Sie war von Kindheit an gewohnt, freiwillig keine Angaben zur Person zu machen. Nicht zur eigenen und ganz besonders nicht zu der anderer. Letzteres barg in jedem Fall die größere Problematik.
»Dann solltest du es einstweilen auch dabei belassen«, sagte Carl und schob vorsichtig die Scheite im Kamin zusammen. »Wir alle sollten es tun«, fügte er hinzu und blickte Leonore und Edith vielsagend an. Wie eine Verschwörergruppe, die von Glas zu Glas verschworener wurde, dachte Fanny in Erinnerung an jenen Abend.
Solche Zusammenkünfte in Leonores Villa fanden grundsätzlich nur dann statt, wenn Heinrich übers Wochenende verreist war, so dass er ihre traute Runde ganz sicher nicht stören würde. Als er diesmal von seinem Jagdwochenende zurückkehrte, wirkte er völlig verändert. Man hätte vermuten können, es habe bei ihm, der doch einige Jahre jünger war als Leonore, ein galoppierender Alterungsprozess eingesetzt. Seine Haltung war plötzlich gebeugt, das Gesicht zerfurcht und faltig, und Dorchen berichtete voller Sorge, er spräche nur noch ganz leise und schlich wie ein geprügelter Hund durchs Haus.
Diesen Zustand beendete offenbar der Brand im Asylantenheim, jedenfalls fand Heinrich am Abend darauf noch einmal zu seiner alten Form zurück. Im Dorf wurde erzählt, er und seine Freunde hätten bis tief in die Nacht an ihrem Stammtisch in der Post gefeiert. Fanny mochte angesichts der um ihr Überleben kämpfenden Brandopfer nicht glauben, dass ein Zusammenhang zwischen den furchtbaren Ereignissen und dieser Feier bestanden haben könnte, bis sie eines anderen belehrt wurde. Das Horst-Wessel-Lied hätten Heinrich und seine Stammtischbrüder auf dem Heimweg gegrölt, berichtete ein Gast. – Am Tag darauf verunglückte Heinrich tödlich!
Fanny war schon bald nach ihrer Ankunft im Dorf mit Heinrich Schierling aneinander geraten. Sie verdankte ihm das Grünkohlessen des Kulturvereins, war aber keinesfalls bereit, ihren Dank in der von ihm gewünschten Form abzuleisten. Ihre Ablehnung nahm er jedoch nicht zur Kenntnis. Ihm war die Siegerpose in die Wiege gelegt worden, an Widerstand war er nicht gewöhnt, und das betraf nicht nur sein Verhältnis zu Frauen. Bürgermeister Bull war ebenso seine Marionette wie andere, die wesentlich entscheidendere Positionen besetzten und ihm offenbar alle aus irgendwelchen Gründen verpflichtet waren. Er war nicht sonderlich gebildet, aber in gewisser Weise attraktiv – jedenfalls empfanden Frauen es so, die Schmisse an der Wange als maskulin-erotisches Merkmal schlechthin ansahen. Es passte zu seinem Auftreten in Herrenreitermanier, Zurückweisungen nicht ins Kalkül zu ziehen. Fannys massiver Widerstand in Form eines kräftigen Kniestoßes gegen sein Geschlecht erlebte er wahrscheinlich als Premiere. Er war an der Wand zusammengesunken und hatte sich in der Ecke, in der er sie zuvor bedrängt hatte, übergeben müssen. Als Fanny sich hastig davon machte, entdeckte sie Leonore in der Tür zur Gaststube. Beide sahen aneinander vorbei und erwähnten diesen Vorfall später niemals.
Heinrich Schierling verzieh eine solch demütigende Niederlage natürlich nicht, und sie war allemal Grund für ihn, die Gartenlaube künftig zu boykottieren und alle Veranstaltungen wieder abzusagen, die er Fanny zuvor in Erwartung ihrer Willfährigkeit zugeschanzt hatte. Sein plötzlicher Unfalltod überraschte sie somit, wie man manchmal von unerwarteten Problemlösungen überrascht wurde. Dass Leonore in der Gartenlaube die Totenfeier ausrichten ließ, wertete Fanny als Sieg über Heinrichs Boykott. Geerbt habe sie das Gasthaus, glaubte Carl? – Schön wär’s!
Die jungen Männer zahlten, riefen »tschüß!«, und Fanny räumte den Tisch ab, leerte und säuberte den Aschenbecher und spülte die Gläser. Sie war müde; schon morgens früh versorgte sie Heinrichs Pferd und führte es unter großen Ängsten hinaus auf die Weide, um es abends nicht weniger ängstlich in den Stall zurückzubringen. Dorchen würde eher auf dem Hochseil tanzen, als sich freiwillig Santo zu nähern. Dafür hatte sie jedoch Heinrichs Jagdhund zu sich genommen, ein Opfer, das Fanny weitaus größer als ihr eigenes erschien. Sie fürchtete viel zu sehr um ihren kleinen Kater, als dass sie sich ausgerechnet Hektor ins Haus geholt hätte. – Auch wenn der Hund Dorchens Aussage zufolge lammfromm war und sich abends immer zu Füßen ihrer alten Mutter niederließ. Fanny bezweifelte, dass angesichts Heinrichs Umgang mit ihm auch nur irgendetwas an diesem Tier fromm sein könnte. Sie schaltete, ausnahmsweise einmal sehr viel früher als üblich, die Beleuchtung aus. Es kam ja doch niemand mehr!
***
Alice blinzelte und reckte sich verschlafen, als leise die Tür geöffnet wurde. Sie beteuerte, Fanny habe sie nicht geweckt und willigte gern in einen kleinen Abendspaziergang ein.
»Ich muss ohnehin Mathilde die Brille zurückbringen, und wenn Ihnen das schlechte Wetter nichts ausmacht …«
Fanny versuchte gar nicht erst, ihren Schirm zu öffnen, auch so hatten sie Mühe, sich gegen den Schneesturm zu stemmen.
»Schöner Empfang für Sie in Norddeutschland!«, rief Fanny gegen das Getöse an.
»Macht nichts, ich hab’s mir schlimmer vorgestellt!«, brüllte Alice zurück.
Noch bevor sie Bulls Gartenpforte erreichten, reagierte der Bewegungsmelder und tauchte nicht nur den Eingangsbereich, sondern die gesamte Straße in gleißendes Flutlicht. Über einen gepflasterten Weg erreichten sie die Haustür, wo, geschützt durch ein Vordach, diverse Vorrichtungen geschaffen waren, damit Besucher sauberen Fußes ins Haus gelangten. Zunächst, passgenau in die Bodenfliesen eingelassen, sollte ein Rost den gröbsten Schmutz aufnehmen. Daneben konnte man auf einer Art Bürstenmatte an seinem Schuhwerk Weiterarbeiten, und wenn dies nicht ausreichte, stand für alle Fälle ein borstiger Igel bereit, um auch hartnäckigste Reste zu entfernen. Erst danach war es erlaubt, über eine Matte mit eingearbeitetem Willkommensgruß den Wohnsitz der Familie Bull zu betreten. Alice hatte überhaupt nicht die Absicht, erst recht nicht, als sie der kolossalen Hausfrau gegenüber stand und deren ultimativer Anweisung lauschte, wohin sie ihre Schuhe abzustellen habe.
»Nein, nein, Mathilde, wir bleiben nicht. Ich bringe dir nur deine Brille!«, wehrte Fanny die Einladung ab und stellte Alice vor. »Mein erster Hausgast!«, sagte sie stolz, und schon fand sich Alice in der Diele und wenig später in Mathilde Bulls Wohnzimmer wieder. Während ein Redeschwall über sie hereinprasselte, sank sie tiefer und tiefer ins Sesselpolster. Zunächst war vom erfolgreichen Gatten Werner die Rede, selbstständig tätig im Immobiliengeschäft, »und er macht nebenbei ja auch noch in Versicherungen!« Überdies versah er nicht nur das Amt des Bürgermeisters, sondern agierte gleichzeitig als Vorsitzender seiner Partei. Der Kirchenvorstand durfte sich seiner Mitgliedschaft ebenso erfreuen wie der Chor. Auch der freiwilligen Feuerwehr gehörte er an, und den örtlichen Kulturverein hatte er sogar selbst ins Leben gerufen. »Dies Jahr war er auch schon wieder Schützenkönig. – Will nicht jeder werden. Kostet ja ’n büschen was.«
Mathildes eigene Aktivitäten in der Öffentlichkeit standen denen ihres Gatten nur unwesentlich nach. Auch sie war langjähriges Chormitglied und zudem Vorsitzende der örtlichen Landfrauengruppe. Dort leitete sie unter anderem einen Hardangerkreis. Alice stellte sich darunter so etwas wie eine fernöstliche Meditationsgruppe vor, wagte aber nicht, ihre Gastgeberin mit einer Frage zu unterbrechen. Bei soviel geballter Tüchtigkeit der Eltern verwunderte es nicht, dass natürlich auch die Nachkommenschaft außerordentlich gut geraten war. »Unse Tatdschana war ja immer die Beste inner Schule. Immer.«
Man hätte den Bulls, fand Alice, angesichts der enormen mundartlichen Ausprägung der stolzen Mama unbedingt zu einer anderen Namenswahl raten sollen. Ute, zum Beispiel, da hätte nicht viel schief gehen können, oder vielleicht Inge. Aber Tatjana, der Name wurde durch Mathilde karikiert.
Deren tiefer Seufzer an dieser Stelle erschloss sich Alice nicht ganz, aber sie würde sich hüten, Mathildes Mitteilungsbedürfnis durch eine Frage erneut Schwung zu verleihen. War auch nicht nötig, wie sich zeigte.
»Sie arbeitet ja drüben in Heinrich seine Ap’theke.«
Ihr umhäkeltes Taschentuch auf die feisten Knie senkend, korrigierte Mathilde sich, dass »der arme Heinrich« nun leider nicht mehr unter ihnen weile und tröstete sich sogleich mit der Bemerkung, dass nie ein »Ap’theker« zufriedener mit einer Mitarbeiterin gewesen sei, als »der arme, arme Heinrich mit unse Tatdschana«, und auch »der gute Doktor Fuchs« hielt angeblich große Stücke auf »unse Deern«.
Sieh an, sieh an, so ein Wonnekind! War Jakob wirklich so begeistert von dieser Tatjana, wie deren Mutter behauptete? Dann verwunderte es nicht, dass sie sich berechtigt fühlte, ihn vorzeitig aus dem Urlaub zurückzupfeifen.
Der Sohn aber war offenbar der Prinz im Hause. Schauspieler sei er gewesen, ob Alice denn nicht früher auch immer die Serie »Alter Adel – das Pflegeheim am Schlosspark« gesehen habe. Hatte sie nicht, aber Mathilde erwartete auch keine Antwort, sondern fuhr fort: »Heinz hat da den Zivi gespielt. Natürlich auch adelich.« Sie hob den Kopf und sah Alice für einen Moment zwingend in die Augen. »In Wirklichkeit hat er selbstverständlich gedient. Werner hätte ihm schön was erzählt, wenn er zu den Drückebergern gegangen wäre. So was gibt das bei Bulls nicht!«
Alice schauderte es, und sie warf Fanny einen flehenden Blick zu. Vergeblich versuchte diese, Mathilde zu unterbrechen, die inzwischen Gebäck und Fliederbeersaft aufgetischt hatte und unbeirrt ihren Bericht fortsetzte.
»In der Serie, da wollte er dann nicht mehr weiter machen. – Nützt ja allens nix, entweder das oder Vadder sein Betrieb. Den soll unser Heinz doch übernehmen. Aber nee, der Bengel, immer was anneres im Kopp. Die sagen alle, der geht noch mal inne große Politik.« Mathilde ließ alles in allem überhaupt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der Erfolg ihrer Familie einzig und allein ihr zuzuschreiben war, obwohl es gesundheitlich gar nicht so gut um sie bestellt sei, wie es vielleicht den Anschein habe. Mathildes Mann hingegen schien, wenn seine Frau in den Folgeminuten nichts Entscheidendes verschwieg, weitgehend von Gebrechen verschont. – Abgesehen von seiner Darmträgheit, die Mathilde bewog, Rhabarberauflauf auch in dieser Jahreszeit in ihren raffinierten Speiseplan zu integrieren. Sie griff, nachdem sie Unmengen Zucker in ihren Holundersaft gerührt hatte, nach einem Neujahrskuchen, wies auf dessen spezielle Rezeptur hin und biss herzhaft hinein.
»Vielen Dank, Mathilde«, nutzte Fanny die Gunst der Sekunde, »wir wollen wieder los!«
Sie leerten ihre Gläser und erreichten unter neuerlichen Redeergüssen ihrer Gastgeberin endlich den Ausgang.
»Die Beerdigung, die steht einem doch irgendwie schwer vor Kopp, findet ihr nicht?«, fragte Mathilde, legte ihr Gesicht in Trauerfalten und neigte den Kopf wehmütig zur Seite. »Ach Gott ja, der gute Heinrich.« Sie schnäuzte sich vernehmlich und richtete ihre kleinen runden Augen auf den Gast. »Er war ein Cousin von meinem Werner.«
Alice murmelte: »Oh, mein Beileid!«
»Danke!«, sagte Mathilde und wies auf das gegenüberliegende Apothekengebäude. »An unse Tatdschana hat er doch so gehangen. Wollte unbedingt, dass sie mal die Ap’theke übernimmt. – Aber schon so bald, nee wirklich, damit hat niemand gerechnet.«
»Nein!«, sagte Fanny etwas ungerührt. »Nochmals vielen Dank für die köstliche Bewirtung und dann bis morgen, Mathilde!«
Alice trat ungeduldig von einem auf den anderen Fuß, bis endlich geklärt war, wer wen wann abholen würde, um gemeinsam zum Friedhof zu gehen.
Auf dem Heimweg sprachen beide kein Wort, so sehr hatten sie sich in Mathildes Gegenwart ans Schweigen gewöhnt. Nach den aufdringlichen Tönen in Bulls viel zu warmer guter Stube wirkte der Sturm belebend, aber die kräftigen Böen, die den Schnee zu weißen Dünen zusammenfegten, nahmen ihnen doch die Lust zu einem weiteren Spaziergang.
Aufatmend schloss Fanny die Tür, nahm ihrem Gast die Jacke ab und sagte entschuldigend: »Mathilde ist wirklich eine der schwersten Prüfungen im ganzen Dorf.«
»Eine der …? Das klingt aber vielversprechend!« Alice hob den Kater auf, der es sich auf ihrem Sessel bequem gemacht hatte, und platzierte ihn wieder auf ihrem Schoß. Mit gleichmäßigem Schnurren bekundete er seine Zustimmung.
»Was ist denn eigentlich mit dem Prachtjungen Heinz, diesem künftigen Spitzenpolitiker?«, erkundigte Alice sich.
Der Kronprinz des Hauses Bull, verwöhnter Nachkömmling, soff, trieb sich in der rechtsradikalen Szene herum und kam im väterlichen Betrieb nur schwer zurecht, erfuhr Alice, wobei Fanny sich allerdings etwas zurückhaltender ausdrückte.
»Gehört der etwa zu denen, die den Brand gelegt haben?«, fragte Alice entsetzt.
Fannys Miene verhärtete sich. »Er ist auf jeden Fall einer der Rädelsführer dieser Horde, und ich nehme an, er war dabei. Bewiesen ist es aber nicht, denn es gibt natürlich keine Zeugen.«
Sie zündete Kerzen an und kredenzte einen Cabernet Sauvignon, den sie, wie sie sagte, für besondere Anlässe aufgehoben hatte. Beide unterhielten sich so angeregt, dass sie ein den Sturm übertönendes Motorengeräusch erst wahrnahmen, kurz bevor es auf dem Parkplatz erstarb. Fanny schreckte hoch und lief zum Küchenfenster. Alice folgte ihr in den dunklen Raum. Aus einem Kübelwagen, wie er beim Militär gefahren wurde, dröhnte laut hämmernde Musik. Ein Mann im Tarnanzug sprang heraus, das Haar kurz und gescheitelt, und über der Oberlippe wuchs ihm ein Schnauzer. Sie hörten das Klacken des Zigarettenautomaten. Der Fahrer stapfte breitbeinig zurück, stieg ein und trat einige Male das Gaspedal durch, bevor er mit quietschenden Reifen davonfuhr. Fanny atmete auf. »Hin und wieder fallen sie hier ein, und wenn ich allein bin, fürchte ich mich schon ein bisschen.«
»Jeder vernünftige Mensch muss sich vor diesen verirrten Kreaturen fürchten!«, sagte Alice. »Können Sie die denn nicht loswerden? In unserer Stammkneipe trieben sich eine Zeit lang auch welche herum. Die sind aber bald wieder verschwunden, fühlten sich bei uns einfach nicht wohl.«
Fanny nickte nachdenklich. »Das ist vermutlich das Problem, hier im Dorf fühlen sie sich beängstigend wohl. Wenn sogar der Sohn des Bürgermeisters zu ihnen gehört, von dem Mathilde sagt, er sei bei seinen Leuten schon ein ziemlich hohes Tier …«
»Tier mag wohl angehen«, unterbrach Alice. »Finden Mama und Papa Bull das denn in Ordnung?«
»Werner hätte ihn wahrscheinlich lieber im eigenen Lager, aber er benutzt eh die gleichen törichten Argumente.« Jemand, der auf staatliche Unterstützung angewiesen sei, werde bei Bulls als Sozialschmarotzer diffamiert, jeder, der keine deutsche Abstammung aufweisen könne, als lästiger Ausländer bezeichnet, und, das habe Alice vorhin ebenfalls hören dürfen, fuhr Fanny fort, wer den Dienst mit der Waffe verweigerte, galt als Drückeberger.
Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück und Fanny erhob ihr Glas. »Nun lassen Sie uns die Bulls dieser Welt mal für eine Weile vergessen und auf Ihre Ankunft anstoßen. Ich freue mich sehr, dass Sie da sind.« Sie ließen die Gläser klingen, und als Fanny im Laufe des Gesprächs einmal versehentlich zum Du überging, beschlossen sie, dabei zu bleiben.
»Willst du morgen mit der Suche nach deinen Verwandten beginnen?«, fragte Fanny, während sie Wein nachschenkte. »Du sagtest am Telefon, sie lebten hier ganz in der Nähe?«
»Ich weiß gar nicht, ob es sich wirklich um Verwandtschaft handelt«, begann Alice verlegen, »aber es ist doch sehr wahrscheinlich, da meine verstorbene Großmutter Leonore Schierlings Geburtsnamen trug und in irgendeiner Beziehung zu ihr gestanden haben muss.«
»Leonore?«
Alice erzählte von der spärlichen Information aus Isoldes Nachlass. Fanny sagte nachdenklich: »Ich weiß, dass es da eine Schwester gab, die früh verschollen ist, aber Edith Schmitz, Leonores alte Freundin, kennt sich ganz sicher aus.« Alice war es sehr recht, sich nicht direkt mit Leonore in Verbindung setzen zu müssen. Eigentlich war ihr in Erinnerung an Jakob so ziemlich alles recht, was ihren Besuch hier im Dorf ausdehnte.
Alice erwachte aus traumlosem Schlaf und wusste zunächst nicht, wo sie sich befand. Freundlich schimmerte Tageslicht durch die gelben Vorhänge, und in die ländliche Stille hinein krähte tatsächlich ein Hahn. – Ein recht verspätetes Federvieh, wie Alice nach einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellte. Sie sprang auf, trat ans Fenster und öffnete es weit. Der Sturm hatte sich gelegt; die gestern noch schwer gebeutelten Baumkronen wippten nur leise und ließen bunte Sonnenfetzen über die Wände tanzen. Der Himmel war hier in Küstennähe so durchsichtig, dass die Blicke bis auf seinen blauen Grund tauchen konnten. Auf der vom Schnee geräumten Straße keine Menschenseele – und auch im Haus rührte sich nichts. Alice sog fröstelnd die frische Luft ein. Drüben in der Apotheke versah Jakob sicher schon seit Stunden seinen Dienst. Singend verschwand sie unter der Dusche.
Schon in der Diele duftete es nach frisch gebackenem Kuchen, und tatsächlich reihten sich auf der Küchenanrichte mehrere Bleche mit Butter- und Apfelkuchen aneinander. Alice zwang ihre Naschambitionen nieder und wandte sich dem Frühstückstisch zu. Unter ihrer Tasse fand sie ein Briefchen.
Liebe Alice,
ich hoffe, Du findest alles, was Du brauchst. Bin noch schnell einkaufen.
Gruß Fanny
P.S. Ich freue mich sehr, dass Du hier bist!
Auch Alice freute sich, hier zu sein, bestrich ein Brötchen und biss hungrig hinein. Nach dem Frühstück durchstreifte sie die Räume. Im Saal war die Kaffeetafel gedeckt, und in einem ungeheizten Raum daneben warteten schon appetitlich angerichtete Häppchenplatten auf die Gäste. – Hatte Fanny eine Nachtschicht eingelegt? Alice eilte in die Küche zurück und schloss die Tür. Ein fremdes Haus überraschte mit ganz eigenen Geräuschen. Es knackte im Nebenzimmer, knarrte im Flur, und draußen trieb ein leiser Wind trockene Eichenblätter über die vom Schnee befreite Auffahrt. Als Fanny ihren Wagen auf den Hof steuerte, lief Alice erleichtert hinaus und übernahm einen der schweren Körbe.
»Heinrichs Beerdigung schafft mich noch. – Oder besser gesagt, seine Nichtbeerdigung«, sagte Fanny und hing ihre Jacke an die Garderobe.
»Was ist denn das, eine Nichtbeerdigung?«
»Leonore hat sich ganz überraschend für eine Feuerbestattung entschieden, und Mathilde zeterte und jammerte deshalb inmitten der dicht gedrängten Kundschaft im Bäckerladen herum, du machst dir überhaupt keine Vorstellung.« Fanny packte die Körbe aus und verstaute ihre Einkäufe mit routinierten Handgriffen. »Die Totengräber hätten doch bereits das Grab ausgehoben, und was sie alles zu bedenken gab. Du glaubst nicht, wie wenig das die anderen interessierte.«
»Vielleicht hat Frau Bull Angst, es drückt ihr jemand eine Schaufel in die Hand, um es wieder zuzuschütten?«
»Das wohl weniger. Ich vermute, die unnötigen Kosten beunruhigen sie, es geht schließlich um das Erbe ihrer Kinder. – Zum Glück soll die Trauerfeier trotzdem heute stattfinden. Der Saal ist geheizt, und außerdem ist alles komplett eingedeckt und vorbereitet.«
»Hab ich schon gesehen«, sagte Alice. »Wann hast du denn all die Kuchen und kalten Platten fabriziert?«
»Das war ich nicht allein. Sevim, Dorchen und deren Nichte Maren haben mir heute früh geholfen.«
»Frau Schierling möchte sicher gern bei der Beisetzung ihres Mannes anwesend sein«, vermutete Alice, »und so eine Urne mit Asche lässt sich sehr viel besser aufbewahren, nicht wahr?«
»Natürlich, ist viel praktischer«, antwortete Fanny.
Alice sah ihr amüsiertes Lächeln und bedauerte, dass Alexander nicht bei ihnen war. Er musste Fanny unbedingt kennenlernen!