Die Unschuld des Wassers - Ruth Rendell - E-Book

Die Unschuld des Wassers E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

Ruth Rendell ist die »Queen of Crime«

Immer wieder hat Ismay den gleichen Traum: Sie folgt ihrer Schwester in einen Raum mit einem spiegelglatten See, in dem eine weiße Gestalt treibt. Der Traum erinnert Ismay unaufhörlich daran, dass vor neun Jahren ihr Stiefvater in der Badewanne ertrunken ist. Eine lange Zeit, in der die Schwestern niemals über jenen Tag gesprochen haben. Doch egal, wie sehr sie sich bemühen, alle Erinnerungen zu unterdrücken – die schreckliche Wahrheit drängt unerbittlich ans Tageslicht …

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Ruth Rendell

Die Unschulddes Wassers

Ins Deutsche übertragenvon Eva L. Wahser

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel»The Water’s Lovely«bei Hutchinson, London.

1. Auflage© 2006 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.© der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15128-7

www.blanvalet.de

1

Wochenlang verschwendete Ismay keinen einzigen Gedanken daran. Dann rief irgendetwas die Erinnerung wieder wach, oder ein Traum ließ alles wieder aufleben. Der Traum begann immer gleich: Sie stieg mit ihrer Mutter die Treppe hinauf und folgte Heather durchs Schlafzimmer in den Raum auf der anderen Seite. Im Traum befand sich hier allerdings kein Bad, sondern ein ringsum mit Marmor getäfeltes Gemach, in dessen Mitte ein spiegelglatter See lag. Das weiße Ding im Wasser trieb, mit dem Gesicht nach unten, auf sie zu, und ihre Mutter rief absurderweise: »Schau weg!« Denn das tote Ding war ein Mann, ein nackter Mann, und Ismay ein fünfzehnjähriges Mädchen. Aber sie hatte hingesehen, und in den Träumen tat sie es wieder. Allerdings schaute sie nur auf das Gesicht des Ertrunkenen. Es war Guy. Sie hatte dem Toten ins Gesicht gesehen. Manchmal vergaß sie den Anblick, und doch flammte er immer wieder vor ihrem inneren Auge auf: die Angst, die noch in den toten Augen stand, die geblähten Nasenflügel, die statt Luft Wasser eingesogen hatten.

Heather zeigte weder Furcht noch sonst eine Emotion. Sie stand nur mit hängenden Armen da. Das nasse Kleid klebte ihr am Körper; unter dem Stoff zeichnete sich deutlich ihr Busen ab. Alle waren stumm, in der Realität wie in den Träumen, bis ihre Mutter auf die Knie sackte und unter Weinen und Lachen völlig wirres Zeug daherplapperte.

Bei Ismays Rückkehr war das Haus von Grund auf verändert. Selbstverständlich hatte sie gewusst, dass es zwei separate Wohnungen geben würde: eine im oberen Stockwerk für ihre Mutter und Pamela und die untere für sie und ihre Schwester Heather. Zwei Schwesternpaare – zwei Generationen. Doch eines war ihr während ihres letzten Universitätssemesters im sechshundertfünfzig Kilometer entfernten Schottland nicht klar gewesen: dass dabei ein Teil des Hauses verschwinden würde.

Die Idee dazu stammte von Pamela, auch wenn diese keinen Grund dafür hätte nennen können. Sie hatte von dem Vorfall so wenig Ahnung wie der Rest der Welt. In aller Unschuld und in bester Absicht hatte sie die drastischen Veränderungen geplant und ausgeführt. Pamela zeigte Ismay die Erdgeschosswohnung und begleitete sie dann nach oben.

»Ich bin nicht sicher, wie viel Beatrix versteht«, sagte sie, während sie die Tür zum ehemaligen Elternschlafzimmer öffnete. Hinter diesem Zimmer hatten sie damals den Ertrunkenen gefunden. »Ich kann nicht sagen, an wie viel sie sich noch erinnert. Weiß der Himmel, ob sie überhaupt realisiert, dass es sich um dasselbe Zimmer handelt.«

Das kann ja ich kaum, dachte Ismay und verstummte schockiert. Beinahe ängstlich sah sie sich um. Inzwischen war alles ein einziger Raum. Die Tür zum Bad – wo war sie gewesen? Die raumhohen Balkontüren waren verschwunden. Stattdessen gab es eine einzelne Glastür. Das Ganze wirkte größer und ähnelte mehr dem Zimmer aus den Träumen, wenn es auch nicht ganz so weitläufig war.

»So ist’s doch besser, Issy, oder nicht?«

»O ja, ja. Es war nur so ein Schock.« Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie das Haus verkauft hätten und weggezogen wären. Andererseits, wie hätten sie und Heather sich eine eigene Wohnung leisten können? »Hat Heather es schon gesehen?«

»Sie liebt ja Veränderungen über alles. Ich weiß nicht, wann sie das letzte Mal mit einer solchen Begeisterung auf etwas reagiert hat.« Pamela zeigte ihr die beiden Schlafzimmer, die früher einmal ihr und Heather gehört hatten, die neue Küche und das neue Bad. Am Treppenabsatz blieb sie stehen, umklammerte den Geländerpfosten und blickte Ismay fast flehend an. »Es ist neun Jahre her, Issy. Oder sind es schon zehn?«

»Neun. Fast neun.«

»Ich dachte, eine solche Veränderung würde dir helfen, die Sache endlich zu überwinden. Wir konnten dieses Zimmer doch nicht noch länger gesperrt lassen. Wie lange ist es her, seit es jemand betreten hat? Wahrscheinlich auch neun Jahre.«

»Ich denke nicht mehr viel daran«, log sie.

»Manchmal bilde ich mir ein, Heather könnte es vergessen haben.«

»Vielleicht kann ich es jetzt auch vergessen«, sagte Ismay und ging hinunter, um ihre Mutter zu suchen, die mit Heather im Garten geblieben war.

Vergessen ist keine Willenssache. Und so hatte sie die Sache zwar nicht aus ihrem Gedächtnis streichen können, aber das Gespräch mit Pamela, der Rundgang durch ihr altes Zuhause mit seinen Neuerungen markierten für Ismay einen Wendepunkt. Obwohl sie auch in der folgenden Nacht wieder von dem ertrunkenen Guy träumte, änderte sich allmählich ihre Einstellung, und sie spürte, wie die Last auf ihren Schultern leichter wurde. Sie hörte auf, sich zu fragen, was an diesem heißen Augustnachmittag passiert war. Wo war Heather gewesen? Was genau hatte Heather getan – wenn sie überhaupt etwas getan hatte? War vielleicht sonst noch jemand im Haus gewesen? Neun lange Jahre hatten die bohrenden Fragen und Spekulationen sie nicht losgelassen. Endlich hatte sie sich nach dem Grund dafür gefragt. Angenommen, sie fand die Wahrheit heraus. Was konnte sie damit anfangen? Sie hatte nicht vor, ihr zukünftiges Leben mit Heather zu teilen und sie vor irgendetwas zu beschützen, geschweige denn, sie »zu retten«. Die momentane Situation war einfach nur praktisch. Sie waren Schwestern und standen sich nahe. Sie liebte Heather, und das beruhte ganz gewiss auf Gegenseitigkeit.

Sie und Heather im Erdgeschoss, ihre Mutter mit Pamela im ersten Stock. Als Ismay ihre Mutter zum ersten Mal in dem neuen Wohnzimmer erlebte, beobachtete sie sie aufmerksam. Ihre Mutter hatte sich mit ihrem Radio, ihrem Fußschemel und ihrer Handtasche, die sie überall herumschleppte, eine Ecke eingerichtet. Ismay wollte wissen, ob der Blick der unter Medikamenten stehenden Beatrix vielleicht geistesabwesend das hintere Ende des Zimmers streifte, das sich am stärksten verändert hatte. Aber nein, das tat er nie. Offensichtlich war sie nicht einmal imstande zu begreifen, dass es sich um ein und dasselbe Zimmer handelte. Pamela hatte beide Schwestern auf einen Drink eingeladen. Heather ging mit Ismay hinauf, und es war genau, wie Pamela gesagt hatte. Heather benahm sich, als hätte sie alles vergessen. Sie ging sogar zu der neuen Glastür und öffnete sie, um zu prüfen, ob es regnete. Dann machte sie die Tür wieder zu und kam zurück. Vor einem Bild, das Pamela vor Kurzem aufgehängt hatte, blieb sie stehen. An dieser Wand hatte früher der Handtuchhalter gehangen; davor stand ein Schränkchen, auf das Beatrix eine Schüssel mit bunten Seifenstücken gestellt hatte. Ironischerweise war dieses Bild das Einzige, was an das ehemalige Badezimmer erinnerte: der Druck eines Bonnard-Gemäldes mit einer nackten Frau, die sich nach dem Bad abtrocknet.

Wenn alle den Vorfall vergessen, ignorieren oder akzeptieren konnten, dann musste sie es auch tun. Hatte sie ja auch schon. Fast war Ismay stolz darauf, dass sie genau das getan hatte, was man nach landläufiger Meinung tun musste: weitermachen. Als Ismay das nächste Mal in Pamelas Abwesenheit im oberen Stockwerk auf ihre Mutter aufpasste, stand sie irgendwann auf und ging über den polierten Boden und zwei Teppiche bis zu einem Tisch, der den Platz eingenommen hatte, an dem sich früher die Dusche befand. Dort nahm sie einen gläsernen Briefbeschwerer mit Rosenmuster in die Hand. Während sie ihn gegen das Licht hielt, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Das Pochen beruhigte sich, wurde langsamer und gleichmäßig. Dann drehte sie sich um und betrachtete demonstrativ die Stelle, wo Guy gestorben war.

Beatrix hatte ihr Radio eingeschaltet und dabei wie immer ihren Körper so nach links verdreht, dass ihr Kopf fast auf dem Regalbrett neben dem Radio lag. Sie presste ihr Ohr an den Lautsprecher. Nichts deutete darauf hin, dass sie registrierte, wo Ismay stand. Als ihre Tochter sie anlächelte, rang sie sich ein zerstreutes Lächeln ab.

Kurze Zeit später fand Ismay einen Job in der Werbung, und Heather kam in der Gastronomie unter. Die Schwestern kamen gut miteinander aus. Wie immer. Ismay hatte sich schon vor langer Zeit, beinahe unbewusst, zu Heathers Aufpasserin ernannt. Nein, das nun auch nicht, niemals – zu ihrer Gefährtin war sie geworden. Sie hatte nicht die Absicht, Heather zu überwachen, und wollte sie auch nicht »im Auge behalten« – Ismay wollte einfach nur da sein und sich um sie kümmern. Bei jedem Besuch daheim, jedes Mal, wenn ihre getrennten Wege sie während der letzten vier Jahre zusammenführten, hatte sie sich detailliert nach allem erkundigt und Heather aufmerksam zugehört. An die Zukunft und die damit unausweichlich verbundene Trennung verschwendete sie nie viele Gedanken. Entweder würde es eines Tages zwangsläufig dazu kommen, oder man musste die Trennung vermeiden, wofür beide einen grausamen Preis bezahlen würden.

So lebten sie zusammen, ohne je ein Wort über die Veränderungen im Haus zu verlieren, geschweige denn über den Vorfall an jenem Augusttag, an dem Ismay fünfzehn und Heather zwei Jahre jünger gewesen war. So blieb es Ismay erspart, jene nie ausgesprochene Frage zu stellen. Jede von ihnen zahlte die Hälfte der Miete als Unterhalt an Beatrix.

Ein Jahr verging und noch ein halbes. Ismay verliebte sich. Als sie Pam, die ihr zuhörte, und ihrer Mutter, die anscheinend nichts davon aufnahm und nicht einmal die Worte zu hören schien, davon erzählte, schilderte sie ihren Zustand wie einen freien Fall ins Ungewisse. Noch nie hatte eine Frau so leidenschaftlich geliebt wie Ismay ihren Andrew Campbell-Sedge. Auch Heather hörte zu, hatte aber ihrerseits nichts zu berichten. Heather und Liebesaffären? Wenn, dann waren es sicher nur kurze, oberflächliche und halbherzige Versuche gewesen. In Andrews Gegenwart verlor Heather kaum ein Wort. Ismay wusste, warum. Wenn Heather jemanden nicht leiden konnte, blieb sie stumm. Doch in dem Fall steckte noch mehr dahinter.

Andrew sah aus wie Guy. Er war derselbe Männertyp. Er hätte Guys jüngerer Bruder sein können. War das der Grund dafür, dass Ismay ihn liebte und Heather ihn nicht mochte? In der Nacht, als Ismay das begriff, hatte sie wieder diesen Traum, nur dass sie diesmal unter dem klaren hellgrünen Wasser Andrews Gesicht sah.

2

Als Edmund von der Arbeit heimkam, war Marion da. Schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Seine Mutter meinte: »Marion war so nett und hat für mich die Einkäufe erledigt. Da habe ich sie gebeten, noch zu bleiben und mit uns zu essen. Ich wusste, du würdest dich freuen.«

Tatsächlich? Warum? Soweit er wusste, hatte er sich nie über Marion geäußert. Vor ein paar Monaten hatte er lediglich angemerkt, es sei ihm schleierhaft, warum Frauen ihre Haare so unnatürlich tiefrot färbten. Marion lächelte ihn an und plauderte bei Tisch munter wie eh und je über sämtliche alten Leutchen, die sie besuchte und denen sie so gern half. »Schließlich werden wir alle mal alt, nicht wahr?« Dann folgten Bemerkungen über das staatliche Gesundheitswesen und die verschobene Hüftoperation ihrer verstorbenen Mutter, über Sedativa, Schmerzmittel und alternative Medizin. Sie bildete sich ein dies sei sein Interessengebiet, und gab sich die größte Mühe, ihm zu gefallen. Später würde er sie zur U-Bahn-Station begleiten müssen, die zwar nur am Fuß des Hügels lag, aber schließlich konnte er sie nicht allein durch die dunklen Straßen gehen lassen. Und auf dem ganzen Weg würde sie ihm erzählen, wie fantastisch sich seine Mutter trotz ihrer gesundheitlichen Probleme gehalten habe.

Seine Mutter hatte Avocados mit Krabben vorbereitet, und danach gab es Spaghetti Carbonara. »Einfach köstlich, Irene«, rief Marion, die sich selbst für keine schlechte Köchin hielt. Als Geschenk hatte sie ihr eine Linzer Torte mitgebracht. »Wenn ich die Augen zumache, fühle ich mich wie in Bologna.«

Wärst du’s doch nur, dachte Edmund. Aha, also war man inzwischen bei »Irene« angelangt. Bei ihrem letzten Besuch hatte es noch »Mrs Litton« geheißen. Marions Haare wiesen eine kräftigere Rotfärbung auf als am Wochenanfang. Ihr kleines Klammeräffchengesicht war noch stärker geschminkt. Noch nie hatte er eine so zappelige Frau erlebt. Sie konnte keine fünf Minuten still sitzen. Ständig sprang sie auf und stakste auf ihren Streichholzbeinchen in den Pumps mit den neckisch-niedrigen Pfennigabsätzen herum.

»Bitte, fühlen Sie sich nicht verpflichtet, mich zu begleiten«, sagte sie zu ihm, nachdem sie den Kaffee serviert und wieder abgeräumt hatte. Noch eine Premiere.

»Das macht doch keine Mühe«, sagte seine Mutter, als müsste sie es tun. »Stellen Sie sich nur vor, es würde etwas passieren. Das würde er sich nie verzeihen.«

Sie lächelte und blickte Marion verschwörerisch an, als wollte sie sagen: Sehen Sie denn nicht, wie gern er Sie begleiten möchte? In dem Moment wusste er Bescheid: Marion war für ihn bestimmt. Seine Mutter hatte sie ihm als Geschenk ausgesucht. Wahrscheinlich noch nicht gleich, als man sich vor ein, zwei Jahren kennengelernt hatte – nein, damals noch nicht, aber vielleicht vor sechs Monaten schon. Und er, der Narr, hatte es nicht kommen sehen. Erst jetzt gingen ihm die Augen auf. Marion war älter als er, jedoch höchstens fünf oder sechs Jahre. Sie sollte seine Freundin werden, dann seine Verlobte und übers Jahr seine Ehefrau – eine Ehefrau, die mit seiner Mutter gern unter einem Dach wohnen würde.

Extreme Situationen erforderten extreme Maßnahmen. Er begleitete Marion den Hügel hinunter und hörte sich ihr Geplapper über die Arthritis seiner tapferen Mutter – als sei Irene neunzig und nicht zweiundsechzig – und die jüngsten Kapriolen des alten Mr Hussein und der alten Mrs Reinhardt an. Allerdings nur mit halbem Ohr, denn gleichzeitig sann er über mögliche Gegenmaßnahmen nach. Als sie ihm vor dem Bahnhof für seine Begleitung dankte, hob sie ihm ihr Gesicht entgegen. Erwartete sie etwa einen Kuss? Er trat einen Schritt zurück, wünschte ihr eine gute Nacht und ließ sie stehen.

»Wirklich eine reizende Frau«, meinte seine Mutter. »Ein reizendes Mädchen, sollte ich wohl besser sagen.« Sie hielt inne, um ihrer Bemerkung Nachdruck zu verleihen. »Wir haben einen neuen Nachbarn. Ich habe ihn heute einziehen sehen. Ein gewisser Mr Fenix. Marion meint, er hätte über eine Million für das Haus bezahlt. Und sie muss es schließlich wissen.«

Am nächsten Tag schaute er sich im Hospiz seine Kolleginnen etwas genauer an. Sämtliche Krankenschwestern, das wusste er, waren verheiratet oder lebten mit einem Freund zusammen. Am späten Vormittag ging er während seiner Arbeitspause hinunter in den Küchentrakt, um sich zum Kaffee einen Lebkuchen oder ein Stück Strudel zu holen. Das Jean-Langholm-Hospiz war für seine gute Küche bekannt. Wie sagte Michelle, eine der Köchinnen, immer? »Wenn die Leute schon zum Sterben hierherkommen, dann wollen wir ihnen zum Abschied wenigstens ein anständiges Essen servieren.«

Michelle half Diane gerade beim Gemüseputzen, wusch Brokkoli und bürstete Karotten ab. Heather, die Küchenchefin, buk zum Mittagessen hauchdünne Pfannkuchen. Edmund ging zu ihr hin – das tat er manchmal –,erkundigte sich nach ihrem Befinden und erzählte ihr von einem Patienten, für den sie sich interessiert hatte, einen gewissen Mr Warriner, der als Krebspatient auf seiner Station lag. Sein »Wie geht’s?« beantwortete sie einfach mit einem Lächeln, und die Neuigkeiten über Mr Warriner quittierte sie mit einem Kopfnicken. Sie war eine zurückhaltende junge Frau mit einem unscheinbaren Gesicht, das Ruhe und Gelassenheit ausströmte, und hatte eine kräftige rundliche Figur, ohne dabei dick zu sein. Sie sah immer aus, als sei sie frisch gebadet und hätte sich die Haare gewaschen. Ihre blauen Augen erinnerten an Delfter Porzellan. Ihre wunderschön dichten, blonden Haare waren zu einem Pagenkopf geschnitten. Freundlich fragte sie, ob sie ihm etwas vom Mandelkuchen oder von der Torte anbieten könne. Edmund entschied sich für ein Stück Battenberg-Torte und fragte dann: »Hätten Sie Lust, mit mir nach Feierabend mal was trinken zu gehen?«

Diese Frage kam für sie offensichtlich völlig unerwartet. »Ja, gern«, sagte sie leicht zögerlich.

»Wie wär’s dann mit heute Abend?«

Heather starrte ihn an, aber sie überlegte nicht lange. »Wenn Sie möchten.«

»Wann machen Sie hier Schluss?«

»Um sechs.«

»Dann hole ich Sie hier unten um sechs Uhr ab.«

Dafür würde er zwar auf seiner Station eine Stunde lang die Zeit totschlagen müssen, aber das war auch egal. Er könnte mit Mr Warriner über dessen Sohn, den Hund und die prächtige Briefmarkensammlung aus vergangenen Tagen plaudern. Egal, wie schrecklich dieser Abend werden würde, egal, wie oft Heather und er sich lange anschweigen und verlegen in die Augen sehen würden, alles war besser als Marion und ihr Geblöke. Wenigstens würde er dadurch der Falle entgehen, die seine Mutter und Marion für ihn aufgestellt hatten.

»Wie findest du das?«, fragte Ismay. »Heather hat einen Freund.«

Andrew, der gerade Wein einschenkte, war so verblüfft, dass er das Glas überlaufen ließ. Ismay holte schnell ein Handtuch aus dem Bad. Lachend küsste er sie. »Und wer ist dieser Held?«

»Ach, Andrew, das ist nicht nett. Schließlich ist und bleibt sie meine Schwester. Ich liebe sie, auch wenn du es nicht tust.«

»Entschuldige, Schatz. Vermutlich beurteile ich sie und ihre Art, mit anderen Typen umzugehen, danach, wie sie mich behandelt. Auf dem Gebiet des hartnäckigen Schweigens ist sie eine wahre Meisterin. Aber das wäre mir ja alles egal, wenn sie nicht bei dir wohnen würde.« Andrew reichte ihr ein Glas, setzte sich neben sie und zündete sich eine Zigarette an. Ismays Missbilligung gegenüber Rauchern kannte nur eine einzige Ausnahme: Andrew. Sie fand, er rauchte so elegant wie ein Hollywoodschauspieler aus den Dreißigerjahren. »Also weißt du«, fuhr er fort, »eines müsstest du mir wirklich hoch anrechnen: dass ich nicht getürmt bin, nachdem ich herausgefunden hatte, dass der kleine Hausdrache, der es sich auf diesem Sofa bequem gemacht hatte, in Wirklichkeit deine Schwester und Mitbewohnerin war. Ist ja gut, sei doch nicht beleidigt. Du weißt doch, dass ich dich liebe. Wer ist es? Erzähl mir von ihm.«

»Er ist Pfleger.«

»Du machst Witze. Im Zoo?«

»Nein, Andrew, er ist Krankenpfleger. Im Jean-Langholm-Hospiz, wo auch Heather arbeitet.«

»Hätte ich mir denken können. Hast du ihn schon kennengelernt?«

»Noch nicht. Er heißt Edmund Litton und hat offensichtlich sämtliche Krankenpflegediplome, die man erwerben kann. Er wohnt in West Hampstead und ist dreiunddreißig.«

»Wie schaffst du es nur, einer Wand diese ganzen Informationen abzuluchsen? Ich bringe kaum ein Wort aus Heather heraus. Das totale Gegenteil zu dir, mein Plaudertäschchen. Ehrlich, manchmal frage ich mich, ob sie wirklich deine Schwester ist. Vielleicht ist sie ein Wechselbalg. Du bist so hübsch, während sie nun wahrlich keine Grazie ist. Stimmt doch, oder?«

»Keine was?«

»So sagt meine Großmutter immer. Mir gefällt dieser Ausdruck. Klingt so bildlich. Jetzt interessiert mich nur noch eines: Wird er sie heiraten? Wird dieser kühne Sanitäter sie ehelichen und von hier entführen, damit wir beide das tun können, was ich mir schon seit einem ganzen Jahr wünsche? Endlich zusammenziehen?«

»Ach, Andrew, das glaube ich nicht«, sagte Ismay. »Er wohnt bei seiner Mutter.«

Das Haus, Mitte der Dreißigerjahre erbaut, war ziemlich groß. Irene Litton hätte nie erwartet, dass ihr Sohn mit ihr eine Wohnung oder ein kleines Häuschen teilen würde. Jedenfalls redete sie sich das ein. Wenn man aber ein Haus mit vier Schlafzimmern zur Verfügung hatte, war es einfach unklug, so etwas leer stehen zu lassen, oder, besser gesagt: Es war klug, es nicht zu tun. Trotz seiner vielen Urkunden und Diplome verdiente Edmund nicht sonderlich viel. Wenn er nach den Wünschen seiner Eltern Medizin studiert hätte, wäre sein Gehaltsniveau ein ganz anderes gewesen, aber so, wie die Dinge lagen, wäre es schlicht und einfach töricht gewesen, wenn er von seinem Gehalt noch eine Hypothek für eine Wohnung hätte abbezahlen müssen. Natürlich hätte sie das Haus verkaufen und den Erlös mit Edmund teilen können. Doch dazu hätte sie vergessen müssen, wie sehr sie dieses Haus am Chudleigh Hill liebte und dass es seit sechsunddreißig Jahren ihr Zuhause gewesen war, jenes Zuhause, in das sie als Braut eingezogen war. So etwas hätte ihr Sohn nie zugelassen. Dafür respektierte er ihre Gefühle und Erinnerungen viel zu sehr.

Außerdem würde sie ja nicht mehr lange leben. Sie würde nicht steinalt werden. Das wusste sie schon seit Edmunds Geburt, die sie noch in schrecklicher Erinnerung hatte. Achtunddreißig Stunden lang Wehen! Man hatte sich an ihren Mann gewandt und ihn gefragt, wen man retten solle, seine Frau oder das Ungeborene. Seine Frau, hatte er selbstverständlich gesagt. Wie sich nach einem qualvollen Albtraum herausstellte – sie dachte, sie müsse sterben –, kam das Kind zur Welt, und sie lebte immer noch. Aber von diesem Augenblick an wusste sie, dass sie von Natur aus nicht kräftig war. Andernfalls hätten sie nicht so viele Unpässlichkeiten geplagt: Migräneattacken, die sie immer wieder tagelang hinstreckten, Kreuzschmerzen, von denen Edmund behauptete, die Ursache sei weder Arthritis noch eine Rückgratverkrümmung – aber er war eben kein Arzt –, eine Fibromyalgie, die von chronischer Müdigkeit begleitet wurde, chronische Verdauungsstörungen, taube Hände und Füße – so begann Parkinson, das wusste sie –, und in der letzten Zeit Panikattacken, die sie schier um den Verstand brachten.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihren fünfzigsten Geburtstag erleben würde. Ein Wunder, dass es anders gekommen war und sie immer noch lebte, aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Wenn sie in zwei, drei Jahren starb, würde das Haus samt Einrichtung an Edmund fallen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass auch Marion dabei mitbedacht würde, aber das sollte nun nicht sein. Na ja, junge Menschen mussten ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und ihre eigenen Fehler machen. Um Edmunds willen hoffte sie, dass er mit seiner Entscheidung für diese Heather keinen Fehler gemacht hatte. Er hatte sie zum Chudleigh Hill mitgebracht. Nicht um sie seiner Mutter vorzustellen – so konnte man das wohl nicht gerade nennen. Er hatte sie einfach mitgebracht. Das Mädchen war, vorsichtig ausgedrückt, linkisch und starrte einen aus grellblauen Augen irritierend an. Richtig unverschämt, dachte Irene. Aber gewiss trieben die beiden dort oben nichts, was sie nicht tun sollten. Schließlich war noch helllichter Samstagnachmittag. So etwas würde Edmund nie machen. Nicht vor der Hochzeit. Oder wenigstens nicht vor der Verlobung, dachte Irene tapfer; schließlich war sie ja nicht von gestern.

»Mutter, das ist Heather«, sagte Edmund.

»Angenehm.«

»Hallo, Mrs Litton«, sagte das Mädchen. Nach Irenes Geschmack klang es viel zu lässig.

Hübsche Haare, dachte Irene, aber sonst macht sie nicht sonderlich viel her. »Kann ich euch einen Tee anbieten?«

»Wir wollten gerade ins Kino«, erwiderte das Mädchen.

»Wie reizend. Was wollt ihr euch denn ansehen?«

»›Der Manchurian Kandidat.‹«

»Ach, den würde ich auch gern sehen«, meinte Irene. »Mit Nicole Kidman, oder?«

»Ich glaube nicht.« Heather wandte sich von Edmund ab und sah ihr lächelnd ins Gesicht. »Mrs Litton, würden Sie uns bitte entschuldigen? Wir müssen gehen. Ed, mach schon, sonst kommen wir zu spät.«

Ed! So hatte ihn noch niemand genannt. Unwillkürlich musste sie an den gewaltigen Unterschied zu Marion denken. Und Marion hätte sie mit Sicherheit gebeten, sie zu begleiten, wenn sie geäußert hätte, dass sie diesen Film gern sehen würde. Schließlich war das eine Sache der Höflichkeit. Eigentlich hätte auch Edmund sie fragen können. Plötzlich verspürte sie ein Stechen in der Leibesmitte, bittere Galle stieg in ihr hoch. Hatte sie vielleicht Gallensteine? Edmund würde es wissen, auch wenn er kein Arzt war. Sie würde ihn danach fragen, sobald er heimkam.

In der Nacht wachte Ismay auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie lag allein im Dunkeln – Andrew war schon fort – und grübelte über ihre Schwester nach. Würde dieser Mann ihre Schwester vielleicht heiraten? Gab es eine Chance? Bis Andrew auf diese Idee gekommen war, hatte sie an so etwas nicht einmal im Traum gedacht. Schließlich waren Edmund und Heather noch nicht einmal einen Monat zusammen. Trotzdem schien Heather ihn zu mögen, denn irgendwie war sie ständig mit ihm unterwegs. Noch nie war sie so oft ausgegangen, wenigstens nicht, seit Ismay hier mit ihr zusammenlebte. Während ihrer Ausbildung zur Diätassistentin hatte Heather zwar ein, zwei Freunde gehabt, aber das war, jedenfalls soweit Ismay wusste, nichts wirklich Ernstes gewesen.

Sie stand auf und wollte ins Bad gehen. Es dämmerte schon. Graues Licht kündete vom baldigen Sonnenaufgang. Heather hatte ihre Tür offen gelassen. Ismay blieb stehen und warf einen Blick auf ihre tief und fest schlafende Schwester, deren wunderschöne Haare wie ein goldenes Seidenkissen auf dem Polster lagen. Daneben ruhte ihre kräftige rechte Hand, die so geschickt zupacken konnte. Es war reichlich früh, an eine Hochzeit mit Ed zu denken, andererseits hatte es eine solche Situation noch nie vorher gegeben. Irgendwie musste sich Ismay eingestehen, dass sie eine ernste Beziehung für Heather wie selbstverständlich ausgeschlossen hatte. Als sie sich nach dem Grund dafür fragte, fiel ihr lediglich eine unbefriedigende Antwort ein: Heather war eben Heather. Sie war nicht wie andere Mädchen und für Männer nicht attraktiv. Aber auf Edmund musste sie wohl doch anziehend wirken.

Selbstverständlich hatte sie sich nicht darauf versteift, mit Heather zusammenzubleiben und für immer und ewig eine Wohnung mit ihr zu teilen. Ein solcher Gedanke wäre völliger Unsinn gewesen – schließlich war Heather ein unabhängiger Mensch. Sie konnte sich ganz gut um sich selbst kümmern und allein leben oder eben eine Existenz als Ehefrau führen. Jedenfalls ging Ismay davon aus, ganz im Gegensatz zu Andrew, in dessen Augen Heather irgendwie behindert war. Doch in diese Richtung hatte Ismay nicht einmal zu denken gewagt. Natürlich konnte sie sich notfalls von Heather trennen, und dann würden sie leben wie alle anderen normalen Schwestern auch, die einander gern hatten, ohne deswegen auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet zu sein …

An allem war nur die Nacht schuld. Fünf Uhr morgens – die Stunde der Verwirrung und der Trauer. Sie ging wieder ins Bett, wo sie im blassgrauen Licht mit offenen Augen dalag. Endlich erkannte sie, dass das alles nichts mit der Tageszeit zu tun hatte und auch nicht mit ihrem Wunsch, sich mit Andrews oder Heathers Naturell abzufinden. Alles drehte sich darum, was Heather vor zwölf Jahren getan hatte. Und getan hatte sie etwas, das stand zweifellos fest.

Doch das wussten nur drei Menschen: sie, ihre Mutter und Heather selbst. Dieses Wissen hatte ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben, in die Schattenwelt der Schizophrenie. Ja, sie hatten über Heathers Beteiligung und über ihre Schuld diskutiert, sie und ihre Mutter, aber eben auch nur untereinander und nie mit Heather. Und die verhielt sich so, als hätte es nie einen Vorfall gegeben; sie sprach nie über Guy oder seinen Tod. Selbst die Erinnerung an ihn schien bei ihr gelöscht zu sein. Und doch war er tot, und daran war Heather schuld. Manchmal spürte Ismay eine Gewissheit, als hätte sie die Tat mit eigenen Augen gesehen, und manchmal glaubte sie nur, es zu wissen, weil jede andere Möglichkeit ausgeschlossen war.

Angenommen, Heather wollte Edmund Litton heiraten. Musste man ihm von der Sache erzählen? Das war die große Frage. Konnte sie es zulassen, dass dieser offensichtlich nette, brave und intelligente Mann Heather zur Frau nahm, ohne von ihrer Tat zu wissen? Andererseits – würde er Heather dann noch wollen? Ich liebe meine Schwester, flüsterte sie sich im Dunkeln zu. Sie ist ein liebenswürdiges Geschöpf, egal, was Andrew sagt. Es wäre mir unerträglich, sie zu verletzen und ihres Glückes zu berauben und sie vom Leben abzuschneiden, so wie man früher Mädchen ins Kloster gesteckt hat, nur weil … weil sie jemanden ertränkt hatte?!

Sie hörte, wie Heather aufstand und ganz leise in die Küche schlich. Sollte sie Heather Edmunds Obhut anvertrauen, auch wenn sie selbst diese Rolle nur halbherzig ausgeübt hatte? Ismay versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Es ist noch früh am Tag, redete sie sich ein. Einschlafen konnte sie trotzdem nicht mehr.

3

Ohne ein eigenes Zuhause oder genug Geld für eine befristete Bleibe gestaltete sich ein Sexleben schwierig. Edmund hatte bereits seit fünf Jahren mit niemandem mehr geschlafen. Das letzte Mal war es während der Weihnachtsfeier im Hospiz mit einer Krankenschwester von einer Teilzeitagentur passiert, in einem Raum voller Waschbecken, der sogenannten »Schleuse«. Und auch das war nur ein einmaliger Quickie gewesen. Seitdem er mit Heather ausging, erfüllte ihn der Gedanke an seine weitgehend sexfreie Zeit zwischen zwanzig und dreißig mit ungläubiger Scham. Dieses Jahrzehnt galt im Hinblick auf Lust und Potenz als die beste Phase im Leben eines Mannes, und er hatte sie verstreichen lassen, weil er sich stets gescheut hatte, seiner Mutter zu eröffnen, dass er ein Mädchen bei sich übernachten ließ. Reue war sinnlos. Aber noch war nicht alles zu spät, und noch heute Abend wollte er seiner Mutter mitteilen, dass er übers Wochenende verreisen würde. Und auch den Grund dafür.

Schon seit einiger Zeit hatte er ihr nun die Stirn geboten. Lange vor seiner Begegnung mit Heather hatte er ein Abendessen bei seinem Freund, dem am Hospiz arbeitenden Palliativmediziner Ian Dell, erlebt und dabei Ian mit dessen Mutter beobachtet. Nie hätte er sich träumen lassen, dass sein energischer, resoluter Freund so kraftlos und unterwürfig sein konnte und dermaßen unter der Knute seiner Mutter stand. Mrs Dell war eine kleine alte Hexe, wie Edmund sie innerlich nannte, und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Irene Litton, aber in ihrem diktatorischen Verhalten glichen sich beide wie ein Ei dem anderen. Ian gab Mrs Dell fast in allen Punkten nach, und zu allem Überfluss entschuldigte er sich sogar noch bei Edmund dafür, dass er sich – im Tonfall äußerst liebenswürdig – geweigert hatte, anderntags im Hospiz frei zu nehmen, um seine Mutter zu ihrer Schwester nach Rickmansworth zu fahren.

»Wahrscheinlich denkst du, ich hätte sie fahren sollen«, meinte er. »Ich habe noch Überstunden, und außerdem ist es bei uns momentan nicht so hektisch. Stimmt ja auch. Ich werde die Sache wieder ausbügeln und am Wochenende mit ihr einen Ausflug machen.«

In Ian hatte er sein eigenes Spiegelbild erblickt. Er musste sich ändern. Wenn er schon jetzt, mit Anfang dreißig, nicht mehr in der Lage war, seiner Mutter die Stirn zu bieten, dann war alles zu spät. Obwohl er mit Heather nie über seine Mutter gesprochen hatte, half es ihm irgendwie weiter, dass die junge Frau einen Platz in seinem Leben hatte. Es verlieh ihm Selbstvertrauen und stimmte ihn fröhlich. Als ihn Irene an seinem ersten freien Samstag seit einem Monat aufgefordert hatte – es war eine Aufforderung und keine Bitte –, mit ihr zusammen seine Tante und seinen Onkel in Ealing zu besuchen, hatte er tief Luft geholt und sich geweigert. Er habe schon etwas vor. Die Folge war ein erbitterter Streit gewesen, der darin gipfelte, dass seine Mutter eine Panikattacke bekam. Aber Edmund sagte sich immer wieder: Der erste Schritt zählt. Danach würde allmählich alles leichter werden, und er würde ihr in aller Offenheit seine Planung fürs Wochenende mitteilen können. Und sie würde sich einfach damit abfinden müssen. Mit diesen Gedanken nahm er allen Mut zusammen.

Als er Heather zum ersten Mal auf einen Drink eingeladen hatte, hatte er ihrer Beziehung kaum eine Zukunft gegeben. Höchstens ein paar Wochen ohne Sex. Wie immer eben. Außerdem hatte er Heather nicht sonderlich attraktiv gefunden, auch wenn sie mehr zu bieten hatte als die dürre Marion mit ihrem kalkweißen Gesicht und den grellroten Haaren. Aber das hatten fast alle anderen Frauen. Nachdem sie nun aber öfter einen Schluck zusammen getrunken hatten und schon dreimal miteinander essen gegangen waren, nach zwei Kinobesuchen und einem Theaterabend und dem Besuch einer Ausstellung über den Wandel des Essens durch die Jahrhunderte, die sie unbedingt hatte sehen wollen, betrachtete er sie mit anderen Augen.

Eines Abends sagte sie zu ihm: »Ich bin normalerweise ziemlich schweigsam. Abgesehen von meiner Schwester unterhalte ich mich nicht viel mit anderen Leuten. Mit dir kann ich reden.«

Dieser Satz berührte ihn ungemein. »Das freut mich.«

»Bei dir fällt es mir leicht, weil du keine dummen Sachen sagst. Das ist schön.«

Er begleitete sie nach Hause, nach Clapham. Als er sich an der U-Bahn-Station Embankment nicht von ihr verabschiedete, sondern den ganzen Weg mitfuhr, sagte sie: »Du bist so nett zu mir. Ich gehe nicht gern allein von der U-Bahn nach Hause.«

»Selbstverständlich begleite ich dich«, erwiderte er. Und als sie am Rand des Common entlangspazierten, nahm er sie bei der Hand.

Sie hatte einen warmen, kräftigen Händedruck. Als er ihr im Schein der Straßenlampe ins Gesicht sah, merkte er, dass sie ihn unverwandt aus großen Augen anschaute, deren undurchsichtig-milchiges Blau an eine Keramikglasur erinnerte. Und dann waren da noch andere Merkmale, die jedem männlichen Wesen mehr ins Auge gestochen hätten: ihr üppiger Busen und die runden Hüften, ihre vollen Lippen und schließlich die Haare, diese leuchtend-schimmernde volle Haarpracht, mal flachsblond, dann wieder wie Stroh oder feinstes Gold. Sie machte nie viele Worte, aber wenn sie sprach, klang ihre Stimme weich und tief, und wenn sie lächelte, was selten geschah, begann ihr Gesicht zu strahlen und ließ sie schön erscheinen.

Wider Erwarten bewohnte sie in einer gleichförmigen Häuserzeile ein deutlich größeres, freistehendes Haus, das als einziges einen überdachten Weg vom Tor bis zur Haustreppe hatte. Steinerne Ananasstauden zierten die Torpfosten. Im ersten Stock und im Erdgeschoss brannte Licht.

»Im Erdgeschoss wohne ich zusammen mit meiner Schwester Ismay und meine Mutter wohnt mit ihrer Schwester im ersten Stock.« Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, ohne dabei seine Hand loszulassen. »Am nächsten Wochenende werden Ismay und ihr Freund nicht da sein«, sagte sie leise.

»Darf ich dich am Freitag ausführen?«

Sie hob ihr Gesicht. Noch nie hatte er einen so vertrauensvollen Blick gesehen, dachte er im schimmernden Halbdunkel. Ihre Lippen berührten sich, und er küsste sie wie auch in den vergangenen Wochen. Aber diesmal erwiderte sie den Kuss auf eine Weise, die ihn leidenschaftlich erregte. Als sich ihre Gesichter voneinander lösten, rang er nach Luft. Sie umarmte ihn ganz fest.

»Heather«, keuchte er. »Heather, mein Liebling.«

»Komm am Wochenende.«

Er nickte. »Ich freue mich schon jetzt riesig darauf.«

»Ich werde übers Wochenende nicht da sein«, sagte Edmund zu seiner Mutter. »Am Sonntag bin ich wieder zurück.«

Sie hatten sich eben erst zu Tisch gesetzt. Irene spießte den ersten Bissen auf die Gabel und legte sie dann wieder hin. »Du verreist doch nie übers Wochenende.«

»Nein. Höchste Zeit, dass ich damit anfange.«

»Und wohin fährst du?«

»Nach Clapham.«

»Aber nach Clapham musst du doch nicht verreisen. Clapham liegt in London. Was du in Clapham erledigen willst, kannst du doch auch tagsüber machen. Dann bist du zum Schlafen wieder hier.«

Edmund fasste erstaunlicherweise Mut. Lag es an Heather? »Ich werde das Wochenende bei Heather verbringen.«

Edmund aß weiter, im Gegensatz zu seiner Mutter. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und meinte: »Ach, Edmund, Edmund, ich hätte nicht gedacht, dass du zu dieser Sorte Männer gehörst.«

Noch immer war er vor ihr auf der Hut, aber mittlerweile zog er Vergleiche zwischen seinem jetzigen Verhalten und früher. Dazwischen lagen Welten. Seine Anstrengung hatte sich gelohnt, und manchmal amüsierten ihn die Auseinandersetzungen mit ihr bereits. »Welche Sorte Männer, Mutter?«

»Tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine.«

»Mutter, ich werde das Wochenende mit meiner Freundin verbringen. Wahrscheinlich möchtest du nicht, dass ich ins Detail gehe.« Zum ersten Mal hatte er Heather als seine Freundin bezeichnet. »Und jetzt würde ich gern fertig essen.«

»Ach, ich bringe keinen Bissen mehr hinunter«, sagte Irene, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und rang nach Luft. »Ich fühle mich gar nicht wohl. Wahrscheinlich kündigt sich wieder eine Migräne an.«

Am liebsten hätte Edmund etwas gesagt wie: »Sobald ich etwas sage, was dir nicht passt, fühlst du dich immer schlecht.« Oder sogar: »Könnte es vielleicht etwas Psychosomatisches sein?« Aber er blieb stumm. Er hatte keine Lust, weiter mit ihr zu streiten, geschweige denn sich zu verteidigen. Um Himmels willen, nur das nicht. Selbstverständlich würde sie das Thema erneut aufgreifen. Immer wieder.

Kaum hatte er Messer und Gabel über Kreuz auf seinen leeren Teller gelegt, war es auch schon so weit. »Dann werde ich in diesem Haus ganz allein sein.«

»Es sei denn, du holst Marion zu dir.«

»In meinem Alter ist das hart. Schließlich habe ich nicht mehr viel Kraft.«

»Mutter«, sagte er, »gleich nebenan wohnt Mr Fenix. Er ist ein guter Nachbar. Und zu den Leuten von gegenüber besteht auch eine gute Nachbarschaft. Du hast einen Telefonanschluss und ein Handy. Du bist erst zweiundsechzig, und dir fehlt nichts.« Noch vor einem halben Jahr hätte er nicht die Kraft für solche Sätze gehabt.

»Mir fehlt nichts!« Sie wiederholte diese Worte mit einem ironischen Lachen. »Es ist schon erstaunlich, wie gefühllos die eigenen lieben Kleinen als Erwachsene plötzlich sein können. Als man mir dich, einen Winzling, das erste Mal in den Arm gelegt hat, hätte ich mir nie träumen lassen, dass du mir meine Qualen mit einer solchen Behandlung vergelten würdest. Niemals! Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe, um dich auf die Welt zu bringen.«

»Soll ich Marion für dich anrufen, ja? Dann kannst du sie fragen.«

»Nein, nein, ich kann mich nicht von fremden Leuten abhängig machen. Das muss ich schon allein ertragen. Lieber Gott, hoffentlich werde ich nicht krank.«

Wie er es sich vorgenommen hatte, fuhr Edmund am Freitag nach Clapham, allerdings erst nach einigen weiteren Kämpfen. Am Abend vorher ereilte Irene eine Erkältung, und zwar eine echte. Im Gegensatz zu Sodbrennen, das lediglich auf der eigenen Aussage beruht, kann man Niesattacken und eine laufende Nase nicht vortäuschen. Irene wies darauf hin, dass ihre letzte Erkältung gerade mal drei Wochen zurückliege. Und dass zwei unmittelbar aufeinander folgende Erkältungen sehr wohl die Vorboten einer Lungenentzündung sein könnten, sei ja hinlänglich bekannt. So etwas habe sie schon als Kind gehabt. Eine doppelseitige Lungenentzündung als Resultat mehrerer Erkältungen.

»Mutter, du bekommst keine Lungenentzündung«, sagte Edmund, der Krankenpfleger.

Von heißer Zitrone mit einem Schuss Whisky riet er ab. Stattdessen machte er ihr ein Honig-Zitronen-Getränk und riet, alle vier Stunden ein Aspirin zu nehmen. »Du bist kein Arzt«, sagte sie wie schon so oft. »Ich sollte Antibiotika bekommen.«

»Eine Erkältung ist eine Viruserkrankung, und gegen Viren helfen Antibiotika nicht.«

»Wenn ich erst mal eine echte Lungenentzündung habe, wirst du schon sehen, wie das mit den Viren ist.«

Irene Litton war eine große, gut gebaute Frau, deren Figur fast an Heather Sealand erinnerte. Obwohl Edmund das bemerkt hatte, hatte er sich geweigert, den naheliegenden psychologischen Schluss daraus zu ziehen: Dass er Frauen attraktiv fand, die seiner Mutter ähnelten. Mehr Ähnlichkeiten gab es ja auch nicht, denn Irene hatte dunkle Haare mit nur wenig Grauanteil, und ihr ausdrucksstarkes längliches Gesicht mit der Adlernase glich dem der Callas, obwohl Irene durch und durch Engländerin war. Dieser Ähnlichkeit war sie sich durchaus bewusst: Schon mehrmals hatte sie sich zu der Bemerkung hinreißen lassen, aus ihr wäre vielleicht auch ein Opernstar geworden, wenn sie Gesangsstunden hätte nehmen können. Sie trug geraffte oder weich fallende Kleider mit Fransen in kräftigen Edelsteinfarben – weinrot, saphirblau, dunkelgrün oder lila – und dazu Unmengen selbst gemachter Ketten. Sie bewegte sich langsam und aufrecht mit hoch erhobenem Kopf. Normalerweise erfreute sie sich bester Gesundheit, was ihren Typ positiv unterstrich. Mit einer roten Schniefnase sah sie allerdings entsetzlich aus.

Marion, die kurz vor Edmunds Aufbruch ins Wochenende eingetrudelt war, bemerkte das sofort und bekundete tiefes Mitgefühl. Den Zeitpunkt ihrer Ankunft wird sie wohl ganz genau berechnet haben, dachte Edmund, der überzeugt war, dass seine Mutter sie trotz aller gegenteiligen Beteuerungen eingeladen hatte. Außerdem war er ziemlich sicher, dass Marion wusste, wohin und zu wem er gehen wollte, denn bevor sie zu Irene hineintänzelte, waren sie noch einen Moment lang allein im Flur gewesen. Dabei hatte sie ihm einen tiefen vorwurfsvollen Blick zugeworfen, der trotz ihres halbherzigen Lächelns traurig wirkte. »Ich habe ein paar selbst gebackene Cremetörtchen mitgebracht«, hatte sie gemeint. »So etwas tut richtig gut, und das braucht sie momentan.«

Nachdem er das kleine Vorgartentor hinter sich zugezogen hatte, warf er einen Blick zurück. Beide Frauen beobachteten ihn vom Erkerfenster aus. Garantiert war er das Hauptthema ihres Gesprächs, er, der rücksichtslose unmoralische undankbare Sohn, der kein Herz hatte und nicht einmal Arzt war! Vermutlich würden ihm den ganzen Abend lang die Ohren klingeln. Aber er war fest entschlossen, sich durch solche Gedanken nicht das Wochenende verderben zu lassen.

Marion ließ den beigen Damastvorhang sinken und begab sich wieder an den Kamin, in dem ein täuschend echt wirkendes Gasfeuer mit glühenden Dauerkohlen und Holzscheiten flackerte. Dort fühlte sie geschäftig Irenes Stirn, goss frisches Wasser in ihre Karaffe, holte Echinacea-Tropfen und Hustenpastillen und steckte ihr zu guter Letzt ein Thermometer in den Mund.

»Eigentlich wäre das alles doch Edmunds Aufgabe gewesen«, sagte sie.

»Hmmm-mm-hmm-hmm.«

»Schließlich ist er Krankenpfleger.«

»Mm-hmm-hmm«, tönte es noch nachdrücklicher.

Das Thermometer zeigte Normaltemperatur.

»Unmöglich!«

»Vielleicht funktioniert es nicht richtig. Soll ich’s später noch mal versuchen? Oder soll ich schnell nachsehen, welche Apotheke Nachtdienst hat, und ein neues besorgen? Ich könnte aber auch heimlaufen und meines holen.«

»Würden Sie das tun, Marion? Sie sind so nett zu mir. Wissen Sie, allmählich betrachte ich Sie immer mehr als meine Tochter beziehungsweise als Schwiegertochter, wenn ich das so sagen darf. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre …«

Marion sauste zur U-Bahn-Station. Dann besann sie sich jedoch anders und rannte durch das Gassengewirr nach Hause, Richtung Finchley Road. Marions Bewegungsdrang und ihr ununterbrochener Redefluss entsprachen einander. Trotz ihres Annäherungsversuches war ihr Edmunds Flucht bei Weitem nicht so nahe gegangen, wie Irene glaubte. Marion sehnte sich nicht danach, von einem jungen Mann begehrt zu werden, sondern nach älteren, gut betuchten Menschen, die ihr mehr als nur ihre Sympathie schenkten. Außer Irene gab es noch den alten Mr Hussein und die alte Mrs Reinhardt. Einige andere hatte sie auch schon im Blick. Und dann war da noch die alte Mrs Pringle gewesen. Die war leider letztes Jahr gestorben. Ihr riesiges Haus in der Fitzjohn Avenue hatte sie Marion zwar nicht vererbt, aber dafür einen ordentlichen Batzen Geld und ein paar hübsche Schmuckstücke. Damit hatte sich Marion in dem Haus an der Lithos Road die Wohnung über zwei Ebenen – Erdgeschoss und Souterrain – kaufen können, die sie jetzt auf der Suche nach einem Thermometer betrat. Dank ihrer Ordnungssucht fand sie es sofort in einem Fach des Badezimmerschränkchens, direkt neben dem braunen Fläschchen mit Morphinsulfat. Flink machte sie sich wieder auf den Rückweg, diesmal mit der U-Bahn. Es war nur eine Station bis West Hampstead und zu Irene.

Edmund hatte sich eingebildet, Heather sei scheu und nervös, ja, vielleicht sogar noch Jungfrau. Während der Fahrt mit der Jubilee Line und der Northern Line nach Clapham verflog allmählich seine Vorfreude, die er unter der Woche noch gespürt hatte. War sie vielleicht so unerfahren, dass er es ihr erst beibringen musste? Nein, sicher nicht. Bereits der Gedanke daran hatte auf ihn einen höchst unerwünschten, abkühlenden Effekt. Edmund war überzeugt, dass er nicht imstande sei, eine Frau in der Liebeskunst zu unterweisen. Und was, wenn sie auf seine Signale nicht reagieren würde und Angst hätte? Als der Zug in Clapham South einfuhr, redete er sich ein, dass er nicht wirklich in sie verliebt sei. Und wenn mit diesem Wochenende ihre Beziehung zu Bruch ging, anstatt sich zu festigen, wäre das auch nicht das Ende der Welt. Schließlich gab es noch mehr Frauen. Marion war nicht die einzige Alternative.

Aber während er die überdachte Haustreppe hinaufstieg, fiel ihm wieder der Kuss ein, den sie ihm gegeben hatte, und wie sie mit einem Blick voll tiefstem Vertrauen seine Hand ergriffen hatte. »I. und H. Sealand« stand auf dem unteren Klingelknopf, der ihn am Ende der Treppe erwartete, und auf dem oberen »Sealand und Viner«. Er läutete. Noch während er wartete, merkte er, dass er sich nach einem Wiedersehen mit ihr sehnte und sie in die Arme nehmen würde, sobald sie zur Tür kam.

Alles verlief ganz anders, als er es während der Bahnfahrt erwartet hatte. Er konnte nur noch staunen. Kaum hatte er den ersten Eindruck verdaut, fand er sich einer hinreißend leidenschaftlichen Partnerin ohne jede Hemmung gegenüber. Das war nicht jene schweigsame stille fleißige Frau aus der Hospizküche, mit der er ausgegangen war. Bei aller Hingabe wurde sie selbst aktiv. Was für ein süßer Nimmersatt! Sie wurde einfach nicht müde und ließ schon jetzt ahnen, wie viel ihr in Zukunft noch einfallen würde. Wenn es hier noch etwas zu lernen gab, dann war sie die Lehrerin und nicht er.

»Beim ersten Mal ist es nie gut, sagt man ja eigentlich«, meinte sie in einem Augenblick tiefer Befriedigung. »Aber bei uns, bei uns war’s wunderbar.«

Die Vorstellung, sie sei sein »Bollwerk« gegen Marion, ein gut gebautes Mädchen, das sonst aber nicht viel vorzuweisen hatte, war wie weggeblasen. Inzwischen war er von ihr buchstäblich verzaubert. Als er sich am Sonntagnachmittag mit leidenschaftlichen Umarmungen von ihr verabschiedete – zu einer Begegnung mit ihrer Schwester samt Freund verspürte er nicht die geringste Lust –, ertappte er sich dabei, wie er sich für Montagabend mit ihr verabredete und gleich auch noch für den Dienstag. Beide verzogen in gespielter Verzweiflung das Gesicht, weil sie keine Bleibe hatten, und lachten anschließend über ihr absurdes Verhalten.

»Issy lässt Andrew auch hier übernachten«, sagte Heather. »Du könntest hierherkommen.«

»Wirklich?«, erwiderte er. »Das wäre toll.«

Von der Szene, die ihn bei seiner Mutter erwartete, konnte er ihr nichts erzählen. Ein Dreiunddreißigjähriger unter der Fuchtel seiner Mutter war eine Witzfigur und garantiert kein ansehnlicher Liebhaber. Andererseits stand er doch gar nicht mehr unter der Fuchtel seine Mutter. Oder doch? Eines war ihm klar: Vor ihm lag immer noch ein weiter Weg. Er durfte sich nicht beirren lassen. Seine beiden Nächte mit Heather machten ihm noch im Nachhinein so viel Spaß und Lust, dass er daraus Kraft zu schöpfen schien. Als er nun das Haus am Chudleigh Hill aufsperrte, war er wild entschlossen, sofort alles freiheraus zu sagen.

Leider war Marion da. Kaum hatte er das Wohnzimmer betreten, rannte sie auch schon heraus. In Windeseile war sie wieder zurück mit einem Tablett, auf dem für seine Mutter ein heißes Getränk stand, ein Teller mit einem Cremetörtchen, zwei Aspirin auf einer Untertasse, ein Pipettenfläschchen mit Inhalationsmittel, ein Döschen Fisherman’s Friend und eine Schachtel Kleenex, deren buntes Glitzerdekor an Weihnachten erinnerte.

»Ist das nicht etwas übertrieben?«

Er konnte erkennen, dass es seiner Mutter viel besser ging als am Freitag. Diese sagte kein Wort, zog die Augenbrauen hoch und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

Marion rang sich ein halbherziges Lächeln über seine bissige Bemerkung ab und begann unter munterem Geplauder ihre Heilmittelchen zu verteilen: »Edmund, hatten Sie eine schöne Zeit? Was haben Sie denn gemacht?«

Was für eine Frage! Bin ins Bett gegangen, dachte er. Habe mich verliebt. Hatte zwei himmlische Tage und Nächte …

»Es ist so schrecklich kalt gewesen. Heute Morgen habe ich draußen Mr Hussein getroffen und habe zu ihm gesagt: ›Diese Kälte muss doch für Sie viel schlimmer sein als für uns. Schließlich stammen Sie doch aus einem so heißen Land.‹ Und wissen Sie, was er gesagt hat? Er meinte, er kommt aus dem Norden, aus Ladakh – ich meine, es war Ladakh, könnte aber auch Lahore gewesen sein oder so ein ähnlicher Name –, und dort ist es viel kälter, als es hier je wird. Hat er gesagt. Ich war platt. Man meint doch, dass es in Indien immer heiß ist, oder? Na ja, wenigstens soll es morgen wieder milder werden, jedenfalls kein Frost mehr.«

Als sie innehielt, um Luft zu holen, platzte er dazwischen. Er befürchtete, er würde seinen Entschluss nie ankündigen, wenn er abwartete, bis Marion gegangen war. »Ich werde auch am Dienstag über Nacht weg sein.« Am Montag würde er zwar nach Clapham fahren, aber vor Mitternacht aus der Wohnung verschwinden. Das hatte er beschlossen. Mit jedem Wort wurde er mutiger. »Ich werde Heather zum Essen ausführen und dann bei ihr übernachten.«

»Ich verstehe.«

Die Worte seiner Mutter ploppten wie Kieselsteine in stilles Gewässer. Selbst Marion verstummte.

Irene war knallrot geworden und sagte: »Hältst du es für sehr nett, wenn du in solchen Ausdrücken über eine junge Frau sprichst? Redet ein Mann so über ein anständiges Mädchen? Bei ihr übernachten – also wirklich!«

Kichernd stand Marion auf und schraubte das Fläschchen mit dem Inhalationsmittel wieder zu. »Tja, das hat mir jetzt wirklich die Sprache verschlagen«, meinte sie wie beiläufig. »Ich musste daran denken, wie ich mich fühlen würde, wenn mein … äh … mein Schatz so über mich reden würde. Mir würde das nicht gefallen. Es wäre mir richtig peinlich. In solchen Dingen würde ich doch ein gewisses Maß an Diskretion erwarten. Finden Sie nicht auch?«

»Da Sie mich schon fragen«, entgegnete Edmund, gestärkt und ermutigt durch die Wonnen eines erfüllten Sexlebens. »Es ist mir schnurzegal, was Sie denken. Kümmern Sie sich lieber um Ihren eigenen Kram.«

Marions leiser Aufschrei und der laute Ruf seiner Mutter – »Gütiger Himmel!« – trieben Edmund aus dem Zimmer. Stockwütend ging er nach oben und rang um innere Gelassenheit. Drunten hörte er Marion aufgeregt herumklappern. Weiß der Kuckuck, was sie nun wieder trieb. Er packte seine Reisetasche aus. Dabei dachte er an Heather und ihre vor erfüllter Lust schlaftrunkenen Augen, an die sanfte Umarmung ihrer rundlich-weißen Arme. Leise ging die Haustür zu. Die neckischen Absätze klackerten über den Vorgartenweg und anschließend den Chudleigh Hill hinauf. Trotz des zu erwartenden Ärgers ging er nach unten. Zuerst ins Esszimmer, wo die Getränke standen. Statt sich – nachmittags um fünf! – einen Wodka Tonic einzuschenken, widerstand er der Versuchung dieses Lebenselixiers und schlenderte stattdessen ins Wohnzimmer. Seine Mutter lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und meinte: »Ich bezweifle, dass Marion nach dieser groben Beleidigung je wieder meine Nähe suchen wird.«

»O doch, das wird sie«, entgegnete er. »Die hält nicht mal eine Rotte Kampfhunde ab.«

4

Wenn sie doch nur einschätzen könnte, wie ernst die Sache war. Mit jeder ihrer Freundinnen wäre alles ganz anders gewesen. Jede von ihnen hätte mit Ismay sämtliche Aspekte ihrer neuen Beziehung besprochen: Wie gut war der Mann im Bett? War er auch rücksichtsvoll? Und großzügig? Hatte er gute Manieren? War er witzig und locker? Und wie hielt er es vermutlich mit der Treue? Mit Heather war so etwas unmöglich. Auf sämtliche Nachfragen bekam man nur ein Ja oder ein Nein zu hören, meist hieß es sogar: »Keine Ahnung.« Und wenn Ismay dann immer noch nicht lockerließ, sagte Heather: »Issy, ich will nicht darüber reden. Nimm’s mir nicht übel.«

War sie schon immer so gewesen? Mit »immer« meinte Ismay die Zeit vor der Tat beziehungsweise vor dem, was wahrscheinlich passiert war. Bevor Heather mit nassen Schuhen und nassem Kleid genau diese Treppe heruntergekommen war. Bereits als Kind war sie nicht sonderlich gesprächig gewesen, aber dieses Einigeln, verbunden mit einer so kühlen Kontrolliertheit, das hatte sie erst später an den Tag gelegt. War Guy daran schuld, oder war es eine Folge von Heathers Tat? Für Ismay war das einfach nicht erkennbar, und vermutlich hätte es nicht einmal ein Psychiater feststellen können.

Momentan war Ismay droben bei Pamela und ihrer Mutter. »Bea ist sehr still«, sagte Pamela. »Sie hat eine Abneigung gegen das Fernsehen entwickelt und hört stattdessen ständig Radio. Sollen wir uns einen Kaffee, einen Drink oder sonst etwas gönnen? Heute Morgen hatte ich mich schon darauf eingestellt, sie mit Gewalt zum Einnehmen ihrer Tabletten zu zwingen, aber dann war es doch nicht nötig. Sie war sanft wie ein Lamm.«

Pamela bat Ismay in die Diele, die im alten Haus den Treppenabsatz im ersten Stock gebildet hatte. »Warum wehren sich eigentlich Menschen mit derselben Krankheit wie deine arme Mami nur so mit Händen und Füßen dagegen, ihre Medizin einzunehmen?«

»Wahrscheinlich aus Angst, sie würden ihr Bewusstsein verändern.«

»Aber das ist doch genau der springende Punkt. Wenn man sieht, wie schrecklich diesen Menschen ihr Bewusstsein zusetzt, möchte man doch meinen, sie würden es unbedingt verändern wollen.«

Pamela zuckte mit den Achseln. Sie gingen in die Küche, wo vor dem Umbau Heathers Schlafzimmer gewesen war. Ismay war in Gedanken so mit Heather und Edmund beschäftigt, dass sie einen Moment lang beinahe vergaß, dass Pamela von den Umständen, die zu Guys Tod geführt hatten, keine Ahnung hatte. Sie wusste lediglich, dass er nach einer Krankheit aufgrund eines Schwächeanfalls in der Badewanne ertrunken war. Beinahe wäre es Ismay herausgerutscht, wie sehr sie sich den Kopf darüber zerbrach, ob man Edmund in Unkenntnis lassen sollte, aber dann bremste sie sich gerade noch rechtzeitig.

Während Pamela den Kaffee aufsetzte, steckte Ismay den Kopf durch die Tür und begrüßte ihre Mutter. Beatrix ignorierte sie. Wie immer saß sie mit der nutzlosen Handtasche im Schoß auf ihrem Stuhl und hörte Radio. Der Apparat war ganz leise eingestellt. Seufzend dachte Ismay, wie schön es wäre, wenn sie sich mit jemandem über die Sache mit Heather hätte unterhalten können. Andrew kam dafür garantiert nicht in Frage. Er konnte Heather nicht leiden und hatte »keine Zeit für sie«, wie er sich ausdrückte. Ihre Mutter war in einer »Fantasiewelt« gefangen, um mit Pamelas Worten zu sprechen. Und Pamela selbst? Inzwischen war es viel zu spät dafür, ihr die Geschichte zu erzählen, ganz abgesehen davon, dass es ein unglaublich überstürzter Schritt gewesen wäre. Nein, sie musste die Sache für sich behalten und sich damit auseinandersetzen. Die Entscheidung lag einzig und allein bei ihr.

Eigentlich sollte sie sich jetzt ausschließlich darauf konzentrieren, herauszufinden, wie weit Heathers Beziehung zu Edmund fortgeschritten war und wie weit sie wahrscheinlich noch gehen würde. Sie durfte nicht zulassen, dass dieser Mann Heather heiratete oder sich auch nur mit ihr verlobte, ohne ihm von der Sache zu erzählen. Aber mit der ganzen Geschichte herausrücken? Mit jedem schrecklichen Detail? Ganz ungeschminkt? Einschließlich der Rolle, die sie selbst und ihre Mutter dabei gespielt hatten? Schon beim bloßen Gedanken daran wurde ihr angst und bang.

Ismay und Pamela trugen ihren Kaffee ins Wohnzimmer, wo Beatrix mit verrenktem Kopf vor einem niedrigen Bücherregal saß, auf dem oben das Radio stand, und das Ohr gegen das graue Furnier drückte. Jeder Vorschlag, das Radio ein wenig lauter zu drehen oder den Stuhl näher heranzurücken, wäre sinnlos gewesen. Das wusste Ismay. Sie ging zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss auf die nach oben gehaltene Wange. Beatrix beachtete sie überhaupt nicht. Das tat sie nur selten. Stattdessen schleuderte sie manchmal jeder von ihnen wahllos die brutaleren Stellen aus der Offenbarung ins Gesicht. Obwohl keine von ihnen religiös war und Ismay noch nie gesehen hatte, dass ihre Mutter in der Bibel las, konnte Beatrix inzwischen lange Passagen daraus zitieren. Das Ganze war ein Rätsel.

Heather hatte unter dem Tod ihres Vaters ungemein gelitten. Beide Schwestern hatten ihn vermisst, Ismay allerdings nur halb so sehr wie Heather. Beide waren zu jung gewesen, um auf die Idee zu kommen, ihre Mutter hätte vielleicht wieder heiraten können. Sie würden eben zu dritt allein bleiben. Pamela kam häufig vorbei und kümmerte sich um sie, oder man besuchte zu dritt Pamela. Ismay konnte sich nur noch an eine einzige Veränderung erinnern: Pamela hatte einen gewissen Michael Fenster kennengelernt, und Beatrix betonte ständig, wie nett er sei und dass die beiden unbedingt heiraten sollten.

Doch dann heiratete nicht Pamela, sondern – gänzlich unpassend und unverständlich – Beatrix. Obendrein den letzten Mann auf der Welt, den irgendjemand in Erwägung gezogen hätte.

Während Ismay noch oben war, klingelte ihr Handy. Natürlich war es Andrew. Er hatte sie heute schon zweimal angerufen, was nicht ungewöhnlich war. Als Pamela merkte, wer am Apparat war, lächelte sie, wenn auch liebevoll. Dann hörte sie Ismay sagen: »Also bis in einer Stunde. Ich liebe dich.«

Beatrix verhielt sich wie üblich so, als sei sie allein im Zimmer, und von dem Telefonat hatte sie offenbar nichts mitbekommen. Sie hob den Kopf vom Radiogemurmel und verkündete in sanftem Ton: »Und vor dem Stuhl war ein gläsern Meer, gleich dem Kristall, und mitten am Stuhl und um den Stuhl vier Tiere, voll Augen vorn und hinten.«

»Ja, Mami, ich weiß.« Ismay hatte diesen Spruch schon öfter gehört. Früher waren ihr diese Tiere mit den Augen am Hinterkopf ein Rätsel gewesen, aber inzwischen akzeptierte sie sie einfach. »Du brauchst mich hier doch nicht, oder?«, fragte sie Pamela.

»Ganz und gar nicht. So lange sie so ist, macht sie keine Probleme. Das weißt du doch. Ich könnte jetzt auch weggehen und stundenlang fortbleiben, und sie würde immer noch genauso dasitzen. Triffst du dich irgendwo mit Andrew?«

»In einem Pub.«

Pamela plauderte über ihr letztes Rendezvous, diesmal mit einer Internetbekanntschaft aus einem Chatroom »für die reiferen Jahrgänge«. Zum ersten Mal seit Jahren hat sie Michael erwähnt, dachte Ismay. Allerdings nur mit der Bemerkung, sie würde gern jemanden wie ihn kennenlernen. Ismay konnte sich noch gut daran erinnern, wie Michael sie behandelt hatte. Er hatte bei Pamela gewohnt und sich später mit ihr verlobt, und dann war er eine Woche vor dem Hochzeitstermin abgehauen. Während Pamela noch redete, gab Ismay ihrer Mutter einen Kuss auf die reglose Wange und warf wie immer verstohlen einen Blick auf die Glastür. Es war wie ein Zwang.

Wo jetzt kleine Brücken, ein Tischchen und ein Kaminsessel das glänzende Parkett zierten, hatte einst die Badewanne gestanden, direkt an der Wand. Ein runder Tisch mit bemalter Platte nahm den Platz ein, wo die Dusche gewesen war. Unter dem Bild mit Madame Bonnard, die sich gerade abtrocknet, hatte sich das Waschbecken mitsamt dem verschnörkelten Handtuchhalter aus Bronze befunden. Am Ende des Badezimmers hatte ein Korbstuhl gestanden, über dessen Lehne man einen Bademantel hängen konnte. Der Bademantel hing nicht immer dort, aber an jenem Nachmittag schon …

Hatten die anderen wohl ähnliche Gedanken? Mussten sie beim Anblick des erweiterten Zimmers daran denken, dass man durch diesen Umbau den früheren Zustand kaschieren wollte? Dass man eine radikale Veränderung geplant hatte, so wie man auch Häuser, in denen Mörder gelebt und Leichen versteckt hatten, dem Erdboden gleichmachte und an ihrer Stelle Gärten anlegte?

Ismay hatte kein Wort von Pamelas Geplapper mitbekommen, obwohl sie mit »Ja« und »Nein« und »Warum nicht?« geantwortet hatte. Sie trank ihren Kaffee aus und machte sich dann, nach einem raschen Blick auf Madame Bonnard, auf den Weg zum Rendezvous mit Andrew. Für Ismay war es purer Zufall, dass Pamela Michael erwähnt hatte, an den sie selbst vor ungefähr einer halben Stunde gedacht hatte. Er war Guys Freund gewesen, zumindest aber sein Arbeitskollege. Nachdenklich lief sie am Rand des Clapham Common vorbei. Michael und Pamela hatten Guy mit Beatrix bekannt gemacht. Michael war ein dunkler Typ gewesen, nicht sehr groß, und hatte nicht so gut ausgesehen wie Guy. Michael tauchte nie in jenem ständig wiederkehrenden Traum auf, in dem Guy tot im Wasser lag, und auch in den anderen Träumen nicht, in denen ihre Mutter, Pamela und Heather vorkamen und einmal auch der ältere der beiden Polizisten.

Sechs Monate nach dem von Pamela und Michael arrangierten Rendezvous heiratete Beatrix den einige Jahre jüngeren Guy. Die Leute fanden, das seltsame graue Mäuschen Beatrix könne von Glück sagen, dass sie ihn bekommen hatte. Beatrix hatte schon immer zu jener Sorte Frauen gehört, die wie Feen aussahen, in jungen Jahren wie gute Feen mit spitzen Gesichtszügen und fransigen Haaren und im Alter wie böse dürre Hexen in wallenden Gewändern. Heather konnte Guy vom ersten Augenblick an nicht ausstehen, und er bemühte sich scheinbar nicht im Geringsten, sich bei ihr beliebt zu machen. Ganz anders bei Ismay. Er sagte, er betrachte sich als ihren Vater, und wollte, dass sie zu ihm Papi sagte. Als sie sich dagegen sträubte, versuchte er allerdings nicht, sie dazu zu zwingen. Seither hatte sich Ismay oft gefragt, ob ihm klar gewesen war, warum es für sie nicht in Frage kam, ihn Papi zu nennen. Vielleicht hatte er sich eingebildet, diese Bezeichnung würde ihr wehtun, weil ihr leiblicher Vater noch gar nicht lange tot war. Das war allerdings nicht der Grund gewesen.

Er war sehr zärtlich zu ihr und zog sie oft auf seine Knie. Bei der ausgeprägt weiblichen Heather, die fast so groß war wie er, wäre das eine unpassende Geste gewesen, jedoch nicht bei der zierlichen mädchenhaften Ismay, obwohl sie die Ältere war. Bei ihr wirkte so etwas einfach charmant. Wenn er morgens zur Arbeit ging, gab er ihr zum Abschied einen Kuss, und beim Heimkommen gab es zur Begrüßung wieder einen. Er nannte sie seinen Herzensschatz und sein Engelchen.

»Es kann dir doch nicht gefallen, wenn er so etwas macht«, sagte Heather und meinte damit die Küsse.

»Ist mir doch egal«, erwiderte Ismay.

Eines Tages erzählte er ihr ein Geheimnis, wie er es nannte. Das dürfe sie nie jemandem erzählen. Er habe sie schon lange vor der ersten Begegnung mit ihrer Mutter gesehen. Beide Mädchen hätten bei Pamela übernachtet, als er mit Michael und einigen anderen Gästen zum Abendessen eingeladen gewesen war. Ismay und Heather hätten nicht schlafen können, seien heruntergekommen und hätten gesagt, in ihrem Zimmer sei eine Wespe. Ob sie sich noch daran erinnere? Nein? Das habe er sich schon gedacht. Aber er habe nie den Anblick des kleinen blonden Mädchens vergessen, das weinend die Treppe heruntergekommen sei.