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Anhaltende Regenfälle haben die Umgebung der Kleinstadt Kingsmarkham in eine einzige wilde Flusslandschaft verwandelt. Doch Chief Inspector Wexford treibt eine noch größere Bedrohung als das Hochwasser um: Zwei Teenager werden von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Sie befürchten, die beiden Kinder könnten in den Fluten ertrunken sein. Auch von der jungen Lehrerin, die die Teenager betreuen sollte, fehlt jede Spur. Wexford hingegen ist überzeugt, dass sich im Haus der Familie ein Verbrechen abgespielt hat. Und es gibt bald eine Spur: Die mit den Eltern befreundete Lehrerin ist aus der exklusiven Privatschule, die die Teenager besuchten, Hals über Kopf ausgeschieden, nachdem ein Schüler sie des Diebstahls bezichtigt hatte. Mit beharrlichem Spürsinn dringt Wexford bald immer tiefer in ein unerwartetes und äußerst kompliziertes Beziehungsgeflecht ein.
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Seitenzahl: 566
Buch
Anhaltende Regenfälle haben die Umgebung der Kleinstadt Kingsmarkham in eine einzige wilde Flusslandschaft verwandelt. Doch Chief Inspector Wexford treibt eine noch größere Bedrohung als das Hochwasser um: Zwei Teenager werden von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Sie befürchten, die beiden Kinder könnten in den Fluten ertrunken sein. Auch von der jungen Lehrerin, die die Teenager betreuen sollte, fehlt jede Spur. Wexford hingegen ist überzeugt, dass sich im Haus der Familie ein Verbrechen abgespielt hat. Und es gibt bald eine Spur: Die mit den Eltern befreundete Lehrerin ist aus der exklusiven Privatschule, die die Teenager besuchten, Hals über Kopf ausgeschieden, nachdem ein Schüler sie des Diebstahls bezichtigt hatte. Mit beharrlichem Spürsinn dringt Wexford bald immer tiefer in ein unerwartetes und äußerst kompliziertes Beziehungsgeflecht ein.
Autorin
Ruth Rendell wurde 1930 in South Woodford/London geboren. Zunächst arbeitete sie als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Dreimal bereits erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den Golden Dagger Award. 1997 wurde sie mit dem Grand Master Awardder Crime Writer’s Association of America, dem renommiertesten Krimipreis, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell, die auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt ist, lebt in London.
Die Reihenfolge der Inspector-Wexford-Romane sowie weitere Romane finden Siehier.
Ruth Rendell
Dunkle Wasser
Ein Inspector-Wexford-Roman
Aus dem Englischen von Eva L. Wahser
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Babes in the Wood bei Hutchinson, London.
E-Book-Ausgabe 2015
bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2002 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Arcangel Images/Bjanka Kadic
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15144-7www.blanvalet.de
Karl und Lilian Fredriksonin Zuneigung gewidmet.
Um zehn Uhr war es noch warm genug, um sich im Freien aufzuhalten, ohne zu frösteln. Der Himmel war mit Sternen übersät, zwischen denen ein rötlicher Erntemond aufgegangen war. Sie befanden sich auf einer ausgedehnten Waldlichtung. Tausend Menschen könnten hier tanzen, so weichfedernd war der dichte grüne Rasen, den ringsum hohe Bäume wie eine Mauer säumten. Buchen und Eschen und Kastanien. Da sie ihre Blätter noch nicht abgeworfen hatten, konnte man das Haus samt seinen Nebengebäuden und den Gärten nicht sehen, obwohl alles nicht weit entfernt lag.
Mitten auf der Lichtung hatten sich an die hundert Leute im Kreis aufgestellt. Die meisten hatten keine Ahnung, dass es das Haus gab. Sie waren über einen Feldweg gekommen, der von einem weiteren Feldweg abzweigte, der wiederum in eine ziemlich schmale Straße mündete. In Kleinbussen und Vans und einige in ihren eigenen Autos. Am Anfang des Feldwegs stand kein Hinweis, dass es sich um Privatbesitz handelte, nichts deutete auf das Vorhandensein des Hauses hin. Einige trugen ganz normale Kleidung, wie sie junge Männer und Frauen, aber auch Leute in mittleren Jahren bevorzugten: Jeans, Hemd, Pullover oder Jacke. Andere dagegen waren in schwarze oder braune wallende Gewänder gehüllt. Erwartungsvoll, vielleicht sogar erregt, hielten sie sich an den Händen.
Ein weiß gekleideter Mann – weißes Hemd mit offenem Kragen, weiße Hose, weiße Schuhe – trat in die Mitte des Rings. Als er dort angelangt war, begannen die Leute zu singen. Es war eine mitreißende Melodie, vielleicht ein Kirchenlied oder der Chor aus einer Oper oder einem Musical. Anschließend klatschten sie rhythmisch in die Hände. Als der Mann in Weiß das Wort ergriff, verebbte das Klatschen.
Mit lauter Stimme rief er, dass es weithin schallte: »Quälen euch böse Geister? Ist einer hier, der von einem üblen Geist besessen ist?«
Tiefes Schweigen. Keiner regte sich. Eine sachte Brise kam auf und wehte durch den Kreis, hob die langen Haare an und ließ die Gewänder flattern und fiel wieder zusammen, als eine Gestalt inmitten des Rings auftauchte. Keiner von denen, die sich an den Händen hielten, von den Sängern, die geklatscht hatten, hätte sagen können, woher der Neue kam. Kein Beobachter hätte entscheiden mögen, ob es sich um einen Mann handelte oder um eine Frau, nicht einmal aus nächster Nähe. Die Gestalt taumelte ein wenig, als hätte man sie gestoßen, und doch vermochte man unmittelbar dahinter kein lebendes Wesen zu entdecken. Vom Hals bis zu den Füßen war sie in ein schwarzes Gewand gehüllt, ein schwarzer Schleier bedeckte den Kopf. Ein Schrei stieg auf, von dem Mann, der nach den bösen Geistern gefragt hatte.
»Gieß dein Feuer herab, o Herr, verbrenn die bösen Geister!«
»Verbrenn, verbrenn, verbrenn!«, rief der Kreis.
Der Mann in Weiß und die Gestalt in Schwarz trafen einander. Aus einiger Entfernung ähnelten sie einem verkleideten Liebespaar, vielleicht maskierten Gestalten aus dem venezianischen Karneval. Allmählich wurde es dunkler, eine dünne Wolke trieb über das Gesicht des Mondes. Der Priester und der Bittsteller – waren sie das wirklich? – standen nahe beieinander, und doch konnte keiner sehen, ob sie sich wirklich berührten. Sehen war auch weniger wichtig, denn plötzlich gab es viel zu hören. Die schwarze Gestalt heulte auf, lang und dumpf wie bei einer Totenklage, und doch lauter als eine solche. Und dem ersten Aufheulen folgte eine ganze Reihe solcher Schreie. Sie klangen echt, nicht gespielt, als drängten sie qualvoll aus tiefstem Herzen hervor, aus einer geschundenen Seele. Sie schwollen an und ebbten ab, immer wieder lauter und leiser werdend.
Die weiße Gestalt verharrte ganz still. Die Menschen begannen zu zittern und zu schwanken, und bald klagten auch sie. Einige schlugen mit den Händen auf ihren Körper ein, aber auch mit Ästen, die sie vom Boden aufhoben. Sie schwankten und wehklagten, und die Wolke zog vorüber, so dass der Mond erneut hervortrat und die Zeremonie in weißen Feuerschein tauchte. Dann geriet auch die Gestalt in Schwarz in Bewegung. Nicht langsam wie die anderen, sondern rasch immer schneller werdend, und sie trommelte dabei mit den Händen nicht auf den eigenen Körper ein, sondern auf Brust und Arme des Weißgekleideten. Das Klagen wandelte sich zu einem Knurren, und man konnte die Zähne klappern hören.
Ohne Rücksicht auf die gewalttätigen Schläge hob der Mann in Weiß die Arme über den Kopf und rief mit der Stimme eines Priesters aus grauer Vorzeit: »Bekenne deine Sünden und Laster!«
Und dann kam sie, eine Litanei der Irrungen, der Verfehlungen, der Unterlassungen. Einige gemurmelt, andere so laut und deutlich ausgestoßen, dass es alle hören konnten. Eine Stimme, die sich zum Schrei der Verzweiflung steigerte. Die Leute waren still, lauschten begierig. Und weiter ging die Beichte, allerdings in weniger leidenschaftlichem Tonfall, und verebbte allmählich, bis das Wesen in Schwarz nur noch ermattet stammelte und zurückwich. Dann herrschte Schweigen, unterbrochen von einem einzigen, leisen, fast sinnlichen Seufzen, das aus der Menge aufstieg.
Der Priester begann zu sprechen, legte eine Hand auf die schwarz umhüllte Schulter und sagte mit dröhnender Stimme: »Fahre aus! Jetzt!« Absolution gab es keine, nur diesen Befehl: »Fahre aus!«
Eine Wolke schob sich vor den Mond, woraufhin die Leute erneut aufseufzten. Vielleicht verschlug es ihnen aber auch eher vor Staunen den Atem. Ein Schauder durchlief sie, als hätte ein Windstoß ein Kornfeld gestreift.
»Meine Kinder, seht die bösen Geister! Seht sie durch die Luft fliegen, quer über den Mond! Seht sie, die Dämonin Aschtoret, die im Mond haust!«
»Ich sehe! Ich sehe«, stieg der Ruf aus dem Kreis der Menschen auf. »Wir sehen die Dämonin Aschtoret!«
»Die Kreatur, die ihre Herberge war, hat große Sünden des Fleisches gebeichtet, doch dann ist sie ausgefahren, die Dämonin, die Verkörperung sündiger Fleischeslust, und mit ihr die anderen minderen Geister. Seht, wie sie jetzt hoch über uns durch die Lüfte ziehen!«
»Ich sehe! Ich sehe!«
Endlich sprach der Bittsteller in Schwarz mit gebrochener Stimme, matt und geschlechtslos: »Ich sehe, ich sehe…«
»Dank sei Gott, dem Herrn der Heerscharen!«, rief der Mann in Weiß. »Dank sei der Geheiligten Dreifaltigkeit und allen Engeln!«
»Dank sei dem Herrn!«
»Dank sei dem Herrn und allen Engeln«, sagte die Gestalt in Schwarz.
Binnen weniger Augenblicke war sie nicht mehr in Schwarz. Zwei Frauen durchbrachen den Kreis und traten in die Mitte, die Arme voll weißer Gewänder. Sie bekleideten die schwarze Gestalt von Kopf bis Fuß, sodass zwei Menschen in Weiß dastanden.
Diejenige, die einmal schwarz gewesen war, rief mit lauter Stimme, frei von jeder Qual: »Dank sei Gott, dem Herrn, der seinen Diener von Sünde erlöst und wieder rein gewaschen hat.«
Kaum waren die Worte gesprochen, begann der Tanz. Die beiden weißen Gestalten verschmolzen mit der Menge, während jemand Musik machte. Die Melodie kam aus unbestimmter Richtung, erinnerte an einen schottischen Reel und war seltsamerweise auch ein Kirchenlied. Alle tanzten und klatschten. Eine Frau hatte ein Tamburin, eine andere eine Zither. Mitten zwischen ihnen stand die Gestalt, die gesündigt hatte und erlöst und gereinigt worden war, und lachte ein fröhliches Lachen wie jemand, der sich bei einem Kindergeburtstag vergnügt. Obwohl es nichts zu essen, zu rauchen und zu trinken gab, waren sie trunken vor Erregung, vor jener Hysterie, die entsteht, wenn sich viele in einem Glauben, in einer Leidenschaft, versammelt haben. Und der Erlöste lachte ein ums andere Mal lauthals auf, glücklich und fröhlich wie ein Kind.
Der Tanz dauerte eine halbe Stunde, bis die Musik abbrach. Das Signal zum Aufbruch. Plötzlich war alles wieder gedämpft, und jeder begab sich zum Feldweg zurück, wo am Grasrand die Fahrzeuge parkten.
Der Priester, der allein gekommen war, wartete, bis die Leute fort waren, ehe er sein Gewand abstreifte. Darunter tauchte ein ganz normaler Mann in Jeans und Fliegerjacke auf. Nachdem er die Gewänder in seinen Kofferraum gelegt hatte, ging er über die Auffahrt zu dem Haus. Aus heutiger Sicht war es groß, ein Gebäude aus der frühviktorianischen Epoche. Zwei flache Treppen führten zu einer Eingangstür in einem bescheidenen Portikus hinauf. Eine Balustrade säumte das Schieferdach. Alles in allem ein nettes, wenn auch ziemlich langweiliges Haus, von denen es in ganz England hunderte, wenn nicht tausende gab. Offensichtlich war niemand zu Hause, was an einem Wochentag auch nicht verwunderte. Er stieg die linke Treppe hinauf, zog einen Umschlag aus der Tasche und schob ihn durch den Briefschlitz. Wie die meisten seiner Schäfchen lebte er in bescheidenen Verhältnissen und wollte die Portokosten sparen.
Der Haus- und Grundbesitzer hatte um eine Gebühr gebeten. Natürlich. Dabei war er ein reicher Mann. Allerdings hatte sich der Priester – wenn er denn einer war – über die Forderung von zweihundert Pfund entrüstet. Schließlich hatten sie sich auf einhundert Pfund geeinigt. Der Umschlag enthielt außerdem ein kurzes Dankschreiben. Schließlich wollten die Leute den Platz im Freien wieder einmal benützen, wie sie es schon früher mehrfach getan hatten. So nannte der Priester diesen Ort, auch wenn er die Bezeichnung Tanzplatz gehört hatte, doch das klang in seinen Ohren nach Götzendienst.
Er ging zu seinem Wagen zurück.
1______
Normalerweise konnte man den Kingsbrook von seinem Fenster aus nicht sehen, weder dessen Bett mit den vielen Windungen noch die Weiden, die zu beiden Seiten das Ufer säumten. Aber jetzt konnte er ihn sehen, oder besser gesagt das, was er geworden war: ein Fluss, breit wie die Themse, jedoch flach und reglos, ein weiter See, der sein eigenes Tal füllte und dabei die Feuchtwiesen unter einem silbrig-glatten Tuch begrub. Nur wenige Häuser standen in diesem Tal entlang einer inzwischen verschwundenen Wiese, die unter einer gleichfalls verschwundenen Brücke hindurchführte. Doch davon schauten nur noch die Dächer und die oberen Stockwerke aus dem Wasser heraus. Er dachte an sein eigenes Haus auf der anderen Seite dieses gemächlich ansteigenden Sees. Noch hatte es das Hochwasser nicht erreicht, sondern plätscherte nur sachte, aber stetig gegen das hintere Ende seines Gartens.
Es regnete. Doch wie hatte er zu Burden vor gut vier Stunden gesagt? Da der Regen nun mal nichts Neues mehr war, wurde jede Bemerkung darüber langweilig. Das einzig Aufregende, was wirklich einen Kommentar wert war, war die Tatsache, wenn es einmal nicht regnete. Er nahm den Hörer zur Hand und rief seine Frau an.
»Ziemlich genauso wie zu dem Zeitpunkt, als du weggingst«, sagte sie. »Der hintere Teil des Gartens steht unter Wasser, aber es hat noch nicht den Maulbeerbaum erreicht. Meiner Ansicht nach ist alles unverändert, denn daran messe ich’s, am Maulbeerbaum.«
»Nur gut, dass wir keine Seidenraupen züchten«, sagte Wexford. Das Entschlüsseln dieser rätselhaften Bemerkung überließ er seiner Frau.
Seit Menschengedenken hatte es in diesem Teil von Sussex nichts Vergleichbares gegeben – wenigstens nicht, soweit er sich erinnern konnte. Trotz einer doppelten Sandsackbarriere hatte der Kingsbrook an der High Street Bridge die Straße überflutet und das Arbeitsamt sowie Sainsbury’s überschwemmt, aber bisher, o Wunder, das Hotel »Olive and Dove« verschont. Es lag auf einem kleinen Hügel. Die meisten höher liegenden Häuser waren davongekommen. Im Gegensatz zur High Street und der Glebe Road sowie Queen Street und York Street mit ihren uralten Schaufenstern und den vorspringenden Dächern. Hier stand das Wasser zwischen einem Viertel bis einem halben Meter hoch, an einigen Stellen sogar knapp einen Meter. Im Friedhof von St. Peter durchbrachen die Spitzen der Grabsteine wie Felsen, die über die Meeresoberfläche ragen, einen grauen, von Regentropfen gesprenkelten See. Und es regnete immer noch.
Nach Auskunft des Umweltamts war der Boden in den überschwemmten Ebenen von England und Wales derart durchnässt und mit Wasser gesättigt, dass keiner der letzten Regengüsse abfließen konnte. In Kingsmarkham und noch mehr im flacheren, tief liegenden Pomfret gab es Häuser, die bereits im Oktober unter Wasser gestanden hatten und jetzt, Ende November, erneut überschwemmt wurden. Zeitungen machten ihren Lesern die freudige Mitteilung, dass sich derartige »Immobilien« nie mehr verkaufen ließen, also wertlos waren. Die Besitzer hatten sie schon vor Wochen verlassen und waren zu Verwandten oder in kurzfristig gemietete Wohnungen gezogen. Die ortsansässigen Behörden hatten sämtliche zehntausend Sandsäcke aufgebraucht. Bei der Bestellung hatte man noch darüber gespöttelt, man würde vermutlich nicht einmal die Hälfte benötigen. Jetzt lagen alle unter Wasser. Neue waren angefordert, aber noch nicht eingetroffen.
Wexford versuchte, nicht daran zu denken, was passierte, wenn es vor Einbruch der Nacht noch einmal gut sechs Liter pro Quadratmeter regnete, und das Wasser Doras Maulbeerbaum erreichte und weiter stieg. Von dieser Stelle an senkte sich der Boden auf der dem Haus zugewandten Baumseite ganz langsam bis zu einer niedrigen Mauer, die die Rasenfläche von der Terrasse und den raumhohen Fenstertüren trennte. Ein ziemlich nutzloser Hochwasserschutz. Trotz aller Bemühung malte er sich ständig aus, wie das Wasser die Mauer erreichte und schließlich darüber lief… Erneut griff er zum Telefon, doch diesmal berührte er lediglich den Hörer und zog die Hand wieder zurück. Die Tür ging auf, Burden kam herein.
»Regnet immer noch«, sagte er.
Wexford musterte ihn nur mit einem Blick, mit dem man etwas anschaut, das man drei Monate nach seinem Verfallsdatum hinten im Kühlschrank entdeckt.
»Eben habe ich etwas Verrücktes gehört. Dachte, es könnte dich amüsieren. Anscheinend kannst du eine Aufheiterung gebrauchen.« Er setzte sich auf seinen Lieblingsplatz am Schreibtischeck. Er ist schlanker denn je und sieht aus, als hätte er gerade sein Gesicht liften lassen und eine Ganzkörpermassage sowie drei Wochen Fitnesshotel hinter sich, dachte Wexford. »’Ne Frau rief an und sagte, sie sei mit ihrem Mann übers Wochenende nach Paris gefahren und hätte ihre Kinder einem Babysitter anvertraut. Vermutlich müsste man Teenagersitter sagen. Gestern seien sie spät abends zurückgekommen und hätten entdeckt, dass die ganze Truppe ausgeflogen war. Selbstverständlich vermutet sie, dass alle ertrunken sind.«
»Und das ist amüsant?«
»Klingt ziemlich bizarr, oder? Die Teenager sind fünfzehn und dreizehn, die Aufpasserin über dreißig Jahre alt, alle können schwimmen, und das Haus steht Kilometer oberhalb des Hochwassers.«
»Wo denn?«
»Am Lyndhurst Drive.«
»Also nicht weit von mir. Was die Kilometer oberhalb des Hochwassers betrifft: Langsam schleicht das Wasser meinen Garten hinauf.«
Burden überkreuzte die Beine und schlenkerte lässig seinen elegant beschuhten Fuß. »Kopf hoch. Im Brede-Tal ist’s schlimmer. Kein einziges Haus kam davon.« Wexford sah es förmlich vor sich: Gebäude, die Beine bekommen und davonrennen, verfolgt vom wütenden Hochwasser. »Jim Pemberton ist schon hinauf, zum Lyndhurst Drive, meine ich. Außerdem hat er die Spezialeinheit für Unterwassereinsätze verständigt.«
»Die was?«
»Davon hast du doch sicher schon gehört.« Den Zusatz »sogar du« verkniff sich Burden gerade noch. »Handelt sich um eine gemeinsame Initiative der Gemeinde Kingsmarkham und der Feuerwehr. Hauptsächlich Freiwillige in Neoprenanzügen.«
»Wenn es sich um einen Witz handelt«, sagte Wexford, »ich will sagen, wenn wir die Sache nicht ernst nehmen, warum dann diese extremen Maßnahmen?«
»Kann nicht schaden, wenn man auf Nummer Sicher geht«, meinte Burden gelassen.
»Na schön, lass mich das mal klar stellen. Diese Kinder – worum handelt es sich eigentlich? Ein Junge und ein Mädchen? Und wie heißen sie?«
»Dade. Giles und Sophie Dade. Den Namen der Aufpasserin kenne ich nicht. Beide können schwimmen. Der Junge hat sogar irgendeine Silbermedaille für Lebensrettung bekommen, und das Mädchen hat knapp die Teilnahme am Juniorenteam des Landesschwimmverbandes verpasst. Weiß Gott, wie die Mutter auf den Gedanken kommt, sie wären ertrunken. Meines Wissens hatten sie keinen Grund, sich in die Nähe des Hochwassers zu begeben. Jim wird das schon auf die Reihe bekommen.«
Wexford sagte nichts mehr. Erneut trommelte der Regen gegen die Scheiben. Er stand auf und trat ans Fenster, aber als er hinaussah, regnete es so heftig, dass man außer weißem Nebel und den Regentropfen, die in unmittelbarer Nähe auf dem Fensterblech zerplatzten, nichts erkennen konnte. »Wo wirst du essen?«, fragte er Burden.
»Vermutlich in der Kantine. Da hinaus bringen mich keine zehn Pferde.«
Um drei Uhr kam Pemberton zurück und meldete, mehrere freiwillige Taucher hätten die Suche nach Giles und Sophie Dade aufgenommen. Allerdings geschehe dies weniger aus echter Besorgnis, sondern wäre eher eine Formalität, um Mrs. Dades Nerven zu beruhigen. Nicht eine Wasseransammlung im Bereich Kingsmarkham habe bisher die Tiefe von mehr als einem Meter überschritten. Drüben im Brede-Tal sei die Situation wesentlich ernster. Vor einem Monat war dort eine Frau, die nicht schwimmen konnte, ertrunken, als sie von dem Behelfssteg fiel, den man zwischen einem ihrer Fenster im oberen Stockwerk und dem höher gelegenen Gebiet gebaut hatte. Sie hatte versucht, sich an den Stegstützen festzuhalten, aber das Hochwasser stieg über ihren Kopf, und Regen und Wind rissen sie fort. So etwas konnte den Kindern der Dades nicht passiert sein. Schließlich waren sie ausgezeichnete Schwimmer, für die nicht einmal doppelt so tiefes Wasser ein Problem gewesen wäre.
Nach allgemeiner Ansicht gab es einen weitaus wichtigeren Grund zur Besorgnis: Derzeit wurden bereits mehrere Geschäfte in der überschwemmten High Street geplündert. Ziemlich viele Ladenbesitzer hatten ihre Ware – Kleidung, Bücher, Zeitschriften und Briefpapier, Porzellan, Glas und Küchenbedarf – in die oberen Stockwerke ausgelagert und waren anschließend ebenfalls ausgezogen. Nachts wateten Plünderer durchs Wasser – einige schleppten sogar Leitern mit –, warfen die Fenster ein und bedienten sich nach Lust und Laune. Ein Dieb, den Detective Sergeant Vine verhaftet hatte, beteuerte, er hätte ein Anrecht auf das von ihm gestohlene Bügeleisen und den Mikrowellenherd. Er betrachtete diese Waren als Ausgleich für die Überschwemmung seiner Erdgeschosswohnung, für die er sicher keinerlei Entschädigung bekäme. Hinter dem Diebstahl im Audio Markt an der York Street – sämtliche CDs und Kassetten waren entwendet worden – vermutete Vine eine Gruppe schulpflichtiger Teenager.
Obwohl Wexford am liebsten jede halbe Stunde bei seiner Frau nachgefragt hätte, nahm er sich zusammen und telefonierte erst wieder um halb fünf. Mittlerweile war der Platzregen einem unerbittlichen Nieseln gewichen. Das Telefon klingelte und klingelte. Als er beinahe schon sicher war, dass sie weggegangen war, hob sie den Hörer ab.
»Ich war draußen. Ich hörte es klingeln, musste aber erst meine Gummistiefel ausziehen und versuchen, nicht allzu viel Dreck zu machen. Bei Regen und Matsch braucht man für die einfachsten Arbeiten im Freien doppelt so lange.«
»Wie geht’s dem Maulbeerbaum?«
»Reg, das Wasser steht dort und schwappt leicht gegen den Stamm. Na ja, war ja auch logisch, so wie’s geregnet hat. Ich habe mir überlegt, ob wir etwas dagegen tun könnten, gegen das steigende Wasser, meine ich, nicht gegen den Regen. Dagegen hat man noch kein Mittel erfunden. Ich dachte an Sandsäcke. Leider hat die Gemeinde keine. Bei meinem Anruf sagte die Frau dort, sie würden darauf warten, dass welche hereinkommen. Erinnerte mich an eine Verkäuferin.«
Er lachte, wenn auch nicht sehr fröhlich. »Das Wasser können wir nicht aufhalten. Trotzdem können wir uns schon mal Gedanken machen, wie wir unsere Möbel nach oben schaffen.« Hol dir Neil zur Hilfe, hätte er beinahe gesagt. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass sein Schwiegersohn aus ihrer aller Leben verschwunden war, seit er und Sylvia sich getrennt hatten. Stattdessen erklärte er Dora, er wäre gegen sechs Uhr zu Hause.
Heute früh hatte er nicht das Auto genommen. In letzter Zeit war er öfter zu Fuß gegangen. Die beinahe endlosen Wolkenbrüche steigerten sein Bedürfnis nach Bewegung – wie war das mit typisch Mensch? –, gerade weil es so selten Gelegenheit gab, dies genüsslich bei trockenem Wetter zu tun. Bei Tagesanbruch hatte es mal nicht aus einem nassen, milchig-blauen Himmel geregnet. Um acht Uhr dreißig war es immer noch trocken. Da hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht, obwohl sich bereits schwere Wolkenmassen zusammenballten und das Blau samt der fahl-blassen Sonne zudeckten. Kaum erreichte er das Polizeirevier, fielen die ersten Tropfen. Jetzt müsste er sich also durch diesen nassen Nebel auf den Heimweg machen. Als er aber aus der neu installierten Automatiktür trat, hatte sich der Nebel aufgelöst. Zum ersten Mal seit langem spürte er deutlich kühle Luft. Es roch trockener. Es roch nach einem Wetterwechsel. Sei mal besser nicht zu optimistisch, sagte er sich.
Es war dunkel, fast wie um Mitternacht. Als Fußgänger konnte er nichts vom Hochwasser sehen, lediglich dass Gehwege und Fahrbahnen nass waren und im Rinnstein tiefe Pfützen standen. Er überquerte die High Street und eilte den leicht ansteigenden Weg nach Hause. Die Dades hatte er vergessen. Sie wären ihm auch nicht mehr eingefallen, wenn er nicht am Ende von Kingston Gardens vorbeigekommen wäre und dabei im gelben Lampenschein den Straßennamen gelesen hätte. Vom höchsten Punkt zweigte hier der Lyndhurst Drive ab. Die dortigen Anwohner hätten von ihren Fenstern auf sein Hausdach samt Garten herunterschauen können. Sie waren in Sicherheit. Um bis dorthin anzuschwellen, hatte ihm jemand erklärt, müsste das Hochwasser erst einmal die Kuppel des Rathauses von Kingsmarkham überfluten.
Ja, dort oben waren die Dades sicher. Und die Möglichkeit, dass ihre Kinder ertrunken waren, war praktisch gleich Null. Vor Dienstende war eine Meldung der Spezialeinheit für Unterwassereinsätze eingetroffen. Es hieß, man habe keine Menschenseele gefunden, weder lebend noch tot. Wexford starrte den Hügel hinauf und überlegte, wo sie genau wohnten. Doch dann verlor er abrupt den Faden. Was war mit ihm los? Hatte er sich allmählich nicht mehr im Griff? Ertrunken waren diese Jugendlichen vielleicht nicht, aber vermisst wurden sie trotzdem, oder? Ihre Eltern waren nach einem Wochenendausflug heimgekommen und hatten entdeckt, dass sie nicht da waren. Gestern Nacht. Dieser ganze Blödsinn mit Hochwasser und Ertrinken hatte ihm den Blick für die zentrale Tatsache getrübt: Zwei Kinder im Alter von fünfzehn und dreizehn wurden vermisst.
Er eilte weiter, seine Gedanken ebenfalls. Selbstverständlich war es gut möglich, dass sie mittlerweile wieder zurück waren. Schließlich hatten sie sich, laut Burden, in der Obhut einer älteren Person befunden, und alle drei wurden vermisst. Dies bedeutete sicherlich, dass der Aufpasser, vermutlich eine Frau, mit ihnen irgendwohin gefahren war. Wahrscheinlich hatte sie der Mutter letzten Freitag oder an dem Tag, an dem die Eltern wegfuhren, erzählt, sie möchte sie zu einem Ausflug mitnehmen. Und das hatte die Mutter vergessen. Eine Frau, die annahm, ihre Kinder seien ertrunken, nur weil sie nicht da waren und die Stadt teilweise überschwemmt war, musste – milde ausgedrückt – leicht konfus sein.
Dora war nicht im Haus. Er entdeckte sie unten im Garten, wo sie mit einer Taschenlampe die Wurzeln des Maulbeerbaums anleuchtete. »Meiner Ansicht nach ist es seit unserem Gespräch um vier Uhr dreißig nicht weiter gestiegen«, sagte sie. »Müssen wir wirklich die Möbel umräumen?«
Sie gingen ins Haus. »Wir könnten einige Sachen umlagern, an denen wir besonders hängen. Den Konsolentisch, der deiner Mutter gehört hat. Damit könnten wir anfangen und um zehn Uhr den Wetterbericht anhören.«
Er reichte ihr einen Drink und schenkte sich auch etwas ein. Den stark verdünnten Whisky neben sich auf dem Tisch, rief er Burden an. Inspector Burden sagte: »Ich wollte dich gerade anrufen. Eben kam mir schlagartig der Gedanke, dass die Kinder der Dades tatsächlich vermisst werden.«
»Dasselbe hatte ich auch gedacht. Trotzdem eine Korrektur: Eventuell werden sie vermisst. Wer weiß, ob nicht ihre Aufpasserin sie soeben von einer Bildungsfahrt nach Leeds Castle zurückgebracht hat?«
»Die gestern begonnen hat, Reg?«
»Nein, du hast Recht. Also, wir müssen das herausfinden. Uns würde man als Letzte informieren, falls sie wieder wohlbehalten zurück wären. Wir sind nur für Katastrophen zuständig. Sollten diese Kinder immer noch nicht aufgetaucht sein, müssen die Eltern, oder einer von ihnen, aufs Revier kommen, eine Vermisstenanzeige ausfüllen und uns ein bisschen mehr erzählen. Das musst nicht unbedingt du machen. Beauftrage Karen damit, die ist in letzter Zeit nicht gerade wegen Arbeitsüberlastung zusammengebrochen.«
»Bevor ich irgendetwas unternehme, würde ich gern die Dades anrufen«, sagte Burden.
»Und danach meldest du dich wieder bei mir, ja?«
Er setzte sich an den Tisch, und Dora und er aßen zu Abend. Der Briefkastenschlitz klapperte. Die Abendzeitung war da, der Kingsmarkham Evening Courier.
»Wirklich schlimm«, sagte Dora. »Es ist fast acht Uhr. Zwei Stunden zu spät.«
»Unter den Umständen verständlich. Findest du nicht?«
»Ach, vermutlich schon. Ich sollte nicht jammern. Wahrscheinlich musste sie der arme Zeitungshändler selbst austragen. Bei dem Wetter wird er das Mädchen sicher nicht gehen lassen.«
»Mädchen?«
»Sein Tochter trägt die Zeitungen aus. Wusstest du das nicht? Vermutlich sieht sie mit Jeans und Wollmütze eher wie ein Junge aus.«
Sie ließen die Vorhänge an den Terrassentüren offen, damit sie sehen konnten, wann es wieder zu regnen anfing, und außerdem den Hochwasserpegel beobachten konnten, der seit gestern Nacht klammheimlich fast zwei Meter den Rasen heraufgeklettert war. Bei einem der Nachbarn – sein Garten lag ein paar Zentimeter oberhalb dem der Wexfords, aber das genügte bereits – stand am tiefsten Punkt des Rasens eine alte gusseiserne Straßenlaterne, die heute Abend brannte. Ein kräftiger weißer Lichtkegel entlarvte das still vor sich hinglitzernde Wasser. Es hatte eine glänzend graue Farbe wie eine Schieferplatte, und irgendwo dort unten in dem ausufernden flachen See befand sich das verlorene Flüsschen. Seit Wochen hatte Wexford die Sterne nicht mehr gesehen, und er konnte sie auch jetzt nicht entdecken, er konnte nur leicht verschwommen den hellen Lampenschein erkennen und am Himmel, wo der auffrischende Wind Bewegung in die Wolken brachte, eine dahinhuschende, undefinierbare Masse. Schwankend bogen sich schwarze blattlose Äste. Einer peitschte die Wasseroberfläche, Gischt spritzte auf, wie wenn ein Auto durch eine Pfütze fährt.
»Willst du jetzt mit dem Umräumen anfangen?«, fragte Dora, nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatten. »Oder möchtest du einen Blick hineinwerfen?«
Mit einem Kopfschütteln lehnte er die Zeitung ab, die doch nur Bilder vom Hochwasser enthielt. »Wir werden die Bücher und diese Vitrine umräumen. Mehr nicht. Erst schauen wir uns die Wettervorhersage an.«
Als er gerade den sechsten und letzten Bücherkarton nach oben trug, klingelte das Telefon. Zum Glück befanden sich die meisten Bücher bereits im oberen Stockwerk, in dem kleinen Zimmer, das sie einmal zu seinem Arbeitszimmer erklärt hatten und das mittlerweile eher einer winzigen Bibliothek glich. Dora hob den Hörer ab, während er den Karton auf der obersten Stufe abstellte.
»Es ist Mike.«
Wexford nahm ihr den Hörer ab. »Wenn ich mich nicht irre, sind sie nicht aufgetaucht.«
»Nein. Morgen wollen die Taucher die Suche wieder aufnehmen. Irgendwie haben sie es sich in den Kopf gesetzt, in den Untiefen des Brede-Tals zu suchen. Sie haben nicht viel zu tun. Vermutlich macht ihnen die Sache Spaß.«
»Und Mr. und Mrs. Dade?«
»Ich habe doch nicht angerufen, Reg. Bin selbst hinaufgefahren«, sagte Burden. »Die sind ein komisches Pärchen. Sie heult.«
»Was tut sie?«
»Sie heult ständig. Das ist unheimlich, direkt krankhaft.«
»Tatsächlich, Herr Doktor? Und was macht er?«
»Er ist einfach nur unverschämt. Ach ja, außerdem scheint er ein Workaholic zu sein. Keine Sekunde Müßiggang. Er sagte, er setze sich jetzt wieder an seine Arbeit. Während ich da war. Die Kids werden tatsächlich vermisst. Ihr Vater meint, die Sache mit dem Ertrinken sei völliger Blödsinn. Warum sollten sie sich mitten im Winter in die Nähe des Hochwassers begeben? Wer hatte diese lächerliche Idee ausgebrütet? Sie, sagte seine Frau und fing zu heulen an. Vielleicht seien sie ins Wasser gegangen, um jemanden zu retten, schlug Jim Pemberton vor. Wenn ja, wen? Die Einzige, die noch vermisst wird, ist diese Joanna Troy…«
»Wer?«
»Sie ist die Freundin von Mrs. Dade, die übers Wochenende ins Haus kam, um auf die zwei Kids aufzupassen. Dade füllt gerade die Vermisstenanzeige aus.« Burdens Stimme bekam einen zögernden Ton. Vielleicht erinnerte er sich wieder an die Nachdrücklichkeit, mit der Wexford den Wunsch geäußert hatte, er möchte damit nichts zu tun haben. »Wie es aussieht, ist die Angelegenheit ein bisschen ernster als beim ersten Augenschein. Kurz nach Mitternacht kamen die Dades von Paris zurück. Sie flogen über Gatwick ein. Das Haus lag im Dunkeln, die Türen zu den Kinderschlafzimmern waren geschlossen, und die Eltern gingen ins Bett, ohne nachzuschauen. Na ja, vermute ich wenigstens. Schließlich ist Giles fünfzehn und Sophie dreizehn Jahre alt. Erst im Laufe des Vormittags merkte Mrs. Dade, dass die Kids nicht da waren. Was bedeutet, dass sie nicht erst seit Sonntag um Mitternacht vermisst werden, sondern wahrscheinlich schon seit Freitagabend, nach der Abreise der Eltern.«
»Und diese Joanna Dingsbums?«
»Troy. Mrs. Dade hat schon den ganzen Tag bei ihr daheim angerufen. Ohne Erfolg. Heute Nachmittag ist dann Dade hinübergegangen, aber es war keiner da.«
»Anscheinend ist es egal, ob ich aufrichtig hoffe oder mich nicht darum kümmere«, sagte Wexford müde. »Doch lassen wir das mal alles bis morgen.«
Morgen sei schließlich auch noch ein Tag, meinte Burden fröhlich. Manchmal konnte er richtig salbungsvoll sein.
»Da hast du wirklich Recht, Scarlett. Schließlich ist morgen auch noch ein Tag. Immer gesetzt den Fall, dass Dora und ich während der Nacht nicht ertrinken. Aber ich wage mal zu behaupten, dass uns die Flucht aus den Schlafzimmerfenstern gelingen wird.«
Während des Gesprächs hatte er nach weiterem Regen Ausschau gehalten. Während seines letzten Satzes waren die ersten Tropfen gegen die Scheibe geprasselt. Er legte den Hörer zurück und öffnete die Haustür. Draußen war es milder, als es seiner Erinnerung nach je um diese Jahreszeit gewesen war. Sogar der Wind war warm. Er hatte den nächsten Wolkenbruch mitgebracht. Es regnete immer stärker, wie Glasstäbe oder Stahlseile knallten die Tropfen senkrecht auf die Steinplatten und schossen in die randvollen Gullys, dass es nur so spritzte. Schon bald ergoss sich das Wasser aus dem Fallrohr der Dachrinne wie aus einem voll aufgedrehten Hahn. Eine derartige Menge konnte der Abfluss nicht fassen und war binnen kurzem in einem Wasserstrudel verschwunden.
Dora schaute die Nachrichten an, die gerade zu Ende waren, als er hereinkam. Die Wettervorhersage begann mit dem typischen, irritierenden Trailer: Auf der Spitze eines Brunnens saß eine unwahrscheinlich glamouröse, als Wassergeist verkleidete Gestalt in einem Designerkleid aus Silberlamé. Haare und Gewand kräuselte ein versteckter Ventilator. Die Meteorologin, eine insgesamt eher normale Frau, deutete mit einem Zeigestab auf die Karte und erzählte etwas von einer Hochwasserwarnung für weitere vier Flüsse und von einem Tiefdruckgebiet, das hinter jenem vom Atlantik heranrauschte, das gegenwärtig das Vereinigte Königreich heimsuchte. Gegen Morgen, sagte sie, würden über Südengland schwere Regenfälle niedergehen. Als ob das bisher anders gewesen wäre.
Wexford schaltete den Fernseher ab. Er und Dora standen an der Terrassentür und betrachteten das Wasser, das mittlerweile unmittelbar vor ihren Füßen genau wie im Vorgarten das Pflaster bedeckte. Der Regen erzeugte kleine Wellen auf der Oberfläche, auf der ein Zweig wie ein Boot auf unruhiger See herumtanzte. Der Stamm des Maulbeerbaums war bereits zur Hälfte verschwunden. Inzwischen hatten sie sich einen Fliederbusch zum Maßstab genommen, gegen dessen Wurzeln das steigende Wasser schwappte. Nur noch wenige Meter trockenes Land, dann hatte die Flut das Mäuerchen erreicht. Vor seinen Augen erlosch das Licht am Ende des Nachbargartens. Die ganze Szenerie war in Dunkelheit getaucht.
Er ging nach oben ins Bett. Mittlerweile kam ihm die Möglichkeit, dass zwei junge fähige Schwimmer ertrunken sein könnten, nicht mehr so absurd vor. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie allmählich das ganze Land in diesen unendlichen Wassermassen versank und verschwand. Ihnen fiel jeder zum Opfer, Junge und Alte gleichermaßen, Starke und Schwache, wie Schiffbrüchige, deren Floß nicht standhält, deren Kraft erlischt.
2______
So war das also, wenn man nicht involviert werden wollte. Mittlerweile war er – mit Vine am Steuer – auf dem Weg hinauf zum Lyndhurst Drive, über Kingston Gardens. Offensichtlich hielt Vine die Möglichkeit, im Brede-Tal zu ertrinken, durchaus für real, besonders in dem sehr tiefen Wasser, das inzwischen die Savesbury Deeps füllte, wo die Froschmänner erneut die Suche aufgenommen hatten. Vergangene Nacht hatte auch er diese Meinung vertreten, aber jetzt, da die Sonne aufs nasse Pflaster schien und sich in den Wassertropfen an den Ästen brach, war er sich nicht mehr so sicher.
Als er vor drei Stunden aufgestanden war, hatte es offensichtlich gerade zu regnen aufgehört. Trotz der Dunkelheit war es bereits hell genug, um zu erkennen, was während der Nacht passiert war. Er schaute nicht aus dem Fenster – noch nicht. Er fürchtete sich vor dem Anblick, aber noch mehr davor, was ihn erwarten könnte, wenn er nach unten ging, um für Dora Tee zu machen: Dass das Wasser ihn bereits am Fuß der Treppe erwartete oder in trügerischer Ruhe den ganzen Küchenfußboden bedeckte. Doch das Haus war trocken. Nachdem er den Wasserkessel aufgesetzt und sich schließlich doch überwunden hatte, die Vorhänge zurückzuziehen und zur Terrassentür hinauszuschauen, sah er, dass der silbrig-grüne See noch immer etwa drei Meter von dem Mäuerchen entfernt war, das den Rasen vom gepflasterten Weg trennte.
Seither hatte es nicht mehr geregnet. Was die Ankündigung weiterer Wolkenbrüche betraf, hatte der Wetterbericht Recht gehabt, sich allerdings im Zeitpunkt geirrt. Das zweite Tiefdruckgebiet stand immer noch aus. Als er an der Stelle, wo Kingston Gardens und Lyndhurst Drive zusammenstießen, aus dem Wagen stieg, fiel ihm von einem Ilexstrauch neben dem Tor ein Tropfen auf den Kopf, genau auf seine kahle Stelle.
Das Eckhaus hieß »Antrim«, nach einem Bezirk in Nordirland, ein Name, der nicht protzig klang und doch nicht recht passen wollte. Im Gegensatz zu allen anderen Häusern am Lyndhurst Drive, wo neogeorgianischer Stil unmittelbar neben Art déco anno 1930, funktionale Bauten aus den Sechzigern, neogotische Villen von 1890 und pseudo-viktorianische Gebäude kurz vor dem Millenniumswechsel nebeneinander existierten, prangte das Haus der Dades im nachgemachten Tudorstil, allerdings so überzeugend, dass ein unkritischer Betrachter es durchaus für echt halten konnte. Fachwerk aus abgebeizten Eichenbalken durchzog etwas dunkleren Putz, die Fenster hatten Facettenschliff, und die Haustür war massiv beschlagen. Den Türklopfer bildete der allseits beliebte Löwenkopf, und der Klingelzug bestand aus einem gedrehten Schmiedeeisenstab, an dem Wexford jetzt zog.
Die Frau, die mit Tränenspuren im Gesicht an die Tür kam, war ganz eindeutig die besorgte Mutter. Sie war dünn, zerbrechlich und außer Atem. Anfang vierzig, dachte er. Ziemlich hübsch, mit ungeschminktem Gesicht und unfrisierter brauner Lockenmähne. Und doch war es eines jener Gesichter, in dessen Falten und angespannter Muskulatur sich jahrelange Belastungen spiegeln, denen man sich schließlich gefügt hat. Als sie sie ins Wohnzimmer führte, tauchte ein Mann auf. Er war sehr groß, einige Zentimeter größer als Wexford, also gut einen Meter neunzig. Sein Kopf war im Vergleich zum Körper zu klein.
»Roger Dade«, sagte er brüsk in einem blasierten Tonfall, der nach bewusster Übertreibung klang. »Meine Frau.«
Wexford stellte sich und Vine vor. Der Tudorstil setzte sich im Inneren des Hauses fort. Überall gab es jede Menge Holzschnitzereien, Fantasieungeheuer rings um die steinerne Kamineinfassung (in der ein moderner Gaseinsatz stand, der nicht angezündet war), Tapeten mit Paisley-Muster, schmiedeeiserne Lampen sowie mit unentzifferbaren Hieroglyphen bemalte Pergamentbilder. Unter der Glasplatte des Couchtisches, um den sie saßen, lag eine Weltkarte, wie sie, sagen wir mal, um 1550 bekannt war, samt Drachen und rollenden Galeonen. Die aufgewühlten Meereswogen erinnerten Wexford an seinen rückwärtigen Garten. Er bat die Dades, ihm etwas über das Wochenende zu erzählen und dabei ganz von vorne zu beginnen.
Als Erste äußerte sich die Mutter der Kinder unter eifrigem Gestikulieren. »Seit unseren Flitterwochen waren mein Mann und ich nicht mehr allein verreist. Können Sie sich das vorstellen? Wir wollten unbedingt einfach mal ohne die Kinder fort. Wenn ich jetzt daran denke, habe ich solche Schuldgefühle. Ich kann’s Ihnen gar nicht sagen. Seither habe ich allein schon den Gedanken daran hunderte Male bedauert.«
Ihr Mann, der aussah, als wäre eine Reise mit ihr das Letzte gewesen, was er unbedingt einfach mal hatte machen wollen, verdrehte seufzend die Augen. »Katrina, es gibt keinen Grund für Schuldgefühle. Um Himmels willen, beruhige dich doch.«
Daraufhin traten ihr Tränen in die Augen. Sie gab sich keine Mühe, sie zu unterdrücken. Während sie heftig schluckte, schwollen sie wie das Wasser draußen an, stiegen über die Ufer und liefen in kleinen Bächen über ihre Wangen. Mit einer scheinbar geläufigen Geste, die an das automatische Abdrehen eines Wasserhahns oder an das Schließen einer Tür erinnerte, zog Roger Dade eine Hand voll Taschentücher aus einer Schachtel auf dem Tisch und reichte sie ihr. Die Schachtel steckte in einer polierten Holzschatulle mit Messingbeschlägen, die offensichtlich ein genauso wichtiger Teil der Einrichtung war wie in einem anderen Haushalt vielleicht ein Zeitschriftenständer oder ein CD-Regal. Katrina Dade war mit einem undefinierbaren blauen Etwas bekleidet, das entfernt an einen blauen, knapp sitzenden Hausmantel erinnerte. Trug eine modebewusste Frau so etwas tagsüber? Amüsiert sah er, wie Vine sich angestrengt bemühte, den Blick von dem nackten Oberschenkel abzuwenden, den sie präsentierte, als sich das blaue Etwas vorne teilte.
»Aber was nützt es?« Die Tränen machten ihre Stimme rau und erstickten sie fast. »Wir können die Uhr nicht zurückdrehen, oder? Roger, wann sind wir am Freitag weggefahren? Du weißt, wie hoffnungslos ich in solchen Dingen bin.«
Roger Dade machte tatsächlich den Eindruck, als hätte er mit einem wechselnden Maß an Ungeduld und Verzweiflung jahrelang Unpünktlichkeit, Vergesslichkeit und eine unglaubliche Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Zeitmaß ertragen. »Ungefähr zwei Uhr dreißig«, sagte er. »Unser Flug ging um vier Uhr dreißig von Gatwick ab.«
»Haben Sie den Wagen genommen?«, fragte Vine.
»Ja, sicher, ich bin gefahren.«
»Wo waren die Kinder zu diesem Zeitpunkt?« Wexford hatte den Blick auf Dade gerichtet, in der Hoffnung, dass dieser antwortete, aber er hatte sich getäuscht.
»Selbstverständlich in der Schule. Wo sonst? Sie sind durchaus gewöhnt, dass keiner da ist, wenn sie nach Hause kommen. Aber sie hätten nicht lange allein bleiben sollen. Joanna sollte um fünf Uhr herüberkommen.«
»Ja. Joanna. Wer ist das eigentlich?«
»Meine allerbeste und engste Freundin. Das macht ja alles so schrecklich. Sie wird auch vermisst. Und ich weiß nicht einmal, ob sie schwimmen kann. Darüber musste ich mir bisher nicht den Kopf zerbrechen. Vielleicht hat sie es nie gelernt. Angenommen, sie konnte es nicht und fiel ins Wasser, und Giles und Sophie sind ins Wasser gesprungen, um sie zu retten, und dann sind alle…«
»Dreh doch nicht durch«, sagte Dade, als erneut Tränen flossen. »Damit hilfst du auch nicht weiter, Heulsuse.« Dass jemand dieses Wort tatsächlich benutzte, war Wexford bisher neu gewesen. Er hatte es lediglich vor Jahren in irgendwelchen Lesebuchgeschichten gesehen, die schon damals, als er sie las, altmodisch gewesen waren. Dades Blicke wanderten zwischen den beiden Polizeibeamten hin und her. »Das übernehme besser ich«, sagte er, »sonst kommen wir hier nicht weiter.«
Sie schrie ihn an: »Ich will aber reden! Ich muss einfach weinen. Ist es denn nicht natürlich, wenn eine Frau weint, deren Kinder ertrunken sind? Was erwartest du eigentlich?«
»Katrina, deine Kinder sind nicht ertrunken. Du bist wie immer nur hysterisch. Wenn du ihnen unbedingt erzählen willst, was passiert ist, dann tu’s doch einfach. Also los!«
»Wo war ich? Ach ja – in Paris.« Ihre Stimme hatte sich ein wenig gefestigt. Sie zog das blaue Etwas nach unten und setzte sich gerade hin. »Wir haben sie von Paris aus angerufen, aus dem Hotel. Das war um acht Uhr dreißig. Ich meine, es war acht Uhr dreißig französischer Zeit, also bei uns hier sieben Uhr dreißig. Ich begreife einfach nicht, warum uns Europa eine ganze Stunde voraus sein muss. Warum müssen die anders sein?« Keiner gab ihr eine Antwort. »Ich meine, wir sind alle im Gemeinsamen Markt oder in der Union oder wie man sonst noch dazu sagt. Dauernd ändert sich ja der Name. Eigentlich sollten wir doch alle gleich sein.« Sie erhaschte einen Blick ihres Mannes. »Ja, schon gut, schon gut. Wie ich schon sagte, riefen wir sie an, und Giles war am Apparat. Er sagte, alles sei in Ordnung, er und Sophie machten ihre Hausaufgaben. Joanna sei da, und sie würden bald zu Abend essen und fernsehen. Ich machte mir keine Sorgen – warum sollte ich auch?«
Auch das war offensichtlich eine rhetorische Frage. Obwohl Wexford erst eine halbe Stunde in ihrer Gegenwart verbracht hatte, konnte er sich nicht recht vorstellen, dass sie je frei von Sorgen sein würde. Sie gehörte zu jener Art von Mensch, die künstlich Probleme erzeugen, falls sich auf natürlichem Weg keine ergeben sollten. Wieder zuckte ihr Gesicht, und er befürchtete, sie würde erneut zu weinen anfangen, aber dann fuhr sie doch mit ihrem Bericht fort.
»Am nächsten Tag habe ich ungefähr zur gleichen Zeit angerufen, aber niemand antwortete. Ich meine, kein Mensch, nur der Anrufbeantworter. Vielleicht schauen alle fern, dachte ich, oder Giles ist ausgegangen, und Joanna und Sophie erwarten keinen Anruf von mir. Schließlich hatte ich nicht gesagt, dass ich anrufen würde. Ich hinterließ die Nummer des Hotels – obwohl sie die schon gehabt hatten – und dachte, sie würden mich vielleicht zurückrufen, was sie aber nicht taten.«
Vine unterbrach. »Mrs. Dade, Sie sagten, Ihrer Ansicht nach sei Ihr Sohn vielleicht ausgegangen. Wohin würde er gehen? Irgendwohin mit seinen Klassenkameraden? Ins Kino? Für Discos ist er vermutlich noch zu jung.«
Das Ehepaar wechselte einen Blick. Wexford konnte ihn nicht interpretieren. Katrina Dade vermied eine direkte Antwort und sagte, als wollte sie dieses Thema umgehen: »Ins Kino oder in eine Disco würde er nicht gehen. Zu der Sorte Jungs gehört er nicht. Außerdem würde das mein Mann nicht erlauben. Nie und nimmer.«
Rasch warf Dade ein: »Kinder haben heutzutage zu viel Freiheiten. So geht das nun schon seit Jahren. Bei mir war es auch so, und ich weiß, dass dies auf mich lange Zeit eine nachteilige Wirkung hatte. Bis ich damit fertig wurde, das heißt, bis ich mich selbst diszipliniert habe. Sollte Giles ausgegangen sein, dann nur in die Kirche. Manchmal gibt es dort samstagabends einen Gottesdienst. Aber eigentlich sollte er letztes Wochenende am Sonntagmorgen stattfinden. Das habe ich vor unserer Abreise überprüft.«
In diesen degenerierten Zeiten, dachte Wexford, der Atheist war, wären die meisten Eltern froh, wenn sie wüssten, dass ihr fünfzehnjähriger Sohn in der Kirche gewesen war anstatt in irgendeinem populären Club. Mal abgesehen vom religiösen Aspekt. In der Kirche gab es keine Drogen, kein Aids, keine eroberungswütigen Mädchen. Dade jedoch wirkte unglücklich und seine Miene bestenfalls resigniert.
»Und um welche Kirche handelt es sich dabei?«, fragte Wexford. »St. Peter? Die katholische Kirche?«
»Sie nennen sich die Church of the Good Gospel«, sagte Dade. »Sie benützen das alte Gemeindehaus in der York Street, das früher mal den Katholiken gehörte, bevor ihre neue Kirche gebaut wurde. Mir wär’s, weiß Gott, lieber, wenn er zu den Anglikanern ginge, aber jede Kirche ist besser als gar keine.« Nach einem Zögern sagte er beinahe aggressiv: »Warum wollen Sie das wissen?«
Vines Tonfall war ausgleichend und beruhigend. »Vielleicht wäre es eine gute Idee, herauszufinden, ob Giles am Sonntag tatsächlich dorthin gegangen ist. Finden Sie nicht auch?«
»Ach, möglich.« Dade war ein Mensch, der lieber Ideen lieferte, anstatt sie aus anderer Quelle angeboten zu bekommen. Stirnrunzelnd warf er einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. »Die ganze Sache bringt mich allmählich in Verzug«, sagte er.
»Erzählen Sie uns noch das restliche Wochenende?« Rasch warf Wexford einen Blick von Dade zu dessen Frau und wieder zurück.
Diesmal blieb Katrina Dade schweigsam, schniefte und machte lediglich eine verdrossene Geste. Roger sagte: »Am Sonntag haben wir nicht angerufen, weil wir ja abends wieder zurückfuhren.«
»Eher nachts«, sagte Vine. »Sie waren sehr spät dran.« Vermutlich sollte es nicht so streng klingen.
»Wollen Sie damit etwas andeuten? Wenn ja, wüsste ich gerne, worum es sich handelt. Darf ich Sie daran erinnern, dass Ihre Aufgabe darin besteht, meine vermissten Kinder zu finden, anstatt irgendwelche Mängel in meinem Verhalten aufzudecken.«
Beschwichtigend sagte Wexford: »Niemand macht irgendwelche Andeutungen, Mr. Dade. Würden Sie – bitte – fortfahren?«
Dade musterte ihn mit geschürzten Lippen. »Der Flug hatte fast drei Stunden Verspätung. Hatte irgendwie mit Wasser auf den Landebahnen in Gatwick zu tun. Und dann dauerte es noch eine halbe Stunde, bis das Gepäck ausgeladen war. Als wir heimkamen, war es kurz nach Mitternacht.«
»Und Sie fanden es selbstverständlich, dass alle im Bett lagen und schliefen?«
»Alle nicht«, sagte Katrina. »Joanna übernachtete diesmal nicht bei uns. Sie sollte am Sonntagabend heimgehen. Kurze Zeit konnten die Kinder auch allein bleiben. Giles ist fast sechzehn. Wir alle dachten, dass wir um neun Uhr zu Hause wären. Jeder dachte das.«
»Sie haben aber nicht vom Flughafen aus angerufen?«
»Wenn ja, hätte ich’s Ihnen gesagt«, fauchte Dade. »Da wäre es bereits nach halb elf gewesen, und ich schätze es, wenn meine Kinder zu einer vernünftigen Zeit im Bett sind. Wenn sie in der Schule richtig mitarbeiten sollen, brauchen sie ihren Schlaf.«
»Was hätte sich geändert, wenn wir angerufen hätten?« Dies kam von einer schniefenden Katrina. »Der Anrufbeantworter lief immer noch. Roger hat das gestern Morgen überprüft.«
»Sind Sie sofort ins Bett gegangen?«
»Wir waren erschöpft. Die Schlafzimmertüren der Kinder waren geschlossen. Wir haben nicht hineingeschaut, falls Sie das meinen. Sie sind keine Babys, die man ständig im Auge behalten muss. Morgens bin ich dann liegen geblieben. Mein Mann ist selbstverständlich bei Tagesanbruch ins Büro. Als ich aufwachte, war es bereits nach neun Uhr. Das war unglaublich. So lange habe ich schon seit Jahren nicht mehr geschlafen, nicht seit meiner Teenagerzeit.« Katrinas Redefluss beschleunigte sich, die Wörter überstürzten sich förmlich. »Selbstverständlich dachte ich zuerst, die Kinder seien in die Schule gegangen. Ich hatte sie nicht gehört, so fest hatte ich geschlafen. Ich dachte, sie wären aufgestanden und fortgegangen, aber kaum war ich selbst aufgestanden, wusste ich, dass es nicht so war. Man konnte merken, dass keiner das Bad benützt hatte. Ihre Betten waren gemacht, was sie nie tun, und es sah aus, als hätte sie jemand gemacht, der genau wusste, was er tat. Offensichtlich Joanna. Nichts lag herum, alles war in Ordnung – ich meine, das war eigenartig.«
»Sie müssen doch versucht haben, herauszufinden, wo sie waren«, sagte Wexford. »Durch Rundrufe bei Freunden und Verwandten? Haben Sie in der Schule angerufen?«
»Ich rief meinen Mann an, und der hat das dann gemacht, obwohl wir wussten, dass sie dort nicht waren. Und so war es ja auch. Selbstverständlich waren sie nicht dort. Dann rief er seine Mutter an. Weiß der Himmel, warum. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund, der mein Vorstellungsvermögen übersteigt, scheinen die Kinder sie gern zu haben. Doch er hatte kein Glück. Dasselbe geschah bei den Eltern der Freunde unserer Kinder – das heißt, bei denen, die wir erreichen konnten, denn viele Mütter sind mit der Hausfrauenrolle nicht zufrieden. Sie müssen unbedingt auch noch beruflich Karriere machen. Jedenfalls hatte keine von ihnen auch nur die geringste Ahnung.«
Vine sagte: »Haben Sie versucht, mit Mrs. Troy Kontakt aufzunehmen?«
Katrina Dade starrte ihn an, als hätte er etwas ganz besonders Obszönes von sich gegeben. »Nun, selbstverständlich haben wir das. Natürlich. Das war das Erste, was wir gemacht haben, sogar noch vor unserem Anruf in der Schule. Niemand hat geantwortet – na ja, ihr Anrufbeantworter lief.«
»Ich war gezwungen, heimzukommen«, sagte Dade, womit er andeutete, dass dies der letzte Platz war, wo er sein wollte. »Ich bin zu ihrem Haus hinübergegangen. Da war keiner. Ich ging zur nächsten Tür, und die Frau sagte, sie hätte Joanna seit Freitag nicht gesehen.«
Was nicht viel bedeutete. Ein Nachbar ist nicht ständig über das Kommen und Gehen der Leute im Haus nebenan auf dem Laufenden. Wexford sagte: »Und dann?«
Katrinas Augen hatten den glasig-leeren Blick einer Laienschauspielerin in der ortsansässigen Theatergruppe angenommen, die gerade Lady Macbeth in der Schlafwandlerszene spielt. »Während mein Mann weg war, ist es passiert. Ich sah aus dem Fenster. Vorher hatte ich nicht hinausgeschaut. Der Anblick war niederschmetternd. Von hier aus kann man das ganze Ausmaß der Überschwemmung sehen. Wie ein großer See, ein Ozean. Ich mochte meinen Augen kaum trauen, musste es aber, ich musste es. In dem Augenblick wusste ich: Irgendwo da draußen müssen meine Kinder sein.«
Mit der ruhigsten und festesten Stimme, die Wexford aufbieten konnte, sagte er: »Mrs. Dade, die Froschmänner haben ihre Suche wieder aufgenommen. Trotzdem ist Ihre Vermutung höchst unwahrscheinlich. Von hier aus ist es recht weit bis zum überschwemmten Gebiet. Außerdem steht das Wasser in ganz Kingsmarkham nirgendwo höher als einen Meter. Die Suche wurde auf das Brede-Tal ausgedehnt, was mindestens fünf Kilometer von hier weg liegt. Ich tue mir schwer, einen triftigen Grund zu finden, warum sich Giles, Sophie und Mrs. Troy in die Nähe der Brede begeben sollten. Es sei denn, alle drei wären begeisterte Wanderer.«
»Keiner von ihnen würde zu Fuß irgendwohin laufen, wenn es sich vermeiden lässt«, sagte Dade.
Katrina machte ein Gesicht, als hätte er sie verraten, und zog ihre Hand zurück. »Und wo sind sie dann?«, fragte sie die beiden Polizisten. »Was ist aus ihnen geworden?« Dann kam jene Frage, die Wexford bereits befürchtet hatte, die Frage, die Eltern in einer derartigen Situation immer stellen. Sie kam früh, diese Frage. »Was werden Sie tun?«
»Als Erstes brauchen wir Ihre Hilfe, Mrs. Dade«, sagte Vine. »Wir benötigen Fotos von Giles und Sophie sowie eine Personenbeschreibung und Hintergrundinformation, wie sie als Menschen so sind.« Verstohlen schaute er zu Wexford hinüber.
»Möglichst auch ein Foto von Mrs. Troy«, sagte der Chief Inspector. »Außerdem haben wir noch ein paar Fragen. Wie kam Mrs. Troy am Freitagabend hierher? Mit dem Auto?«
»Natürlich.« Dade sah ihn an, als hätte er bezweifelt, dass Joanna Troy im Besitz von Beinen war. Als handle es sich bei einem motorisierten Untersatz um etwas Ähnliches wie Haare oder Nasen, von denen ja auch jeder normale Mensch weiß, dass man damit geboren wird. »Natürlich kam sie mit dem Auto. Sagen Sie, wird das hier noch länger dauern? Ich bin sowieso schon spät dran.«
»Wo steht ihr Auto? Hat sie zu Hause eine Garage?«
»Nein. Sie parkt es vor dem Haus in einer Art Einfahrt.«
»Und steht es dort?«
»Nein, tut es nicht.« Allmählich machte Dade den Eindruck, als schäme er sich ein wenig für seine höhnische Bemerkung von vorhin. »Möchten Sie ihre Adresse haben? Ob wir ein Foto haben, weiß ich nicht.«
»Natürlich haben wir ein Foto.« Verwundert schüttelte seine Frau den Kopf. »Kein Foto von meiner allerbesten Freundin? Schatz, wie kannst du so etwas annehmen?«
Für dieses Wie lieferte Dade keine Erklärung. Er begab sich in ein anderes Zimmer und kam mit zwei Fotos zurück, die er aus den Silberrahmen nahm. Sie zeigten die Kinder, nicht Joanna Troy. Das Mädchen ähnelte keinem Elternteil. Sie hatte klassische, fast scharf geschnittene Gesichtszüge. Eine Römernase, dunkle Augen, fast schwarze Haare. Der Junge sah besser aus als Roger Dade, sein Gesicht entsprach beinahe dem antiken Ideal. Trotzdem wirkte auch er bereits ziemlich groß.
»Misst schon einen Meter dreiundachtzig«, sagte Dade stolz, als hätte er Wexfords Gedanken gelesen. Katrina war verstummt. Nach einem schiefen Blick auf sie fuhr ihr Mann fort: »Wie Sie sehen, haben beide dunkle Augen. Giles hat hellere Haare. Was ich Ihnen sonst noch erzählen könnte, weiß ich nicht.«
Irgendwann einmal, dachte Wexford, kannst du erklären, was einen gut aussehenden, großen Fünfzehnjährigen aus ordentlichen Verhältnissen dazu bringt, in eine Gemeinschaft einzutreten, die sich Church of the Good Gospel nennt. Aber vielleicht musst du das auch gar nicht, vielleicht haben wir sie gefunden, ehe das nötig wird. »Kennen Sie«, sagte er zu Katrina Dade, »namentlich irgendwelche nahen Verwandten von Mrs. Troy?«
Mittlerweile klang ihre Sprechweise zwar matter, war aber noch weit von einem natürlichen Ton entfernt. »Ihren Vater. Ihre Mutter ist tot, und er hat wieder geheiratet.« Sie stand auf. Ihre Bewegungen glichen einer Frau, die sich ganz allmählich von einer langen und ernsten Krankheit erholt. Sie öffnete eine Schublade in einem Schreibtisch, der vom Design her für einen Zeitgenossen Shakespeares gedacht sein konnte, holte ein dickes, in Leder gebundenes Album heraus, entnahm einer seiner grauen Goldschnittseiten das Foto einer jungen Frau und gab es Wexford. Noch immer glichen ihre langsamen Bewegungen denen einer Schlafwandlerin. »Ihr Vater wohnt in der Forest Road achtundzwanzig, falls Sie wissen, wo das ist.«
Die letzte Straße in der Gegend, die noch die Postleitzahl von Kingsmarkham trug. Sie zweigte direkt von der Pomfret Road ab. Höchstwahrscheinlich hatten die dortigen Häuser einen hübschen Blick auf den Cheriton Forest. Katrina Dade setzte sich erneut, diesmal allerdings neben ihren Mann auf ein Sofa mit Knopfheftung und Volant. Roger Dade zog ein genervtes Gesicht. Wexford konzentrierte sich auf das Foto von Joanna Troy. Als Erstes fiel ihm ihr jugendliches Aussehen auf. Er hatte vermutet, sie sei gleich alt wie Katrina, aber diese Frau wirkte um Jahre jünger, fast mädchenhaft.
»Wann wurde das aufgenommen?«
»Letztes Jahr.«
Nun ja. Natürlich hatten viele Leute wesentlich ältere oder jüngere Freunde. Ihn beschäftigte, wie sich diese Frauen begegnet waren. Joanna wirkte eher selbstsicher und kontrolliert als hübsch. Sie hatte kurze gerade Haare und vielleicht graue Augen, auch wenn man dies nur schwer feststellen konnte. Ihre Haut hatte jenen rosig-frischen, hellen Ton, den man früher einmal als »typisch englischen Teint« bezeichnete. Irgendwie konnte er erkennen, dass sie nicht viel Wert auf Kleidung legte, sondern eher jener Frauentyp war, der Jeans und Pullis trug. Und das, obwohl das Foto an den Schultern endete. Er überlegte gerade, ob er die Dades zu diesem Zeitpunkt noch etwas fragen musste, da ließ ihn ein markerschütternder Schrei auffahren. Auch Vine sprang hoch. Katrina Dade hatte den Kopf in den Nacken gelegt, schlug wild um sich und schrie aus Leibeskräften.
Dade versuchte, sie in die Arme zu nehmen. Sie wehrte sich und schrie weiter. So laut hatte Wexford noch kaum jemanden schreien hören. Kinder in den Gängen von Supermärkten brüllten so, auch seine Enkelin Amulet, wenn sie unbedingt ihren Kopf durchsetzen wollte. Er, der nur selten die Fassung verlor, stand nun kurz davor. Vielleicht sollte man der Frau eine Ohrfeige geben. Dies setzte man früher als Allheilmittel ein. Doch zu so etwas würde er sich nicht hergeben, obendrein wäre es der Gipfel an unzeitgemäßem Verhalten gewesen. Er gab Vine ein Zeichen. Beide entfernten sich möglichst weit von der schreienden Katrina und ihrem unfähigen Ehemann und stellten sich an die Balkontüren, von denen man einen in Terrassen angelegten Garten und weiter unten das Hochwasser erblickte.
Als Katrinas Schreien einem Schluchzen wich, sagte Dade: »Könnten Sie mir bitte ein Glas Wasser holen?«
Schulterzuckend machte sich Vine auf die Suche. Er merkte, wie sich Katrina beinahe an dem Wasser verschluckte, und duckte sich noch rechtzeitig, ehe sie den Rest in seine Richtung schüttete. Anschließend entspannte sie sich ein wenig und lehnte den Kopf zurück auf ein Kissen. Wexford nützte die Stille und erklärte Dade, dass sie gerne mal einen Blick in die Kinderzimmer werfen würden.
»Ich kann sie nicht allein lassen. Sie müssen sich schon selbst zurechtfinden. Und sobald sie erst mal den Mund hält, muss ich zur Arbeit. Sind Sie damit einverstanden, ja? Habe ich dazu Ihre Erlaubnis?«
»Ein grober Klotz, stimmt’s?«, sagte Vine, als sie auf der Treppe standen.
»Er muss sich ’ne Menge gefallen lassen.« Wexford grinste. »Da muss man Abstriche machen. Ich kann nicht wirklich glauben, dass den Kids recht viel passiert ist. Vielleicht sollte ich das. Vielleicht treibt mich das Benehmen ihrer Mutter zu der Annahme, dass hier nichts wirklich real ist. Möglicherweise liege ich ganz falsch, und wir müssen uns dementsprechend verhalten.«
»Liegt es nicht daran, weil es gleich drei sind? Dass drei Leute verschwinden, ist recht unwahrscheinlich. Natürlich nicht, wenn es sich um eine Geiselnahme handelt.« Vine musste daran denken, dass bei dem Skandal um die Kingsmarkhamer Umgehungsstraße eine der Geiseln Wexfords Frau gewesen war. »Aber das ist bei den Dreien doch nicht der Fall, oder?«
»Das bezweifle ich.«
Vermutlich hatte das Stichwort Entführung Wexford daran erinnert, dass man früher oder später den Medien Bescheid sagen musste. Mit Schaudern dachte er an das letzte Mal, an die Verletzung seiner eigenen Privatsphäre, das ständige Bombardement durch den Chefredakteur des Kingsmarkham Courier, Brian St. George, an die nur mühsam erzwungenen Nachrichtensperren. Und dann war da noch der Skandal um den Tod des armen Hennessy gewesen, des ehemaligen Pädophilen…
»Das ist das Zimmer des Jungen«, sagte Vine. »Hier hat ganz sicher jemand aufgeräumt, und das war kein Fünfzehnjähriger, nicht einmal ein religiöser Fanatiker.«
»Ich bin nicht sicher, ob wir ihn so abstempeln sollten. Nicht in dieser Phase. Vielleicht sollten Sie sich, wenn wir hier fertig sind, lieber zur alten katholischen Kirche begeben und einiges über diese Leute von Good Gospel in Erfahrung bringen, und unbedingt auch, ob der Junge am Sonntag in der Kirche war.«
Zwei Dinge unterscheiden das Schlafzimmer eines Teenagers eindeutig von jedem anderen: die allgegenwärtigen Poster an den Wänden und ein Audio-System. Heutzutage gehört dazu auch ein Computer samt Internetanschluss und Drucker. Letzteres hatte Giles Dade, während Poster und CD-Player fehlten. Fast. Statt eines Plakats einer Popgruppe, zur Rettung gefährdeter Tierarten oder eines Fußballstars hing an der Wand gegenüber von Giles Bett ein ungerahmter Kunstdruck in Originalgröße. Wexford identifizierte ihn als ein Gemälde von Constable, Christus segnet Brot und Wein.
Vielleicht fand er das Bild nur deshalb geschmacklos, weil er selbst kein gläubiger Mensch war, weil er nicht glauben konnte, auch am Sujet lag es nicht, obwohl Constables Genie am besten in der Landschaftsmalerei zum Ausdruck kam. Es lag am Raum und daran, wer es hier aufgehängt hatte. Was würde wohl eine Kirchgängerin wie Dora dazu sagen? Er würde sie fragen. Vine musterte den Inhalt eines Kleiderschranks. Alles wie erwartet: Jeans, Hemden, T-Shirts, eine Cabanjacke und ein dunkelbrauner Schulblazer mit Goldtressen. Auf einem Kleiderbügel hing ein rotes T-Shirt – wahrscheinlich ein Lieblingsstück – mit einem aufgedruckten Schwarz-Weiß-Porträt von Giles Dade, unter dem »Giles« stand.
»Sehen Sie, also hat er doch einiges von einem normalen Heranwachsenden an sich«, sagte Wexford.
Sie mussten Dade oder seine Frau fragen, falls es sich nicht vermeiden ließ, welche Kleidungsstücke der Kinder wirklich fehlten. Außerdem sammelten sich hier Fußballstiefel, Turnschuhe und ein einzelnes Paar schwarze Lederschuhe. Zweifellos für den Kirchgang.
Auf einem Bücherbord standen eine Bibel, Chambers Lexikon, Orwells »Farm der Tiere« – Schullektüre? –, überraschenderweise ein Buch von Zola auf Französisch, Daudets »Briefe aus meiner Mühle«, Kurzgeschichten von Maupassant, Bunyans »Die Gnade Gottes, welche sich erstrecket auf die größten Sünder« und ein Traktat mit dem Titel »Reinheit als Lebensziel« von Parker T. Ziegler. Wexford holte es herunter und schaute hinein. Es handelte sich um die Veröffentlichung einer Stiftung für Schöpfungsgeschichte in den Vereinigten Staaten, zu einem Verkaufspreis von sage und schreibe 35 Dollar. Auf dem Regal darunter stand ein Handy in der Ladestation.
Anschließend kamen Schubladen mit Unterhosen, Shorts und T-Shirts, besser gesagt eine davon. Die mittlere Schublade enthielt ein wahres Sammelsurium: Papier, einige Seiten, die offensichtlich zu einem Hausaufsatz gehörten, den Giles gerade schrieb, ein Taschenbuch über Bäume und ein weiteres über die frühchristliche Kirche, Kugelschreiber, einen Kamm, eine kaputte Glühbirne, Schuhbänder, eine Rolle Bindfaden. In der obersten sah es ähnlich aus, allerdings zog Vine aus dem Wirrwarr ein charakteristisches dunkelrotes Büchlein: einen britischen Pass. Er war vor drei Jahren auf Giles Benedict Dade ausgestellt worden.
»Wenigstens wissen wir, dass er das Land nicht verlassen hat«, sagte Wexford.