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Über Nacht bricht Lizas Welt zusammen. Aufgewachsen auf einem völlig abgeschiedenen englischen Landsitz, kennt sie die Welt nur aus den Erzählungen ihrer Mutter Eve – als teuflische Bedrohung. Mit ihren siebzehn Jahren ist sie noch nie Bus gefahren, hat nie eine Schule besucht oder Kontakt zu Gleichaltrigen gehabt. Daher ist Liza zutiefst verunsichert, als ihr Eve plötzlich eröffnet, dass sie ihr Zuhause nun verlassen muss. Die weltfremde Zweisamkeit im Paradies ihrer Heimat Shrove House ist zu Ende. Denn Eve hat einen Mann getötet …
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Seitenzahl: 559
Ruth Rendell
Der Krokodilwächter
Buch
Über Nacht bricht Lizas Welt zusammen. Aufgewachsen auf einem völlig abgeschiedenen englischen Landsitz, kennt sie die Welt nur aus den Erzählungen ihrer Mutter Eve – als teuflische Bedrohung. Mit ihren siebzehn Jahren ist sie noch nie Bus gefahren, hat nie eine Schule besucht oder Kontakt zu Gleichaltrigen gehabt. Daher ist Liza zutiefst verunsichert, als ihr Eve plötzlich eröffnet, dass sie ihr Zuhause nun verlassen muss. Die weltfremde Zweisamkeit im Paradies ihrer Heimat Shrove House ist zu Ende. Denn Eve hat einen Mann getötet …
Autorin
Ruth Rendell wurde 1930 in South Woodford/London geboren. Zunächst arbeitete sie als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Dreimal bereits erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den Golden Dagger Award. 1997 wurde sie mit dem Grand Master Award der Crime Writer‘s Association of America, dem renommiertesten Krimipreis, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell, die auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt ist, lebt in London.
Die Reihenfolge der Inspector-Wexford-Romane sowie weitere Romane finden Sie hier.
Ruth Rendell
Der Krokodilwächter
Roman
Aus dem Englischen von Cornelia C. Walter
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E-Book-Ausgabe 2015
bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 1993 by Kingsmarkham Enterprises Ldt.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1994 by Blanvalet Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Arcangel Images/Paul Gooney
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN: 978-3-641-15139-3V002
www.blanvalet.de
Für Don, Simon,
Donna und Philip
1
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Es war abends um neun, als die Welt anfing auseinanderzufallen. Nicht um fünf, als es passierte, auch nicht um halb sieben, als die Polizisten kamen und Eve zu ihr sagte, sie solle ins Schlösschen hinübergehen und sich nicht blicken lassen, sondern um neun, als wieder alles ruhig war und draußen Dunkelheit herrschte.
Liza hoffte, es wäre alles vorbei. Sie sah zu, wie der Wagen langsam die Straße entlang auf die Brücke zufuhr, dann ging sie zurück ins Torhaus und beobachtete ihn oben von ihrem Zimmerfenster aus; die roten Rücklichter, während er die Brücke überquerte, und die weißen Scheinwerfer, als er wieder in ihre Richtung zeigte, wo die Straße anstieg und sich durch die Hügel wand. Erst als sie die Lichter nicht mehr sehen konnte, als nirgends mehr ein Licht zu sehen war außer dem roten Mond und einer Handvoll Sterne, erst da hatte sie das Gefühl, dass sie in Sicherheit waren.
Unten fand sie Eve, die ihr ruhig entgegensah. Nun würden sie reden, aber natürlich über andere Dinge, oder lesen oder Musik hören. Eve lächelte ganz leicht, aber dann setzte sie eine neutrale Miene auf. Sie hatte kein Buch auf dem Schoß oder Nähzeug in der Hand. Liza bemerkte, dass Eves Hände zitterten, und bekam Angst. Das richtige Angstgefühl kam erst beim Anblick dieser kleinen, sonst so ruhigen Hände, die nun leicht zitterten.
Eve sagte: »Ich habe dir etwas sehr Ernstes zu sagen.«
Liza wusste, um was es ging. Es ging um Sean. Eve hatte das mit Sean herausbekommen, und es behagte ihr nicht. Erschrocken dachte sie daran, was Eve mit Männern machte, die ihr nicht behagten oder ihren Plänen im Weg standen. Eve würde alles dran setzen, sie von Sean fernzuhalten, und wenn das nicht klappte, was würde sie dann machen? Sie selbst war in Sicherheit, wie immer, sie war der kleine Vogel, der im tödlichen Rachen pickte, aber Sean war verwundbar, er war, das sah sie ganz deutlich, vielleicht der nächste Kandidat. Sie wartete gespannt.
Es ging um etwas ganz anderes. »Ich weiß, es wird schwer, Liza, aber es muss sein.«
Wieder verstand Liza sie falsch. Sie glaubte, Eve meinte sie beide. Immerhin hatte genau diese Drohung schon tagelang in der Luft gelegen. Diese Schlacht hatte Eve nicht gewinnen können, diese Eroberung konnte sie nicht machen.
»Wann sollen wir gehen?«
»Nicht wir. Du. Der Polizei habe ich gesagt, du wohnst nicht hier. Die denken, du kommst nur ab und zu auf Besuch her. Ich habe ihnen deine Adresse gegeben.« Eve sah Liza durchdringend an. »Deine Adresse in London.«
Und da fing es an – alles fiel auseinander, und blanke Angst setzte ein. Liza begriff, dass sie bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte, was echte Angst war, bis jetzt, ein paar Minuten nach neun an einem Abend Ende August. Sie merkte, dass Eves Hände aufgehört hatten zu zittern und schlaff in ihrem Schoß lagen. Sie ballte die Fäuste.
»Ich hab keine Adresse in London.«
»Jetzt hast du eine.«
Lizas Stimme überschlug sich: »Ich versteh nicht ganz.«
»Wenn sie glauben, du wohnst hier, werden sie dich fragen, was du gesehen und gehört hast und vielleicht – vielleicht, was früher war. Es ist nicht bloß, dass ich dir nicht zutraue …« Eve verzog das Gesicht zu einem etwas grimmigen Lächeln, »… so gut zu lügen wie ich. Es ist auch zu deinem eigenen Schutz.«
Hätte Liza nicht solche Angst gehabt, sie hätte losgelacht. Hatte Eve ihr denn nicht gesagt, dass man lügen sollte, um sich selbst zu schützen, und dass totalitäre Herrscher diese Methode anwandten, um Geheimpolizei und Lügenpropaganda zu rechtfertigen? Aber sie war zu erschrocken, so erschrocken, dass sie ganz vergaß, Eve, wie schon seit Jahren, beim Vornamen zu nennen, und wieder in die kindliche Anrede verfiel.
»Ich kann nicht allein weg, Mutter.«
Eve merkte es. Sie merkte alles. Sie zuckte zusammen, als hätte diese Anrede ihr einen stechenden Schmerz versetzt. »Doch, du kannst. Du musst. Bei Heather bist du gut aufgehoben.«
Also das war die Adresse. »Ich kann doch hierbleiben. Ich kann mich verstecken, wenn sie wiederkommen.« Wie ein Kind benahm sie sich, nicht wie jemand mit fast siebzehn. Und dann: »Die kommen doch nicht wieder.« Ein scharfes Atemholen, ihre Stimme hörte sich ganz fremd an, wie die eines Babys … »Oder?«
»Ich glaube schon. Nein, ich weiß es. Diesmal bestimmt. Wahrscheinlich morgen früh.«
Liza war klar, dass Eve nicht die Absicht hatte, es ihr zu erklären, und sie wollte auch gar keine Erklärung. Was sie wusste, war ihr lieber als die Schrecken einer unverblümten Beichte, eines Schuldgeständnisses, vielleicht einer Entschuldigung. Sie wiederholte: »Ich kann nicht weg.« »Du musst. Am besten heute Abend noch.« Eve sah in die Dunkelheit hinaus. »Gleich morgen früh.« Sie kniff kurz die Augen zusammen und machte ein gequältes Gesicht. »Ich weiß, dass ich dich auf so etwas nicht vorbereitet habe, Lizzie. Vielleicht hab ich alles falsch gemacht. Ich kann nur eins sagen, ich habe es gut gemeint.«
Sie soll bitte nicht noch mal das mit dem eigenen Schutz sagen, flehte Liza im Stillen. Sie flüsterte: »Ich hab aber Angst.«
»Ich weiß – o ja, ich weiß.« Die Stimme klang zärtlich und doch unglücklich, irgendwie sehnsüchtig, und in Eves großen, dunklen Augen lag Mitgefühl. »Pass auf, es wird schon nicht so schlimm, wenn du genau das machst, was ich dir sage, und schließlich bist du dann doch bei Heather. Du tust doch immer, was ich dir sage, nicht wahr, Lizzie?«
Nein. Früher ja, da schon. Ihre Angst ließ sie verkrampft und stumm werden.
»Heather wohnt in London. Da hab ich dir die Adresse aufgeschrieben. Du musst bis zur Bushaltestelle laufen, du weißt doch, wo die ist, auf dem Weg ins Dorf, zwischen der Brücke und dem Dorf, und wenn der Bus kommt – der erste kommt um halb acht –, steigst du ein und sagst dem Fahrer, wo du hinwillst. Da steht es. Du hältst ihm dein Geld hin und sagst: ›Zum Bahnhof, bitte.‹ Der Bus bringt dich zum Bahnhof, er hält direkt vor dem Bahnhof, und da, wo ›Fahrkarten‹ steht, gehst du rein und kaufst dir eine einfache Fahrkarte nach London. ›Einmal London, einfach‹, sagst du. Da steht es auch: ›Paddington, London‹.
Ich kann Heather nicht anrufen, um ihr zu sagen, dass du kommst. Wenn ich zum Telefonieren ins Haus rübergehe, kann Matt mich sehen. Vielleicht ist die Polizei auch drüben. Aber Heather arbeitet zu Hause, sie ist bestimmt da. Am Bahnhof Paddington gehst du dahin, wo ›Taxi‹ steht, und nimmst ein Taxi zu ihr. Du kannst dem Taxifahrer ja den Zettel mit ihrer Adresse zeigen. Das kannst du doch alles, Lizzie, nicht wahr?«
»Warum kommst du denn nicht mit?«
Eve schwieg einen Augenblick. Sie sah nicht Liza an, sondern das Gemälde von Bruno an der Wand, Shrove bei Sonnenuntergang, in Lila, Gold und dunklem Blaugrün. »Sie haben mir verboten, wegzugehen. ›Sie haben doch hoffentlich nicht vor, wegzugehen‹, haben sie gesagt.« Sie zog in einer typischen Bewegung die Schultern hoch, ein leichtes Achselzucken. »Du musst allein gehen, Liza. Ich geb dir noch Geld mit.«
Liza wusste, dass sie es drüben im Schlösschen holte. Als Eve weg war, dachte sie an die Feuerprobe, die ihr nun bevorstand. Es wäre ganz unmöglich. Sie sah sich schon verloren, so wie manchmal in ihren Träumen. Das waren die Träume, in denen sie mutterseelenallein an einem ihr unbekannten Ort umherlief, aber waren ihr denn nicht alle Orte unbekannt? Ganz allein in einer grauen, verlassenen Wüste aus Beton und Häusern, leeren Tunnels und hohen, fensterlosen Mauern. Ihre Phantasie erschuf sich diese Bilder aus den beeindruckenden viktorianischen Romanen und fast vergessenen Fernsehbildern in Schwarzweiß – eine verdreckte Gasse in einem Dickens-Roman oder einem Filmstudio. Aber es war unmöglich. Eher würde sie sterben.
Eve gab ihr hundert Pfund in Scheinen und etwas Kleingeld. Sie drückte es ihr in die Hand und schloss behutsam die Finger darum, zweifellos dachte sie, Liza hätte noch nie Geld in der Hand gehabt; sie wusste ja nicht, dass sie damals die Stahlkassette entdeckt hatte.
Die genau abgezählten Münzen waren für den Bus. Was sollte sie dem Fahrer sagen? Wie sollte sie fragen? Eve begann es ihr zu erklären. Sie setzte sich neben Liza und ging die Anweisungen mit ihr durch, die sie aufgeschrieben hatte.
Liza fragte: »Und was geschieht dann mit dir?«
»Vielleicht gar nichts, dann kommst du zurück, und alles wird wieder wie früher. Aber wir müssen damit rechnen, dass sie mich wahrscheinlich verhaften und ich vors Zivilgericht komme und dann – vor ein noch größeres Gericht. Aber auch dann wird es vielleicht gar nicht so schlimm, vielleicht gibt’s nur ein oder zwei Jahre. Bei so was sind sie heute nicht mehr so streng, nicht mehr wie – «, selbst jetzt konnte sie noch beruhigend und lustig sein, » – in den Geschichtsbüchern. Keine Folter, Lizzie, keine Verliese, keine ewige Kerkerhaft. Aber wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass es – ein Weilchen dauern kann.«
»Du hast mir nie beigebracht, Tatsachen ins Auge zu blicken«, sagte Liza.
Es war, als hätte sie Eve eine Ohrfeige verpasst. Eve zuckte zusammen, obwohl Liza es ganz sanft gesagt hatte, fast verzweifelt.
»Ich weiß. Ich habe immer nur dein Bestes gewollt. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde.«
»Was hast du denn gedacht?« fragte Liza, doch sie wartete die Antwort nicht ab, sondern ging hinauf in ihr Zimmer.
Eve kam herein, um ihr gute Nacht zu sagen.
Sie war gutgelaunt, als sei nichts geschehen, und lächelte entspannt. Diese Stimmungsumschwünge erschreckten Liza mehr denn je. Sie dachte sich, bestimmt würde Eve sofort einschlafen und tief und fest schlummern. Eve gab ihr einen Gutenachtkuss und riet ihr, morgen ganz früh loszugehen und nur ein paar Sachen mitzunehmen, nicht zu viel, denn Heather habe ganze Schränke voller Kleider. Strahlend lächelnd sagte sie, es klinge zwar schrecklich, aber seltsamerweise fühle sie sich nun endlich frei.
»Das Schlimmste, was passieren konnte, ist passiert, Lizzie, es ist irgendwie richtig befreiend.«
Das letzte, was Liza auffiel, bevor ihre Mutter aus dem Zimmer ging, war, dass sie Brunos goldene Ohrringe trug.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, überhaupt nicht zu schlafen, aber sie war jung, und der Schlaf kam von selbst. Vom Geräusch eines Zuges wachte sie auf. Sie setzte sich im Dunkeln auf und begriff sofort, dass es ein Traum gewesen war. Schon seit Jahren, seit ihrer Kinderzeit, war kein Zug mehr durch dieses Tal gefahren. Ohne Züge war die Stille noch größer gewesen.
Die Angst kam wieder, noch bevor ihr einfiel, wovor sie Angst hatte. Ein vages, unausgesprochenes Entsetzen tauchte bedrohlich vor ihr auf, eine große schwarze Wolke, die in die Einzelteile ihrer Furcht zerbarst: der Abschied vom Haus, der Bus – angenommen, der kam nun nicht? –, der furchterregende Zug, in ihrer Vorstellung hundertmal größer als der Zug hier im Tal mit seinem Spielzeugmotor, Heather, in ihrer Erinnerung groß, seltsam, unnahbar und voller Geheimnisse, die sie Eve hinter vorgehaltener Hand zuflüsterte.
Bei all dem hatte sie Sean ganz vergessen. Wie sollte sie nur Sean benachrichtigen? Unter der schweren Last der Verwirrung und Verzweiflung warf sie sich wieder aufs Bett, vergrub ihr Gesicht in die Laken und hielt sich die Ohren zu. Doch das Vogelgezwitscher ließ ihr keine Ruhe. Die Vögel waren hier manchmal von morgens bis abends das einzige, was ein Geräusch verlauten ließ. Im Morgengrauen setzte der Chor mit einem Pfeifen ein, dann folgte ein einzelner Triller, und bald sangen hundert Vögel in ebenso vielen Bäumen.
Diesmal richtete sie sich ganz auf. Im Torhaus war alles still. Draußen schien bis auf die Vögel alles ruhig, da der Wind nachgelassen hatte. Die Vorhänge am Fenster waren wie immer weitgeöffnet, denn außer den Lichtern von Shrove her gab es keine anderen. Sie kniete sich vor dem Fenster aufs Bett.
Zwischen den hohen, bewaldeten Bergkämmen und dem nachtklaren, leuchtenden Himmel war eine Trennlinie zu sehen. Bald würde im Osten dort drüben ein roter Streifen erscheinen und sich als schimmerndes rotes Lichtband entrollen. Inzwischen war schon etwas zu sehen, die Silhouette des Hauses, ein einsames Licht im Stallgebäude, eine tiefschwarze, formlose Waldlandschaft.
Eine Ahnung von dem, was da draußen war, gab dem Anblick allmählich Gestalt, oder vielleicht hob das kalte Leuchten kurz vor der Dämmerung die Landschaft aus dem Dunkeln nun ins morgendliche Zwielicht. Die Rieselwiesen wirkten wie bleiche Wolken, und die doppelreihig stehenden Erlen auf beiden Seiten des Flusses schienen aus der Dunkelheit ihrer Umgebung herauszutreten. Liza konnte jetzt die Umrisse der dahinterliegenden Hügel erkennen, aber noch nicht ihre grüne Farbe und auch die Landstraße nicht, die sie wie ein weißer Gürtel auf halber Höhe durchschnitt.
Sie stand auf, öffnete behutsam die Tür und horchte. Eve, die tagsüber nie ruhte, immer munter, aufmerksam, aufgeweckt war und alles merkte, schlief bei Nacht wie ein Murmeltier. Heute würde sie verhaftet werden, und trotzdem schlief sie tief und fest. Wie vorher schon beschlich Liza das ungute Gefühl, ihre Mutter sei verrückt, nicht ganz richtig im Kopf, doch woher sollte sie das wirklich wissen? Sie hatte ja keine Vergleichsmaßstäbe.
Wenn sie nicht darüber nachdachte, was sie nun tun sollte, sondern sich auf praktische Dinge konzentrierte, wenn sie überhaupt an nichts dachte, war alles halb so schlimm. Diese Augenblicke waren jetzt zu bewältigen, nicht die Zukunft. Sie ging hinunter auf die Toilette und zog sich dann an. Hunger hatte sie nicht, sie dachte, sie würde nie wieder etwas essen. Schon beim Gedanken an Essen, an ein Stück Brot oder ein Glas Milch, wurde ihr schlecht. Sie zog die langen Baumwollhosen an, die Eve genäht hatte, ein T-Shirt aus dem Billigshop, ihre Turnschuhe und Eves alten braunen Parka und verteilte die hundert Pfund auf beide Taschen.
Ob sie sich von Eve verabschieden sollte?
Als sie die Tür zum Zimmer ihrer Mutter öffnete, fiel ihr ein, dass es das erste Mal war, dass sie nicht anklopfte, solange Eve drin war, das erste Mal, seit damals Bruno gekommen war oder sogar noch früher, seit das mit Jonathan angefangen hatte. Eve lag auf dem Rücken und schlief. Sie trug ein dezentes, hochgeschlossenes weißes Nachthemd, und ihr dichtes braunes Haar war über die Kissen gebreitet. Sie lächelte im Tiefschlaf, als träumte sie von lauter angenehmen Dingen. Beim Anblick dieses Lächelns durchlief Liza ein Schauder, und sie machte die Tür schnell wieder zu.
Inzwischen war es nicht mehr dunkel. Wolken erhoben sich von dem dünnen roten Gürtel über den Baumkronen, dunkelblaue Federwolken wurden hinaufgezogen in den heller werdenden Himmel. Vogelgezwitscher erfüllte die Stille mit lautem und doch seltsam fernem Klang. Unwillkürlich musste Liza wieder ihren Gedanken nachhängen. Die Haustür öffnen, ins Freie treten und sie hinter sich zumachen war das Schwerste, was sie je getan hatte. Erschöpft lehnte sie sich einen Augenblick ans Gartentor. Nie wieder würde ihr etwas so schwerfallen. Ihren Schlüssel hatte sie aus unerfindlichen Gründen mitgenommen.
Die Kälte der Morgendämmerung berührte ihr Gesicht wie eine kühle, feuchte Hand. Da war wieder diese Übelkeit, und sie atmete tief durch. Wo sie wohl morgen um diese Zeit sein würde? Daran wollte sie lieber nicht denken. Sie machte sich auf den Weg, erst langsam, dann immer schneller, und versuchte sich auszurechnen, wie spät es war. Weder sie noch Eve hatten je eine Armbanduhr gehabt. Es musste zwischen halb sieben und sieben sein.
Für Scheinwerfer schon zu hell, doch die beiden Autos, die sie in der Ferne die gewundene Straße entlang auf die Brücke zufahren sah, hatten Licht an. Sie dachte sich, dass sie zusammengehörten, weil beide Licht anhatten und hintereinander auf ein bestimmtes Ziel zufuhren.
Inzwischen war sie an der Stelle angelangt, wo der Weg auf die Brücke führte und keine hohen Bäume mehr wuchsen. Sie konnte das Blitzen des Morgenlichts auf dem Fluss und die Tunnelöffnung auf der anderen Seite sehen, wo früher der Zug in den Hügel getaucht war. Plötzlich wurden beide Scheinwerferpaare ausgeschaltet. Liza konnte die Autos nicht mehr sehen, wusste aber, dass sie in ihre Richtung kamen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Wenn sie auf der Brücke lief, müssten sie an ihr vorbei, aber wahrscheinlich würden sie nicht vorbeifahren, sondern anhalten. Sie erklomm die Böschung und versteckte sich im spätsommerlichen Gestrüpp der Weißdorn –, Brombeer- und Schneebeerbüsche. Die Autos glitten lautlos vorüber. Eins hatte eine blaue Lampe auf dem Dach, die aber nicht eingeschaltet war.
Liza hatte die ganze Zeit die Luft angehalten und stieß sie nun mit einem gedehnten Seufzer aus. Sie würden zurückkommen – und Eve mitbringen – und dabei an der Bushaltestelle vorbeifahren. Sie hastete die Böschung hinunter und rannte auf die Brücke. Der Fluss war breit, tief und wie gläsern, erst viel weiter oben schwappte das Wasser an die Felsblöcke und kräuselte sich zwischen ihnen. Auf der Brücke angekommen tat Liza etwas Unvernünftiges, sie blieb stehen, drehte sich um und blickte zurück. Vielleicht würde sie dies alles nie mehr wiedersehen, niemals zurückkehren, und so blieb sie stehen und blickte zurück wie die Frau auf dem Gemälde in Shrove House, die hochgewachsene, traurige Frau in den weißen Gewändern, von der Eve ihr erzählt hatte, es sei Lots Weib und ihre verlassene Heimat Sodom und Gomorrha. Doch anstelle jener öden, gottlosen Stätten sah sie zwischen den Bäumen, die sich im Nebel aus den Rieselwiesen erhoben, den Erlen, Balsamtannen und Schwarzpappeln, die schöne Silhouette von Shrove Hause.
Die Sonne, die mit golden flirrendem Licht aufgegangen war, goss einen blassen, bernsteinfarbenen Schein auf die steinerne Fassade, auf den mittleren Ziergiebel mit dem Wappen unbekannter Provenienz, auf die breite, an beiden Seiten von Treppenaufgängen gesäumte Terrasse, auf die schmale Tür zu ebener Erde und die weit ausladende obere Tür. Das hier war die Gartenseite, identisch mit der Seite zum Toreingang hin, außer dass ein schöner Portiko die Vorderansicht zierte. Sämtliche Fenster waren blank verspiegelt vom Licht, das wie eine Haut auf ihnen lag. Das Haus wirkte ebenso unverrückbar wie die Umgebung, in der es ruhte, ebenso natürlich und heiter.
Von nirgends konnte man Shrove besser sehen als von hier. Bäume sorgten dafür, dass es von den Hügeln nicht einsehbar war. Die wussten schon, wie sie ihre Herrenhäuser vor Blicken schützten, die alten Baumeister, hatte Eve gesagt. Liza nahm lautlos Abschied vom Haus und lief über die Brücke auf die Landstraße. Die Stelle, wo der Bus hielt, befand sich ein paar hundert Meter weiter oben auf der linken Seite. Eve sollte doch denken, was sie wollte, sie kannte die Stelle genau, sie war oft hierhergekommen, hatte den Bus gesehen, einen grünen Bus, aber nie die Versuchung verspürt, einzusteigen.
Wie spät es wohl war? Viertel nach sieben? Wann wohl der nächste Bus käme, falls sie diesen verpasste? In einer Stunde? In zwei Stunden? Wieder bauten sich unüberwindliche Schwierigkeiten vor ihr auf. Festungswälle von Schwierigkeiten türmten sich auf ihrem Weg, unmöglich, sie zu erklimmen. Sie konnte nicht auf offenem Feld auf den Bus warten und riskieren, dass die Polizeiautos an ihr vorbeifuhren.
Trotzdem ging sie unbeirrt auf die Bushaltestelle zu, verlagerte ihre Tasche auf die andere Schulter und grübelte über die Sache mit dem Zug nach. Vielleicht gab es erst viel später wieder einen Zug nach London. Früher war der Zug recht selten hier durch das Tal gekommen, bloß viermal täglich in jeder Richtung. Woher sollte sie überhaupt wissen, ob der Zug, in den sie einstieg, auch nach London fuhr?
Als sie Motorengeräusch hörte, drehte sie sich um, aber sie waren es nicht. Dieses Auto war rot, mit einem Klappverdeck, und es ratterte. Beim Vorbeifahren hinterließ es einen ungewohnten Geruch, metallisch, ätzend, qualmend.
An der Haltestelle wartete bereits jemand. Eine alte Frau. Liza hatte keine Ahnung, wer sie war und woher sie kam. Hier gab es keine Häuser, erst wieder am Ortsrand des Dorfes. Als sie sich der Haltestelle näherte, fühlte sie sich ungeschützt, ausgeliefert, die Zielscheibe unsichtbarer, aufmerksamer Blicke. Die Frau sah herüber und wandte sich schnell wieder ab, als wäre sie verärgert oder angewidert.
Als wieder ein Auto vorbeigefahren kam, wusste Liza, dass sie hier nicht bleiben konnte, sie konnte nicht hier am Straßenrand stehenbleiben und auf den Bus warten. Was sollte sie da? Herumstehen und glotzen? Denken – an was? Sie konnte ihre Gedanken nicht ertragen, und die Angst lag ihr wie ein Bissen, zu heiß zum Runterschlucken, im Mund. Wenn sie hier neben der alten Frau mit dem gesenkten Blick wartete, würde sie bestimmt umfallen, kreischen oder sich an die grasbewachsene Straßenböschung werfen und heulen.
Da überkam sie der Drang, einfach loszurennen, und sie gab nach. Ohne darauf zu achten, ob ein Auto kam, rannte sie über die Straße und verschwand zwischen den Bäumen auf der anderen Seite. Die alte Frau starrte ihr nach. Liza hielt sich an einem Baumstamm fest. Sie umklammerte ihn und schmiegte ihr Gesicht an die kühle glatte Rinde. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Plötzlich war ihr eingefallen, was sie zu tun hatte. Wenn sie nur schon gestern Abend daran gedacht hätte, wie unbeschwert wäre die letzte Nacht gewesen! Bloß wäre sie dann schon gestern Abend weggegangen, gleich nachdem Eve es zu ihr gesagt hatte, und in der Dunkelheit über die Felder geflüchtet.
Dicht neben ihr verlief ein Fußweg über den Pass. Einen Pass konnte man es eigentlich nicht nennen, ein Pass verlief zwischen Bergen, aber sie hatte das Wort mal gelesen, und es gefiel ihr. Zuerst musste sie fast hundert Meter den Hügel hinaufklettern. Als sie das Rumpeln des Busses hörte, dessen Motorengeräusch ganz anders war als das eines Autos, sah sie hinunter. Irgendwie erriet sie, dass er pünktlich gekommen war. Die alte Frau stieg ein, und der Bus fuhr davon. Liza kletterte weiter. Sie wollte nicht mehr da sein, wenn die Autos zurückkamen. Als sie den Wegweiser gefunden hatte, stieg sie über den Zauntritt und nahm den Weg, der dicht an der Hecke entlang führte. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und schien warm.
Sie war erleichtert, von der Straße weit weg zu sein und zu wissen, dass sie auf dem Rückweg unterhalb von ihr vorbeikommen würden. Sobald dieser Weg aufhörte, würde sie auf ein Gewirr von Feldwegen stoßen, die zwischen Böschungen vergraben und durch Hecken geschützt weitab von den großen Durchgangsstraßen in alle Himmelsrichtungen führten. Der nächste Ort war sieben Meilen entfernt. Von hier aus würde sie nicht mehr als eine halbe Stunde brauchen und wäre kurz nach acht bei ihm. Sie verwarf den Gedanken, dass er vielleicht gar nicht mehr da war, dass er weitergereist war, sie wütend im Stich gelassen hatte und geflüchtet war.
Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern. Alles war still, ihre eigenen Schritte geräuschlos auf dem sandigen Pfad. Die weißgoldenen Blütenköpfchen der Kamille waren überall im Gras aufgetaucht, und die verblühte Klematis klammerte sich wie ein Altmännerbart aus üppigem grauem Lockenhaar an die Hecken. Sie begegnete schon den ersten Tieren, einem halben Dutzend bunter Kühe und zwei grauen Eseln, die das fette Gras abfraßen. Eine rötlichbraune Katze auf der Rückkehr von der nächtlichen Jagd warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Bisher hatte sie kaum Katzen gesehen, meistens nur auf Bildern, und freute sich über den Anblick wie über den eines exotischen wilden Tieres.
Der freundliche Morgen und ihr glänzender Einfall ließen die Angst rasch schwinden. Sie hatte nur noch die vage Befürchtung, er könnte vielleicht nicht da sein. Am nächsten Zauntritt war der Fußweg zu Ende, und sie gelangte auf ein Sträßchen, das so schmal war, dass sie, wenn sie sich ausgestreckt hingelegt hätte, mit den Händen die eine Seite und mit den Füßen die andere hätte berühren können. Ein kleines Auto wäre zwischen den steilen, fast senkrechten Böschungen und den grünen Befestigungen, über die die langen Blätter der längst verwelkten Pflanzen hingen, gerade durchgekommen. Die Äste an den Bäumen schlossen sich über ihr.
Es war nun eben, sogar ein wenig abschüssig, und sie fing an zu laufen. Sie rannte vor ihrer Jugend davon und vor einem wachsenden Gefühl von Freiheit, aber auch vor einer beklemmenden Ahnung. Wenn er nun weg war und es ihr morgen oder am nächsten Tag hatte sagen wollen … Sie ballte die Fäuste in den Taschen und zerknüllte die Scheine, nur zwei Handvoll – war das viel oder wenig?
Sie rannte weiter durch den grünen Tunnel, und ein Hase lief quer vor ihr her. Ein Fasanenhahn kreischte und torkelte flügelschlagend über den Weg, ein schlechter Läufer und ein noch schlechterer Flieger, dicht hinter ihm seine beiden Hennen, die scharrend an der Böschung Schutz suchten. Mit solchen Dingen kannte sie sich aus, viel besser, glaubte sie, als die meisten Leute, aber ob das genügte? Ob es ausreichte, bis sie alles andere lernen konnte?
An einer Weggabelung mit einem winzigen Grasdreieck in der Mitte teilte sich das Sträßchen. Sie nahm die rechte Abzweigung, wo das Gelände noch steiler abfiel, musste aber noch zweimal abbiegen, bevor sie den Wohnwagen da unten stehen sah. Ihr Herz machte einen Sprung. Alles war gut. Er war da.
Der Wohnwagen war seit Mitte des Sommers schon wochenlang auf einem sandigen Platz geparkt, von dem ein Saumpfad abging, der als Trennlinie zwischen Feld und Wald verlief. Er war eigentlich für Pferde gedacht, aber Liza hatte noch nie ein Pferd oder einen Reiter auf diesem Pfad gesehen. Außer Sean hatte sie dort noch nie jemanden gesehen. Sein alter Triumph Dolomite, der aussah wie ein Wagen aus einem Sechziger-Jahre-Film, war am üblichen Platz abgestellt. Die Vorhänge an den Wohnwagenfenstern waren zugezogen. Nur zur Arbeit stand er früh auf. Sie war gerannt, ging das letzte Stück zum Wohnwagen aber langsamer, stieg die zwei Stufen hinauf, und nachdem sie die rechte Hand, in der sie immer noch die Geldscheine hielt, aus der Tasche gezogen hatte, hob sie sie an die glatte Oberfläche der Tür.
Mit erhobener Hand zögerte sie. Sie holte tief Luft. Obwohl sie nichts kannte außer Naturgeschichte und bruchstückhaften Informationen aus viktorianischen Romanen, wusste sie doch, dass Liebe unberechenbar ist, ein Glücksspiel, eine enttäuschende Sache. Dieses Wissen bezog sie aus romantischen Dramen und Liebesgedichten, aus den Seufzern der Verlassenen, der Bitterkeit der Verschmähten, aber auch aus einem gewissen Instinkt heraus. Unschuld ist nie unwissend in diesen Dingen, außer in den Romanen des 19. Jahrhunderts und selbst da nicht immer. Sie stellte sich vor, wie er sie mit einem falschen Wort oder einem gleichgültigen Blick umbringen könnte, dann atmete sie aus und klopfte.
Von drinnen kam seine Stimme. »Ja? Wer ist da?«
»Sean, ich bin’s.«
»Liza?«
Nur etwas erstaunt, etwas ungläubig. Im Nu hatte er die Tür geöffnet. Er war nackt, hatte sich bloß schnell ein Bettlaken umgewickelt. Ins helle Licht blinzelnd, starrte er sie an. Wenn sie jetzt das leiseste Anzeichen von Überraschung in seinem Blick bemerkte, wenn er sie fragte, was sie hier suchte, würde sie tot umfallen, es würde sie umbringen.
Er sagte nichts. Er nahm sie bei der Hand und zog sie ins muffig-warme Wageninnere, das nach Mann roch, und umarmte sie. Es war keine normale Umarmung, sondern ein allumfassendes In-die-Arme-Schließen. Er umschlang sie und hielt sie fest umfangen wie eine Hand eine Frucht oder einen Tannenzapfen umschließt, sanft, aber bestimmt, sinnlich genießend.
Sie hatte ihm alles erklären wollen und sich schon ausgemalt, wie sie ihm die ganze lange Geschichte erzählen würde, die in den gestrigen Ereignissen gipfelte. Sie hatte sich bereits eine Rechtfertigung und eine Verteidigung zurechtgelegt. Aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. Irgendwie gelang es ihm ohne Worte, ihr klarzumachen, wie glücklich er über ihr unerwartetes Auftauchen war und dass er sie ohne viele Erklärungen begehrte. Als er seine Arme etwas lockerte, hob sie den Blick, um sein schönes Gesicht zu betrachten, die Augen, die sein ganzes Aussehen veränderten, wenn sie vor Verlangen ganz weich wurden. Aber auch daran wurde sie gehindert, durch seinen Kuss, zudem er seine Lippen an ihre führte, so süß und warm, und sie blind und stumm machte.
Wenn das Klappbett heruntergelassen war, füllte es den ganzen Wohnwagen aus. Ihr Gesicht immer noch an das seine gedrückt, schälte sie sich aus den Kleidern, ließ ihre Sachen nacheinander auf den Boden fallen, stieg aus den Baumwollhosen und schleuderte die Turnschuhe von den Füßen. Sie hob die Arme wieder hoch und wollte ihn so halten wie er sie vorhin. Er ließ sich von ihr aufs Bett ziehen. An manchen Stellen spürte man noch seine Körperwärme. Sie lagen nebeneinander, ihre Brüste weich und voll an seinem Oberkörper, Hüfte an Hüfte, die Beine ineinander verschränkt. Er fing an, sie zart und leicht mit der Zungenspitze zu küssen. Sie wandte sich lachend ab.
»Ich bin weggerannt! Ich bin zu dir gekommen, für immer.«
»Du bist ja toll«, sagte er. »Du bist die Größte«, und dann: »Und was ist mit ihr?«
»Keine Ahnung. Die Polizei war da, mit zwei Wagen, wahrscheinlich haben sie sie mitgenommen. »Sie genoss seinen verwunderten Blick, sein Interesse. »Da war ich aber schon weg. Freust du dich?«
»Ob ich mich freue? Ich bin absolut platt. Aber was sagst du, die Polizei? Was für Polizei?«
»Keine Ahnung. Die Polizei aus der Stadt.«
»Was hat sie getan?«
Sie legte die Lippen an sein Ohr. »Soll ich’s dir erzählen?«
»Erzähl mir alles, aber nicht jetzt.«
Er streichelte mit beiden Händen über ihren Körper, in einer langen, bedächtigen Bewegung den Rücken entlang und zog sie in einem sanften Bogen an sich. Ohne hinzusehen, spürte sie seinen bewundernden Blick auf ihrer glatten, weißen Haut. Ihre Hüften berührten sich, sein Schenkel drückte sich fest an ihren, Wärme zu Wärme und Haut an Haut.
»Sag jetzt nichts, Liebling«, sagte er. »Lass es uns tun.«
2
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Sie schlief ziemlich lang. Sie war sehr müde. Es war auch Erleichterung und eine Atempause. Als sie aufwachte, saß Sean am Bett und betrachtete sie. Sie streckte die Hand nach ihm aus und hielt ihn fest.
Sean war eine Augenweide. Sie hatte nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, nur den Mann auf dem Gemälde auf Shrove, ein paar körnige Schwarzweißbilder von Schauspielern in alten Filmen, den Postboten, den Heizölmann, Jonathan und Bruno, Matt und noch einige andere. Sein Gesicht war blass, er hatte scharfgeschnittene Gesichtszüge, eine gerade Nase und rote, für einen Mann ziemlich volle Lippen, dunkle Augen, in denen sie Träume und Hoffnungen zu sehen glaubte, und wie mit chinesischen Pinselstrichen gemalte Brauen. Auf Shrove hatte sie im Salon ein Gemälde gesehen, mit Weidenlaub, Vögeln mit rosigen Kehlen und mit einer seltsamen Blume, von der Eve sagte, es sei Lotus, und mit Buchstaben aus schwarzen Strichen, die aussahen wie Seans Augenbrauen. Sein Haar war schwarz wie Kohle. Das hatte Liza gelesen, denn soviel sie wusste, hatte sie selbst noch nie Kohle gesehen.
»Du hast fünf Stunden geschlafen.« Er sagte es voller Bewunderung, als wollte er sie für eine besondere Heldentat loben.
»Beim Aufwachen habe ich erst nicht recht gewusst, wo ich bin. Ich hab noch nie woanders geschlafen als im Torhaus.«
»Mach keinen Witz«, sagte er.
»Doch, wieso sollte ich? Ich hab noch nie woanders als zu Hause geschlafen.« Sie wunderte sich selbst darüber. »Das hier ist jetzt mein Zuhause.«
»Du bist toll«, sagte er. »Hab ich ein Glück mit dir, denk bloß nicht, ich wüsste es nicht. Ich hätte nie gedacht, dass du kommst, ich dachte, sie kommt bestimmt nie und bleibt bei mir, sie geht weg, und ich verlier sie. Lach nicht, ich weiß, dass ich ein Idiot bin.«
»Ich würde doch nie lachen, Sean. Ich liebe dich. Liebst du mich denn?«
»Das weißt du doch.«
»Dann sag es.«
»Ich liebe dich. So, zufrieden? Hab ich dir nicht gerade bewiesen, dass ich dich liebe? Ich möchte es dir andauernd beweisen. Lass mich zu dir, Liebling, wir machen’s noch mal, okay? Weißt du, was mir am liebsten wäre? Wenn ich’s dir andauernd machen könnte, wir würden nicht mehr essen und schlafen und fernsehen und so, sondern immer und ewig bloß das eine tun, bis wir sterben. Wär das kein schöner Tod?«
Statt einer Antwort sprang sie auf und verzog sich, seinem Griff ausweichend, ans andere Bettende. Dort hatte er ihre Sachen hingelegt, die einzelnen Kleidungsstücke ausgeschüttelt und so sorgfältig nebeneinandergelegt, wie Eve es gemacht hätte. Hastig schlüpfte sie in die Hose und zog das T-Shirt über den Kopf.
Sie sagte ernst: »Ich will aber nicht sterben. Nicht so und nicht anders.« Ihr kam ein Gedanke, den sie nie zuvor in Betracht gezogen hatte. »Sean, du würdest es doch nie mit mir machen, wenn ich’s nicht will, oder?«
Einen Augenblick war er wütend. »Warum sagst du denn so was? Was soll diese Frage? Manchmal versteh ich dich nicht.«
»Schon gut. War bloß so ein Einfall? Hast du nie hässliche Einfälle?«
Er zuckte die Achseln, das Leuchten und die Begierde waren aus seinem Gesicht gewichen. »Ich mach uns Tee. Oder hättest du lieber eine Cola? Ich hab auch Cola da, aber das ist so ziemlich alles. Nix sonst hab ich nicht da zum Essen, wir müssen was einkaufen.«
»Nichts«, dachte sie bei sich. »Sonst habe ich nichts da zum Essen.« Diesmal würde sie es ihm nicht sagen. »Sean«, sagte sie, den Rücken an die Wand gelehnt, aus der Ecke herüber, »Sean, wir müssen weg. Ich meine, weg von hier. Wir brauchen viele Meilen Abstand zwischen uns und ihr.«
»Deiner Mutter?«
»Was denkst du wohl, warum die Polizei da war? Ich hab dir doch gesagt, dass die da waren.« Noch während sie es sagte, wusste sie, dass er nichts gedacht und nicht zugehört hatte. Wahrscheinlich hatte er es gar nicht gehört, als sie das mit der Polizei sagte. Verzehrt vom Verlangen, verrückt nach ihr, war er für alles andere unzugänglich gewesen. Sie wusste, wie sich das anfühlte, wenn man bloß noch ein taubes, blindes, besinnungsloses Ding war, ganz dick, atemlos und benommen vor Lust. »Ich hab dir doch gesagt, dass die Polizei da war.«
»Wirklich? Weiß ich gar nicht mehr. Was wollten die?«
»Kann ich die Cola haben?« Sie zögerte und zog das Zögern in die Länge. »Eigentlich hätte ich zu ihrer Freundin Heather fahren sollen. Da hat sie mich hingeschickt, denkt sie jedenfalls. Aber ich bin zu dir gekommen.«
»Sag doch, was hat sie denn getan?«
Sein Gesichtsausdruck war ein bisschen ungläubig und ein bisschen – nun ja, nachsichtig, das war wohl der Ausdruck dafür. Er würde schon noch sein blaues Wunder erleben. Es war nicht, was er dachte – sie suchte in ihrer Phantasie –, dass sie gestohlen oder was Illegales mit Geld gemacht hätte. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und sah sie gespannt an. Seine vollkommene Konzentration gefiel ihr.
»Sie hat jemand umgebracht«, sagte sie. »Vorgestern. Deshalb waren sie da und haben sie mitgenommen, und ich fürchte, mich suchen sie auch, die wollen bestimmt, dass ich als Zeugin auftrete oder so. Die wollen mich bestimmt ausfragen, und dann bringen sie mich womöglich zu irgendwelchen Leuten in Pflege. So was hab ich schon mal gehört. Ich bin so jung, ich werd erst im Januar siebzehn.«
Sie hatte seine Konzentration falsch gedeutet. Er hatte ihr gar nicht zugehört. Wieder hatte er nicht gehört, was sie sagte, aber diesmal aus einem anderen Grund. Den Mund leicht geöffnet, starrte er sie an. Als sie es bemerkte, zog er die Oberlippe hoch wie beim Anblick von etwas Entsetzlichem.
»Was hast du da gesagt?«
»Was? Das mit meinem Alter? Dass ich als Zeugin auftreten soll?«
Er zögerte und schien schwer zu schlucken. »Dass sie jemand umgebracht hat.«
»Es war gestern, nachdem ich von unserem Treffen im Wald zurückkam. Glaub ich jedenfalls. Ich meine, ich hab’s nicht direkt gesehen, aber ich weiß, dass sie ihn umgebracht hat.«
»Hör auf, Liebling.« Ein ungeschicktes Grinsen. »Das glaub ich nicht.«
Dagegen war sie wehrlos, sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie nippte ein paarmal an der dreieckigen Dosenöffnung. Eve hatte einmal gesagt, wenn eine Katze nicht weiß, wie sie sich verhalten soll, wedelt sie mit der Schwanzspitze. Ihr war zumute wie einer Katze, aber ohne Schwanz zum Wedeln. Jetzt war er am Zug, sie wusste nicht weiter.
Er stand auf und ging ein paar Schritte. Im Wohnwagen war es so eng, dass man nur wenige Schritte machen konnte. Sie nahm noch einen Schluck und beobachtete ihn.
»Warum sagst du so was«, sagte er, »von wegen, sie hätte jemand umgebracht? Soll das ein Witz sein? Hast du Spaß gemacht?«
»Es stimmt aber.«
»Das kann nicht sein.«
»Hör mal, Sean, ich hab mir das nicht ausgedacht. Deshalb, bin ich doch abgehauen, ich wollte nicht, dass die mich mitnehmen und einsperren und mich wo hinschicken. Ich wusste, diesmal kommen sie. Diesmal dauert es nicht lange, und sie kriegen es heraus. Ich hab die ganze Nacht auf sie gewartet.«
Sein von Natur aus blasses Gesicht war noch weißer geworden. Sie bemerkte es verwundert. »Du meinst, sie hat aus Versehen jemand getötet, stimmt’s?«
»Diesen Ausdruck kenn ich nicht.« Es war ein Satz, den sie, seitdem sie zusammen waren, oft sagen musste.
»Sie hat auf Vögel geschossen und dabei unabsichtlich jemand erschossen, war es so? Du hast gesagt, sie würde nie auf Vögel oder Kaninchen schießen, das hast du gesagt, als wir uns gerade kennengelernt hatten.«
Lediglich die letzten paar Worte kamen tatsächlich bei ihr an. Bei der Erinnerung daran musste sie lächeln. Sie glitt vom Bett herunter und legte die Arme um ihn. »War das nicht wunderbar, dass wir uns kennengelernt haben? Es war das Beste, was mir je passiert ist.«
Diesmal war er derjenige, der sich aus der Umarmung löste. »Ja, Liebling, okay, es war super. Aber du musst es mir sagen. Das mit dem Mord, das meinst du ernst, stimmt’s? Was ist passiert? Ist es ein Dieb gewesen?«
»Nein«, sagte sie, »nein, du kapierst es nicht.«
»Verdammt, kapieren tu ich’s erst, wenn du mir’s endlich sagst.«
»Ich werd’s versuchen.« Sie setzten sich, und sie nahm seine Hand. »Sie hat ihn umgebracht, Sean. Weißt du, so was gibt es tatsächlich.« Aus ihrem Mund hörte sich das kühn und ungewohnt an. »Sie hat ihn umgebracht, weil sie ihn loswerden wollte. Sie wollte ihn aus dem Weg schaffen, egal wieso, das ist doch jetzt unwichtig.«
Diesmal sagte er nicht, dass er ihre Worte bezweifelte, sondern: »Das kann ich nicht begreifen.«
Wie hatte Eve immer gesagt? »Dann musst du es einfach akzeptieren.«
»Wen hat sie denn umgebracht?« An seinem Tonfall merkte sie, dass er immer noch glaubte, sie würde lügen.
»Das ist doch egal.« Sie wurde ungehalten. »Einen Mann. Du kennst ihn nicht. Sean, es ist die Wahrheit, du musst mir glauben.« Allmählich gingen ihr die Augen auf. »Ich kann nicht mit jemand zusammen sein, der denkt, ich lüge ihn an.« Nachdem sie erst fröhlich gelacht hatte, war sie jetzt den Tränen nahe. Sie suchte nach einem Ausweg. »Ich kann’s dir nicht beweisen. Was mach ich bloß, damit du mir’s glaubst?«
Mit leiser Stimme sagte er: »Irgendwie glaub ich dir’s ja – jetzt.«
»Ich werd dir alles erzählen.« Sie war voller Eifer. Sie fasste ihn an den Schultern und kam ganz dicht heran. »Ich erzähl dir alles, wenn du willst, von Anfang an, als ich klein war, seit ich mich erinnern kann.«
Er küsste sie. Wenn er ihr Gesicht so dicht vor sich hatte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sie zu küssen. Seine Zunge schmeckte nach dem süßen Karamelzeug der Coca-Cola, ihre wahrscheinlich auch. Sie saßen auf dem Bett, einen anderen Sitzplatz gab es im Wohnwagen nicht, und ihr Körper entspannte sich, sie glitt rückwärts und sank auf die Matratze, sie begehrte ihn so heftig wie morgens, als sie angekommen war. Er zog sie an den Händen zu sich hoch.
»Ich will, dass du mir alles erzählst, Liza, ich will alles über dich wissen. Aber nicht jetzt. Sag mir jetzt, was deine Mutter getan hat.«
Sie schmollte frustriert. »Wozu? Du glaubst mir ja doch nicht.«
»Doch, das hab ich doch gesagt.«
»Ich finde, wir sollten weg von hier, wir sollten schon längst unterwegs sein und nicht hier rumsitzen und quatschen.«
»Keine Sorge, darum kümmer ich mich dann schon. Sag mir jetzt lieber, wie das war mit deiner Mutter und diesem Mann.« Sie merkte an seinem Blick, dass ihm ein Gedanke kam. »Hat er versucht, sie zu vergewaltigen, war es das?«
»Er hat ihr beigebracht, wie man mit einer Schrotflinte auf Tauben schießt. Er war draußen beim Schießen und sie meinte: ›Zeig mal, wie das geht.‹«
»Du machst doch einen Witz.«
»Es ist die Wahrheit. Wenn du das sagst, erzähl ich dir gar nichts.«
»Also gut. Und weiter.«
»Ich hasse es, wenn man auf Vögel schießt. Ich hasse es, wenn Leute schießen, egal auf was, Kaninchen, Eichhörnchen, egal, es ist gemein. Und ich dachte, Eve – meine Mutter – ich dachte, sie auch. Das hat sie jedenfalls gesagt, so hat sie mich erzogen. Aber zu ihm sagte sie, die Tauben würden ihr Gemüse fressen, und er solle ihr zeigen, wie man schießt, und er war einverstanden. Weißt du, Sean, ich glaube, er hätte alles getan, was sie von ihm wollte.«
»Sie ist eine attraktive Frau.«
»Attraktiver als ich?«
»Red doch keinen Quatsch. Hast du das alles beobachtet?«
»Ich war doch im Wald bei dir gewesen«, erwiderte Liza. »Sie haben mich nicht gesehen. Ich kam durch den Garten, und sie standen da im Gras, wo die neuen Bäume sind. Man kann weithin alles hören von dort, weißt du. Selbst wenn jemand ganz leise spricht, hört man es. Ich sah die beiden mit der Flinte da stehen und dachte mir, jetzt sagt sie ihm, er soll nicht auf die Tauben schießen. Das durfte er ja, weißt du, die Fasanenjagd fängt zwar erst im Oktober an, aber auf Tauben schießen darf man, wann man will. Die armen Geschöpfe! Ihm konnte es ja egal sein, er war kein Bauer, die fraßen ja nicht seine Kohlköpfe, und wenn schon, Tauben wollen schließlich auch leben, oder?
Ich dachte, na gut, jetzt sagt sie ihm, er soll aufhören, aber so war’s nicht. Sie bekam da draußen gerade Schießunterricht. Ich wusste, dass sie mit ihm schon mal darüber gesprochen hatte, aber ich hätte doch nie gedacht, dass sie es ernst meint. Als ich die beiden sah, hab ich mich gefragt, um Himmels willen, was macht sie denn? Er erklärte ihr die Flinte, und sie sah zu, und dann gab er sie ihr.
Ich wollte nicht zusehen, wie die Vögel umgebracht wurden, und ging gerade wieder zum Torhaus zurück, als der Schuss fiel und gleich darauf ein erstickter Schrei zu hören war. Ich machte kehrt und rannte quer über den Rasen, und da stand sie und sah hinunter auf die Stelle, wo er lag. Die Flinte hatte sie nicht mehr in der Hand, sie hatte sie fallengelassen und sah hinunter auf ihn und das viele Blut um ihn herum.«
Sean hatte sich die Hand vor den Mund gehalten. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er zog die Hand weg und rieb sich mit einer seltsamen Bewegung die Wange. »Was hast du dann gemacht?« fragte er tonlos.
»Gar nichts. Ich bin nach Hause gegangen. Sie hat’s der Polizei nicht gesagt und ich auch nicht, also muss es Matt gewesen sein. Kennst du Matt?«
»Klar kenn ich den.«
»Er war oben am Haus. Aber ich glaub nicht, dass er mehr gesehen hat als ich. Er hat sich’s gedacht.«
»Aber du sagst doch, die Polizei war gerade gekommen, als du weg bist – wann? Vor ein paar Stunden?«
»Die waren gestern Abend da. Sie haben mich nicht gesehen. Weißt du, sie sind gar nicht ins Torhaus gekommen, diesmal noch nicht. Zuerst kamen Autos und ein schwarzer Kombi, in dem die Leiche abtransportiert wurde. Das hab ich alles von meinem Schlafzimmerfenster aus beobachtet. Eve sagte, ich soll oben bleiben und ja nicht rauskommen, damit mich niemand sieht. Ich wollte nicht, dass die mich sehen. Sie ist nach Shrove raufgegangen, und ich glaube, dort hat die Polizei mit ihr gesprochen. Mit ihr haben sie gesprochen und mit Matt und mit Matts Frau.
Sie wusste, sie würden wiederkommen, also hat sie gesagt, ich muss weggehen. Es sei zu meiner eigenen Sicherheit, meinte sie. Da bin ich weggelaufen zu dir. Das ist alles.«
»Das ist alles?«
»Nicht alles, Sean. Es wird lang dauern, bis ich dir alles erzählt habe.«
»Ich geh schon mal den Anhänger ankuppeln«, sagte er.
Sie ging mit ihm hinaus. Es war ein warmer, fast schwüler Tag, und nachmittags um zwei stand die Sonne wie eine Lichtpfütze am weißen Himmel. Während sie ihm zusah, pflückte sie Brombeeren von der Hecke und schob sich ganze Hände voll in den Mund. Sie hatte schrecklichen Hunger.
Der zerbeulte Dolomite zog den Wohnwagen mit der langsamen, behäbigen Zielstrebigkeit eines alten Kutschpferdes voran. Er stöhnte ein wenig und stieß einen Schwall schwarzen Drecks hinten raus. Liza setzte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Auto und Anhänger rumpelten mit einem Ruck vom Grasstreifen auf den festeren Belag des Feldwegs.
»Wohin sollen wir fahren?«
»Wir müssen dahin, wo sie mich den Anhänger abstellen lassen. Bevor du gekommen bist, hab ich gedacht, vielleicht probier ich’s mal bei Vanner’s, die suchen jetzt Pflücker für die Cox Orange, das wär doch was für uns beide.«
»Die Cox sind aber erst in der dritten Septemberwoche reif«, sagte sie, erfreut, mit etwas auftrumpfen zu können, was sie wusste und er vielleicht nicht. »Wie weit ist es bis dort?«
»Fünfundzwanzig Meilen oder dreißig. Ist dir das weit genug?«
»Ich weiß nicht. Was kannst du sonst noch?«
Er lachte. »Elektroinstallation, sozusagen, Wasserhähne abdichten, Messer schleifen, ich bin ein halber Automechaniker, Auto waschen, Gartenarbeit – das müsstest du ja wissen – Fenster putzen, alles, ganz egal.«
»Wieso dann Äpfel?«
»Zur Abwechslung. Ich nehme an, im September werd ich immer Äpfel pflücken und im Juli Kirschen.«
»Ich hab Hunger«, sagte sie, »ich hab verdammten Hunger.«
»Nicht fluchen, Liza.«
»Du fluchst doch auch. Von wem hab ich’s denn?«
»Bei mir ist das was anderes. Du bist eine Frau. Ich mag’s nicht, wenn Frauen fluchen.«
Sie zog die Schultern hoch, wie Eve. »Ich hab schrecklichen Hunger. Kaufen wir jetzt was zu essen?«
Ja, wir holen uns was über die Straße.« Er sah sie an, da fiel es ihm wieder ein und er erklärte ihr: »Was Fertiggekochtes zum Mitnehmen, okay? Oder wir finden eine Imbissstube, Little Chef oder so, wenn’s an der Autostraße einen gibt.«
Jetzt fürchtete sie sich nicht mehr. Ihre Angst war vielleicht nicht ausgelöscht, nur beiseitegeschoben. Die Aussicht, in eine Imbissstube zu gehen, fand sie aufregend. Und sie war gerade mit Sean zusammen gewesen. In einer Cafeteria war sie im Lauf der Jahre schon ein paarmal gewesen, aber ein richtiges Restaurant, so nannte man es wohl, das war doch etwas anderes. Da fiel ihr wieder ein, was sie beim Abschied vom Torhaus mitgenommen hatte.
»Ich hab Geld. Hundert Pfund.«
»Meine Güte«, sagte er.
»Es ist im Wohnwagen, in meiner Jacke.«
»Hast du es geklaut?« Er hörte sich streng an.
»Natürlich nicht. Eve hat es mir mitgegeben.«
Er erwiderte nichts. Sie schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, alles war neu für sie, unbekanntes Territorium. Sie fuhren gerade durch ein Dorf, als die Kirchturmglocke drei Uhr schlug, und waren zehn Minuten später in einer ziemlich großen Ortschaft, wo sie auf dem Marktplatz parkten.
Die umliegenden Straßen auf beiden Seiten des Parkplatzes waren mit Läden gesäumt. Etwas Ähnliches hatte sie schon einmal woanders gesehen, – eine Reinigung, eine Bausparkasse, ein Maklerbüro, ein chinesisches Restaurant, ein Second-Hand-Laden, ein Stehimbiss, noch eine Bausparkasse, ein Versicherungsbüro, ein indisches Restaurant, eine Bank, ein Pub, ein Grußkartengeschäft, und noch ein Maklerbüro. Durch einen Torbogen in rosa Glas und Goldmetall ging es in eine ausgestorbene Einkaufshalle. Vielleicht waren alle Städte so, innen alle gleich, vielleicht war das hier die Norm.
Seans geübter Blick erfasste rasch die Lage. »Die Imbissstuben sind zu, dafür ist es zu spät: Die Pubs sollten eigentlich länger offen haben, tun sie aber komischerweise nie. Ich kann uns ja Pie und Chips holen oder so.«
Ihr Hunger war größer als ihre Enttäuschung. »Was du willst. Brauchst du Geld?«
Sie hatte es so leicht dahingesagt und versucht, den richtigen Tonfall zu finden, weil sie es ja noch nie gesagt hatte. Doch aus irgendeinem Grund war er beleidigt. »Den Tag werd ich hoffentlich nie erleben, wo mich meine Freundin aushalten muss.«
Nachdem er gegangen war, kletterte sie aus dem Wagen. Sie streckte die Arme über ihren Kopf und spürte den Geschmack der Freiheit. Das war ziemlich berauschend, und irgendetwas ließ sie erschauern; doch am Wetter konnte es nicht liegen, es war warm wie an einem Hochsommertag. So hatte sie sich noch nie gefühlt, so schwindlig, benommen war vielleicht der richtige Ausdruck, so als würde sie gleich hinfallen.
Sie öffnete die Wohnwagentür und kletterte hinein. Nur fünf Minuten sitzen und ein paarmal tief durchatmen, dann fühlte sie sich schon viel besser. Sie verstaute das Bett in der Wand, faltete Laken und Decken zusammen und klappte den Tisch herunter, so dass für die Mahlzeit alles bereit war, als Sean zurückkam. Aus den Paketen, die er trug, drang Fett durch das Einwickelpapier, und es roch durchdringend nach Frittieröl.
Sie war wirklich hungrig gewesen, und die Pommes frites und Blätterteigpasteten, die er auswickelte, dufteten verlockend, aber sie konnte sich nicht beherrschen. Unvermittelt brach sie in Tränen aus. Er hielt sie fest an sich gedrückt und streichelte ihr übers Haar, während sie laut schluchzte. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Herz pochte.
»Ist ja gut, ist ja gut, Liebling. Du hattest einen Schock, das ist ein nachträglicher Schock, es wird schon wieder gut. Ich pass auf dich auf.«
Er tröstete sie. Er streichelte ihr übers Haar, und als sie nur noch weinte, nicht mehr schluchzte und schrie, tupfte er ihr zart wie mit Frauenfingern die Augen trocken, so wie Eve früher, wenn sie zärtlich sein wollte. Während sie sich allmählich beruhigte, tat er etwas, was sie besonders gern an ihm mochte; er begann, sie mit seinem Kamm mit den dicken, stumpfen Zähnen zu kämmen. Der Kamm fuhr sanft durch ihr langes schwarzes Haar, vom Ansatz bis in die Spitzen, und als er innehielt, spürte sie, wie seine Finger sie kaum berührten und dann auf ihrem Nacken und am Ohrläppchen verhielten. Sie zitterte, aber diesmal war es kein Schock oder Schwindelgefühl.
»Gib mir einen Kuss«, sagte er.
Der Kuss war leidenschaftlicher, als er erwartet hatte, ein intensiver, sinnlicher Kuss voll gezügelter Energie, die nun hervorbrach. Er musste über sie lachen. »Komm, wir essen. Ich hab gedacht, du hättest Hunger.«
»Und ob, ich sterbe vor Hunger.«
»Das kam mir aber nicht so vor.«
Es war die erste Fleischpastete ihres Lebens. Sie konnte nicht beurteilen, ob sie gut oder passabel oder schlecht war, aber sie schmeckte. Früher hatte sie nie mit den Fingern essen dürfen. Es hatte viele, mit sanfter Gewalt durchgesetzte Regeln gegeben und viel gutgemeinten Zwang.
»Wenn wir dort sind, wo wir hinwollen«, sagte sie, »erzähl ich dir meine Lebensgeschichte.«
»Gut.«
»Ich hab ja keine Ahnung, aber so eine Lebensgeschichte wie meine gibt’s wohl nicht oft, glaub ich.«
»Du hast ja noch einiges vor dir, vielleicht siebzig Jahre.«
»Kann ich die letzte Fritte haben? Ich erzähl’s dir von Anfang an, seit ich mich erinnern kann. Das heißt, als ich vier war und sie den ersten umgebracht hat.«
Sie riss ein Stück von der Klopapierrolle ab, die er anstelle von Papiertaschentüchern neben dem Bett liegen hatte, und wischte sich den Mund sauber. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, um zu sagen, sie sei fertig, wenn er wollte, könnten sie jetzt losfahren, bemerkte sie, dass er sie mit entsetztem Blick anstarrte.
3
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Eins der ersten Dinge, an die sie sich erinnern konnte, war der Zug. Es war Sommer, und sie ging mit ihrer Mutter gerade in den Feldern spazieren, als sie plötzlich das Pfeifen eines Zuges hörten. Das einspurige Gleis verlief unten im Tal zwischen dem Fluss und den niedrigeren Berghängen. Es war nur eine kleine Nebenstrecke, aber später, als sie älter war, sagte ihre Mutter, es sei die schönste Eisenbahnstrecke der Britischen Inseln. Ihre Augen leuchteten, als sie das sagte.
Aber an jenem Nachmittag, als Liza vier war, fuhren nicht viele Gäste mit, und die wenigen sahen bestimmt nicht hinaus, um die Aussicht zu genießen, sondern auf die Bergseite, denn als Mutter winkte und sie auch, winkte niemand zurück. Die Eisenbahn zuckelte gemächlich voran und verschwand in dem runden schwarzen Tunnel, der den Berg durchstach.
Liza meinte, sie konnte mit ihrer Mutter noch nicht sehr lange dort gewohnt haben, als sie ihren ersten Zug sah. Denn sonst hätte sie bestimmt schon einmal einen gesehen. Wahrscheinlich wohnten sie erst seit ein paar Tagen im Torhaus. Damals hatte sie keine Ahnung gehabt, woher sie gekommen waren, und auch später noch lange nicht. Sie konnte sich an nichts erinnern, was vor diesem Tag gewesen war, an keine Gesichter, keine Orte, keine Stimmen und keine Gefühle.
Es gab nur Mutter.
Es gab nur das Torhaus, wo sie wohnten, und den überwölbten Torweg mit dem einzimmrigen Häuschen auf der anderen Seite und in der Ferne Shrove, das Herrenhaus. Zur Hälfte von schönen, hohen Bäumen verdeckt, schimmerten seine Mauern geheimnisvoll lockend zwischen den Stämmen hindurch. Wenn Mutter ihr Geschichten vorlas, in denen, wie so oft, ein Palast vorkam, sagte sie immer: »Wie Shrove, so sieht ein Palast aus, ein Herrenhaus wie Shrove.« Doch das einzige, was Liza vom echten Shrove gesehen hatte, bis sie fast fünf war und die Blätter sich braun färbten und von den Bäumen wehten, war ein fast unwirkliches Grau, eine glitzernde, gläserne Fläche und das Glänzen von sonnenbeschienenem Schiefer.
Später sah sie es dann in voller Größe, die von einem wappengeschmückten Ziergiebel durchbrochene Balustrade, die es krönte, die zahlreichen Fenster, die Treppenfluchten und Statuen, die in den Nischen standen. Schon damals fiel ihr auf, wie es sich fast wohlig zu räkeln, dazusitzen und sich selbstgefällig lächelnd in der Sonne zurückzulehnen schien.
Fast jeden Tag ging Mutter in dieses Haus hinauf, das einem Märchenschloss ähnelte, manchmal für einige Stunden, manchmal nicht länger als zehn Minuten, und bevor sie ging, sperrte sie Liza in ihrem Zimmer ein.
Das Torhaus war das Pförtnerhaus von Shrove. Später, als Liza älter war, erzählte ihr Mutter, es sei im gotischen Stil erbaut und bei weitem nicht so alt wie das Herrenhaus selbst. Es sollte aussehen, als ob es aus dem Mittelalter stammte, und hatte ein Türmchen mit einem Zinnenkranz und einem hohen Spitzgiebel. Aus der einen Giebelseite sprang ein Mauerbogen, der über ein paar Torgänge hinunter auf der anderen Seite zu dem Häuschen führte, das mit seinen schmalen Fensterspalten und der eisenbeschlagenen Pforte wie die Miniaturausgabe eines Ritterschlosses wirkte.
Auf den eisernen Torflügeln, die immer geöffnet waren, stand in geschwungener Schrift Shrove House. Torhaus, Bogengang und Schlösschen waren aus kleinen Backsteinen gemauert, ungefähr das bräunliche Dunkelrot von Hagebutten. Oben hatten Liza und Mutter ihre Schlafzimmer, unten befanden sich Wohnzimmer, Küche und separates Toilettenhäuschen. Das war alles. Liza hatte das Turmzimmer mit Aussicht über den Garten und den Wald bis weit in die Ferne. Es behagte ihr überhaupt nicht, in ihr Zimmer gesperrt zu werden, aber sie hatte keine Angst, und soweit sie sich erinnern konnte, protestierte sie nie. Mutter hatte immer eine Beschäftigung für sie. Sie hatte damit angefangen, Liza Lesen beizubringen, und so gab sie ihr Bücher mit Stoffseiten, die mit großen Buchstaben bedruckt waren. Sie gab ihr auch Papier und zwei Buntstifte und ein Buch als Unterlage. Liza bekam ihren Orangensaft in einem Fläschchen, denn bei einem Glas oder einer Tasse hätte sie den Saft bloß auf dem Boden verschüttet. Manchmal bekam sie zwei Kekse, aber bloß zwei, oder einen Apfel.
Liza hatte keine Ahnung, was Mutter in Shrove House machte, aber später erfuhr sie es, als Mutter sie mitnahm und nicht mehr im Zimmer einsperrte – außer wenn Mutter einkaufen ging. Aber das war über ein halbes Jahr später, nachdem alles passiert war und es Winter geworden war und Schnee die Hänge bedeckte und nur noch die riesigen blauen Zedern und die hohen schwarzen Tannen ihr Nadelkleid behielten.
Davor, im Sommer, kamen die Hunde. Außer auf Bildern hatte Liza noch nie einen Hund oder eine Katze oder ein Pferd oder irgendwelche anderen Tiere gesehen, nur die wildlebenden. Sie glaubte, dass die beiden einen Tag später gekommen waren, nachdem sie und Mutter spazieren gegangen waren und den ersten Zug gesehen hatten, aber es hätte auch an einem anderen Tag eine Woche oder sogar einen Monat später gewesen sein können. Es war nicht leicht, sich an so weit zurückliegende Zeitabschnitte zu erinnern.
Die Hunde gehörten Mr. Tobias. Aber nicht er brachte sie vorbei, sondern ein anderer Mann. Liza hatte Mr. Tobias noch nie gesehen, nur von ihm gehört, und es sollte noch sehr, sehr lange dauern, bis sie ihm begegnen sollte. Der Mann, der die Hunde brachte, kam in einem kleinen Lastwagen mit einer Abtrennung aus weißem Maschendraht vor dem Fond des Wagens, damit die Hunde nicht auf die Vordersitze springen konnten. Er hieß Matt und war ein kleiner, gedrungener Mann mit breiten Schultern, der sehr kräftig aussah und auf dessen breiter Stirn die Haare wie Borsten an einer Bürste wuchsen.
»Das sind Dobermann-Pinscher«, sagte Mutter. Sie erklärte einem immer alles langsam und ausführlich. »In Deutschland, das ist ein Land weit weg von hier, da wurden sie früher zu Polizeihunden ausgebildet. Aber die hier sind Haustiere.« Sie wandte sich an Matt, der sie merkwürdig anstarrte: »Wie heißen sie denn?«
»Das da ist Heidi und das ist Rudi.«
»Sind es auch nette und freundliche Hunde?«
»Die sind bestimmt brav bei Ihnen und bei der Kleinen. Frauen fallen sie nicht an, das hat man ihnen so beigebracht. Ich selber würde mich allerdings auf den nächsten Baum retten, wenn die in der Nähe sind und jemand ruft: ›Fass! Beiß tot!‹«
»Tatsächlich? Davon hat Mr. Tobias gar nichts gesagt.«
»Er dachte sich wahrscheinlich, dann nehmen Sie sie nicht in Pflege.« Er blickte umher und starrte die Hügel jenseits des Tales an, als wäre dort der Himalaya. »Bisschen einsam hier draußen, was? Hier ist ja nicht gerade viel los.«
»Mir gefällt’s so.«
»Na ja, solche Leute muss es auch geben, obwohl ich jetzt gedacht hätte, so ein hübsches Mädel wie Sie will vielleicht bisschen was Lebhafteres. Die Lichter der Großstadt, äh, tanzen gehen, Kino? Sagen Sie mal, Sie hätten nicht zufällig eine Tasse Tee für mich, oder?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Mutter, nahm in die eine Hand die Hundeleinen, in die andere Lizas Händchen, ging ins Torhaus und machte die Tür zu. Der Mann draußen auf den Stufen sagte etwas, das Liza nicht verstand, und Mutter meinte, es sei etwas Unanständiges, das man nie sagen dürfe. Sie hörten, wie der Lastwagen beim Anlassen aufheulte, als wäre er wütend.