Die Unteilbarkeit der Liebe - Jennie Fields - E-Book
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Die Unteilbarkeit der Liebe E-Book

Jennie Fields

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Beschreibung

Eine mutige Wissenschaftlerin, die sich ihren Platz in einer Männerwelt erkämpft. Und ein gefährliches Geheimnis, das für immer ihr Schicksal bestimmt.​

Chicago 1950: Die mutige und hochtalentierte Wissenschaftlerin Rosalind ist eine der wenigen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg am Bau der Atombombe beteiligt waren. Doch die unvorstellbaren Auswirkungen ihrer Arbeit brachen ihr damals das Herz – ebenso wie die Trennung von ihrer großen Liebe, ihrem Kollegen Thomas. Jahre später hat sie sich ein neues Leben aufgebaut, aber da steht Thomas plötzlich wieder vor ihrer Tür. Warum? Was will er? Gleichzeitig kommt das FBI auf Rosalind zu: Der attraktive Agent Charlie verlangt, dass sie ihm geheime Informationen über Thomas besorgt. Denn das FBI hält Thomas für einen Spion. Rosalind muss sich ein für alle Mal entscheiden, auf wessen Seite sie steht. Sie liebt Thomas noch immer, doch auch zu Charlie fühlt sie sich hingezogen …

Fesselnd und hochemotional erzählt Jennie Fields von einer unvergesslichen Heldin, die ihrer Zeit weit voraus ist – und die sich entscheiden muss zwischen ihrem Herzen und ihrem Gewissen.

»Eine elektrisierende Liebesgeschichte, die jene gefährliche Energie freilegt, die jeder echten Verbindung zwischen zwei Menschen innewohnt. Atemberaubend!« Delia Owens, Autorin von »Der Gesang der Flusskrebse«

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ZUMBUCH

Chicago 1950: Die mutige und hochtalentierte Wissenschaftlerin Rosalind ist eine der wenigen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg am Bau der Atombombe beteiligt waren. Doch die unvorstellbaren Auswirkungen ihrer Arbeit brachen ihr damals das Herz – ebenso wie die Trennung von ihrer großen Liebe, ihrem Kollegen Thomas. Jahre später hat sie sich ein neues Leben aufgebaut, aber da steht Thomas plötzlich wieder vor ihrer Tür. Warum? Was will er? Gleichzeitig kommt das FBI auf Rosalind zu: Der attraktive Agent Charlie verlangt, dass sie ihm geheime Informationen über Thomas besorgt. Denn das FBI hält Thomas für einen Spion. Rosalind muss sich ein für alle Mal entscheiden, auf wessen Seite sie steht. Sie liebt Thomas noch immer, doch auch zu Charlie fühlt sie sich hingezogen …

Fesselnd und hochemotional erzählt Jennie Fields von einer unvergesslichen Heldin, die ihrer Zeit weit voraus ist – und die sich entscheiden muss zwischen ihrem Herzen und ihrem Gewissen.

ZURAUTORIN

Jennie Fields stammt aus Chicago. Das Schweigen zweier Frauen aus ihrer Familie hat sie zu diesem Roman inspiriert: Ihre Mutter arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg in der Krebsforschung, doch als sie heiratete, gab sie ihre Karriere in der Wissenschaft auf – wie es zur damaligen Zeit für Frauen üblich war. Sie hat ihre Arbeit immer vermisst.

Die Cousine ihrer Mutter war in einem geheimen Labor an der Universität von Chicago tätig. Doch welchen Aufgaben sie dort genau nachging, darüber hat sie nie auch nur ein einziges Wort verloren. Die Familie erfuhr erst viel später, dass sie am Bau der Atombombe beteiligt gewesen war – ihren Geheimhaltungsschwur brach sie erst lange nach Hiroshima.

»Eine elektrisierende Liebesgeschichte, die jene gefährliche Energie freilegt, die jeder echten Verbindung zwischen zwei Menschen innewohnt. Atemberaubend!«  Delia Owens, Autorin von »Der Gesang der Flusskrebse«

»Fans großer Liebesgeschichten werden die glühende Anziehung zwischen Rosalind und Charlie nicht wieder vergessen.«  Publishers Weekly

»Leidenschaft, Betrug und dunkle Geheimnisse – und eine mutige Protagonistin, die ihrer Zeit weit voraus ist.«  Booklist

www.penguin-verlag.de

Jennie

Fields

Die

Unteilbarkeit

der Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Veronika Dünninger

Die Originalausgabe erschien 2020

unter dem Titel Atomic Love

bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe Jennie Fields 2020

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

This edition is published by arrangement with G.P. Putnam’s Sons,

an imprint of Penguin Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC.

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: Favoritbüro

Umschlagabbildung: © CSA-Printstock/Getty Images

Satz: Satzbau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26349-2V002

www.penguin-verlag.de

Für meine geliebte Tante Rosalind,

die in der Schönheit, Erhabenheit und Macht

von Worten schwelgte

Chicago, 1950

1

Die heiße Berührung der Großstadt noch auf ihrer Haut, löst Rosalind ihre Strumpfbänder und wirft die Strümpfe mit einer Handvoll Waschsoda in das Waschbecken im Badezimmer. Eine Angewohnheit aus den Kriegsjahren. Sie ist von 1942 bis 1944 mit zwei strapazierfähigen Paaren ausgekommen, weil sie sie wie seltene Orchideen behandelte. Guter Gott, sie kannte Mädchen, die sich Linien auf die Waden malen mussten, nachdem sie ihre letzten Strümpfe zerrissen hatten und sich keine neuen leisten konnten. Linien, die spätestens um zwei Uhr nachmittags so verschmiert waren wie Lippenstift nach einem verzweifelten Kuss.

Das Gefühl des Krieges, der Rationierungen, des Entsetzens, jeden Morgen die Zeitung aufzuschlagen und stets das Schlimmste zu sehen, konnte man auch nach Jahren nicht abschütteln. Rosalind würde den brennenden Schmerz in ihrer Kehle nie vergessen, mit dem sie zusah, wie ihr Nachbar den blauen Stern auf der Familienflagge im Fenster schluchzend gegen einen goldenen austauschte, zum Zeichen, dass sein Sohn gefallen war. In ihrer Familie gab es keine Söhne, aber sie und Louisa leisteten dennoch ihren Beitrag. Louisa polierte eine Zeit lang Torpedos in einem Rüstungsbetrieb. Und was Rosalind tat, beendete, könnte man sagen, den Krieg insgesamt. Aber sie weiß, dass es sie verfolgen wird bis zu dem Tag, an dem sie stirbt.

Heutzutage steht sie bei Field’s hinter dem Tresen für alten Schmuck. In die kunstvoll gearbeiteten Gegenstände in ihrer Auslage sind Lebensgeschichten verwoben: Hinter dem ovalen Glas auf der Rückseite einer viktorianischen Brosche befindet sich geflochtenes silbergraues Haar von irgendjemandes Mutter. Dann ist da ein Ring, auf dem eine Reihe von Edelsteinen glitzert – ein Rubin, ein Smaragd, ein Granat, ein Amethyst, noch ein Rubin und ein Diamant. Ein Verbundenheitsring. Männer in Georgia schenkten diese Ringe Frauen, die sie liebten, aber nicht heiraten konnten. Rosalind fragt sich unwillkürlich, was für eine Frau den Beweis einer Liebe tragen würde, die ihr nie wirklich gehörte.

Rosalind ist Wissenschaftlerin. Nach dem Krieg nahmen die zurückkehrenden GIs die wichtigen Arbeitsstellen den Frauen wieder ab. Ihr könnt jetzt gehen. Wir sind zurück. Wahrscheinlich hätte sie ihre Stelle ohnehin verloren, selbst wenn die Sache mit Weaver nicht schiefgegangen wäre. Aber das heißt nicht, dass sie das Labor nicht vermisst.

Auf dem Heimweg heute Abend, als sie erschöpft und traurig aus dem Field’s trat, kam sie an einem ungewöhnlich großen Mann vorbei, der am Sommerfreuden!-Schaufenster des Kaufhauses lehnte. Er starrte sie unverhohlen an, aus bemerkenswert blauen Augen. An der Wabash Avenue erhaschte sie wieder einen Blick auf ihn. Als sie die Erie Street überquerte, war er da, seinen Filzhut tief in die Stirn gezogen, in Eile, um die Ampel noch zu schaffen. Breitschultrig, muskulös, mit entschlossenem Schritt. Das war der Moment, als Rosalind bemerkte, dass er sich das linke Handgelenk an die Rippen presste – wie eine Frau, die eine Handtasche an sich drückt, damit sie ihr nicht gestohlen wird. Eine Kriegsverletzung vielleicht? Er musste ihr bis zum Lake Shore Drive gefolgt sein, denn als sie zu ihrem Hauseingang abbog, sah sie blaue Augen, die sie von der anderen Straßenseite aus beobachteten.

Frank, der Portier, ließ sie herein. »Miss Porter. Schönste Zeit des Jahres, nicht wahr?«

Vielleicht hatte der Kerl einfach dieselbe Richtung gehabt, alles bloß ein Zufall. Den ganzen Krieg über hatten Männer mit ihr geflirtet – bis sie herausfanden, was sie arbeitete. Ihre Intelligenz machte ihre Anziehungskraft jedes Mal zunichte. Jetzt, wo sie dreißig Jahre alt und noch immer unverheiratet ist, haben die Leute angefangen, sie »attraktiv« zu nennen. Sie hasst diesen verdammten Ausdruck. Es würde ihr Selbstwertgefühl steigern, wenn mal wieder ein Fremder sich von ihr angezogen fühlen würde. Ihre größte Befürchtung ist, dass sie so eine Frau werden wird – eine, die allein lebt, die niemand beachtet, wenn sie die Straße hinuntergeht. Eine Frau, die unsichtbar geworden ist, uninteressant. Die arme Miss Porter. Sie hatte nicht viel vom Leben.

Sie reißt die Fenster im Wohnzimmer auf, um die Seebrise hereinzulassen. Wohin sie ihrer Arbeit wegen (und Weavers wegen) auch gegangen ist – Tennessee, Washington, die Wüsten von New Mexico –, stets hat sie sich danach gesehnt, zu diesem glitzernden Seeufer, seinen Segelbooten und hoch aufragenden Gebäuden zurückzukehren.

Sie schält sich aus ihrer Bluse, streift ihren Büstenhalter ab und lässt ihre schwitzende Haut von der Brise kühlen. Hier oben im neunzehnten Stock, dem Wasser zugewandt, kann niemand sie sehen. Sie tut es an jedem heißen Abend: ein Ritual, das es ihr gestattet, für einen Moment den kühlen Hauch des Sees an sich heranzulassen. Ihre Brustwarzen verhärten sich in der Zugluft. Ihre Haare bauschen sich. Früher einmal war sie eine sinnliche Frau, eine Frau auf der Suche nach Genuss. Das war allerdings ihr Geheimnis. Und das Verlangen nach Genuss hat nicht nachgelassen, lediglich die Möglichkeiten, es zu befriedigen, sind seltener. Zwischen ihren nackten Brüsten baumelt die Halskette, die Weaver ihr vor langer Zeit geschenkt hat, mit einem winzigen Kästchen aus Gold und Platin daran. Rosalind hat sich von allem getrennt, was mit Weaver zusammenhing, nur nicht von der Kette, einem antiken Stück, das er ihr aus England mitgebracht hat. Das Miniaturkästchen hat einen Deckel, den man öffnen kann. Ein brüchiges Stück Pergamentpapier ist darin verborgen, das Wort Geduld in verblasster brauner Tinte darauf geschrieben. Sie sollte sich auch von der Halskette trennen. Sie sollte Weaver für immer vergessen. Dieses Schmuckstück zu tragen ist kaum besser, als wenn eine Frau einen Verbundenheitsring in Ehren hält. Aber was sie tun sollte und was sie zu tun imstande ist, das sind oft zwei Seiten einer unlösbaren Gleichung.

Nachdem sie ihre Stelle verloren hat, kann sie jetzt kaum noch das Geld für die Wohnung am Lake Shore Drive aufbringen, die sie mit solch hochfliegenden Träumen angemietet hatte. Sie war in die höchsten Kreise der Wissenschaft vorgedrungen. Der Nobelpreisträger Enrico Fermi war ihr Mentor gewesen, hatte an sie geglaubt, auf sie gezählt. Eine Zeit lang durfte seine Meisterschülerin in den warmen Gewässern der Elemententdeckung schwimmen, während sie gleichzeitig mehr Geld verdiente, als die meisten Frauen sich erhoffen konnten. Die atemberaubende Aussicht der Wohnung, die elegante Küche mit dem modernen Herd, der Portier und der hauseigene Minimarkt, all das ruft ihr in Erinnerung, dass sie früher einmal kein gewöhnliches Mädchen war. Jetzt fühlt sie sich weniger als gewöhnlich. Aber zumindest kann es bei ihrem jetzigen Job nicht passieren, dass sie über hundertfünfzigtausend Menschen tötet.

Mitten beim Abendessen klingelt das Telefon. Nachdem sie sich die Mühe gemacht hat, ein Schweinekotelett zu braten, so dünn und traurig es auch ist, wird sie jetzt nicht an das verdammte Telefon gehen. Später, nachdem sie das Geschirr gespült und ein Bad genommen hat, klingelt das Telefon wieder. Sie weiß, wer es ist. Louisa ruft nie nach neun an. Ihre Freundinnen sind zu erschöpft von ihren Kindern, um sich zu dieser Zeit zu melden. Ihr bester Freund, Zeke, ist verreist. Sie spürt, wie sich ihr Kiefer anspannt. Sie könnte beschließen, nicht ranzugehen. Aber die Wissenschaftlerin in ihr erträgt keine unbeantworteten Fragen oder Telefonanrufe.

»Hallo?«

»Rosalind.«

Sie atmet den Schlag in die Magengrube weg, den ihr die wohlklingende Stimme mit dem klaren britischen Akzent verpasst. Er hat diese Woche schon dreimal angerufen.

»Roz. Bist du da?«

»Was willst du?«, fragt sie.

»Dich.« Ihr wird flau im Magen. Er ist alles, was sie verabscheut. Und alles, wonach sie sich verzehrt.

»Weaver, lass mich in Ruhe. Ich mein’s ernst.«

»Hör zu. Du musst mich anhören.«

Er hat kürzlich erst wieder angefangen anzurufen. Nach vier Jahren Schweigen. Nachdem er ihr die Jahre gestohlen hat, in denen sie vielleicht einen Ehemann hätte finden können. Nachdem er sie ihrer Karriere beraubt hat.

Sie hört, wie er tief Luft holt. »Roz, wir standen uns einmal so nahe, wie sich zwei Menschen nur stehen können. Es ging mir besser mit dir. Und ich weiß, dass es dir besser mit mir ging. Bitte sag mir, dass du mich treffen wirst.«

»Nein.«

»Nur ein einziges Mal. Damit ich erklären kann …«

»Was könntest du denn schon erklären?«

»Was passiert ist.«

»Das spielt keine Rolle mehr.« Aber natürlich spielt es eine Rolle. »Du hast mir gesagt, dass ich mich nie wieder bei dir melden soll. Ich bin davon ausgegangen, dass das dein Ernst war.«

»Nein. Nein! Ich werde dir alles erklären. Lass mich dir meine Nummer sagen. Bitte notiere dir die neue Nummer. Hast du einen Stift da?«

Hat sie nicht, und sie hat auch nicht die Absicht, einen zu holen.

»Hyde Park 3-5806. Hast du’s? Hyde Park 3-5806.« Er spricht drängend, hypnotisch. »Ich sage es noch ein drittes Mal. Ich weiß, wie dein Gedächtnis funktioniert. Hyde Park 3-5806. Ruf mich an.« Später, als sie im Bett liegt, läuft die Rufnummer in ihrem Gehirn in Endlosschleife – ein nervtötender Ohrwurm.

Die Männer im Labor nannten einander beim Nachnamen. Daher gewöhnte sie sich an, ihn Weaver zu nennen. Augen, die ständig ihre Farbe änderten, volle braune Haare, ein Grübchenkinn à la Cary Grant. Er war das Sinnbild eines gut aussehenden Mannes. Dass er es wusste, störte sie am meisten an ihm. Seine Überheblichkeit. Seine Selbstgewissheit. Ihr war von Anfang an bewusst, dass der Mann zum Flirten aufgelegt war, und das nicht nur ihr gegenüber. Sein klangvoller Akzent hätte jedes Mädchen entzückt. Weaver war von Cambridge abgeworben worden, um dem Manhattan-Projekt in New York beizutreten. Fermi hatte ihn schließlich, ein Jahr nachdem Rosalind im Labor angefangen hatte, nach Chicago geholt.

Als sie Weaver damals fragte, ob er die Stadt mochte, antwortete er: »Wo ich bin, spielt keine Rolle, solange ich an etwas Wichtigem arbeite.« Sie wollte, dass er Chicago wertschätzte, die Architektur und das Seeufer zur Kenntnis nahm. Sie sagte ihm, es sei die ultimative amerikanische Stadt. Das Herz des Landes. Tatsächlich wusste Weaver gutes Essen und Kunst zu schätzen. »Ihr habt hier verdammt tolle Steaks. Das muss ich euch lassen.« Aber er war ein Mann, der in den Hügeln und Tälern seiner Gleichungen und Theorien lebte und sich die ganze Zeit beweisen musste.

Die Wissenschaft gab ihnen immer Gesprächsstoff. Sie und Weaver liebten es, über Neutronenquellen zu diskutieren. Hatte Fermi sich zu früh vom Berylliumpulver abgewandt? Sie fand, ja. Er nicht. Und was war mit diesem geheimen neuen Element, Plutonium, hergestellt durch den Beschuss mit Uran-238?

»Darin liegt unsere Zukunft«, sagte sie.

»Es ist zu schwer herzustellen.«

»Das ist, was wir auf der Hanford-Anlage erschaffen werden. Da wette ich mit dir um tausend Dollar.«

»Mir wäre lieber, es wären tausend gemeinsame Dinner.« Er streckte die Hand aus, um den Deal zu besiegeln, und führte dann ihre Hand an seine Lippen. Heute schuldet er ihr noch immer die Dinner mehrerer Jahre.

Rosalind hatte damals ihre eigene Vision von dem Projekt. Sie wusste, dass die Spaltung eines einzigen Uranatoms mehr als drei Millionen Mal so viel Energie freisetzen konnte wie fossiler Brennstoff. Nutzbar gemacht und entsprechend gelenkt, konnte diese saubere, unendlich verfügbare Energie konstruktiv eingesetzt werden, um Städte zu beheizen und Maschinen zu betreiben. Aber als sie zu Weaver davon sprach, grinste er nur.

»Meine Liebe, die Nazis arbeiten an einer Atomwaffe. In genau diesem Augenblick, in ihren kleinen Verstecken, während sie ihre Schnurrbärte zwirbeln. Niemand denkt im Moment an irgendetwas anderes als den Krieg. Uns geht es ausschließlich um die Verteidigung.«

Sie war verärgert, aber nicht überrascht. Sie sah ja die Männer um sich herum, war verwirrt davon, wie sehr sie den Krieg genossen, ihn belebend zu finden schienen. Wettpinkeln, sich beweisen, andere besiegen war ihr Ding. Das Wissen, wie man sich das Atom zunutze machte: Konnte das in den Händen von Männern je sicher sein?

2

In einem Restaurant wie dem Berghoff, gesteckt voll mit Familien, Paaren und Sechsergrüppchen, fällt ein einsamer Essensgast zwangsläufig auf, vor allem einer, der so groß ist wie Szydlo. Was der Grund ist, weshalb er um einen Platz an der linken Wand gebeten hat: weit genug entfernt von Rosalind Porters Tisch für vier Personen, nah genug, um sie zu beobachten. Als Rosalind sich zu ihrer Nichte vorbeugt, funkeln ihre goldenen Ohrringe vor ihrem ebenholzfarbenen Haar.

Szydlo beschattet sie jetzt seit zwei Wochen, könnte sie mit geschlossenen Augen zeichnen: das glänzende schwarze Haar kaum gebändigt von Schildpattkämmen, milchweiße Haut, kluge Augen, gewölbte Augenbrauen. Sie könnte Hedy Lamarrs Schwester sein. Einmal ging er auf der Straße dicht an ihr vorüber, nur um ihr nahe zu sein, nicht wie sonst vierzig Schritte hinter ihr. Und was er wahrnahm, war kein Parfüm. Stattdessen war es der Duft von warmem Honig. Er denkt daran, wenn er nachts wach liegt: denkt an dieses reine, runde Aroma von ihr. Und es erregt ihn gegen seinen Willen.

Während er beobachtet, wie Miss Porter mit ihrem Schwager spricht und kopfschüttelnd ihre Schwester betrachtet, wird ihm bewusst, dass er sie bis jetzt immer nur als einsame Gestalt gesehen hat. Daher fasziniert es ihn festzustellen, dass ihr Blick oft auf eine Art zur Seite huscht oder auf ihre Hände fällt, die besagt, dass sie selbst unter Familienangehörigen das Gefühl hat, nicht dazuzugehören.

Das ist, was er über Rosalind Porter gelernt hat: Sie kauft im Discounter ein, und sie wählt einfache, billige Dinge aus, als ob sie aufs Geld achten muss – angeschlagenes Obst und Fleisch aus dem Sonderangebot. Ihr Blick ist stets abwesend, als ob sie mit Fakten und Zahlen beschäftigt wäre. Er hat beobachtet, wie sie einen Bankangestellten auf einen Irrtum bei der Kontoführung hingewiesen hat. Der Filialleiter kam, um sich zu entschuldigen, daher musste sie recht gehabt haben.

Sie ist organisiert, verlässt ihre Wohnung jeden Tag zur gleichen Zeit und kommt zur gleichen Zeit nach Hause. Sie trifft ihre in den Vororten lebenden Freundinnen nur selten. Wenn sie mit ihnen telefoniert – es bereitet ihm ein beschämendes Vergnügen, sie dabei zu belauschen –, schwafeln sie von sich selbst, ihren Kindern und ihren Ehemännern, und sie ermuntert sie die ganze Zeit. Erst am Ende des Gesprächs fragen sie, wie es ihr geht, und legen dann rasch auf. Die Ausnahme ist jemand namens Zeke. Zeke stellt ihr unzählige persönliche Fragen. Er besitzt die ganze Lebendigkeit und weibliche Koketterie, die Miss Porter fehlt. Er ist eindeutig ein alter Freund. Gehen sie abends aus, hakt sie sich bei Zeke ein. Während sie sich unterhalten, sieht sie zum Himmel hoch und lacht. Da ist Liebe zwischen ihnen. Nur nicht die Art, die den Leuten verständlich ist.

Miss Porter hängt wohl keiner Religion an, trägt selten einen Hut und schlüpft oft in bequeme Sandalen, um zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Einmal, auf dem Lake Shore Drive, blieb sie mehr als fünf Minuten stehen, um auf den See hinauszustarren. Szydlo musste in den Schatten eines der großen Häuser dort schlüpfen und hoffen, dass niemand herauskam und ihn wegscheuchte. Er war völlig gebannt von ihrem ausladenden Rock, der sich in der Seebrise wie ein Segel blähte. Ihre schwarzen Locken bauschten sich zu einem üppigen Strahlenkranz. Als sie sich umwandte, sah sie aus, als wüsste sie nicht, wo sie war. Was hatte sie in dem Funkeln des Sees entdeckt?

Während sie jetzt mit ihrer Nichte redet, fällt ihm auf, dass sie auf einmal glücklich und entspannt wirkt. Wie sie dem Mädchen zärtlich übers Haar streicht, wie sie sich zu ihr vorbeugt, all das verrät, wie sehr sie dieses zehnjährige Mädchen wertschätzt, das ihr so verblüffend ähnlich sieht. Wenn Rosalind Porter eine einsame, eiskalte Gestalt ist, dann lässt ihre Liebe zu ihrer Nichte sie warm und gefühlvoll werden.

***

»Soll ich das Wiener Schnitzel oder den Sauerbraten bestellen?«, flüstert Ava Rosalind zu. Ava ist Stammgast im Berghoff, seit sie zwei Jahre alt war. Kein Kinderteller für sie.

»Hast du das Gefühl, du brauchst eine Umarmung oder ein Kichern?«, fragt Rosalind.

»Was ist was?«

»Die Umarmung ist der Sauerbraten. Das Wiener Schnitzel ist mehr Spaß.«

»Warum hab ich das noch nie gegessen? Wiener Schnitzel. Wiener Schnitzel! Sag du es mal.«

Rosalind sagt »Wiener Schnitzel, Wiener Schnitzel, Wiener Schnitzel«, bis sie beide lachen. Die Abende mit Louisa, Henry und Ava sind Fixpunkte in Rosalinds Leben. Louisa ist zwanzig Jahre älter als Rosalind. Nachdem Louisa geboren war, konnte ihre Mutter kein weiteres Kind mehr bekommen. Und dann, in ihrem zweiundvierzigsten Lebensjahr, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass sie wieder schwanger war. Sechs Monate nachdem die kleine Rosalind das Licht der Welt erblickt hatte, starb die Mutter an Eierstockkrebs. War es der Krebs, der sie letztendlich wieder fruchtbar gemacht hatte? Oder war es die Schwangerschaft, die den Krebs seinen verhängnisvollen Lauf nehmen ließ? Das Ergebnis war so oder so ein mutterloses Kind, von der großen Schwester Louisa aufgezogen.

Jahr für Jahr wurde Rosalind an jedem einzelnen ihrer Geburtstage die Geschichte ihrer Erziehung aufgetischt. Wie oft hat sie die Erzählung gehört, wie Dr. Porter, nachdem er seine Frau verloren hatte, eine Haushälterin einstellte, damit sie sich um seine Tochter kümmerte? Wie er eines Winternachmittags nach Hause kam und das Baby schon vom Gehsteig aus wimmern hörte und Rosalind auf dem Boden liegend vorfand, nackt bis auf eine schmutzige Windel. Als er sie hochhob, war ihre Haut eiskalt. Er hatte Leichen obduziert mit Lippen, die weniger blau waren. Und wo war die Haushälterin? Im Esszimmer, besinnungslos unter dem Esszimmertisch, ihr Rock hochgerutscht, unter dem ein rosa Strumpfhalter mit einer Tasche für einen Flachmann hervorschaute. Und so kam es, dass Louisa dich in ihre Obhut genommen hat.

Das war die Geschichte, die Rosalind hörte, lange bevor sie ihre Bedeutung verstand. (Warum lag die Haushälterin auf dem Boden? Was ist ein Flachmann?) Als sie alt genug war, befragte sie Louisa, ihren Vater und Henry. Jeder von ihnen erzählte ihr den Rest ein wenig anders.

Von ihrem Vater erfuhr sie, dass die Nachbarin ihnen, nachdem die unzuverlässige Haushälterin weggeschickt worden war, ihr Hausmädchen »lieh«, während sie selbst den Sommer über in Michigan war. Aber eine Kinderfrau musste gefunden werden, und zwar schnell. Der Vater lehnte eine Bewerberin nach der anderen ab. Er war sechsundfünfzig Jahre alt und ein gefragter Mann: Er hatte seine Arztpraxis aufgegeben, um als Gerichtsmediziner für Cook County zu arbeiten. Das organisierte Verbrechen war auf dem Vormarsch. Kaum eine Woche verging, in der »Dr. Joe« nicht in der Tribune abgebildet war, neben einer aufgedunsenen Leiche stehend, die aus den Tiefen des Chicago River gefischt worden war. Dr. Joe war eine Kapazität! Die Schlagzeilen lauteten: LAUTDR. JOESANALYSEWURDE O’FLAHERTYAUSDEMOFFENENFENSTERHERAUSMITEINEMTOMMY-GEWEHRERSCHOSSEN!

»Ich war ein gefragter Mann. Wie hätte ich mich denn um ein Baby, ein Mädchen noch dazu, kümmern sollen?«, erklärte ihr Vater ihr. »Und ich war zu dem Schluss gekommen, irgendeine nette Familie, die Empfängnisprobleme hatte, könnte dir ein besseres Leben bieten.«

»Du wolltest mich weggeben?«

»Na ja, es war nur zu deinem Besten – und zu meinem natürlich.« Sie glaubt nicht, dass sie je über diesen Satz hinweggekommen ist.

Louisa erklärte ihrem Vater: »Wenn du das Baby weggibst, wird Mutter sich im Grab umdrehen.«

»Was soll ich denn sonst tun?«, fragte er. »Estelles Haushälterin läuft mit einem Pamphlet über den theosophischen Mystizismus in ihrer Schürzentasche herum. Von dieser Hilfskraft großgezogen, wird deine Schwester eine Wilde oder, noch schlimmer, eine Demokratin! Ich bin nicht dazu bestimmt, die Verantwortung für ein Baby zu übernehmen. Ich bin ein Mann!«

Ein Mann. Männer leisteten wichtige Arbeit. Frauen bildeten das Rückgrat. Das war, was ihre Mutter Louisa beigebracht hatte. Also könnte sie doch dank ihrer hervorragenden Schulnoten gut dafür sorgen, dass die Haushaltskasse am Monatsende stimmte. In ihren freien Augenblicken könnte sie sogar zum Vergnügen ein Buch lesen. Das College kam nie auch nur in Betracht.

Mit einundzwanzig hatte Louisa erreicht, was ihre Mutter einst als den größten Erfolg einer Frau angesehen hatte: einen guten Ehemann an Land zu ziehen. Sie und Henry lebten ein paar Blocks von ihrem Vater entfernt in einem brandneuen Bungalow. Sie freuten sich auf ein paar unbeschwerte, romantische Monate mit Frühstück im Bett, bevor sie eine Familie gründen wollten. Es war Ende 1920. Der Krieg war vorbei. Frauen durften wählen, zeigten ihre Fesseln. Sie und Henry planten eine Fahrradtour in Wisconsin. Sie redeten sogar darüber, mit dem Zug nach New York City und dann auf einem Dampfer nach Paris zu fahren. »Wir waren verliebt. Wir wollten erst einmal ein Paar sein. Keine Familie. Ich wollte ein hübsches Mädchen mit einem Mann an meinem Arm sein«, erzählte Louisa Rosalind Jahre später, noch immer verbittert, wie es schien.

Denn anstatt ihre kleine Schwester den Theosophen zu überlassen, brachten Louisa und Henry Rosalinds Gitterbettchen und Hochstuhl zu sich nach Hause und stellten sich auf schlaflose Nächte ein. Wie alle verlassenen Babys war Rosalind bedürftig. »Du hast jedes Mal deine Finger in meinen Arm gekrallt, wenn ich versucht habe, dich abzulegen. Wie ein Affenbaby«, sagte Louisa gern.

Bei der Beschreibung windet sich Rosalind noch immer.

Henrys Sichtweise war stets freundlicher gewesen. »Du warst etwas ganz Besonderes! Was für ein Geschenk! Du hast mit neun Monaten gesprochen. Bis hundert gezählt, als du eineinhalb warst. Und dein erstes Wort war ›warum‹. ›Warum meinen Löffel wegnehmen?‹ ›Warum schlafen?‹ ›Warum?‹ Mit zweieinhalb, als eines Tages die Milch auf dem Tablett deines Hochstuhls überschwappte und auf den Boden tropfte, hast du gefragt: ›Warum Kreis?‹« Henry erzählte ihr, er sei vom Frühstückstisch aufgestanden, um zu sehen, wohin sie zeigte, und hätte festgestellt, dass jeder Tropfen einen genau gleichförmig ausstrahlenden Ring in der bereits angesammelten Milch bildete.

»Gute Frage«, sagte er zu ihr. »Na ja, ich würde sagen, jeder Tropfen Milch ist rund. Das heißt, wenn er auf die bereits verschüttete Milch trifft, erzeugt er einen runden Abdruck. Einen Kreis.«

Henry fuhr fort, ihr zu erklären, was er über Oberflächenspannung wusste. Wie sich Moleküle aus allen Richtungen miteinander verbanden, sodass jeder Tropfen eine Kugel bildete. Er zeichnete ihr sogar ein Diagramm.

»Das ist doch albern. Das kann sie unmöglich verstehen«, beschwerte sich Louisa.

Aber wenn er Rosalind ins Bett gesteckt hatte und die Jalousie herunterziehen wollte, zeigte sie zum Vollmond. »Warum ist der Mond ein Kreis? Ist der Mond Moleküle?«

»Der Mond?«, fragte er. »Ja.«

»Alle zusammen Moleküle? Aus allen Richtungen?« Sie bewegte die Hände, um es zu demonstrieren. Er sah lächelnd zu dem Gestirn am Himmel hoch. »Und das war der Moment, Kleine, in dem ich wusste, dass du Wissenschaftlerin werden würdest.«

***

»Ich überlege, ob ich nicht versuchen sollte, wieder eine Stelle in der Wissenschaft zu finden«, wagt Rosalind sich jetzt leise vor. Sie sieht jeden am Tisch an, wendet sich aber hauptsächlich an Henry. Ihre Liebe zur Wissenschaft hat etwas Beängstigendes für sie selbst – es ist eine Liebe, von der sie sich abgewandt hat.

»Gut so«, sagt Henry. »Gut so.«

»Ich vermisse es«, sagt sie.

»Alles andere wäre seltsam.«

»Ich versuche, zu Vorträgen zu gehen. Ich bekomme noch immer das Journal of Applied Physics und das American Journal of Physics. Ich versuche zu lesen, was ich kann.«

Louisas Nasenflügel blähen sich. »Jetzt, wo die ganzen GIs wieder da sind, meinst du wirklich, eine Stelle in der Wissenschaft würde einer Frau offenstehen?«

Rosalind macht den Mund auf und wieder zu.

»Du bist etwas Besonderes«, sagt Henry. »Du kannst das, genau wie du es früher gekonnt hast.«

»Du kannst es, Rozzie!«, bekräftigt Ava. Aber Rosalind wird bewusst, dass Louisa recht hat: Wer wird sie schon einstellen, vor allem nach Weavers Bericht?

Henry streckt einen Arm über den Tisch aus und drückt ihre Hand. »Das ist deine Bestimmung. Du musst nur wieder daran glauben.«

Während Ava voller Begeisterung ihr Wiener Schnitzel isst und Louisa sich über ihre grässlichen neuen Nachbarn und ihre Angst vor dem Kommunismus auslässt, furcht Rosalind die Stirn, sie schüttelt den Kopf und sieht sich um. Sie wünschte, sie könnte sich von diesem flauen Gefühl ablenken, das in ihr rumort – dem Gefühl, dass sie nie wieder glücklich sein wird. Im Berghoff wimmelt es von Familien. Liebespaaren. Alle anderen scheinen eine schöne Zeit zu haben. Und dann entdeckt Rosalind an einem Tisch an der Wand, nahe der Bar, den Mann. Selbst im Sitzen ist er größer als alle anderen um ihn herum. Sie bemerkt seinen Bürstenschnitt, seine gleichmäßigen Züge, die Tatsache, dass sein Tisch für eine Person gedeckt ist. Warum geht dieser gut aussehende Mann allein zum Dinner? Und dann, obwohl die Bar ihr die Sicht halb versperrt, bemerkt sie, wie er sich das Handgelenk an die Rippen presst. Ihr Mund ist auf einmal wie ausgedörrt. Er ist es. Sie ist sich ganz sicher. Der Mann, der ihr gestern nach Hause gefolgt ist. Er sieht auf, und ihre Blicke treffen sich. Sie kann durch den halben Raum hinweg erkennen, dass seine Augen blau sind. Ein absolut außergewöhnliches, metallisches Blau. Sie verliert den Faden des Gesprächs mit ihrer Schwester. Ist er ein Verehrer oder ein Verrückter? Ein Schauer durchläuft sie.

»Bist du taub, Roz?«, fragt Louisa. »Ich habe dich eben gefragt, in welchen Vorort Jane Ann gezogen ist?«

»Oh … entschuldige … Glenview.«

»Richtig. Glenview. Das ist der, den ich mir für uns ansehen wollte.«

»Wir ziehen nicht in einen Vorort«, erklärt Henry entschieden. »Geht es dir gut, Roz? Du bist ja auf einmal ganz blass.«

»Schon gut. Entschuldige. Ich war in Gedanken woanders.« Viele Männer wurden im Krieg verwundet. Vermutlich ist es gar nicht derselbe Mann. Trotzdem, ihr Herz hämmert. Sie legt Ava einen Arm um die Schultern.

»Und, wie viel Spaß hat dieses Wiener Schnitzel gemacht?« Sie presst die Worte durch die Enge in ihrer Kehle hervor.

»So viel Spaß! Das ist jetzt mein Lieblingsessen.« Als Rosalind den Blick hebt, sieht sie, wie die azurblauen Augen des Mannes von ihrem Gesicht huschen, so plötzlich, wie Finger von einer heißen Herdplatte gerissen werden.

3

In der darauffolgenden Woche entdeckt Rosalind ihn, als er durch den Regen sprintet, um ihren Bus an der nächsten Haltestelle zu erreichen. Triefend nass steigt er ein, ohne ihren Blick zur Kenntnis zu nehmen. Später spürt sie, wie er sie beobachtet, und ihre Haut beginnt zu kribbeln. Was will er von ihr? Zwei Tage später bemerkt sie ihn bei Janice’ Parfümangeboten, kurz vor Ladenschluss. Er schiebt Flakons hin und her, als würde er sie begutachten. Aber als Janice ihn fragt, ob sie ihm behilflich sein kann, schüttelt er den Kopf und geht. Rosalind wird immer beklommener zumute. Warum ist dieser Mann ständig da? Sie überlegt, ob sie die Polizei verständigen soll, aber er hat nichts Unrechtes getan. Wenn er ihr auf der Straße nahe kommen sollte, denkt sie, kann sie ja schreien.

Zeke, der eine Freund, der sie liebt, egal was sie ihm über sich anvertraut, hat begonnen, ihn den »Schattenmann« zu nennen. Unzertrennlich seit ihrer Jugend, sind sie und Zeke der größte Bewunderer des jeweils anderen und sehen sich oft. Die Tatsache, dass er sie nie so lieben kann, wie ein Mann eine Frau liebt, ist eine traurige Wahrheit, die sie irgendwie noch enger zusammenschweißt. »Ich will eine peinlich genaue Beschreibung dieses Burschen, Bunny. Jedes. Einzelne. Detail«, erklärt Zeke.

»Na ja, er ist attraktiv, auf eine irgendwie grüblerische Art. Unheimlich groß. Strahlend blaue Augen. Sein Haar ist kurz, blond. Er bewegt sich wie ein Athlet. Ich verstehe nicht, warum so einer mir folgen sollte.«

»Du weißt, ich liebe Rätsel.« Er räuspert sich. »Okay, zwei Möglichkeiten. Er findet dich attraktiv, oder du stehst auf seiner Abschussliste.«

»Würde ein Mann einer Frau denn so hartnäckig folgen, wenn er sie einfach nur mag?«, fragt sie.

»Du siehst gut aus«, sagt Zeke.

»Ich glaube nicht, dass er mir aus einem guten Grund folgt.«

»Vielleicht ist der arme Kerl in Liebe entbrannt und zu schüchtern, um dich anzusprechen. Selbst gut aussehende Männer können schüchtern sein, weißt du.«

Sie seufzt. »Ich würde sagen, die Chancen dafür stehen ungefähr bei zwölf Prozent – und bei achtundachtzig Prozent dafür, dass da irgendetwas Unheilvolles im Gange ist. Aber trotzdem danke, dass du versucht hast, mich aufzumuntern.«

Später, allein, als sie über den Mann nachdenkt, wird sie ganz zittrig und muss sich einen kräftigen Schluck Chianti aus einer halb geleerten Flasche einschenken, die Zeke ihr vor über einem Jahr mitgebracht hat. Als sie 1947 ihren Job verlor, fing sie an, ein bisschen zu trinken, und dann noch ein bisschen mehr, in dem Versuch, ihre Einsamkeit zu bekämpfen und die Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Was so wehtat, war nicht nur der Verlust von Weaver; es war der Verlust ihrer selbst als Wissenschaftlerin. Eben waren sie und ihre Physikerkollegen noch dabei, gemeinsam unentdecktes Terrain zu durchqueren. Niemand hatte je die andere Seite erreicht, und sie konnten sie sehen, konnten sie praktisch schon berühren. Rosalinds Ideen erleichterten es ihnen, das Unmögliche möglich zu machen. Und dann: Ende. Sie wurde von der Party ausgeschlossen, wurde geschnitten. Kein Weaver. Keine Wissenschaft. Das Vergessen im Alkohol schien ihre letzte Zuflucht zu sein. Doch sie fügte sich Schaden zu. Morgens wachte sie benommen auf. Ihr Gedächtnis – das Fermi einst fotografisch genannt hatte – war beeinträchtigt. Sie konnte keine komplexen Zahlen mehr im Kopf multiplizieren oder sich die eintausend Details gewöhnlicher Momente in Erinnerung rufen, wie sie es früher gekonnt hatte. Einmal wachte sie auf dem Boden liegend auf. Genau wie die berüchtigte Haushälterin ihres Vaters mit dem Flachmann in der Hand.

Um sich zu retten, wandte sie die Wissenschaft an. Sie rechnete aus, wie lange es dauerte, den Alkohol vollständig auszuscheiden. Sie studierte, wie Alkohol im Körper umgewandelt wird, seine Auswirkungen auf die Leber. Seine langfristigen Folgen. Die Mathematik der Nüchternheit, sagte sie sich. Sie ging auf kalten Entzug. Jeden Abend versuchte sie, immer größere Zahlen im Kopf zu multiplizieren. Sie betrachtete Fotografien und testete, an wie viele Details sie sich später erinnern konnte. Sie stellte Berechnungen an. Sie führte Tabellen. Und sie behielt Zekes Flasche mit Chianti, um sich vor Augen zu halten, dass sie die Macht über ihr Verlangen hatte, sich vor dem Schmerz zu verkriechen. Sie hätte die Flasche wegwerfen sollen, denkt sie jetzt. Es ist lange her, seit sie zuletzt einen Tropfen Alkohol angerührt hat. Und dieser Wein ist mit Sicherheit gekippt. Schwarze Rückstände sinken auf den Boden ihres Glases. Aber bei dem Gedanken an diesen hochgewachsenen Mann mit den blauen Augen, dessen Interesse an ihr so überwältigend zu sein scheint, kippt sie ihn hinunter, mit Sedimenten und allem.

Am Freitag, als sie vom Zahnarzt kommt, entdeckt sie ihren Verfolger an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite, wo er stirnrunzelnd Zeitung liest. Es ist Zeit, dieser Sache ein Ende zu setzen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, und ihre Hände sind zu Fäusten geballt, als sie auf ihn zutritt. Er sieht erschrocken auf.

»Warum verfolgen Sie mich?«, fragt sie. Sie sind umgeben von Hunderten von Leuten. Trotzdem hämmert ihr Herz.

Sonnenfältchen umrahmen seine strahlenden, kornblumenblauen Augen. Lange blonde Wimpern und die plötzliche Röte seiner Wangen verleihen ihm eine gewisse Verletzlichkeit. Sie versucht, sich darauf zu konzentrieren.

»Miss Porter, ja, kann ich Sie auf eine Tasse Kaffee einladen?« Großer Gott. Er weiß ihren Namen.

»Ich muss zurück zur Arbeit.«

»Wenn Sie sich den Zahn hätten ziehen lassen, hätten Sie sich auch verspätet.« Er zeigt auf das Gebäude, aus dem sie eben gekommen ist. »Ihre Vorgesetzte wird nicht dahinterkommen.«

»Woher wissen Sie, wo ich war? Wer sind Sie?«

»Nur auf einen Kaffee.« Er nickt in Richtung des Neonschilds auf der anderen Straßenseite. WINDYCITYDONUTS. Darin sitzen jede Menge Leute.

»Wie kommen Sie darauf, dass ich mit Ihnen Kaffee trinke? Ich will, dass Sie aufhören, mich zu verfolgen. Oder muss ich erst die Polizei rufen?«

Er holt tief Luft und greift mit einem gequälten Lächeln in sein Jackett. Er zückt eine abgegriffene Brieftasche und zeigt ihr eine Messing-Dienstmarke und einen Ausweis. »Mein Name ist Charles Szydlo.« Seine Stimme ist sanft und vorsichtig. »FBI.«

Sie ist so verblüfft, dass sie einen Moment braucht, bevor sie hervorstoßen kann: »Sie machen Witze.«

Er schüttelt den Kopf.

»Was könnten Sie denn von mir wollen?«

»Kommen Sie und setzen Sie sich für ein paar Minuten mit mir«, sagt er, während er noch einmal in Richtung des Cafés nickt. »Ich werde es Ihnen erklären.«

Sie zögert, dann nickt sie. Ein FBI-Agent. Die Unwahrscheinlichkeit dieser Tatsache verblüfft sie. Als sie an der Ecke die Straße überqueren, versucht sie, ein Gefühl für ihn zu entwickeln. Aufrecht, einzeln. Ein ehemaliger Soldat wahrscheinlich. Vor dem Krieg wird er ein anderer Mann gewesen sein. Die Fältchen um seine Augen verraten ihr, dass er früher einmal viel gelächelt hat. Jetzt lächelt er überhaupt nicht. Er zeigt durch das Schaufenster auf eine Kuchenplatte mit Donuts. »Ich nehme einen von denen. Sie auch?«

Sie zuckt die Schultern. »Ja, gut.«

Beim Bezahlen drinnen hält er seine Brieftasche mit derselben Hand, mit der er auch das Geld herausnimmt. Seine Finger sind lang und schlank. Seine andere Hand, bemerkt Rosalind, ist mit einem Spinnennetz aus Narben und verdickter Haut überzogen. Sie hat unwillkürlich Mitleid mit ihm wegen seiner Verletzung. Sie verspürt den Drang, die Hand auszustrecken und die wulstigen Striemen zu berühren.

Bei dem Tisch am vorderen Fenster angelangt, zeigt er auf die Sitzbank, sagt: »Miss Porter«, und bedeutet ihr, Platz zu nehmen. Ein Schauer durchläuft sie, als sie ihren Namen wieder aus seinem Munde hört. Ist er hier, um sie wegen irgendetwas zu beschuldigen? Sie spürt das Schlagen ihres Herzens in der Kehle.

Er rutscht ihr gegenüber in die Sitznische, nimmt den Hut ab und legt ihn neben sich. »Nun, Sie warten auf eine Erklärung …«

Eine Bedienung kommt, bevor er noch mehr sagen kann, stellt zwei weiße Becher auf den Tisch und beginnt, Rosalind einzuschenken.

»Keinen Kaffee für mich«, sagt sie.

»Aber irgendetwas wollen Sie doch sicher trinken?«, fragt er. »Einen Tee vielleicht?«

Sie nickt.

»Bitte bringen Sie der Dame Tee.«

»Wollen Sie den Kaffee, den ich eben eingeschenkt habe?«, fragt ihn die Bedienung.

Er zieht den Becher schweigend zu sich heran, öffnet die Tüte mit einer Hand, dann zieht er eine Papierserviette aus dem silbernen Ständer und legt einen der mit Schokolade überzogenen Donuts aus der Tüte vor Rosalind hin.

»Ehrlich gesagt bin ich selbst kein großer Kaffeetrinker. Dachte nur, zu Donuts braucht man welchen.« Er nimmt einen Bissen. »Die sind gut. Sie sollten Ihren kosten.« Sie kann sehen, dass der Mann sich bemüht, sich freundlich zu geben, ungezwungen.

»Warum bin ich hier?«, fragt sie.

Er beugt sich vor, starrt sie einen Moment an, bevor er das Wort ergreift. »Sie haben mit Fermi am Manhattan-Projekt gearbeitet, richtig?«

Jahrelang wurde sie angewiesen, nie ein Wort über ihre Arbeit zu verlieren. Nur zu sagen, dass sie einen Job im Metallurgischen Labor hatte. Was die Reisen nach Oak Ridge und Hanford und Los Alamos betraf – oh, Gott, diese endlosen Wüstennächte im Bett mit Weaver –, da hatte sie ihrer Familie immer gesagt, sie fahre für ein paar Tage mit Freundinnen weg. Und jetzt sitzt sie hier Mr. FBI gegenüber und sagt lieber erst mal nichts. Sie beobachtet, wie er seine versehrte Hand verbirgt. Egal, wie lange es her ist, seit sie ihren Job verloren hat, sie beschützt das Projekt noch immer.

Er starrt sie mit diesen wasserblauen Augen an. »Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu Thomas Weaver«, fordert er sie auf.

»Weaver?«, fragt sie. »Warum?«

»Er interessiert uns.«

»Na ja, mich interessiert er nicht mehr. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und ich will mit Sicherheit nicht über unsere ›Beziehung‹, wie Sie es nennen, sprechen.«

Szydlo lehnt sich nur zurück und schüttelt den Kopf. »Auf den Mund gefallen sind Sie schon mal nicht«, sagt er.

»Freut mich, dass ich Sie amüsiere.«

Er nimmt einen Schluck Kaffee. »Ich möchte wetten, Sie schüchtern viele Männer ein. Eine Kernphysikerin.«

»Nicht mehr.« Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. »Ich verkaufe Schmuck.« Selbst nach dreieinhalb Jahren verspürt sie noch immer ein ironisches Kribbeln dabei, die Worte laut auszusprechen.

»Waren Sie überrascht, als Weaver angefangen hat, Sie wieder anzurufen?«

»Woher … Woher wissen Sie, dass er angerufen hat?«

»Ich weiß, dass Sie Nein gesagt haben. Sie haben ihn nicht trotzdem getroffen?«

»Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich habe ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen.«

»Um genau zu sein, haben Sie ihm gesagt …« Er zückt ein kleines Notizbuch aus seiner Brusttasche. »Halt dich aus meinem Leben raus.« Er sieht bedeutungsvoll auf.

»Ich … Woher …?«

»Wir haben Ihr Telefon angezapft.«

Sie braucht einen Moment, um diesen Brocken zu schlucken. Vorgestern hat sie sich bei ihrer Freundin Marie über ihre Menstruationskrämpfe beklagt. Hitze kriecht ihren Nacken hoch.

»Es tut mir leid, dass wir Ihre Privatsphäre verletzen mussten«, fährt er fort. »Wir hatten natürlich einen Gerichtsbeschluss.«

»Ich habe nichts Unrechtes getan.«

»Wir sind ja auch nicht hinter Ihnen her.«

»Und doch verfolgen Sie mich. Sie sind übrigens nicht sehr gut darin. Ich habe Sie öfter bemerkt, als ich zählen kann.«

»Wie hat Ihr Freund mich genannt? Den Schattenmann? Es ist schwer, jemanden zu beschatten, wenn man zwei Meter groß ist.«

Rosalind erinnert sich, wie sie zu Zeke gesagt hat, der Schattenmann sei bedrohlich, aber attraktiv, und ein Schauer durchläuft sie. Sie hatte ihn im Detail beschrieben. Diese Augen!

»Ich musste nur sichergehen, dass Sie nicht einer von Weavers Kontakten sind, bevor ich Sie anspreche.«

»Kontakte? Was soll das denn heißen?«

»Ich weiß, dass Sie zu Mr. Weaver gesagt haben, dass Sie ihn nicht treffen wollen. Wir – das FBI – hätten gern, dass Sie Ihre Meinung ändern.«

»Augenblick. Ich bin verwirrt.«

Die Bedienung bringt ihr einen Becher heißes Wasser, sagt: »Fast hätte ich’s vergessen«, zieht einen Teebeutel aus ihrer Schürzentasche, reißt die Verpackung herunter und wirft den Teebeutel in den Becher, bevor sie davonschlurft.

»Wir wollen, dass Sie diese Nummer anrufen, die er Ihnen gegeben hat. Dass Sie anfangen, ihn wieder zu treffen.«

»Warum?«

»Weil er Sie wieder in seinem Leben haben will. Und wir müssen wissen, was er im Schilde führt. Erinnern Sie sich an die Nummer, die er Ihnen gegeben hat?«

»Hyde Park 3-5806.«

Er sieht sie bewundernd an.

»Was will das FBI von Weaver?«

»Wir glauben, dass er in ein paar unschöne Dinge verstrickt ist. Sie haben ja bereits gesehen, wie erbärmlich schlecht ich darin bin, andere Leute zu beschatten. Helfen Sie mir aus, dann erzähle ich Ihnen mehr.« Er schenkt ihr ein schiefes Grinsen. Also kann er doch lächeln. Er ist noch mal attraktiver, als sich sein Gesicht aufhellt, auch wenn es nur ein Aufflackern ist. »Sie standen sich einmal sehr nahe«, sagt er auffordernd.

»Genau das habe ich in letzter Zeit zu vermeiden versucht.«

Er nickt. »Ich weiß, dass es nicht gut geendet hat.«

Sie ist konzentriert mit ihrem Teebeutel beschäftigt, taucht ihn immer wieder ins Wasser. Nicht gut geendet? Weaver hat sie von allem getrennt, was in ihrem Leben wichtig war.

»Was, glauben Sie, hat er getan?«

»Oder wird er vielleicht noch tun«, ergänzt er.

»Etwas so Schlimmes, dass Sie diesen ganzen Aufwand betreiben?«

Er nickt ernst.

»Könnten Sie ihn nicht einfach festnehmen und dann an den Zehen aufhängen oder was immer Ihre Leute zu tun pflegen?«

»Wir wollen Weaver noch nicht festnehmen. Wir wollen, dass er seine Kontakte preisgibt, und ihn dann auf frischer Tat ertappen.«

»Auf frischer Tat, wobei?«

Als sie den Blick hebt, sieht sie, dass Szydlo sie mit zusammengekniffenen Augen mustert, ihre Vertrauenswürdigkeit abschätzt.

»Fühlen Sie sich ihm gegenüber noch immer zur Loyalität verpflichtet?«

»Ich hasse den Mann.«

»Dann könnten wir Sie vielleicht überreden, uns zu helfen?«

»Was, glauben Sie, hat er getan? Ich habe es verdient, das zu erfahren.«

Er fängt ihren Blick auf und sieht sie eine ganze Weile an, ohne ein Wort zu sagen.

»Ihn auf frischer Tat wobei ertappen?«, fragt sie noch einmal.

»Es ist kein Bagatelldelikt.«

»Was ist kein Bagatelldelikt?«

»Hochverrat.«

4

Halb elf am Abend, und auf den FBI-Fluren ist alles still. Selbst die polnischen Putzfrauen – die regelmäßig Novenen dafür beten, dass Charlie eine ihrer Töchter heiraten wird – haben ihre Staubsauger weggeräumt und sind nach Hause gegangen. Die neu installierte Klimaanlage hat sich ausgeschaltet, deshalb kann Charlie das Parfüm der letzten Telefonistin riechen. Er geht hinüber zu der Fensterfront und drückt ein Fenster auf. Er genießt die feuchte Brise auf seinem Gesicht, nimmt das Schillern der Großstadtlichter wahr, streckt die Hand über das Fenstersims aus, um das Prickeln des Regens zu spüren. Im Radio haben sie an diesem Morgen gemeldet, dass die Temperatur heute Nacht abfallen soll. Schon jetzt ist es deutlich kälter.

Er hat mehr Telefonüberwachungen abgesessen, als er zählen kann, im Allgemeinen mit einem guten Buch, Tagträumereien. Heute Abend hat Hemingways Über den Fluss und in die Wälder den Zweck nicht erfüllt. Das Kreuzworträtsel in der Tribune war auch zu schnell gelöst. Und alles, was von dem Braten-Sandwich von Keeley’s noch übrig ist, sind ein paar Krusten, in weißem Papier zu einer Kugel zusammengedrückt. Er wird allmählich gereizt und nervös. Warum hat Miss Porter Weaver nicht angerufen? Als sie sich verabschiedeten, hatte er gesagt: »Rufen Sie ihn heute Abend an, Miss Porter. Tun Sie es für Ihr Land.« Sie lächelte sogar, als er das sagte. Frauen. Mein Gott. Er weiß nicht, wie man sie dazu bringt, auch nur eine einzige verdammte Sache zu tun.

Nachdem er aus Matsushima zurückgekehrt war, als Linda – er war sich so sicher gewesen, dass sie auf ihn warten würde – ihm das Herz zerrissen hatte, war er dem FBI beigetreten, um Frauen aus dem Weg zu gehen. Wie die Armee war auch das FBI eine männliche Bastion aus Fakten und Informationen. Und zudem eine Chance, in einer Welt, die über die Maßen schlecht war, Gutes zu tun. Nach dem Krieg nahmen sie auch verkrüppelte Männer wie ihn, wenn sie an der FBI-Akademie Höchstleistungen brachten. Auch darin lag ein Teil des Reizes. Besser als die anderen zu sein, Erwartungen zu übertreffen. Athletisch, von Natur aus sorgfältig und detailorientiert, ist er gut in dem, was er tut, plus: Hier muss er kaum je einer Frau gegenübertreten, abgesehen von einer gelegentlichen Sekretärin.

Zuerst wurde er nach Peoria abgestellt. Er hatte nicht gewusst, dass ein Job so langweilig sein konnte. Aber er war noch immer dabei, von seinen Jahren in Matsushima zu genesen, und die Anonymität von Peoria war ihm recht. Niemand kannte ihn gut genug, um zu fragen, warum er so ausgezehrt, so erschöpft aussah. In Chicago hatte er den Schmerz des Krieges ausgeblendet, indem er sich beschäftigte. Zuerst schloss er sein Jurastudium in Rekordzeit ab, und dann ließ er sich fürs FBI ausbilden. Die verschlafene Stille von Peoria hingegen begünstigte den Schmerz. Diese Wochen der Langeweile gaben ihm Zeit, seine Kriegserfahrungen aus jeder Pore auszuschwitzen, ein Leben voller Vertrauen und Unschuld zu betrauern.

Als er den Anruf bekam, dass er zurück nach Chicago versetzt werden würde, war er überrascht und erleichtert zugleich. Er kehrte in die Kellerwohnung im Haus seiner Schwester zurück, in der er schon während seines Jurastudiums gewohnt hatte – und hat sie irgendwie noch immer nicht verlassen.

Die Versetzung nach Chicago erfolgte aus einem einzigen Grund: weil er Polnisch sprach. Die meisten Agenten kehrten nie zu ihren Hauptbüros zurück. Es hat etwas fast Grausames, wie das FBI Leute an Orte abstellt, an die sie freiwillig niemals gehen würden. Aber in Chicago gilt es, polnische Gangster zu schnappen, da sind polnische Bürger, die Schutz brauchen, und sie sagten Charlie, seine Fähigkeiten als Übersetzer würden von unschätzbarem Wert sein. Dann, nach nur zwei Wochen, in denen er Jimmy »Bananas« Banasiak jagte, wurde er zu dem Spionageteam versetzt, wo er seitdem sein Polnisch nicht ein einziges Mal benutzt hat. Jetzt ist es sein Job, russische Spione zu schnappen.

Das FBI steht an vorderster Front des Kalten Krieges, und Charlie steht an der Kampflinie. In den letzten sechs Monaten hat der Senator für Wisconsin, McCarthy, immer wieder verkündet, dass selbst das Außenministerium von Spionen infiltriert ist. Die Bürger rechnen inzwischen damit, dass sowjetische Spione aus Gullys auftauchen. Beim Elternabend fängt man an, die anderen Eltern misstrauisch zu beäugen, beiläufige Bemerkungen alter Freunde bei Cocktails werden hinterfragt. Niemand hasst die Kommunisten mehr als FBI-Direktor J. Edgar Hoover, aber Bürogerüchten zufolge ist selbst er ärgerlich auf Senator McCarthy. »Lügen und Übertreibungen untergraben das ganze FBI«, erklärte er. Das stimmt: Die neue Angst vor den Roten führt in viele Sackgassen.

Aber das, woran Charlie arbeitet – die Leute dingfest zu machen, die Informationen zum Bombenbau an die Russen weitergegeben haben –, nun ja, das ist real und dringend zugleich. Als die Russen im vergangenen Jahr ihre Version der Atombombe testeten – viel früher, als irgendjemand erwartet hatte –, erschütterte das die Welt. Und jetzt haben sie Klaus Fuchs geschnappt, einen deutschstämmigen Wissenschaftler, der in Los Alamos gearbeitet und für die Russen spioniert hat. Er hat ausgeplaudert, was er weiß, nur leider haben die Russen dafür gesorgt, dass er nie die Namen anderer Wissenschaftler erfahren hat, die ihnen zuarbeiteten. Fuchs behauptete, gehört zu haben, dass ein anderer Wissenschaftler versprochen hat, Informationen über die bislang noch hypothetische Wasserstoffbombe weiterzugeben.

Charlie konzentrierte sich aus einer Reihe von Gründen (zeitlicher Ablauf, Zugangsmöglichkeiten, Beweise für frühe Sympathien für die Kommunisten) auf Weaver, und letzten Monat war er sich endlich sicher genug, um sich mit seinem Plan, Miss Porter zu rekrutieren, an Binder zu wenden. Er hatte vorgehabt, jemand anders dafür abzustellen, die Wissenschaftlerin zu beschatten und zu bezirzen, jemanden wie Dick Hazelmill. Dick hat immer irgendeine Frau am Start, wenn auch meist vulgäre, die keine zwei zusammenhängenden Sätze sagen können. Binder schnaubte spöttisch und blies Charlie eine Rauchwolke ins Gesicht.

»Eine Physikerin? Sie ist zu scharfsinnig für Hazelmill. Sie sind der schlaue, sensible Typ, Szydlo. Eine kluge Frau wird sich eher für Sie erwärmen.«

»Ich glaube kaum, dass ich mich dafür eigne, Sir. Schon weil ich zu groß bin, um irgendjemanden zu beschatten.«

»Sie machen das. An die Arbeit.« Vor dem Krieg hatte seine Schwester oft gesagt, die Mädchen würden sich zu ihm hingezogen fühlen wie die Motten zum Licht. Er spielte im Basketballteam seiner Highschool die Center-Position, schloss die Schule als Jahrgangsbester ab und bekam ein Stipendium für Champaign. Jetzt, mit einunddreißig Jahren, denkt Charlie, dass er der Letzte ist, der dafür abgestellt werden sollte, eine Frau zu handhaben. Er ist zu der Überzeugung gelangt, dass Frauen ausschließlich existieren, um Männer zu enttäuschen. Außerdem, was für eine Frau würde schon einen Mann mit einer verstümmelten Hand wollen, der außerdem zu scheu ist, ihr in die Augen zu schauen?

Heute Abend wird Rosalind Porter der Neigung ihres Geschlechts, andere zu desillusionieren, gerecht. Bleib entspannt, sagt er sich. Es ist nur ein Rückschlag, nicht das Ende. Was macht es schon, wenn sie Weaver noch nicht angerufen hat? Er ist wütend auf sich selbst, weil er sich so entmutigt fühlt.

Nach dem, was er im Krieg durchgemacht hat, sollte er es besser wissen. Er ist am Leben. Er leidet keine Schmerzen. Er hat einen Regenmantel zum Anziehen, Schuhe, die nicht zerschlissen und mit Sackleinen umwickelt sind. Allzu lange hatte er keines von beidem. Er hat gut zu Abend gegessen – dieses Sandwich von Keeley’s war köstlich. In der Gefangenschaft hat er nichts gekriegt als verdorbenen Reis und hin und wieder einen Happen Fisch, der so alt war, dass er stank. Mit so wenig im Bauch, an Beriberi leidend, nach Stunden auf einer Holzpritsche mit nur einer Reisstrohmatte unter sich, war er sich nie sicher, ob er am nächsten Morgen wieder aufwachen würde.

Er wird es nie wieder warm haben, bezweifelt, dass er das Frühjahr erleben wird. Es ist so kalt, dass selbst das Fleisch unter seinen Fingernägeln schmerzt. Seine Zehen sind blau. Seine Haut ist brüchig wie toter Lavendel. Zusammengerollt unter der Decke, die Knie bis zur Brust angezogen, einen Fuß unter den anderen gesteckt. Die verdammte Decke ist dünn wie ein Spinnennetz. Ihm ist kalt, seine Muskeln brennen. Den ganzen Tag über hat er fünfzig Kilo schwere Zementsäcke von einem Güterzug zu einer Lagerhalle geschleppt. Die Gefangenen bauen einen Staudamm für Nagoya. Wenn er die Zementsäcke auf den Haufen fallen lässt, entweichen Wolken aus Staub, der die Lungen reizt. Jetzt hustet er ihn heraus, rutscht näher an Harris heran. Alle Männer teilen sich die Pritschen. Das ist die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Es kümmert sie nicht, ob ihre Bettnachbarn ranzig riechen. Ob sich die Knochen ihrer Schlafgenossen durch ihre Haut bohren. Wärme. Menschlichkeit. Er hustet wieder.

»Gib Ruhe, Szydlo«, knurrt Harris. »Ich brauche meinen Schlaf.«

»Entschuldige.«

»Ich sag dir, wenn ich nach Hause komme, werde ich unter dieser dicken Quiltdecke, die meine Großmutter gemacht hat, in meinem eigenen verdammt weichen Bett schlafen, Kumpel, und zwar ohne dich.«

»Wem sagst du das.«

»Und ich werde die Heizung aufdrehen, bis alle im Haus schwitzend und fluchend aufwachen. Es ist mir egal, wie hoch am Ende die Rechnung ist.«

»Ja. Oh, ja.«

Charlie denkt an sein eigenes weiches Bett in seinem Zimmer zu Hause, die Kissenbezüge, die seine Mutter mit Vögeln, Hüttensängern, bestickt hat, die frischen, gebügelten Laken, das warme Federbett. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendetwas davon je wiedersehen wird? Oder seine Eltern?

Ein paar Stunden später wacht er auf. Dünnes, bläuliches Berglicht stiehlt sich durch das kleine Fenster unter der Decke. Der Wachmann, den sie am meisten hassen, den sie »Gurgel« nennen, weil er sich ständig räuspert, hat die Tür aufgerissen. Er wird jeden Mann prügeln, der nicht sofort von der Pritsche aufspringt. Charlie fröstelt mehr als sonst. Ist die Temperatur jäh abgefallen? Ist er krank? Er stößt Harris an der Schulter an. »Kumpel, steh auf. Gurgel ist hier. Beweg dich.«

Nichts.

Er hebt den Kopf und sieht hinüber. Harris liegt da, sieht so entspannt aus wie seit Monaten nicht mehr.

»Harris?«

Die Erkenntnis kriecht an Charlies Rückgrat hoch: Er berührt die Hand seines Pritschennachbarn. Sie ist eiskalt.

Später tragen zwei andere Gefangene den Leichnam fort. Niemand stützt Harris’ Kopf, sodass er schlaff an seinem Hals baumelt. Charlie will rufen: Nehmt mich auch mit!Er ist ernüchtert, als ihm bewusst wird, dass ihm der Tod inzwischen mehr Hoffnung gibt als die Vorstellung, wieder in Freiheit zu leben.

Aus seinen Gedanken gerissen, als das Lämpchen an der Schalttafel zu blinken beginnt – Miss Porter bekommt einen Anruf –, schnappt sich Charlie die Kopfhörer und stülpt sie sich rasch über. Er schaudert. Die Erinnerung hat ihn mit derselben alten Frage zurückgelassen: Warum hat er überlebt, während so viele andere gestorben sind?

»Hallo«, meldet sich Rosalind. Sie klingt abgelenkt, erschöpft.

»Hallo, Roz.«

Diese gepflegte britische Wochenschau-Aussprache – das kann nur Weaver sein. »Es ist schon spät. Entschuldige. Ich habe dich doch nicht geweckt, Liebling, oder?«

»Ich war eben dabei, mich bettfertig zu machen.«

»Ich weiß, ich bin ein solcher Langweiler, rufe dich zu oft an«, sagt Weaver. »Aber ich muss dich sehen. Wenn du mir nur eine einzige Chance gibst. Das ist alles, worum ich dich bitte.«

»Nein.«

»Aber du weißt nicht, was für mich auf dem Spiel steht.« Weavers Stimme klingt erstickt.

»Na schön. Was steht denn für dich auf dem Spiel, Weaver? Sag’s mir.«

»Mein Leben liegt in Trümmern, seit ich dich verlassen habe.«

»Und meines nicht?«

»Hör zu. Ich weiß, dass du wütend bist. Du hast jedes Recht dazu. Aber hör mich an. Triff mich nur ein einziges Mal. Lass mich dir erzählen, was wirklich passiert ist.«

Schweigen. Und dann: »Warum sollte ich dir vertrauen?«

»Weil ich Dinge zu sagen habe, die dich dazu bringen könnten, deine Meinung zu ändern. Wenn du nur die Wahrheit wüsstest … dann würdest du es verstehen.« Und dann dämpft er seine Stimme zu einem Flüstern, als er fortfährt: »Ich kann nichts davon am Telefon sagen.« Charlie beugt sich vor. Ahnt Weaver, dass die Leitung angezapft ist?

»Es ist schon spät«, sagt Miss Porter. »Ich gehe jetzt zu Bett.«

Oh, Gott! Sag Ja zu ihm!

»Morgen Abend. Ich flehe dich an.«

Miss Porter holt so laut Luft, dass Charlie es hören kann. Vielleicht ist sie zu müde, um Widerstand zu leisten. Vielleicht hat Weaver sie zermürbt. Vielleicht tut sie es, weil sie Charlie geglaubt hat, als er ihr sagte, die Sicherheit der Welt ruhe auf ihren Schultern. Aus welchem Grund auch immer, sie sagt: »Na schön, Weaver. Aber vergiss das Dinner. Versuch gar nicht erst, mir den Hof zu machen. Wenn du mich sehen willst, komm morgen Abend um acht vorbei. Bleib nicht länger als eine Stunde. Und erwarte nicht, dass ich dich verköstige.«

»Gott sei Dank, und auch dir«, sagt Weaver. »Schlaf gut, meine Liebe.«

Sie legt auf, ohne sich zu verabschieden. Charlie reißt die Kopfhörer herunter und lacht schallend auf.

***

Rosalind sitzt im Dunkeln in ihrem Wohnzimmer. An der Decke tänzeln und wirbeln die Lichter vom Lake Shore Drive. Sie muss zu Bett gehen. Sie muss diesen Anruf vergessen. Wie soll sie mit Weavers Stimme in ihrem Kopf einschlafen? Weaver war früher einmal ihre Droge – eine, die ihr Genuss bereitete und sie dann verzweifelt zurückließ. Jetzt ist sie clean. Da Weaver noch immer in Hyde Park lebt und Rosalind nicht mehr zur South Side zur Arbeit fährt, hat sie es geschafft, ihm nicht ein einziges Mal über den Weg zu laufen. Das Letzte, was sie will, ist, wieder in ihre Sucht gezogen zu werden. Wenn sie ihn sieht, wird sie ihm ins Gesicht sagen: Hör auf, mich anzurufen. Gib’s auf. Es ist vorbei. Ich werde dich nie wieder in mein Leben lassen.

Falls Special Agent Szydlo zugehört hat, wird er sich wohl toll vorkommen, jetzt, wo sie Ja gesagt hat. Er hatte sogar kurz angedeutet, Weaver wieder zu treffen würde ihr eine Chance auf Rache bieten. Sie hat sich nie als rachsüchtigen Menschen gesehen. Aber ihre Neugier ist geweckt. Könnte Weaver wirklich das Monster sein, das die ganze Welt an den Rand des Abgrunds gebracht hat?

So sehr sie Thomas Weaver einmal geliebt hat, war er doch immer von einer Aura des Mysteriösen umgeben. Einem Schweigen, einem Dunkel, einer Andeutung von Geheimnissen. Warum hat er aus heiterem Himmel angerufen? Warum muss er sie auf einmal sehen? Was, wenn sie, nur für eine einzige Nacht, seine Geheimnisse aufdecken und ihn dann fröhlich vernichten könnte?

***

Als Charlie an der U-Bahn-Station Damen aussteigt, haben sich die Straßen in Pfützen verwandelt, und der Wind ist gnadenlos. Zum Glück hat er heute Morgen einen Regenmantel mitgenommen. An den ersten beiden Blocks kommen ihm zwei Betrunkene entgegen, ein Bursche in einer Kellneruniform und eine fröstelnde junge Prostituierte in einem fadenscheinigen gelben Kleid. Sie fragt: »Hej, chcesz się zabawić?« Ob er ein bisschen Spaß sucht.

»Przepraszam, nie«, antwortet er.

Sie ist eindeutig hungrig und durchgefroren. Nichts an ihr sieht nach Spaß aus. Es gibt heutzutage so viele vom Krieg Vertriebene, von Veränderung und Verlust geschundene Seelen. Seit die Deutschen in Polen eingefallen sind, heißt es, leben in Chicago mehr Polen als in jeder polnischen Stadt. Er ist bereit, ihr den Fünfdollarschein in seiner Brieftasche zu geben. Aber bevor er sie erreichen kann, fährt ein Wagen heran, und sie steigt ein. Unwillkürlich hat er Mitleid mit ihrem jungen Leben.

Während er die Seitengassen hinuntergeht, sind das Einzige, was er hört, seine eigenen Schritte und das Maunzen einer streunenden Katze. Die Polen gehen früh zu Bett, stehen früh auf, arbeiten hart. Das Haus seiner Schwester ist ein Arbeitercottage aus dem Jahr 1893, mit einem Spitzdach, klein und bescheiden. Die Lage in Wicker Park ist ein Vorteil. Ihr Ehemann, Mack, trinkt gern einen Schluck in der Bar an der Ecke, dem Szczęście. Die Kinder gehen auf die Burr School. Peggy kann in zwanzig Minuten zu Fuß zu St. Mary of the Angels gehen, nicht weit von dort, wo ihre Eltern früher lebten. Sie lässt keinen Morgen aus. Früher sagte sie oft: »Komm mit, Charlie. Du weißt schon. Ein paar Gebete sprechen.« Aber wie einer der Burschen, die mit ihm zusammen in Matsushima ums Überleben kämpften, gern sagte: »Gott und ich sind keine Kumpel mehr.«

Im Haus ist alles dunkel; sie müssen schlafen gegangen sein. Charlies Wohnung ist Peggys umgebauter Keller, mit einer eigenen Tür nach draußen. Ein Vorhang trennt sein Bett vom Wohnbereich ab. Eine behelfsmäßige Toilette, um eine Stufe erhöht, und eine Dusche mit einem Abfluss im Boden. Keine Küche. Wenn er rechtzeitig nach Hause kommt, isst er oben mit Peggy und ihrer Familie zu Abend. Er kann sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal vorgekommen ist. An jedem Monatsersten steckt er zwanzig Dollar in das Glas auf ihrem Küchentresen, sein Beitrag zu dem Essen, das er nie isst.

Er zieht sich um, schlüpft in eine Chinohose und ein Sweatshirt und steigt die Stufen zur Küche hoch, in der Hoffnung, sich ein Hamm’s aus Pegs Kühlschrank zu holen. In letzter Zeit fühlt er sich ständig erschöpft, aber das Schlafen fällt ihm trotzdem schwer. Manchmal hilft Bier. Manchmal hilft nichts.

Er ist verblüfft, Peggy am Küchentisch sitzen zu sehen.

»Oh, entschuldige«, sagt er. »Wusste nicht, dass du noch auf bist.«

»Es ist auch deine Küche.« Sie zeigt auf eine Schale mit Obst. »Willst du einen Pfirsich?« Sie hat bereits von einem abgebissen und wischt sich den Saft vom Kinn. Er bemerkt, dass ihr goldbraunes Haar unter einem Netz fest um stachelige Lockenwickler gedreht ist. Warum tun Frauen so schmerzhafte Dinge, wie auf Lockenwicklern zu schlafen? Peggys Haar ist immer perfekt. Ihre Kleider sind tadellos gebügelt, ihre Schuhe poliert.

»Was ich wirklich brauche, ist ein Bier.«

»Ich wünschte, du würdest etwas essen.«

»Was hast du zum Abendessen gemacht?«

»Kohlrouladen. Sind gut gelungen.«

»Das glaube ich gern.«

Er öffnet den Kühlschrank, der mit Glasschüsseln gefüllt ist. Er sieht vier überzählige Kohlrouladen, dicke Babys, in einer Reihe aneinandergekuschelt. Eine einzige Kohlroulade pro Mann hätte vielleicht geholfen, ihn und seine Freunde während des Krieges vor der Beriberi zu schützen. Jetzt ist es nur ein Gericht unter vielen. Die Rouladen werden übermorgen aufgegessen sein. Peggy führt einen ordentlichen, sparsamen Haushalt. Sie hat das von ihrer Mutter gelernt, die in ihrem ganzen Leben nie auch nur eine Weintraube vergeudet hat. Er nimmt sich ein Hamm’s und öffnet es an dem Flaschenöffner, der an der Wand befestigt ist. Charlie zieht sich einen Stuhl zurück und setzt sich Peggy gegenüber.