: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
In eine Marseiller Galerie wird eingebrochen. Der Besitzer
scheint ermordet worden zu sein – seine Leiche ist aber
unauffindbar. Commissaire Pierre Marquanteur und sein Team beginnen
mit ihren Ermittlungen und stellen schnell fest, dass der Galerist
in höchst dubiose Geschäfte verwickelt war. Innerhalb kurzer Zeit
werden weitere Personen aus seinem Umfeld ermordet. Dann meldet
sich ein Kollege aus Russland, und der Fall bekommt eine Wendung
…
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Marseille – im Jahr 2007 …
»Und das soll nun Kunst sein!«, sagte der Mann im Bistro, in
dem mein Kollege Commissaire François Leroc und ich uns gerade
stärkten. »Wissen Sie, was ich denke, Monsieur Marquanteur?«
»Naja …«, sagte ich, denn ehrlich gesagt wusste ich nicht so
genau, worauf der Bistro-Mann hinauswollte. Aber die Croissants,
die er anbot, schmeckten gut. Und darauf kam es an.
Er deutete auf die Vogelscheuche, die an einem Laternenpfahl
hing und durch den letzten Regen ziemlich in Mitleidenschaft
gezogen worden war.
»Die lassen dies da nun vergammeln und keiner hängt den Müll
weg, weil es ja eine Kunstaktion ist. Ich weiß nicht, das soll wohl
den menschlichen Verfall und das Vergehen der Zeit illustrieren
oder sowas.«
»Kann schon sein«, sagte ich kauend.
»Ja, kann sein oder ist wirklich so, Monsieur
Commissaire?«
François und ich waren in letzter Zeit öfter hier gewesen.
Deswegen kannte er unsere Namen. Ich seinen allerdings nicht. Eine
Schande. Aber man kann nicht alles behalten.
»Habe ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht, muss ich
jetzt ehrlich gestehen.«
»Also wenn ich meinen Sperrmüll zur falschen Zeit an die
Straße stelle, kriege ich eine Verwarnung. Aber wenn ich Künstler
wär‘, dann könnte ich jeden Mist einfach irgendwo lassen und das
wär‘ in Ordnung?«
»So würde ich das jetzt nicht sehen«, sagte ich.
»Ja, aber ich sehe das so! Und richtig ist das nicht! Das kann
mir keiner erzählen!«
»Von der Seite habe ich das noch nicht betrachtet.«
»Sollten Sie vielleicht mal, Monsieur Commissaire Marquanteur.
Sie sind doch Commissaire?«
»In der Tat, ja.«
»Dann frage ich jetzt mal den Commissaire Marquanteur, mit
seiner große Kenntnis von den Paragraphen und so: Kann man sowas
nicht verbieten?«
Ich hatte mich verschluckt und irgendwie ein Stück Croissant
in den falschen Hals gekriegt. Mein Kollege François haute mir auf
den Rücken. Nach einem Moment war es wieder gut.
»Geht‘s wieder?«, fragte der Bistro-Mann.
»Alles in Ordnung«, sagte ich.
»Und meine Frage?«
»Wie?«
»Ja, die Antwort fehlt: Kann man so eine Verschandelung der
Stadt, wie die da, nicht verbieten?«
»Also, genau genommen fällt das nicht in unsere
Zuständigkeit«, sagte ich.
»Ah, ja«, sagte der Bistro-Mann.
»Gutes Croissant«, meinte François kauend. »Echt!«
»Gibt keine Besseren«, ergänzte ich.
»Das hört man gerne«, sagte der Bistro-Mann und streckte dann
die Hand in Richtung der Vogelscheuche aus. »Aber davon kriegt man
Augenkrebs!«
2
St. Petersburg, Russland
Das Café Rasputin war ein beliebter Szene-Treff, wo sich
Künstler, Intellektuelle und alle, die sich dafür hielten
einfanden, um über den Niedergang Russlands zu diskutieren oder der
Performance eines experimentellen Dichters zu lauschen. An den
Wänden hingen großformatige Gemälde in grellen Farben. Wladimir
Basilov fiel in seinem biederen, dreiteiligen Anzug sofort auf. Er
ließ suchend den Blick über die Gäste schweifen. Stimmengewirr
erfüllte den Raum.
Und Zigarettenrauch.
In kalten Schwaden hing er über den Tischen und machte Basilov
klar, wie sehr ihn zwanzig Jahre Marseille geprägt hatten. In
Frankreich war das Rauchen beinahe überall verboten, und so war
Basilov den in Augen und Nase beißenden Qualm nicht gewöhnt.
Sein Blick blieb an einem Mann im dunklen Rollkragenpullover
haften, der allein an seinem Tisch saß.
Basilov ging an seinen Tisch.
Der Mann im Rollkragenpullover zog an seiner filterlosen
Zigarette und blies Basilov den Rauch entgegen. »Na, endlich! Ich
dachte, du kommst nicht mehr! Setz dich!«
Basilov nahm Platz. »Wir müssen miteinander reden,
Sergej!«
Der Mann im Rollkragenpullover beugte sich nach vorn und
sprach nun in gedämpftem Tonfall. »Ich steige aus, Wladimir! Die
Sache ist zu heiß geworden. Und wenn du schlau bist und am Leben
bleiben willst, tust du dasselbe!«
3
»Was ist passiert?«, fragte Basilov.
»Genug, um in Zukunft die Finger von der Sache zu lassen. Das
Geschäft läuft nicht mehr, und ich habe keine Lust, mir die Finger
zu verbrennen. Vor zwei Tagen wurde Korzeniowskij erschossen, und
ich möchte nicht der Nächste zu sein.«
Basilov verengte die Augen.
»Korzeniowskij?«, echote er. »Das wusste ich nicht …«
»Du scheinst so manches nicht zu wissen, Wladimir!«
»Dann erkläre es mir, Sergej!«
»Ich sehe zu, dass ich mein Geld in die Schweiz bekomme, und
dann bin ich weg!«, erklärte der Mann im Rollkragenpullover.
Er lehnte sich zurück und ließ den filterlosen Glimmstängel
aufglühen.
Basilov wedelte mit der Hand, um den Rauch zu
vertreiben.
Sergej grinste schief. »Verweichlichter Franzose!«, murmelte
er verächtlich.
»Was den Pass betrifft, stimmt das«, konterte Basilov.
»Na, das wird es für dich ja etwas leichter machen, mit der
neuen Situation fertig zu werden.«
Basilov lachte heiser. »Du hast gut reden, Sergej! Ich bin
schließlich Verpflichtungen eingegangen! In Marseille gibt es
Leute, die auf die nächste Lieferung so sehnsüchtig warten wie ein
Junkie auf seinen Stoff! Die werden ziemlich sauer
reagieren.«
Sergej zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid.«
»Was ist mit Lebedew?«
»Der ist schon vor Wochen von der Bildfläche verschwunden.
Offenbar hat er den Braten etwas früher gerochen als der Rest von
uns und zugesehen, dass er seine Schäfchen ins Trockene bekommt.«
»Verdammt!« Basilov ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten.
Eine dunkle Röte überzog sein Gesicht.
Sergej wirkte gelassener. »So ist das nun mal. Jeder muss
jetzt sehen, dass er so gut wie möglich aus dem Schlamassel
herauskommt.«
»Na, großartig!«
Sergej drückte den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher aus,
trank seinen mit Wodka vermengten Kaffee aus und erhob sich.
Basilov war bleich wie die Wand geworden.
Sergej sah ihn an und verzog das Gesicht. »Hey, bist du
wirklich schon so ein französisches Weichei geworden, Wladimir? Ich
dachte, ihr würdet den Unternehmergeist immer besonders groß
schreiben!«
Basilov verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
»Das tun wir auch.«
»Da wird der deinige ja wohl nicht gleich versagen, nur, weil
die Zeit der Riesenjackpots für dich jetzt erst mal eine Weile
vorbei ist!«
»Sehr witzig!«
»Immerhin lebst du noch – das ist mehr, als man von so manch
anderem sagen kann, der bei der Sache mitgemacht hat!« Gönnerhaft
klopfte Sergej seinem Gesprächspartner auf die Schulter. »Nichts
für ungut, Wladimir! War ‘ne schöne Zeit, und ich denke, wir werden
dem warmen Euro-Regen noch lange nachtrauern.«
Basilov bleckte die Zähne wie ein Raubtier. »Du kannst mich
mal!«, fauchte er.
»Wie auch immer. Vielleicht machen wir ja irgendwann, wenn
sich die Lage beruhigt hat, mal wieder zusammen Geschäfte. Man
sollte ja immer optimistisch bleiben!« Er grinste schief und setzte
noch hinzu: »Außerdem kommen Ikonen nie aus der Mode!«
Sergej sah auf die Uhr.
Dann nickte er Basilov zu und ging in Richtung Ausgang.
Gerade hatte ein Mann in dunkler Lederjacke, dazu passenden
Stiefeln und grauer Strickmütze den Raum betreten.
Sergej erstarrte, als er ihn sah.
Der Mann in Leder griff unter seine Jacke und riss eine
Pistole hervor.
Er drückte sofort ab.
Sergej bekam einen Treffer in den Brustbereich, taumelte zwei
Schritte zurück und wurde anschließend noch in Kopf und Hals
getroffen.
Mit einem dumpfen Geräusch schlug der Getroffene auf den
Holzboden. Blut sickerte aus den Wunden.
Überall im Café brach Panik aus. Entsetzensschreie gellten
durch den Raum.
Basilov erhob sich vom Platz, drehte sich herum und griff
unter seine Jacke.
Der Mann in Leder schwenkte den Lauf seiner Automatik in
Basilovs Richtung. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich
kurz. Dann leckte erneut das Mündungsfeuer wie eine rote
Drachenzunge aus dem Lauf der Automatik hervor.
Basilov bekam einen Schuss in die Brust, der ihn gegen die
Wand taumeln ließ. Ein zweiter Treffer erwischte ihn nur Zentimeter
daneben – genau dort, wo sich das Herz befand.
Basilov rutschte an der Wand hinunter, versuchte sich
festzuhalten, und riss dabei eines der großformatigen Gemälde von
den Haken.
Er ächzte und rang nach Luft.
Der Mann in Leder drängte sich derweil bereits durch die von
Panik erfüllten Gäste des Café Rasputin in Richtung Ausgang.
Rechts und links stoben die Leute vor ihm zur Seite, so gut
sie konnten. Niemand wollte schließlich mit der Waffe in seiner
Rechten angeschossen werden.
Augenblicke später war er draußen in der Menge der Passanten
verschwunden.
Inzwischen stöhnte Basilov schmerzerfüllt auf.
Er versuchte sich zu bewegen, aber er hatte das Gefühl, von
mehreren Messern durchbohrt zu werden.
Er rang noch immer nach Luft. Das Atmen tat höllisch weh.
Vorsichtig betastete er die Stellen, an denen er getroffen worden
war. Die Projektile hatten seine Kleidung aufgerissen. Unter dem
edlen Tuch seines Marseiller Schneiders kamen die ersten Lagen
grauen Kevlars zum Vorschein.
Immerhin, dachte er, die Weste hat gehalten, was der
Hersteller verspricht, auch wenn die Treffer trotzdem sehr
schmerzhaft gewesen sind.
Aber die Kevlar-Weste hatte das Eindringen der Kugeln in den
Körper verhindert und Basilov damit das Leben gerettet. Ein paar
blaue Flecken würden ihm von der Attacke bleiben – wenn er Pech
hatte, vielleicht auch eine angeknackste Rippe. Basilov berührte
eine der Stellen ein zweites Mal. Er war sich noch nicht ganz
sicher, wie schwer die Verletzungen tatsächlich waren.
Vorsichtig stand er auf und stützte sich dabei auf einen der
Tische.
Im Café Rasputin herrschte jetzt vollkommenes Chaos. Alle
rannten durcheinander und versuchten, sich irgendwie in Sicherheit
zu bringen.
Da auch Basilov eine Waffe in der Hand hielt, wich ihm jeder
aus.
Nur weg, so lange die Miliz noch nicht hier ist!, ging es ihm
durch den Kopf.
Er hatte keine Lust, sich den langwierigen Fragen der Polizei
zu stellen und am Ende noch ein kleines Vermögen investieren zu
müssen, um die betreffenden Beamten zu schmieren.
Vielleicht hat Sergej recht gehabt und es ist wirklich Zeit,
dass ich aussteige!, überlegte Basilov, als er ins Freie
taumelte.
4
»Na, gewöhnst du dich langsam an den neuen Dienstwagen?«,
fragte mich mein Kollege François Leroc, als ich ihn an diesem
Morgen abholte. Wie üblich hatte François an der bekannten Ecke
gewartet. Es regnete Bindfäden, und er war ziemlich durchnässt.
»Ich versuche es«, erwiderte ich. François hatte einen wunden
Punkt angesprochen.
Der Porsche, den ich die letzten Jahre über gefahren hatte,
war mir gestohlen worden. Wir fanden ihn später in einer
Schrottpresse als handliches Päckchen wieder, und es stellte sich
im Laufe der Ermittlung heraus, dass die Diebe es auf den Inhalt
des installierten Dienstrechners abgesehen hatten. Die darauf
gespeicherten Daten waren für die Gangster ein Hilfsmittel gewesen,
um einen groß angelegten Cyberangriff auf die Polizei zu
starten.
Inzwischen fuhr ich einen handgefertigten Hybriden aus einer
Dodge Viper SRT-10, auf die man die Karosserie eines Porsche
aufgesetzt hatte.
Die technische Innenausstattung mit integriertem
TFT-Bildschirm und Computer entsprach dem Standard, den auch der
alte Porsche gehabt hatte.
Seit einiger Zeit war der Zwitter aus Porsche und Dodge nun
fertig gestellt, und ich hatte Gelegenheit, die Fahreigenschaften
kennen zu lernen.
Bis jetzt war ich vollauf zufrieden, auch wenn ich dem alten
Porsche immer noch etwas nachtrauerte. Aber das hatte wohl eher
sentimentale Gründe, die wohl auch verantwortlich dafür waren, dass
ich vom neuen Porsche sprach – und nicht etwa vom neuen
Dodge.
Kollege François Leroc schnallte sich an.
»Na, dann zeig mal, was der Neue kann!«, meinte er.
»Witzbold.«
»Wieso?«
»So lange wir uns im Großraum Marseille aufhalten, dürfte das
wohl kaum praktikabel sein, wenn wir nicht eine unangenehme
Begegnung mit unseren Kollegen in Uniform riskieren wollen.
Schließlich gibt es ja auch für unsereins keine gesonderten
Verkehrsregeln.«
»Zumindest, solange nicht irgendein gerechtfertigter Notfall
vorliegt«, gestand ich zu.
Der Regen wurde so heftig, dass es selbst die unermüdlich hin
und her schwingenden Wischblätter kaum schafften, einen klaren
Durchblick zu gewährleisten.
»Wieso bist du ausgerechnet heute so spät dran, Pierre?«,
fragte François, als wir wenig später an einer Ampel halten
mussten. »Ich bin fast aufgeweicht bei der verdammten Nässe!«
»Ich war heute Morgen noch in der Werkstatt und hatte dort
einen Sondertermin außerhalb der Geschäftszeiten.«
François grinste.
»Ach, hat das gute Stück schon seine Mucken?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Es waren nur noch ein
paar Feineinstellungen vorzunehmen. Routinekram eben.«
»Wer es glaubt, wird selig. Mal ehrlich, ich weiß nicht, ob
ich diesem zusammengeschraubten Zwitter trauen soll!«
5
Als wir das Präsidium erreichten, ließ der Regen zum Glück
endlich nach.
Noch bevor wir unser gemeinsames Dienstzimmer erreichten, lief
uns Kollege Maxime Valois über den Weg. Der Innendienstler aus der
Fahndungsabteilung grüßte knapp und wies uns darauf hin, dass unser
Chef in einer halben Stunde eine Besprechung in seinem Büro
angesetzt hatte.
»Du bist doch sicher informiert, worum es geht, Maxime«,
vermutete ich.
Maxime nickte. »Das wird eine groß angelegte Operation mit
internationaler Zusammenarbeit und so weiter …«
»Drogen?«
»Nein. Schon mal was von der Eremitage gehört?«
»Ist das nicht ein Museum in St. Petersburg?«
»Richtig.«
»Dann geht es um illegalen Kunsthandel?«
»Lass dich einfach überraschen, Pierre! Ich muss noch mal ein
Dossier für euch zusammenstellen.«
»Bis nachher.«
Der illegale Kunsthandel hatte finanziell gesehen längst
Dimensionen wie der Handel mit Drogen, Waffen oder Müll erreicht
und war zu einem wichtigen Zweig des organisierten Verbrechens
geworden, ohne dass die Öffentlichkeit davon besonders Notiz
genommen hatte.
Wir fanden uns zusammen mit einer Reihe weiterer Beamter
pünktlich im Besprechungszimmer von Monsieur Jean-Claude Marteau,
Commissaire général de police, ein und nahmen Platz.
Seine Sekretärin Melanie grüßte uns knapp.
Sie servierte Kaffee für alle. Außer uns waren unter anderem
die Kollegen Stéphane Caron und Boubou Ndonga anwesend. Die
Commissaire Josephe Kronbourg und Léo Morell trafen kurz nach uns
ein.
Maxime Valois schlich sich erst auf leisen Sohlen in den Raum,
als Monsieur Jean-Claude Marteau bereits zu sprechen begonnen
hatte.
»Über die Bedeutung des illegalen Kunsthandels für das
organisierte Verbrechen brauche ich wohl kaum noch ein Wort zu
verlieren«, erklärte unser Chef. »Da werden Milliarden umgesetzt,
und wir kommen an die Hintermänner noch schwerer heran als im
Drogenhandel. Jetzt erreichte uns eine Bitte des Innenministeriums
der Russischen Föderation um Zusammenarbeit, die für uns
möglicherweise die Chance bietet, einige dieser mafiösen Strukturen
endlich aufzudecken. Wir kommen auf diese Weise an Informationen
heran, die uns da weiterhelfen werden. Sie haben vielleicht von dem
Skandal um die Kunstgüter der Eremitage in St. Petersburg gehört.
Offenbar sind dort seit Jahren massenhaft Kunstgegenstände
verschwunden und auf dem schwarzen Markt verkauft worden. Vom
Wachpersonal bis zur Kuratorin steckten maßgebliche Teile des
Museumspersonals mit den Kriminellen unter einer Decke. Die Ware
tauchte später zu einem Teil auch hier in Marseille auf. Und das
geht nun schon seit Jahren so. Jetzt ist dieser Connection der Kopf
abgeschlagen worden. Aber an dieser Stelle übergebe ich das Wort
besser an Commissaire Marcel Duval.«
Monsieur Marteau deutete auf einen Mann in den Fünfzigern.
Außer einem schmalen, dunklen Haarkranz hatte er keine Haare mehr
am Kopf. »Kollege Duval wurde uns als Experte für den
internationalen Kunsthandel zugeteilt und wird uns mit seiner
Sachkenntnis unterstützen. Bitte Marcel, Sie haben das Wort.«
»Danke.« Marcel Duval erhob sich und aktivierte den Beamer des
Laptops, das vor ihm auf dem Tisch stand. Auf Knopfdruck wurde das
Bild einer Frau von Mitte fünfzig projiziert. »Sie sehen die
Kuratorin der Eremitage in St. Petersburg. Nachdem eine Revision
der Bestände angekündigt wurde, traf sie buchstäblich der Schlag.
Die Revision ergab dann auch den Grund. Es fehlten erhebliche Teile
des Bestandes, die offenbar über ein kriminelles Netzwerk auf den
Markt gebracht wurden. Eine Reihe von Personen wurde verhaftet,
darunter der Ehemann und der Sohn der Kuratorin. Der festgestellte
Schaden ist kaum abzuschätzen, denn ein Teil des
Eremitage-Bestandes ist noch nicht einmal richtig katalogisiert
gewesen. Man weiß bis heute nicht, wie viele Stücke wirklich
verschwunden sind. Tatsache ist, dass eine Art Panikwelle durch den
illegalen Kunstmarkt fegte, die einmal um den ganzen Globus
schwappte und wohl noch nicht ganz abgeebbt ist. Selbst hier in
Marseille waren ein paar Ausläufer davon zu spüren. So verzeichnen
wir seit einiger Zeit ein deutlich erhöhtes Angebot an
Kunsthandwerk, Ikonen und Schmuck, die genau zum Bestand der
Eremitage passen. Hin und wieder haben wir Glück und können die
Herkunft nachweisen. Häufiger ist das jedoch nicht der Fall, und es
bleibt nur die Vermutung, dass mit der Herkunft etwas nicht
stimmt.«
Marcel Duval betätigte noch einmal den Beamer. Das Gesicht
eines Mannes im dunklen Rollkragenpullover wurde sichtbar. »Wir
haben im Zusammenhang mit dem Auftauchen von inflationär vielen
Ikonen in Marseille, Düsseldorf, New York und London einige
wertvolle Hinweise des Innenministeriums der Russischen Föderation
erhalten, die es uns vielleicht möglich machen, auch bei uns ein
paar Leuten das Handwerk zu legen, die schon seit Jahren den
illegalen Kunsthandel als organisiertes Verbrechen betreiben und
dabei bereit sind, über Leichen zu gehen. Der Mann, den Sie hier
sehen, heißt Sergej Sergejewitsch Michailov. Er arbeitet für ein
Kunsthandels-Syndikat in St. Petersburg. Letzte Woche wurde er dort
im Café Rasputin von einem Killer erschossen, als er sich mit einem
Mann namens Wladimir Basilov traf.«
Duval sorgte dafür, dass der Beamer das nächste Bild zeigte.
Ein Mann im konservativen Dreiteiler war zu sehen. Er wirkte so
bieder wie ein Bankangestellter. »Basilov lebt seit zwanzig Jahren
in Marseille. Davor war er Angestellter der russischen Botschaft
und KGB-Agent. Wir nehmen an, dass seine Verbindungen zu dieser
Organisation auch noch fortbestanden, nachdem sich der KGB in FSB
umbenannt hatte und Basilov aus dem Botschaftsdienst ausschied.
Offiziell übrigens deswegen, weil er Mitglied der Kommunistischen
Partei war, die Boris Jelzin kurz nach dem Putsch gegen Gorbatschow
verbieten ließ. Aber seine angebliche Treue zum Kommunismus hat ihn
nicht daran gehindert, anschließend nach allen Regeln der Kunst zu
einem kapitalistischen Geschäftsmann zu werden. Er blieb in
Marseille, hatte offenbar gute Fürsprecher bei den Behörden, und
ist inzwischen Franzose.«
»Hat er vielleicht ein paar KGB-Geheimnisse verraten, damit
jemand die Hand über ihn hält?«, fragte Stéphane Caron.
Duval drehte sich zu ihm um und nickte. »Daran habe ich auch
gedacht. Und ich habe versucht, etwas darüber in den Archiven zu
finden. Zumindest, was FoPoCri betraf, waren sie mir zugänglich.
Bisher Fehlanzeige! Aber das muss nichts heißen. Möglicherweise
schlummert da noch etwas beim Geheimdienst. Oder Basilov hat es
sogar geschafft, dass dort alles verschwunden ist, was ihn
irgendwie hätte kompromittieren können. Denn eins ist klar: Ohne
seine alten KGB-Verbindungen hätte er nicht der wichtige
Verbindungsmann im illegalen Kunsthandel werden können, der er
zweifellos ist.« Duval atmete tief durch. »Leider konnte man ihm
nie etwas nachweisen, aber das könnte sich nun ändern.«
FoPoCri - das war die Force spéciale de la police criminelle.
Unsere Abteilung.
»Inwiefern?«, hakte Monsieur Marteau nach.
»Nun, ich erwähnte ja gerade die Ermordung von Sergej
Michailov. Einen Tag zuvor starb Boris Korzeniowskij in seiner
Datscha unweit von St. Petersburg. Korzeniowskij stand auch mit
Basilov in Kontakt und gehörte derselben Szene an. Er residierte
normalerweise am Genfer See und sorgte für die Geldwäsche der
Gewinne aus den illegalen Deals. Offenbar findet da gerade eine
Säuberungsaktion innerhalb der Kunstmafia statt, die durch die
Aufdeckung des Eremitage-Skandals verursacht wurde. Jeder, der
irgendwie in der Sache drinhängt, versucht jetzt erstens
Kunstobjekte, die er noch auf Lager hat, möglichst schnell
abzustoßen und zweitens diejenigen loszuwerden, die ihn als
Mitwisser kompromittieren würden.«
»Und Basilov soll dahinter stecken?«, fragte Monsieur
Jean-Claude Marteau.
»Das wissen wir nicht«, bekannte Duval. »Wir wissen nur, dass
es eine Verbindung zwischen Basilov und den bisherigen Opfern
gibt.«
»Dann könnte es durchaus sein, dass er selbst auch auf der
Todesliste steht«, folgerte ich.
»Durchaus«, stimmte Duval zu. »Falls jemand, der über ihm in
der Organisation steht, ihn als Gefahr ansieht.«
»Jedenfalls wird Monsieur Basilov uns einige Fragen zu
beantworten haben«, stellte Monsieur Marteau fest. »Bei unserem
Vorgehen geht es in erster Linie darum, Basilovs Hintermänner zu
ermitteln, die offenbar schon seit Jahren ihr Geschäft auch hier in
Marseille betreiben.«
Duval ergriff noch einmal das Wort und ergänzte: »Um das von
Monsieur Marteau skizzierte Ziel dieser Operation zu erreichen,
wurde uns die Unterstützung des russischen Innenministeriums
zugesagt. Sie schicken einen hochrangigen Ermittler, der sich auf
dieses Gebiet spezialisiert hat. Sein Name ist Valerij Markov, und
eigentlich sollte er bereits eingetroffen sein.«
»Es wundert mich, dass ich nichts davon gehört habe«, erklärte
Monsieur Marteau, während sich auf seiner Stirn eine Falte
bildete.
Duval hob die Augenbrauen. »Ich habe keine Ahnung, wo Markov
bleibt. Dass Sie noch nicht informiert wurden, liegt wohl einfach
daran, dass diese Art von internationaler Zusammenarbeit auf
höchster Ebene im Präsidialamt und im Außenministerium verhandelt
wird.«
»Möglich«, brummte unser Chef.
»Dass der Typ hier nicht aufgetaucht ist, liegt wahrscheinlich
mal wieder an der schlechten Organisation der Russen«, äußerte sich
unser Kollege Josephe Kronbourg.
Duval warf dem ehemaligen Beamten der Schutzpolizei einen
tadelnden Blick zu. »Haben Sie Vorurteile?«, fragte er kühl.
»War ja nur eine Vermutung«, meinte Josephe.
»Was auch immer Sie für Vorurteile gegen Russen haben mögen –
auf Markov treffen sie wohl kaum zu. Er ist ein hervorragender
Ermittler und durch kompromissloses Vorgehen gegen die alten
Seilschaften hervorgetreten.«
Duval deutete auf unseren Kollegen Maxime Valois. »Ihr Kollege
Valois war so freundlich, heute noch in aller Schnelle ein paar
Dossiers über die Leute zusammenzustellen, von denen seit Langem
bekannt ist, dass sie auf dem illegalen Kunstmarkt in Marseille
irgendeine Rolle spielen. Wir werden nicht umhin kommen, einen
Großteil dieser Leute abzuklappern und zu befragen, um ein klareres
Bild darüber zu bekommen, was gegenwärtig in der Szene so los ist.
Ich bin überzeugt davon, dass es uns mit dem entsprechenden Einsatz
auch gelingen wird, die verschlungenen Pfade der Ikonen
zurückzuverfolgen, die gegenwärtig den Markt überschwemmen.«
»Gut«, nickte Monsieur Marteau. »Ich schlage vor, dass Sie die
Befragung von Basilov vornehmen.«
Duval lächelte dünn. »Das hatte ich mir auch so
vorgestellt.«
»Pierre und François werden Sie dabei begleiten«, ergänzte
unser Chef. »Und die Dossiers gehen an alle Mitarbeiter, die ich
für diesen Fall abstelle.«
6
Wenig später saßen François und ich im Porsche. Der
Motorenklang kam mir immer noch ziemlich fremd vor. Aber was die
Leistung anging, konnte es die Dodge Viper mit jedem
Original-Porsche aufnehmen.
Marcel Duval benutzte seinen eigenen Wagen. Es handelte sich
um einen Renault, der ihm von der Fahrbereitschaft unseres
Präsidium für die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung gestellt
worden war.
Basilov wohnte in einem umgebauten Bürogebäude, das jetzt
vornehmlich Eigentumswohnungen enthielt. Wir stellten den Wagen auf
einem der wenigen Parkplätze ab, die es in der Umgebung gab, und
mussten die letzten fünf Minuten bis zur Haustür zu Fuß
laufen.
Dort trafen wir Duval, der ebenfalls zugesehen hatte, dass er
seinen Wagen irgendwo in der Gegend abstellen konnte.
»Ich habe bereits geklingelt«, erklärte Duval. »Leider macht
niemand auf. Weder in der Galerie, noch in der
Privatwohnung.«
»Versuchen wir es noch mal«, schlug François vor. »Um Basilov
in die Fahndung zu geben, ist es vielleicht noch ein bisschen früh,
oder?«
Duval drückte erneut auf die Klingel.
Wir warteten ab.
Im Untergeschoss war seine Galerie untergebracht. Darüber
bewohnte er eine Etage, die mindestens zweihundert Quadratmeter
hatte und damit für Marseiller Verhältnisse schon fast unverschämt
groß war.
Die Galerie machte erst am frühen Nachmittag auf.
Offenbar konnte sich ihr Besitzer nicht vorstellen, dass es
Kunstfreunde gab, die bereits am Vormittag Interesse daran hatten,
sich ein paar Stücke anzusehen.
»Die Galerie ist mehr oder minder zur Tarnung da!«, erklärte
Marcel Duval. »Da finden Sie ein paar Gemälde von ausgeflippten
modernen russischen Künstlern, die Basilov zu exorbitanten Preisen
einkauft.«
»Na, wenn er Sie hier in Marseille mit Gewinn verkaufen kann
…«, gab François zurück.
»Genau das ist der Punkt«, erklärte Duval. »Wahrscheinlich
kann er das nicht.«
»Geldwäsche?«, fragte ich.
»Ich würde sagen, ja – nur ist ihm das bisher vor Gericht
nicht bewiesen worden. Aber der Verdacht liegt natürlich
nahe.«
Eine ziemlich breit gebaute Frau in den Fünfzigern kam zu uns
an die Tür. Sie musterte uns.
»Wer sind Sie?«
Ich hielt ihr meinen Ausweis unter die Nase. »Pierre
Marquanteur, FoPoCri. Dies sind meine Kollegen François Leroc und
Marcel Duval. Wir suchen Monsieur Wladimir Basilov.«
»Da sind Sie hier leider verkehrt«, behauptete sie und drängte
sich zwischen uns hindurch zur Tür.
»Wieso, wohnt Monsieur Basilov seit Neuestem nicht mehr
hier?«, fragte Duval überrascht.
»Doch, das tut er schon. Aber Monsieur Basilov ist ein sehr
arbeitsamer Mann. Der steht um fünf Uhr auf und erledigt seine
Büroarbeit.« Sie sah auf ihre Uhr. »Jetzt treffen Sie ihn zwei
Straßen weiter im Café Capute an. Da frühstückt er für gewöhnlich.
Und zwar ziemlich ausgedehnt. Das ist auch gut so, dann stört er
mich nicht dabei, wenn ich alles in Ordnung bringe.«
»Die Galerie und die Wohnetage?«
»Ja. Da muss man schon im Akkord arbeiten, wenn alles sauber
sein soll. Aber Monsieur Basilov kann es nicht leiden, wenn er
dabei ist und durch den Staubsauger oder ähnliches aus seinen
Gedanken herausgerissen wird. So was geht ihm unheimlich auf die
Nerven!« Die korpulente Frau atmete tief durch. »Aber ich will
nicht meckern, schließlich bezahlt er mich hervorragend. Ich bin
jetzt schon seit zehn Jahren bei ihm. Damals kam unsere Jüngste ins
Collège und wir konnten das Geld gut …«
»Schon gut«, sagte François. »Wir werden es mal bei diesem
Café Capute versuchen.«
»Einfach fünf Minuten die Straße entlang, dann können Sie das
Schild gar nicht verfehlen!«
»Danke.«
Sie schloss die Tür auf. »Falls wir noch Fragen haben: Wie ist
denn Ihr Name?«, fragte ich.
Sie musterte mich erneut von oben bis unten. »Florentine
Masperone. Was wollen Sie eigentlich von Monsieur Basilov?«
»Nur ein paar Routinefragen«, sagte ich, schrieb mir
anschließend noch Florentine Masperones Adresse auf und hinterließ
ihr meine Karte. Madame Masperone studierte sie eingehend, bevor
sie das Stück Papier in ihrer Manteltasche verschwinden ließ, die
Tür vollends öffnete und in der Galerie verschwand.
»Also auf zu diesem Laden, der sich Café Capute nennt«,
forderte Duval uns auf.
Wir hatten schon ein paar Schritte hinter uns gebracht, als
wir aus der Galerie einen furchtbaren Schrei hörten.
Instinktiv ging unser Griff sofort zur Dienstwaffe.
7
Wir kehrten zur Haustür zurück.
Madame Masperone öffnete sie.
Kreidebleich trat sie uns entgegen.
»Kommen Sie!«, flüsterte sie. »Ich weiß gar nicht, wie ich das
Monsieur Basilov beibringen soll.«
»Wovon sprechen Sie, Madame Masperone?«, fragte ich.
»Es ist eingebrochen worden. Die Galerie ist ein einziges
Chaos. Seien Sie vorsichtig! Vielleicht sind die Täter noch da
drin!«
Mit der Waffe in der Hand drangen wir in die Galerie ein.
Madame Masperone folgte uns.
In der Galerie waren mehrere Vitrinen für Ausstellungsstücke
zerschlagen worden. Außerdem hatten die Täter Gemälde von den
Wänden gerissen und auf den Boden geschleudert. An anderen Stellen
gab es leere Haken. Moderne russische Kunst schien den oder die
Eindringlinge nicht besonders interessiert zu haben, denn sie
hatten sie achtlos liegengelassen.
François rief per Handy Verstärkung.
In sämtlichen Räumen der Galerie sah es ähnlich aus. Ein in
die Wand eingelassener Safe stand offen. Er war leer.
Neben einer zerschlagenen Glasvitrine fand sich eine deutliche
Blutspur auf dem Boden.
»Scheint, als wäre Monsieur Basilov der nächste auf der
Todesliste der Kunstmafia gewesen«, meinte Duval.
»Sie setzen voraus, dass das Blut von Basilov stammt«,
erwiderte ich.
»Ich finde, das liegt nahe.«
»Jedenfalls dürfte das vorhandene Spurenmaterial ausreichen,
um einen DNA-Test durchzuführen«, stellte François fest und steckte
seine Waffe ein. »Abgesehen davon werden die Kollegen der
Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst hier zweifellos jeden Millimeter
unter die Lupe nehmen. Mal sehen, was noch so an Spuren
hinterlassen wurde.«
»Wenn es sich um die Leute handelt, die ich in Verdacht habe,
wird man gar nichts weiter finden«, stellte Duval klar. »Zumindest
nichts, was wir nicht finden sollten. Das sind nämlich
Profis.«
»Warten wir es ab«, schlug ich vor.
Madame Masperone war uns gefolgt.
Die Blutlache sah sie jetzt offenbar auch zum ersten Mal. Sie
war ganz bleich geworden. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Monsieur
Basilov wird doch wohl nichts passiert sein …«
»Haben Sie auch einen Schlüssel für die Wohnung?«, fragte
ich.
»Ja. Da muss ich schließlich auch saubermachen, und Monsieur
Basilov ist oft für längere Zeit auf Geschäftsreisen … Zum Lift
kommen Sie über die Tür dahinten!«
»Und das Treppenhaus?«
»Ist direkt daneben.«
»Gibt es hier eigentlich eine Alarmanlage?«
Madame Masperone nickte. »Ja, aber sie war
ausgeschaltet.«
»Hat Sie das nicht gewundert?«
»Ehrlich gesagt nein. Es kommt öfter vor, dass Monsieur
Basilov vergisst, sie wieder einzuschalten, wenn er hier ist. Ich
habe ihn schon des Öfteren deswegen angesprochen. Schließlich nützt
es nichts, eine Direktleitung zu einem privaten Sicherheitsdienst
zu haben, wenn die Anlage gar nicht aktiviert ist.
»Kennen Sie den Code?«, fragte ich.
Madame Masperone runzelte die Stirn. »Natürlich kenne ich den
Code, der eingegeben werden muss …«
Ich wandte mich an François. »Sehen wir uns in der Wohnung
um.«
»Okay«, nickte mein Kollege.
Madame Masperone gab mir den Schlüssel für die Wohnung.
Wir gingen durch die Tür, die sie uns gezeigt hatte, während
Duval bei ihr blieb.
Die Chance, dass sich der oder die Täter noch im Gebäude
aufhielten, schätzten wir zwar gering ein. Aber auszuschließen war
es nicht.
»Wer von uns nimmt den Lift und wer das Treppenhaus?« fragte
François.
»Das Treppenhaus ist immer für den, der fragt!«, erwiderte ich
grinsend.
»Ich würde sagen, du lässt mich den Lift nehmen.«
»Wieso?«
»Schließlich bist du mir noch was schuldig.«
»Habe ich da was verpasst, François?«
»Schon vergessen? Du hast mich heute Morgen im Regen stehen
lassen, nur, damit noch irgendwas an deinem Wagen herumgeschraubt
werden konnte!«
»Porsche!«
»Wie auch immer, Pierre.«
Ich seufzte. »Okay. Ich will mal nicht so sein.«
8
Ich pirschte mich über das Treppenhaus ein Stockwerk höher und
stand sogar schneller vor der Wohnungstür als François, was daran
lag, dass er die Liftkabine erst aus dem obersten Stock hatte holen
müssen.
Neben dem Ausgang durch die Galerie gab es auch noch einen
separaten Zugang für die Wohnungen in den oberen Stockwerken, die
deutlich kleiner ausfielen als der von Basilov bewohnte
Bereich.
Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Ein Kameraauge war
auf den Flur gerichtet. Allerdings war es starr. Ich fragte mich,
ob die Überwachungsanlage abgeschaltet war.
Mit der Dienstwaffe in der Hand gingen wir hinein und sahen
uns um. Schon im Eingangsbereich waren die Spuren des Einbruchs zu
sehen. Die Schubladen waren ausgezogen und der Inhalt auf dem Boden
verstreut worden. In dem sehr großen Wohnzimmer fanden wir die
Polstermöbel aufgeschlitzt vor. Zum Teil großformatige Gemälde mit
moderner Kunst waren ebenso wie in der Galerie von den Wänden
gerissen und achtlos auf dem Boden liegen gelassen worden.
Auf einer der Leinwände war etwas zu sehen, was vielleicht
Fußabdrücke waren.
Hinter einem der Bilder war ein weiterer Safe verborgen
gewesen, dessen Stahltür weit offen stand. Er war genauso leer wie
der Safe in der Galerie.
Nachdem wir alle Räume durchsucht hatten, steckten wir die
Dienstwaffen ein. Hier war niemand mehr.
François fand ein Display samt Tastatur, von dem aus die
gesamte Überwachungsanlage für die Wohnung die Galerie zu regeln
war.
»Abgeschaltet«, stellte François fest.
»Wie praktisch für den Einbrecher.«
»Da es von Basilov keine Spur gibt, müssen wir das Schlimmste
befürchten, Pierre.«
»Jedenfalls waren an den Türen keinerlei Spuren für ein
gewaltsames Eindringen zu sehen«, gab ich zu bedenken. »Basilov
könnte den Täter selbst hereingelassen haben. Der hat ihn dann
umgebracht, die Wohnung durchsucht und anschließend die Leiche
entsorgt.«
»Warum hat er dann nicht dafür gesorgt, dass der Blutfleck
verschwindet?«, fragte ich.
»Gute Frage. Vielleicht wurde er gestört, und es war nicht
mehr möglich, noch einmal in die Wohnung zu gehen.«
»Und was könnte der Täter hier gesucht haben?«
»Jedenfalls nicht die moderne russische Kunst, die hier
überall hängt. Ich nehme an, es war der Inhalt der Safes.«
»Was könnte da drin gewesen sein?«
»Wenn unser Kollege Marcel Duval mit seiner Hypothese Recht
hat und Basilov auf einer Säuberungsliste der Kunstmafia steht,
würde ich sagen, dass nach belastendem Material gesucht
wurde.«
Ich ließ den Blick schweifen.
Die zertrümmerte Telefonanlage fiel mir auf. Offenbar sollte
es erschwert werden, herauszubekommen, mit wem Basilov zuletzt
telefonischen Kontakt hatte. Aber früher oder später würden wir die
Verbindungsdaten über die Telefongesellschaft schwarz auf weiß vor
uns haben.
Ich streifte mir Latexhandschuhe über.
Die Kollegen des Erkennungsdienstes sehen es im Allgemeinen
nicht gerne, wenn sich die Ermittler im Außendienst am Tatort allzu
gründlich umsehen. Zu viele Spuren konnten dadurch vernichtet
werden. Andererseits war der Zeitfaktor nicht zu unterschätzen,
denn der arbeitete grundsätzlich für den Täter. Je mehr Zeit
verging, desto schwieriger wurde es, die Tat aufklären zu
können.
Ich betrat einen Raum, der offenbar als Arbeitszimmer diente.
Bücher waren aus Regalen herausgerissen und auf dem Boden
verstreut worden. Etwa ein Drittel davon war in russischer Sprache,
der Rest auf Französisch und Englisch, einige wenige in Deutsch.
Neben ein paar Science-Fiction-Romanen fanden sich dort vor allem
Bücher zur Kunstgeschichte und Kataloge mit Werkverzeichnissen.
Außerdem Werke zum Steuer- und Bilanzrecht Frankreichs, der Cayman
Islands und der Schweiz.
Die Schubladen des Schreibtischs lagen umgedreht auf dem
Boden.
Auf der Holzplatte war ein Abdruck zu sehen, der dafür sprach,
dass hier noch vor Kurzem ein Computer gestanden hatte. Die Täter
hatten ihn offenbar einfach mitgenommen.
»Eine Leiche und ein Computer sind verschwunden«, stellte ich
fest. »Das muss doch jemandem aufgefallen sein, zumal man vor der
Haustür nicht parken kann.«
»Das heißt, die Täter haben beides – und wer weiß, was sonst
noch – mit dem Aufzug in die Parkgarage der Mieter gebracht.
Wahrscheinlich haben sie dort auch ihren Wagen abgestellt,
Pierre.«
»Was bedeutet, dass sie in irgendeiner Form registriert
gewesen sein müssen, um dort hinein und wieder hinauszukommen!«,
zog ich einen meiner Meinung nach logischen Schluss.
François war derselben Ansicht.
»Wir werden mit der Hausverwaltung und dem privaten
Sicherheitsdienst sprechen müssen, der für dieses Haus zuständig
ist, Pierre.« Mein Kollege schüttelte den Kopf und machte ein
nachdenkliches Gesicht. »Da wohnt jemand schon unter einer Adresse,
die sicherheitstechnisch mit allen nur erdenklichen Schikanen
ausgestattet ist, und dann geschieht so etwas!«
»Jedenfalls scheint der Sicherheitsdienst nichts bemerkt zu
haben«, nickte François.
Wir nahmen uns anschließend noch das Schlafzimmer vor.
Sowohl der Inhalt der Kleiderschränke als auch die Utensilien
im Bad zeigten, dass hier zumindest zeitweilig auch eine Frau
gelebt haben musste.
»Wir werden Madame Masperone danach fragen«, schlug François
vor. »Ich würde ja lachen, wenn Basilov gleich gesund und munter
zurückkehrt, nach dem er im Café Capute gefrühstückt hat!«
»Den Laden werden wir uns auch noch vornehmen müssen«,
kündigte ich an.
François nickte. »Das tun wir, sobald die Kollegen der
Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst hier das Terrain übernommen
haben.«
Ich hatte damit begonnen, systematisch die Taschen von
Basilovs Anzügen zu durchsuchen. Ich fand einen Zettel mit einer
Handynummer. »Mal sehen, vielleicht bringt uns das hier ja weiter,
François.«
Ich tippte die Nummer in meine Handytastatur und wartete ab.
Aber niemand nahm das Gespräch entgegen. »Der Teilnehmer ist
vorübergehend nicht erreichbar«, wurde mir mitgeteilt.
Wir kehrten zu Duval zurück.
Unser Kollege deutete auf ein Loch in der Wand.
»Hier hat eine Kugel dringesteckt«, meinte er. »Sie muss durch
den Körper Basilovs gegangen sein und ist dann hier
gelandet.«
»Der Täter scheint ein Profi gewesen zu sein«, sagte
François.
Ich hob die Augenbrauen. »Trotzdem ist es doch seltsam, dass
die Kugel in der Wand und die Leiche beseitigt wurden und der
Blutfleck nicht. Dafür gibt es einen Grund!«
»Warten wir ab, was die Kollegen dazu sagen!«, schlug François
vor.
Nach fünf Minuten trafen Kollegen der Schutzpolizei ein, um
den Tatort zu sichern. Nach zwanzig Minuten erreichten unsere
Erkennungsdienstler Sami Opporte und Jean-Luc Duprée den
Tatort.
Dieser Fall wurde auf Grund der internationalen Dimension mit
besonderer Priorität behandelt. Aus diesem Grund sollten die
Kollegen der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst von unseren eigenen
Erkennungsdienstlern unterstützt werden. Die Beamten des zentralen
Marseiller Erkennungsdienstes hatten im Übrigen ihre Labors am
Stadtrand und brauchten um diese Zeit entsprechend lange, um den
Tatort zu erreichen. Wir rechneten erst eine Dreiviertelstunde
später mit ihnen.
In der Zwischenzeit unterhielten wir uns noch einmal mit
Florentine Masperone.
»Wir haben Anzeichen dafür gefunden, dass Monsieur Basilov mit
einer Frau zusammengewohnt hat«, eröffnete ich ihr. »Was wissen Sie
darüber?«
»Eigentlich lebte Monsieur Basilov immer sehr zurückgezogen«,
erklärte sie. »Aber vor zwei Monaten zog eine junge Frau bei ihm
ein. Ich schätze, sie war halb so alt wie er. Mitte zwanzig,
schwarzes Haar, zierlich und immer elegant gekleidet.«
»Wissen Sie ihren Namen?«
»Er nannte sie Nora. Mehr weiß ich nicht.«
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
Florentine Masperone wirkte nachdenklich. »Ehrlich gesagt, das
letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, war, kurz bevor Monsieur
Basilov zuletzt verreist ist.«
»Wann war das?«
»Vor anderthalb Wochen. Ich glaube, er sagte etwas von St.
Peter Ording. Liegt an der Nordsee in Deutschland, glaube ich. Da
würde ich gerne sein. Bestimmt schön kühl da. Monsieur Basilov ist
dort öfter hingeflogen.«
»Meinen Sie wirklich St. Peter Ording?«, fragte ich.
»Was weiß ich?«
»Könnte es sein, dass er nach St. Petersburg in Russland
geflogen ist?«, mischte sich François ein.
Florentine Masperone wirkte etwas ratlos. »Auf den Gedanken
bin ich gar nicht gekommen«, gestand sie.
»Hat Basilov irgendwann mal geäußert, dass er sich bedroht
fühlt?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben kaum miteinander
gesprochen. Monsieur Basilov war immer sehr höflich, aber er hat
nie viel mit mir geredet.«
»Hatte er Angestellte in seiner Galerie?«, fragte ich.
»Ja, einen Mann namens Antoine Thuppoire. Aber der war nicht
fest angestellt. Monsieur Basilov hat ihn immer dann angeheuert,
wenn es viel zu tun gab.«
Ich wandte mich an Duval. »Sagt Ihnen der Name Thuppoire
etwas, Marcel?«
»Nein, aber es würde mich nicht wundern, wenn er irgendwie aus
der Szene kommen würde und wir bereits etwas über ihn im Archiv
hätten. Ich werde das mal überprüfen.«
»Monsieur Thuppoire wird heute sicher noch auftauchen«,
glaubte Madame Masperone. »Der schöne Antoine …« Sie blickte auf
die Uhr an ihrem Handgelenk. »In einer halben Stunde öffnet die
Galerie. Eigentlich müsste er jetzt sogar schon hier sein – aber
ich weiß natürlich nicht, was Monsieur Basilov für Abmachungen mit
ihm getroffen hat.« Sie seufzte hörbar und fuhr fort: »Glauben Sie,
es besteht noch eine Chance, dass Monsieur Basilov nicht umgebracht
sondern vielleicht nur entführt wurde?«
»Beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen möchte ich da keine
Spekulationen in die Welt setzen, Madame Masperone«, antwortete ich
ausweichend.
»Das verstehe ich«, murmelte sie tonlos.
Sie schluckte und schüttelte stumm den Kopf.
9
Später befragten François und ich die Angestellten des
Sicherheitsdienstes, der für die Sicherheit im Haus verantwortlich
war.
Pro Schicht waren drei Wachmänner im Einsatz. Sie überwachten
von einem Kontrollraum aus die zu den Kameras gehörenden Monitore
und gingen rund um die Uhr regelmäßig auf Patrouille.
»Für ein mit zehn Stockwerken ziemlich winziges Haus sind wir
hervorragend besetzt«, meinte Charles Reevers, der gerade
diensthabende Schichtführer, als wir ihn im Kontrollraum
aufsuchten.
Seine beiden Kollegen wirkten etwas reserviert, aber Reevers
war sehr auskunftsfreudig.
»Trotzdem ist bei Monsieur Basilov eingebrochen worden, und
wir haben Grund zu der Annahme, dass er einem Verbrechen zum Opfer
gefallen ist«, gab ich zu bedenken.
Reevers runzelte die Stirn.
Er wechselte kurz einen Blick mit seinen Kollegen und erklärte
dann: »Monsieur Basilov war immer ein problematischer Hausbewohner
für uns.«
»Wie meinen Sie das?«
»Zunächst einmal, weil er viele Sonderregelungen für sich
beansprucht hat, die es nicht gerade erleichtert haben, für seine
Sicherheit zu sorgen.«
»Was waren das für Sonderregelungen?«
»Er beharrte darauf, das gesamte Überwachungssystem für seinen
Teil des Hauses autonom abschalten zu können – was er relativ
häufig getan hat.«
»Hat er das begründet?«
»Ja, er meinte der Kunsthandel, den er betreiben würde, wäre
ein sensibles Geschäft, und er hätte manchmal sehr zahlungskräftige
Kundschaft, die keinen Wert darauf legt, gefilmt zu werden. Dass
wir Aufnahmen, die wir in den Fluren und im Eingangsbereich
aufzeichnen, alle zwei Wochen vernichten, schien ihm nicht
auszureichen.« Reevers zuckte mit den breiten Schultern. Das
schwarze Uniformhemd spannte sich um die kräftigen Bizeps, als er
die Arme vor der Brust verschränkte. »Wann ist das Verbrechen
geschehen?«
»Wahrscheinlich in dieser Nacht, aber genau lässt sich das
wohl erst sagen, wenn die Erkennungsdienstler ihren Job gemacht
haben«, erläuterte François. »Hoffe ich jedenfalls.«
»Gestern am frühen Abend wurde die Überwachungsanlage für
seinen Teil des Hauses abgeschaltet«, erklärte Reevers.
»Wahrscheinlich hatte er wieder eine exklusive Vorführung
irgendwelcher Kunstobjekte für genauso exklusive Kunden. Also keine
öffentliche Veranstaltung oder so etwas. Sie müssten mal mit diesem
Typen sprechen, den er angestellt hatte. Der kann Ihnen bestimmt
mehr darüber sagen.«
»Antoine Thuppoire?«, vergewisserte ich mich.
»Ja, das ist sein Name. Er hat einen Schlüssel zum Haus und
zur Galerie. Außerdem einen Parkplatz in der Tiefgarage, genau wie
Basilov selbst.«
»Wir brauchen die Adresse von diesem Thuppoire.«
»Steht in seinen Unterlagen. Warten Sie, ich suche Ihnen das
heraus. Ich habe sogar Fingerabdrücke von ihm, sonst hätte er weder
die Schlüssel noch den Parkplatz bekommen. Das ist eine Auflage der
Eigentümergemeinschaft, der dieses Haus gehört. Schließlich soll
hier nicht jeder nach Belieben ein- und ausgehen können!«
»Wunderbar!«, freute ich mich. »Dann händigen Sie uns doch
bitte alle Unterlagen aus, die Sie über Thuppoire haben!«
Reevers erhob sich von seinem Platz, ging an einen
Aktenschrank und holte eine Mappe hervor.
»Das hier ist das Original. Aber wir haben das Ganze auch als
Datensatz. Wenn Sie mir Ihre Email-Adresse geben, kann ich Ihnen
das gerne auf den Rechner schicken!«
»Gerne.«
»Ich muss vorher nur kurz mal mit meinem Chef telefonieren und
fragen, ob das okay ist. Aber im Prinzip kann ich mir nicht
vorstellen, dass er sich querlegt, wenn es darum geht, Hilfe zu
leisten!« Er verzog das Gesicht. »Schließlich kämpfen wir doch auf
derselben Seite, wie ich meine!«
»Wir hätten dann trotzdem noch gerne Ihre Videoaufzeichnungen
der letzten zwei Wochen«, mischte sich François ein. »Es könnte ja
sein, dass jemand, der als Täter in Frage kommt, Monsieur Basilov
bereits früher einmal besucht hat.«
Reevers nickte. »In Ordnung.«
Ich erkundigte mich anschließend nach der Tiefgarage. »Sie hat
zwei Decks und ist eigentlich für das Haus etwas überdimensioniert.
Aber es war wohl von Anfang an so konzipiert, dass Leute, die ein
Heidengeld für eine Wohnung in diesem Haus bezahlen, sich keine
Gedanken darüber machen müssen, ob sie Platz für den Wagen finden –
und zwar selbst dann, wenn mehrere oder sehr sperrige Autos
vorhanden sind. Monsieur Basilov zum Beispiel besaß einen
Lamborghini und einen etwas unscheinbaren Chevrolet …«
Ich schrieb mir Stellplatznummer und die Kennzeichen der
beiden Fahrzeuge auf – so wie ich mir auch notierte, wo Thuppoire
seinen Wagen abzustellen pflegte.
»Ich nehme an, dass die Überwachung des Parkdecks lückenlos
war«, vermutete ich. »Oder hatte Monsieur Basilov da auch
Sonderregelungen?«
Reevers lächelte dünn.
»Ich glaube kaum, dass er so etwas gegen die anderen
Eigentümer hätte durchsetzen können. Die haben ihn ohnehin alle für
einen Spinner gehalten. Beliebt war er nun wirklich nicht. Schon
deshalb, weil immer wieder Kleinlastwagen völlig verkehrswidrig vor
seinem separaten Eingang zum Be- und Entladen hielten. Ob er dafür
wirklich eine Sondergenehmigung der Schutzpolizei hatte, weiß ich
nicht, aber mir ist bekannt, dass das einige andere Hausbewohner
ziemlich aufgebracht hat.«
Einer von Reevers Kollegen schaltete einen Computerschirm ein
und schaltete den Bildausschnitt von einer der Überwachungskameras
um.
»Einer von Basilovs Wagen fehlt«, stellte er fest. »Es ist der
Chevrolet. Er hat die dazugehörige Chipkarte genau um vier Uhr
dreißig heute morgen benutzt.«
»Könnte man feststellen, ob sich Basilov wirklich in seinem
Wagen befand?«, fragte François.
»Sicher. Dauert aber ein bisschen.«
»Macht nichts«, sagte ich. »Das könnte uns eventuell
weiterbringen. Und vielleicht stellen Sie dann auch gleich mal
fest, wann Antoine Thuppoire zuletzt im Gebäude gewesen ist.«
»In Ordnung«, nickte der Wachmann, an dessen Uniformhemd der
Name Valentin E. Sopolle in Großbuchstaben aufgebügelt war.
Es dauerte eine Weile, bis Sopolle die richtigen Stellen in
den Aufzeichnungen herausgesucht hatte. Es war auf dem Bildschirm
deutlich zu sehen, wie Antoine Thuppoire am Vortag gegen Mittag mit
seinem Wagen in die Tiefgarage gefahren war. Erst nach Mitternacht
hatte er sie wieder verlassen.
»Wahrscheinlich war da diese Privatvorführung für irgendwelche
erlesenen Kunden zu Ende«, meinte François.
Anschließend zeigte uns Sopolle die Szenen, in denen man sehen
konnte, wie Basilovs Audi am Morgen um 4.30 Uhr die Tiefgarage
verließ.
»Können Sie die den Fahrer näher heranzoomen?«, fragte
ich.
»Sicher«, nickte Sopolle.
Er vergrößerte den Bildausschnitt, der den Mann hinter dem
Steuer des Audis zeigte. Aber mehr als ein gepixelter Schatten war
dort nicht zu sehen.
»Wer sollte das denn sonst sein – außer Basilov?«, fragte
Reevers.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir sind uns nicht sicher, ob
Basilov zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch am Leben war. Den Wagen
könnte auch sein Mörder benutzt haben.«
Wir ließen uns noch den Blick auf Basilovs Parklatz zeigen.
Allerdings versperrten ein Pfeiler sowie ein paar andere
Fahrzeuge den Blick. So war auch nicht zu sehen, wer den Wagen
bestiegen hatte und ob der Betreffende vielleicht noch eine Leiche
im Kofferraum verstaute.
»Noch eine letzte Frage«, wandte ich mich an Reevers. »Vor
zwei Monaten soll eine gewisse Nora bei Basilov eingezogen sein.
Hatte sie zufälligerweise auch eine Chipcard für die
Tiefgarage?«
Reevers schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist bei uns nicht
bekannt. Basilov war Eigentümer seiner Wohnung. Der konnte dort
wohnen lassen, wen er wollte.«
»Offenbar hatte die Lady keinen eigenen Wagen«, kommentierte
François.
10
»Wenn du mich fragst, dann passt das alles überhaupt nicht
zusammen«, meinte François, während wir mit dem Lift zurück in die
Galerie im Erdgeschoss fuhren. »Basilov fährt mit seinem eigenen
Wagen am frühen Morgen aus der Tiefgarage, obwohl er in seiner
Wohnung ermordet wurde?«
»Wir wissen nicht, wer am Steuer des Autos saß«, erinnerte ich
François.
»Gut, gehen wir davon aus, dass es der Mörder war, der am
Steuer saß. Er veranlasst Basilov, ihm die Tür aufzumachen …«
»Das heißt, er muss Basilov bekannt gewesen sein,
François!«
»Nicht unbedingt. Eine Automatik mit Schalldämpfer könnte auch
ein überzeugendes Argument gewesen sein! Und sag jetzt nicht, dass
er um seines Gastes willen die Alarmanlage ausgeschaltet hat! Die
hat er einfach nur vergessen, weil am Vorabend doch eine dieser
mysteriösen Präsentationen gewesen ist, deren Gäste so lichtscheu
sind, dass sie nicht von einer Überwachungskamera aufgezeichnet
werden wollen.«
»Wie auch immer. Es kommt zum Streit, vielleicht auch zum
Kampf«, sagte ich. »Der Schuss in der Galerie ist eine Tatsache.
Basilov bekommt eine Kugel ab, und der Killer durchsucht das ganze
Haus nach belastendem Material! Aber ein unbekannter Profi hätte
Basilov schon an der Tür erschossen. Also muss es doch ein
Bekannter gewesen sein.«
»Okay, ich gebe zu, dass sie offenbar noch eine ganze Weile
miteinander geredet haben, Pierre. Vielleicht wollte der Killer
zuerst noch Informationen aus Basilov herausholen.«
Ich atmete tief durch »Vielleicht sollten wir das Ganze mal
umgekehrt durchdenken, François.«
»Wie meinst du das?«
»Na, wir gehen doch bis jetzt immer davon aus, dass Basilov
das Opfer war. Wie funktioniert das denn, wenn er der Täter
ist?«
»Komm schon, das ist nicht dein Ernst, Pierre!«
»Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die Blutanalyse.«
Als wir in der Galerie ankamen, war Marcel Duval bereits vom
Café Capute zurückgekehrt.
Basilov hatte dort tatsächlich jeden Morgen sein Frühstück
eingenommen, wie Duval uns berichtete. In der Zeit vor seiner
letzten Reise nach Russland war dabei oft eine junge Frau zugegen
gewesen. »Basilov wurde gestern zum letzten Mal im Café Capute
gesehen«, berichtete Duval. »Und zwar zusammen mit einem Mann, der
ein ziemlich auffälliges Äußeres hatte: kaum einen Meter sechzig
groß, fast kein Hals, breites Gesicht und grauer Cäsar-Schnitt. Er
trug einen blauen Blazer und sprach mit sehr hartem, ausländischem
Akzent.«
»Ein Russe?«, fragte François.
»Möglich. Die Leute in dem Café waren sich leider nicht
sicher. Tatsache ist, dass das Arbeitsfrühstück der beiden mit
einem lautstarken Krach endete! Basilov blieb allein zurück.«
»Wir müssen unbedingt mit dem Zwergen-Cäsar sprechen!«,
stellte ich klar.
Duval nickte. »Deswegen habe ich auch bereits in Ihrem
Präsidium angerufen. Sie verfügen da über einen exzellenten
Zeichner …«
»Perouche!«, schloss ich.
»Genau. Er begibt sich mit seinem Laptop zum Café Capute und
fertigt aus den Angaben der Angestellten ein Phantombild.
Vielleicht finden wir ihn dann.« Duval blickte auf die Uhr. »Sie
beide waren ja eine Weile weg, und da habe ich die Zeit genutzt, um
den Kerl zu überprüfen, den Basilov in der Galerie angestellt
hatte.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Antoine Thuppoire?«
Er nickte. »Genau. Über den Kerl gibt es eine Datei, die man
über unser Datenverbundsystem einsehen kann. Mehrere Verurteilungen
wegen Hehlerei stehen auf seinem Kerbholz.«
»Das ist interessant.«
»Noch interessanter ist, worum es dabei ging, Pierre. Sie
werden es nicht glauben: Er hatte sich auf illegale
Kunstgegenstände spezialisiert. Allerdings war er damals noch auf
Kunst aus Südostasien versessen.«
»Vielleicht liefen Basilovs Verbindungen zur Kunstmafia über
diesen Thuppoire«, vermutete ich.
Duvals Gedanken schienen sich in dieselbe Richtung zu bewegen.
»Das liegt meiner Ansicht nach nahe.«
11
Wir befragten noch systematisch die anderen Bewohner des
Hauses. Die meisten waren um diese Zeit zur Arbeit, und so würden
wir wahrscheinlich noch einmal zurückkommen müssen.
Ein Siebzigjähriger, der seine Wohnung im fünften Stock hatte,
beschwerte sich darüber, dass gegen vier Uhr dreißig morgens ein
Transporter mit laufendem Motor vor der Galerie gestanden hatte.
»Ich habe einen leichten Schlaf und war deswegen ziemlich
sauer«, meinte der Zeuge.
Er hieß Thomé Meggier und war ein ehemaliger Börsenmakler, der
sich zur Ruhe gesetzt hatte. Allerdings verfolgte er die aktuellen
Kurse immer noch rund um die Uhr online und spekulierte wohl auch
in gewissem Rahmen mit seinen Ersparnissen. Zumindest verfolgte er
auf drei verschiedenen Monitoren die Kursstände der Börsen London,
Frankfurt, New York und Tokio. »Ich kann es halt nicht lassen«,
meinte er dazu schulterzuckend. »Viel Schlaf brauche ich
glücklicherweise nicht.«
»Können Sie uns über diesen Transporter noch irgendwelche
Einzelheiten sagen?«
»Es war ein Mercedes, da bin ich mir sicher. Ich bin auf den
Balkon gegangen und habe hinuntergeschaut. Wissen Sie, dass bei
dieser Galerie des Öfteren mal etwas angeliefert wird, bin ich ja
gewöhnt. Aber das geschieht dann tagsüber. Manchmal kommt es zu
einem kleinen Stau bis zur Ausfahrt der Tiefgarage, was viele
Hausbewohner sehr aufgebracht hat.«
»Sie nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich benutze meinen Wagen kaum
noch. Der Verkehr im Großraum Marseille ist mir einfach zu hektisch
geworden.«
»Haben Sie gesehen, was aus- oder eingeladen wurde?«, mischte
sich François in das Gespräch ein.
Er nickte heftig.
»Ja. Es handelte sich um ein paar Kisten und einen Teppich. Es
waren drei Mann, die das Zeug aus der Galerie holten, einluden, und
dann ab damit. Das ging sehr schnell und hektisch.«
»War dies einer der drei?«, fragte ich und zeigte ihm ein Bild
von Antoine Thuppoire.
»Nein. Das ist der Kerl, den Basilov für die Galerie
angestellt hat, den kenne ich! Ich glaube, er heißt Thuppoire. Sein
Parkplatz liegt in der Tiefgarage neben meinem. Wissen Sie, ich
benutze meinen Wagen zwar kaum noch, aber wenn jemand einen Kratzer
dran macht, möchte ich wissen, wer das war. Deswegen habe ich mich
erkundigt. Ich finde es übrigens nicht in Ordnung, dass hier Leute
Parkplätze bekommen, die gar nicht im Haus wohnen! Aber wenn
Monsieur Basilov das will, gelten offenbar die Beschlüsse unserer
Eigentümerversammlung nicht mehr! Ich habe keine Ahnung, wie er das
dreht, aber in Ordnung ist das nicht!«
»Können Sie die Männer beschreiben?«, versuchte ich das
Gespräch wieder auf den Punkt zu bringen.
»Die waren so um die dreißig Jahre alt. Einer hatte einen
Vollbart, ein anderer war blond. Der dritte war etwas größer als
die beiden anderen und hatte gelocktes Haar.«
Ich telefonierte kurz mit unserem Kollegen Perouche, damit er
nach seinem Besuch beim Café Capute auch noch bei Thomé Meggier
vorbeischaute.
Wir hatten Meggiers Wohnung gerade verlassen, als uns ein
Anruf aus dem Präsidium erreichte. Unser Kollege Maxime Valois
meldete sich. Ich schaltete das Handy auf laut.
»Dieser Markov hat sich gemeldet. Er ist am Flughafen und
hätte gerne, dass Monsieur Duval ihn abholt.«
»Okay«, nickte Marcel Duval.
»In Ordnung«, meinte Maxime. »Markov sitzt im Café Numéro une.
Das ist im …«
»Ich kenne es«, schnitt Duval ihm das Wort ab.
»Sie sollen sich dort einfach irgendwo hinsetzen. Markov wird
Sie dort ansprechen.«
»Gut.«
Das Gespräch wurde unterbrochen.
»Dieser Markov kennt Sie?«, fragte ich etwas verwundert.
»Ja, wir sind uns vor zwei Jahren auf einer internationalen
Tagung in Budapest über die Bekämpfung des illegalen Kunsthandels
begegnet. Ein guter Mann.«
»Aber offenbar sehr misstrauisch.«
Duval lachte auf. »Was glauben Sie, was da zur Zeit in St.
Petersburg so los ist? Leute wie Markov sind doch ständig
Zielscheiben der Kunstmafia. Den Mann, der vorher auf Markovs
Posten war, fand man als Wasserleiche in der Newa. Er hat allen
Grund, vorsichtig zu sein.«
François und ich wechselten einen kurzen Blick. »Okay, dann
trennen sich unsere Wege hier erst mal. Wir werden zu Antoine
Thuppoire fahren und ihm ein paar Fragen stellen.«
Marcel Duval grinste.
»Viel Glück dabei.«
12
Antoine Thuppoire blickte kurz auf die Papiere und
Flugtickets. Ein neuer Name und ein neues Leben. Der Name, unter
dem das Wirklichkeit werden sollte, war James Smith,
südafrikanischer Staatsangehöriger.
Ganz so fantasielos hatte ich mir das eigentlich nicht
vorgestellt!, ging es ihm durch den Kopf.
Er hörte Schritte. Nackte Füße auf dem Parkettboden. Seine
Freundin Edda kam aus der Dusche. Sie trug einen Frotteemantel und
ein Handtuch, das wie ein Turban um ihren Kopf gewickelt war.
Bevor sie etwas von den Papieren sehen konnte, ließ Antoine
Thuppoire sie in der Jackettinnentasche verschwinden. Er hatte
keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten. Und gefragt hätte
Edda mit Sicherheit!
Sie blickte auf den Koffer, in den er ein paar Hemden, ein
Jackett und eine zweite Hose gelegt hatte.
»Du willst weg?«
»Ich muss.«
»Davon hast du mir noch gar nichts gesagt.«
»Habe ich wohl vergessen.«
»Wieso denn jetzt so plötzlich?«
»Geschäftlicher Termin in Toronto. Du weißt doch, dass bei
Monsieur Basilov diese Dinge manchmal Hals über Kopf gehen.«
»Dann arbeite doch für jemand anders als für diesen
schmierigen Typen. Ehrlich gesagt, mochte ich ihn von Anfang an
nicht.«
Thuppoire schloss den Koffer.
»Findest du nicht, dass die Sachen, die du da eingepackt hast,
für Toronto ein bisschen zu sommerlich wirken?«
Antoine Thuppoires Ton wurde schärfer. »Herrgott noch mal, was
machst du jetzt für einen Aufstand? Ich muss ein paar Tage weg, das
ist alles! Eigentlich dachte ich, du hättest dich langsam daran
gewöhnt!«
Das Telefon klingelte.
Thuppoire nahm ab.
»Ja?«
Keine Antwort. Es klickte in der Leitung. Thuppoire legte
wieder auf. Eine tiefe Furche erschien auf seiner Stirn.
Edda stemmte die Arme in die Hüften
»Wer war das?«, wollte sie wissen.
»Niemand …«
»Hör mal, ich glaube fast, du tanzt noch irgendwo auf einer
anderen Hochzeit! Erzählst mir da irgendwelche Geschichten über
Geschäfte in Toronto oder so einen Mist und packst Sachen ein, die
dazu nicht passen!«
»Edda …«
»Ich habe schon länger den Eindruck, dass du da irgendwo noch
etwas anderes laufen hast!«
»Das ist Unsinn!«
»Besser, du sagst es mir offen und ehrlich, statt dieses feige
Versteckspiel weiter zu treiben!«
»Edda, mein Flieger wartet nicht!«
»Du kannst mir noch nicht einmal gerade in die Augen sehen,
Antoine!«
»Vielleicht können wir ein anderes Mal in Ruhe darüber reden
…«
In diesem Augenblick klingelte es am Eingang. Edda ging zur
Tür des geräumigen Ein-Zimmer-Apartments.
»Wer ist da?«, fragte sie über die Sprechanlage, ehe Antoine
Thuppoire es verhindern konnte.
Eine sonore Stimme meldete sich. »Paketservice. Ich habe eine
Sendung für Sie.«
Edda öffnete die Tür.
Ein Mann in einer bis über die Hüfte gehenden, taillierten
Lederjacke und dazu passenden Lederstiefeln stand auf dem Flur.
Eine dunkle Strickmütze bedeckte fast die gesamte Stirn.
Der Mann in Leder blickte an Edda vorbei in Antoine Thuppoires
Richtung und griff unter seine Jacke. Edda sprang zurück, während
eine Automatik mit Schalldämpfer unter der Lederjacke hervorgezogen
wurde.
Thuppoire griff unter sein Jackett und riss einen kurzläufigen
Revolver hervor.
Aber er kam nicht mehr zum Schuss.
Zweimal kurz hintereinander ertönte ein Geräusch wie bei einem
heftigen Niesen. Das Mündungsfeuer leckte blutrot aus dem
Schalldämpfer heraus. Thuppoire zuckte und sackte erst auf die
Knie, ehe er mit dem Gesicht nach vorn zu Boden fiel.
Edda wich zurück und schrie.
Der Mann in Leder richtete seine Waffe auf sie und drückte
noch einmal ab. Getroffen sank sie zu Boden und blieb regungslos
liegen. Blut sickerte aus einer Schusswunde an ihrem Kopf.
Der Killer trat in die Wohnung, schloss die Tür hinter sich
und sah sich um.
Ein zynisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
Für jemanden, der in den letzten Jahren so gute Geschäfte
gemacht hat, hast du aber ziemlich stillos gelebt, Antoine
Thuppoire!, dachte er grinsend
13
François und ich parkten vor einem Altbau. Antoine Thuppoires
Apartment lag im vierten Stock.
Das Haus war gepflegt, verfügte aber über keinerlei besonderen
Luxus und auch nicht über besondere Sicherheitstechnik. Die Mieten
waren in dieser Gegend aber auf Grund der zentralen Lage trotzdem
gepfeffert.
Wir klingelten nicht bei Thuppoire sondern bei einem der
anderen Mieter, der uns hereinließ, nachdem wir uns mündlich als
FoPoCri-Beamte vorgestellt hatten.
Mit dem Lift ging es dann hinauf in den vierten Stock.
Wenig später standen wir vor Thuppoires Tür. Aus der Wohnung
waren Geräusche zu hören.
»Das hört sich an, als würde dort jemand einen Umzug
beginnen!«, meinte François und drückte auf die Klingel.
Die Geräusche verstummten.
Nichts geschah.
Wir postierten uns rechts und links der Tür, die Hand an der
Dienstwaffe.
»Monsieur Thuppoire, hier spricht die Polizei! Bitte machen
Sie die Tür auf! Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen!«
Im nächsten Moment folgten fünf kurz hintereinander abgegebene
Schüsse. Die großkalibrigen Projektile stanzten daumengroße Löcher
in die Tür.
Anschließend waren auf der anderen Seite schnelle Schritte zu
hören.
Ich schnellte vor, zog die Dienstwaffe vom Typ SIG Sauer P226
und stürmte los.
Zwei Schritte weit kam ich.
Dicke, blassgrüne Schwaden zogen mir entgegen, die die Augen
tränen ließen.
Der Nebel war so dicht, dass ich kaum etwas sehen konnte.
Nur eine schattenhafte Gestalt. Ein Mündungsfeuer blitzte
durch den Nebel hindurch.
Kein Schussgeräusch.
Die Kugel zischte dicht an mir vorbei. Ich feuerte zurück ins
Nichts hinein. Das Geräusch einer zerspringenden Fensterscheibe war
zu hören.
Dann war die Gestalt verschwunden.
Ich kämpfte mich durch den beißenden Nebel und presste mir
dabei mein Taschentuch vor die Nase.
Ein paar Schritte vor mir lag dir Leiche einer jungen
Frau.
»Zurück, Pierre!«, rief François – und er hatte Recht.
Ich taumelte zurück zur Tür und hustete erbärmlich. Brechreiz
machte sich bemerkbar. Wer diese Wolke durchquerte, war anschießend
kampfunfähig.
François klingelte inzwischen an der Tür der Nachbarwohnung
und klopfte heftig gegen die Tür. »Polizei! Machen Sie die Tür
auf!«
Ich erholte mich unterdessen einigermaßen.
Ein Mann von Mitte vierzig öffnete die Tür der
Nachbarwohnung.
»Was wollen Sie?«
»Gehen Sie zur Seite!«, forderte François und hielt ihm seinen
Dienstausweis unter die Nase. »Wir müssen durch Ihre
Wohnung.«
»Aber …«
»Gibt auf Ihrer Seite des Hauses eine Feuertreppe?«
»Ja.«
»Außen angebracht?«
»Ja. Ein zweiter Fluchtweg ist für ein Gebäude wie dieses
Vorschrift. Da im Innenbereich kein Platz ist, um …«
»Dachte ich mir!«, unterbrach ich ihn.
François stürmte voran. Ich schnellte hinterher. Der
Wohnungsbesitzer, an dessen Tür der Name Professor Dr. Rainier Luis
Brume stand, sah uns verdutzt hinterher.
Mit schnellen Schritten war François durch die
Ein-Zimmer-Wohnung geeilt und hatte die Balkontür erreicht. Ich war
ihm dicht auf den Fersen. François öffnete die Tür, und wir traten
ins Freie.
Aus Thuppoires Wohnung quollen blassgrüne Tränengasschwaden.
»Das ist aber ein anderes Zeug als unsere Kollegen von der
Schutzpolizei verwenden«, meinte François.
»Aber mindestens genauso wirksam!«, gab ich zurück und
versuchte den Drang zu unterdrücken, mir die Augen zu reiben.
Ich ließ den Blick schweifen.
Die Fluchttreppe war von Thuppoires Balkon aus gut zu
erreichen.
Über sie war der Täter vermutlich geflüchtet.
Vor uns lag ein Hinterhof, der von mehrstöckigen Gebäuden
umgeben war. Offenbar sollte der gesamte Komplex gründlich saniert
werden. Das Gebäude auf der Rechten war eine entkernte Ruine ohne
Fenster. Offenbar wurde das Haus gerade abrissfertig gemacht. Auf
der Linken war bereits ein acht Stockwerke hoher Rohbau zu sehen,
der zeigte, wie sich die Eigentümer die Zukunft vorstellten.
Die Arbeiten ruhten zur Zeit. Wie ich später erfuhr, gab es
Unstimmigkeiten über die Zahlung einiger Zwischenrechnungen.
Der Asphalt auf dem Mittelplatz war von feinem Zementstaub
bedeckt. Der Wind wehte ihn aus dem Neubau, sodass eine feine
Schicht davon auch die Baumaschinen und den Kran der Abrissbirne
bedeckte.
Frische Fußspuren fanden sich dort – gleich im Anschluss an
das Ende der Feuertreppe.
Leider verloren sie sich bereits nach wenigen Schritten.
François telefonierte mit unserem Präsidium. Ich überkletterte
inzwischen die Balkonbrüstung und machte einen Satz, sodass ich auf
dem nächsten Absatz der Feuertreppe landete.
»Warte, Pierre!«, rief François.
Aber ich dachte gar nicht daran.
Der Kerl, den ich gesehen hatte, konnte sich schließlich nicht
in Luft auflösen.
Die Einfahrt zum Hinterhof war mit einem drei Meter hohen Zaun
aus Stahlgitter gesperrt.
Dass der Schatten es innerhalb der kurzen Zeit geschafft
hatte, diesen Zaun zu überklettern, schien mir sehr
unwahrscheinlich.
Vielleicht hatte er versucht, über das Abbruchhaus oder den
Rohbau zu entkommen.
Es war anzunehmen, dass die jeweiligen Baustellen zur
Straßenseite ebenfalls stark gesichert waren.
Schon deshalb, weil es keine Baufirma und kein Bauherr
riskieren konnte, unter Umständen millionenschwere Schmerzensgelder
zahlen zu müssen, wenn sich dort irgendein Passant verletzte.
Vielleicht steckte der Schatten also noch ganz in der Nähe,
verbarg sich einfach irgendwo und hoffte darauf, dass wir ihn
bereits aufgegeben hatten.
Ich rannte mit Riesenschritten die Fluchttreppe hinunter.
In den Augen brannte es immer noch höllisch, und ich hatte
gleichzeitig ein Gefühl, als wollte mir jemand die oberen Atemwege
ohne Betäubung aus dem Leib reißen. Aber ich biss die Zähne
zusammen.
Unten angekommen verharrte ich für einen kurzen Moment neben
einem übervollen Müllcontainer. Dort hatte ich zumindest etwas
Deckung.
Die Spur verlor sich, zeigte aber für meinen Geschmack
eindeutig in Richtung des Abbruchhauses. Ich beobachtete sorgfältig
die Fenster, achtete dort auf jede Bewegung, jede Kleinigkeit
…
Aber da schien niemand zu sein.
Mit der Pistole in beiden Händen stürmte ich voran. Einige
Meter ohne Deckung musste ich überwinden, ehe ich einen etwa zwei
Meter fünfzig hohen Schuttcontainer erreichen konnte.
Kurz bevor ich die Deckung erreichte, tanzte der feine, kaum
sichtbare Strahl einer Laserzielerfassung durch die Luft und brach
sich im aufgewirbeltem Staub.
Ich wartete nicht, bis mein Gegner mich perfekt im Visier
hatte.
Stattdessen hechtete ich zu Boden und rollte um die eigene
Achse über den Boden.
Der Schatten entschloss sich eine Sekunde zu spät zum Schuss.
Die kurz nacheinander abgefeuerten Kugeln krachten in den Asphalt
und stanzten dort Löcher hinein, deren Tiefe der Länge eines
Zeigefingers entsprach.
Im nächsten Moment hatte ich den Schutz des Schuttcontainers
erreicht. Ein Projektil kratzte pfeifend über der oberen
Metallkante.
François feuerte unterdessen von einem der Absätze der
Fluchttreppe aus auf das Fenster, wo sich der Schatten verborgen
hielt.
Inzwischen waren in der Ferne bereits die Sirenen der
Schutzpolizei und der Feuerwehr zu hören, die François ebenfalls
alarmiert hatte.
Ich tauchte aus der Deckung hervor, richtete die Waffe empor
und hielt sie auf das Fenster, aus dem auf mich geschossen worden
war.
Aber der Schütze hatte sich von dort offenbar inzwischen
zurückgezogen.
Ich rannte in geduckter Haltung auf das Haus zu. François gab
mir dabei von seiner Position aus Feuerschutz.
Wenige Augenblicke später erreichte ich die Wand und schwang
mich dann im Erdgeschoss durch ein Fenster ins Innere. Mit der SIG
im Anschlag schlich ich voran und versuchte, keinen Laut zu
verursachen.