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Universum – dieser Begriff bezeichnet nicht nur den Weltraum, sondern umfasst die Gesamtheit aller Dinge in unserer Welt. Doch was wäre, wenn das Universum doch nicht die gesamte Welt darstellen würde? Wenn es zwei, drei, ja unendlich viele Universen gäbe? Dass die Idee des Multiversums, also mehrerer möglicher Universen, nicht nur Stoff für Science-Fiction-Romane ist, sondern ein wichtiges Forschungsfeld der Physik, das unseren Blick auf die Welt und unser Verständnis der Wirklichkeit verändert, zeigt Brian Greene in seinem Bestseller.
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Seitenzahl: 794
Für Alec und Sophia
Falls es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch Zweifel gegeben hatte, so war die Sache zu Beginn des 21. ausgemacht: Wenn es darauf ankommt, das wahre Wesen der Wirklichkeit offenzulegen, führen uns unsere gewöhnlichen Erfahrungen häufig in die Irre. Denkt man genauer darüber nach, ist das eigentlich nicht verwunderlich. Als unsere Vorfahren in den Wäldern Essbares sammelten und in der Savanne auf die Jagd gingen, hätte ihnen die Fähigkeit, das Quantenverhalten der Elektronen zu berechnen oder die kosmologischen Konsequenzen der Existenz Schwarzer Löcher aufzuklären, kaum einen Überlebensvorteil eingebracht. Ein größeres Gehirn aber war mit Sicherheit von Nutzen, und mit der Erweiterung unserer geistigen Kapazität nahm auch die Fähigkeit zu, unsere Umgebung immer eingehender zu erforschen. Einige Angehörige unserer Spezies bauten Vorrichtungen, mit denen sich die Reichweite unserer Sinne vergrößerte; andere begannen, sich mit großem Erfolg eine systematische Methode zum Aufspüren und Ausdrücken von Mustern anzueignen: die Mathematik. Dank solcher Hilfsmittel konnten wir nach und nach einen Blick hinter die Alltagserscheinungen werfen.
Was wir dabei entdeckt haben, erfordert bereits für sich genommen radikale Veränderungen an unserem Bild vom Kosmos. Mit physikalischen Erkenntnissen und mathematischer Strenge, mit Experimenten und Beobachtungen als Leitfaden und Bestätigung konnten wir etwas Wichtiges nachweisen: Raum, Zeit, Materie und Energie verfügen über ein Verhaltensrepertoire, das weit über unsere Alltagserfahrung hinausgeht. Gründliche Analysen dieser und ähnlicher Entdeckungen führen uns heute wohl zur nächsten Umwälzung unseres Wissensstandes: Möglicherweise ist unser Universum nicht das einzige. Um dieses Thema geht es in Die verborgene Wirklichkeit.
In diesem Buch setze ich beim Leser keinerlei Fachkenntnisse in Physik oder Mathematik voraus. Stattdessen möchte ich wie in meinen früheren Büchern mithilfe von Metaphern, Analogien und eingestreuten historischen Episoden einige der seltsamsten und – sollten sie sich als richtig erweisen – aufschlussreichsten Erkenntnisse der modernen Physik allgemein verständlich darstellen. Viele der hier vorgestellten Konzepte setzen voraus, dass der Leser bequeme Denkweisen aufgibt und sich mit unerwarteten Bereichen der Realität auseinandersetzt. Die wissenschaftlichen Windungen und Wendungen, die dieser Weg genommen hat, machen ihn nur umso spannender und verständlicher. Ich habe daraus mit Bedacht ausgewählt und eine Landschaft der Ideen gezeichnet, die sich mit Gipfeln und Tälern vom Alltäglichen bis zum völlig Ungewohnten erstreckt.
Im Unterschied zum Aufbau meiner früheren Bücher habe ich dieses Mal keine Einleitungskapitel zur systematischen Darlegung von Grundwissen – beispielsweise über die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie oder über Quantenmechanik – vorangestellt. Stattdessen führe ich Elemente aus diesen Themenbereichen jeweils nur »nach Bedarf« ein; wenn ich hier und da feststelle, dass eine etwas umfassendere Darstellung notwendig ist, damit das Buch aus sich heraus verständlich bleibt, weise ich Leser mit fortgeschrittenen Kenntnissen darauf hin, dass sie diesen oder jenen Absatz ohne Weiteres überspringen können.
In mehreren Kapiteln widme ich dagegen die letzten Seiten einer Darstellung des Materials, die manche Leser vielleicht schwierig finden werden. Zu Beginn dieser Abschnitte biete ich Lesern mit weniger Vorkenntnissen eine kurze Zusammenfassung an, und dann können sie zum nächsten Kapitel springen, ohne den Zusammenhang zu verlieren. Dennoch möchte ich ausdrücklich dazu ermutigen, diese Abschnitte so weit zu lesen, wie Interesse und Geduld es erlauben. Die Beschreibungen sind dort zwar komplizierter, der ganze Text ist aber für ein breites Lesepublikum bestimmt und setzt auch hier nichts anderes voraus als den Willen zum Durchhalten.
Die Anmerkungen sind in dieser Hinsicht etwas anderes. Leser, für die das Thema neu ist, können sie völlig außer Acht lassen; der kenntnisreichere Leser findet dort Klarstellungen oder Erweiterungen, die ich für wichtig halte, die aber im Haupttext des Buches zu weit geführt hätten. Viele Anmerkungen richten sich an Leser mit mathematischer oder physikalischer Bildung.
Während ich Die verborgene Wirklichkeit schrieb, erhielt ich viele nützliche, kritische Kommentare und Rückmeldungen von Freunden, Kollegen und Angehörigen, die einige oder alle Kapitel des Buches gelesen hatten. Mein besonderer Dank gilt David Albert, Tracy Day, Richard Easther, Rita Greene, Simon Judes, Daniel Kabat, David Kagan, Paul Kaiser, Raphael Kasper, Juan Maldacena, Katinka Matson, Maulik Parikh, Markus Pössel, Michael Popowits und Ken Vineberg. Die Arbeit mit Marty Asher, meinem Lektor bei Knopf, ist immer eine Freude, und ich danke auch Andrew Carlson, der das Buch in den letzten Herstellungsstadien fachmännisch betreute. Die großartigen Illustrationen von Jason Severs kommen der Qualität der Beschreibungen sehr zugute; ich danke ihm sowohl für seine Begabung als auch für seine Geduld. Mit besonderer Freude danke ich meinen Agenten Katinka Matson and John Brockman.
Als ich überlegte, wie ich den in diesem Buch behandelten Stoff darstellen soll, waren zahlreiche Gespräche mit einer großen Zahl von Kollegen äußerst nützlich. Neben den bereits erwähnten Personen danke ich insbesondere Raphael Bousso, Robert Brandenberger, Frederik Denef, Jacques Distler, Michael Douglas, Lam Hui, Lawrence Krauss, Janna Levin, Andrei Linde, Seth Lloyd, Barry Loewer, Saul Perlmutter, Jürgen Schmidhuber, Steve Shenker, Paul Steinhardt, Andrew Strominger, Leonard Susskind, Max Tegmark, Henry Tye, Curmrun Vafa, David Wallace, Erick Weinberg und Shing-Tung Yau.
Mit der Arbeit an Das elegante Universum, meinem ersten Buch für ein Laienpublikum, begann ich im Sommer 1996. In den 15 Jahren, die seither vergangen sind, genoss ich ein unerwartetes, fruchtbares Wechselspiel zwischen dem zentralen Thema meiner wissenschaftlichen Forschung und den Gebieten, über die ich in meinen Büchern berichte. Ich danke meinen Studierenden und Kollegen an der Columbia University für ein lebendiges Forschungsumfeld, dem Energieministerium für die Finanzierung meiner wissenschaftlichen Arbeit und dem mittlerweile verstorbenen Pentti Kouri für die großzügige Unterstützung meines Forschungszentrums an der Columbia University, dem Institute for Strings, Cosmology and Astroparticle Physics.
Und schließlich danke ich Tracy, Alec und Sophia, die dieses Universum zum besten aller möglichen Universen machen.
Wäre mein Kinderzimmer nur mit einem einzigen Spiegel ausgestattet gewesen, meine jugendlichen Tagträume hätten ganz anders ausgesehen. Aber es waren zwei. Jeden Morgen, wenn ich den Kleiderschrank öffnete und meine Kleidung herausholen wollte, befand sich der Spiegel in der Schranktür direkt gegenüber dem Wandspiegel, und es entstand eine scheinbar endlose Reihe von Spiegelbildern mit allem, was sich zwischen den Spiegeln befand. Es war faszinierend. Ich genoss den Anblick: Bild um Bild bevölkerte die parallel stehenden Glasflächen, und die Reihe erstreckte sich so weit, wie das Auge reichte. Alle Spiegelbilder schienen sich im Einklang zu bewegen – aber das lag, wie ich bereits wusste, nur an den Beschränkungen unserer Wahrnehmung; schon in jungen Jahren hatte ich davon gehört, dass sich das Licht nicht unendlich schnell bewegt. Vor meinem geistigen Auge betrachtete ich also das Hin und Her des Lichtes. Ein Nicken, eine ausholende Armbewegung flogen zwischen den Spiegeln hin und her, und jedes reflektierte Bild erzeugte das nächste. Manchmal stellte ich mir ein respektloses Ich vor, das sich weigerte, seinen Platz einzunehmen, so dass die gleichmäßige Abfolge unterbrochen war und eine neue Wirklichkeit entstand, die über die nachfolgenden Realitäten bestimmte. Wenn es in der Schule langweilig war, dachte ich manchmal an das Licht, das ich am Morgen ausgesandt hatte und das immer noch endlos zwischen den Spiegeln hin- und hergeworfen wurde; ich gesellte mich zu einem meiner gespiegelten Ichs und trat in eine imaginäre, aus Licht gebaute und von der Fantasie beflügelte Parallelwelt ein.
Natürlich haben Spiegelbilder keinen eigenen Willen. Aber die Höhenflüge meiner jugendlichen Fantasie mit ihren imaginären, parallelen Wirklichkeiten finden ihren Widerhall in einem immer prominenter werdenden Thema der modernen Wissenschaft: der Möglichkeit, dass es jenseits der Welt, die wir kennen, noch andere gibt. Der Frage, wie diese aussehen können, gehe ich in diesem Buch nach, das Sie auf eine Reise mitnimmt, auf der wir uns die wichtigsten wissenschaftlichen Konzepte über Paralleluniversen sorgfältig und durchaus kritisch ansehen werden.
»Universum« bedeutete früher »alles, was ist«. Alles. Mit allem Drum und Dran. Die Vorstellung von mehr als einem Universum, mehr als allem, erscheint so gesehen wie ein Widerspruch in sich. Aber durch eine ganze Reihe theoretischer Überlegungen wurde die Bedeutung des Begriffs »Universum« nach und nach eingeschränkt. Heute hängt sie vom Zusammenhang ab. Manchmal meint man mit »Universum« immer noch absolut alles. Manchmal aber auch nur diejenigen Gebiete, zu denen Sie und ich prinzipiell Zugang haben könnten. Manchmal wendet man den Begriff auf Bereiche an, die uns jeweils teilweise oder vollständig, vorübergehend oder immer unzugänglich sind; so gebraucht, macht das Wort unser Universum zu einem Element in einer großen, vielleicht sogar unendlich großen Sammlung.
Nachdem das Wort »Universum« seinen allumfassenden Gehalt verloren hatte, traten andere Begriffe an seine Stelle. Sie erfassen die größere Leinwand, auf der die Gesamtheit der Realität möglicherweise gemalt ist. Parallelwelten, Paralleluniversen, multiple Universen, Alternativuniversen oder das Metaversum, Megaversum oder Multiversum – alle diese Wörter bedeuten das Gleiche und schließen nicht nur unser Universum ein, sondern auch ein Spektrum weiterer, die es vielleicht noch gibt.
Ihnen wird auffallen, dass all diese Begriffe ein wenig vage sind. Was macht eine Welt oder ein Universum eigentlich aus? Durch welche Kriterien unterscheiden sich einzelne Regionen eines einzigen Universums von Gebilden, die wir als eigenständige Universen einstufen? Vielleicht werden unsere Kenntnisse über multiple Universen eines Tages so weit ausgereift sein, dass wir auf solche Fragen genaue Antworten geben können. Vorerst wollen wir es aber vermeiden, uns mit derart abstrakten Definitionen herumzuschlagen; stattdessen bedienen wir uns eines Verfahrens, das der Richter Potter Stewart einmal auf die Definition von Pornographie anwandte. Während der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten sich angestrengt bemühte, einen Maßstab festzulegen, was Pornographie sei und was nicht, erklärte Stewart schlicht: »Wenn ich es sehe, weiß ich es.«
Ob man diesen oder jenen Bereich als Paralleluniversum bezeichnet, ist letztlich nur eine semantische Frage. Der eigentlich bedeutsame Kern des Themas ist ein anderer: Wird unsere konventionelle Vorstellung durch die Existenz von Bereichen in Frage gestellt, die nahelegen, dass das, was wir lange Zeit für das Universum gehalten haben, letztlich nur ein Bestandteil einer viel größeren, vielleicht auch viel seltsameren und größtenteils verborgenen Wirklichkeit ist?
Es ist eine verblüffende Tatsache (und einer der Gründe, die mich dazu trieben, dieses Buch zu schreiben): Gleich eine ganze Reihe von wichtigen Entwicklungen in der grundlegenden theoretischen Physik – relativistische Physik, Quantenphysik, Kosmologie, vereinheitlichte Theorien, computergestützte Physik – hat dazu geführt, dass Physiker über diese oder jene Form von Paralleluniversen nachdenken. Die folgenden Kapitel schlagen einen erzählerischen Bogen über neun Variationen des Multiversum-Themas. In jeder davon entpuppt sich unser Universum als Teil eines größeren Ganzen, dessen Ausmaß unsere Erwartungen sprengt; aber was das Aussehen dieses Ganzen und das Wesen seiner Mitgliedsuniversen angeht, sind die Unterschiede enorm. In manchen Varianten sind die Paralleluniversen von unserem durch ungeheure räumliche oder zeitliche Abstände getrennt; in anderen treiben sie sich nur wenige Millimeter entfernt herum; in wieder anderen erweist sich schon die Vorstellung von einem Aufenthaltsort als zu kurz gedacht und bedeutungslos. Ein ähnliches Spektrum an Möglichkeiten kommt in den Gesetzen zum Ausdruck, denen die Paralleluniversen unterliegen. In manchen sind diese Gesetze die gleichen wie bei uns; in anderen haben sie eine andere Form, sind aber zumindest noch durch ein gemeinsames Erbe geprägt; und in wieder anderen sind Form und Struktur der Gesetze völlig anders als alles, was uns jemals begegnet ist. Sich vorzustellen, wie umfangreich die Realität sein kann, ist aufregend, hält uns aber auch zur Bescheidenheit an.
Einen der ersten Streifzüge in das Gebiet der Parallelwelten unternahmen in den fünfziger Jahren Wissenschaftler, die über bestimmte Aspekte der Quantenmechanik rätselten. Diese Theorie hatte man zur Erklärung von Phänomenen entwickelt, die sich im mikroskopisch kleinen Bereich der Atome und subatomaren Teilchen abspielen. Die Quantenmechanik brach aus dem Korsett des früheren begrifflichen Rahmens, der klassischen Mechanik, aus und zeigte, dass bestimmte grundlegende Vorhersagen der Wissenschaft notwendigerweise Wahrscheinlichkeitscharakter haben. Wir können dann zwar die Wahrscheinlichkeit, zu einem bestimmten Ergebnis zu gelangen, voraussagen, wir können die Wahrscheinlichkeit für ein anderes Ergebnis vorhersagen, aber im Allgemeinen können wir nicht voraussagen, welche der verschiedenen Möglichkeiten tatsächlich eintreten wird. Schon diese allgemein bekannte Abkehr von jahrhundertealten wissenschaftlichen Denkweisen ist überraschend genug. Die Quantentheorie hat jedoch einen noch verwirrenderen Aspekt, der weniger Aufmerksamkeit erregt hat. Obwohl die Quantenmechanik jahrzehntelang eingehend erforscht wurde und dabei eine Fülle von Daten zusammengekommen sind, welche die mit ihrer Hilfe berechneten Wahrscheinlichkeiten bestätigen, vermochte bisher niemand zu erklären, warum sich in einer bestimmten Situation nur eines der vielen möglichen Ergebnisse einstellt. Wenn wir Experimente machen, wenn wir die Welt erforschen, sind wir uns alle einig, dass wir auf eine einzige, eindeutige Wirklichkeit treffen. Aber noch heute, mehr als ein Jahrhundert nach Beginn der Quantenrevolution, besteht unter den Physikern keine Einigkeit in der Frage, wie sich diese grundlegende Tatsache mit dem mathematischen Formalismus der Theorie verträgt.
Diese beträchtliche Wissenslücke gab im Laufe der Jahre den Anlass zu vielen kreativen Vorschlägen. Der verblüffendste war gleichzeitig einer der ersten: Vielleicht, so die Aussage, ist die vertraute Vorstellung, jedes Experiment würde zu einem einzigen Ergebnis führen, ja falsch. Die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik – oder zumindest eine Sichtweise darauf – legen die Vermutung nahe, dass alle möglichen Ergebnisse sich auch einstellen, wobei jedes davon in einem anderen Universum zu Hause ist. Wenn eine quantentheoretische Berechnung vorhersagt, dass ein Teilchen hier oder dort sein könnte, ist es im einen Universum hier und im anderen ist es dort. Und in jedem derartigen Universum befindet sich auch ein Exemplar von uns, die wir das eine oder andere Ergebnis beobachten und – zu Unrecht – glauben, unsere Realität sei die einzige. Wenn man sich klarmacht, dass die Quantenmechanik die Basis aller physikalischen Prozesse darstellt, von der Verschmelzung der Atome in der Sonne bis zu den Nervenimpulsen, die das Substrat für unser Denken bilden, wird die Tragweite einer solchen Vorstellung deutlich. Sie besagt, dass es keine verpassten Chancen, keine nicht eingeschlagenen Wege gibt. Aber jeder derartige Weg – jede Wirklichkeit – ist vor allen anderen verborgen.
Dieser faszinierende Viele-Welten-Ansatz der Quantenmechanik hat in den letzten Jahrzehnten großes Interesse auf sich gezogen. Wie genauere Untersuchungen indes gezeigt haben, birgt auch dieser theoretische Rahmen einige Schwierigkeiten (Näheres darüber in Kapitel 8); entsprechend ist der Vorschlag noch heute, nach einem halben Jahrhundert gründlicher Untersuchungen, umstritten. Manche Quantentheoretiker vertreten die Ansicht, seine Richtigkeit sei bereits bewiesen, andere behaupten mit der gleichen Überzeugung, die zugrunde liegende Mathematik würde schlicht nicht funktionieren.
Trotz solcher wissenschaftlichen Unsicherheiten fand diese frühe Version der Paralleluniversen ihren Widerhall in Literatur, Film und Fernsehen, wo die Thematik separater Welten oder alternativer geschichtlicher Abläufe bis heute Anlass zu kreativen Streifzügen bietet. (Zu meinen Lieblingen gehören seit Kindertagen Der Zauberer von Oz, Ist das Leben nicht schön?, die Raumschiff-Enterprise-Episode Griff in die Geschichte, die Kurzgeschichte Der Garten der Pfade, die sich verzweigen von Jorge Luis Borges und aus jüngerer Zeit Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht und Lola rennt.) Insgesamt haben diese und viele andere Werke der Alltagskultur dazu beigetragen, dass die Vorstellung von parallelen Realitäten in den Zeitgeist Eingang fand und eine größere Öffentlichkeit fasziniert. Aber die Quantenmechanik ist nur eine von vielen Möglichkeiten, durch die sich aus der modernen Physik ein Konzept von Paralleluniversen herauskristallisieren lässt. Und es wird auch nicht die erste sein, die ich erörtere.
In Kapitel 2 schlage ich zunächst einen anderen Weg zu den Paralleluniversen ein, den vielleicht einfachsten überhaupt. Wie er aussieht, werden wir noch genauer erfahren: Wenn der Raum sich unendlich weit erstreckt – ein Gedanke, der mit allen Beobachtungen im Einklang steht und einen Teil des kosmologischen Modells darstellt, das von vielen Physikern und Astronomen bevorzugt wird –, muss es da draußen (und zwar wahrscheinlich sehr weit draußen) Kopien von Ihnen und mir und allem anderen geben, die sich einer Alternativversion der Wirklichkeit, die wir hier erleben, erfreuen. In Kapitel 3 dringen wir noch tiefer in die Kosmologie vor: Die Inflationsmodelle, ein Ansatz, der für die allerersten Augenblicke des Universums eine superschnelle Wachstumsphase der kosmischen Expansion postuliert, bringen ihre eigene Version von Parallelwelten mit sich. Wenn die Vorstellung von der Inflation stimmt – und neueste astronomische Beobachtungen deuten darauf hin –, dann war die Wachstumsphase, welche die von uns bewohnte Raumregion entstehen ließ, vielleicht nicht die einzige. Vielmehr könnte inflationäre Expansion in weit entfernten Bereichen auch gerade jetzt ein Universum nach dem anderen hervorbringen, und möglicherweise geht das für alle Ewigkeit so weiter. Und das ist noch nicht alles: Jedes dieser Universen, die sich wie Ballons aufblähen, hat seine eigene, unendliche räumliche Ausdehnung und enthält demnach unendlich viele Parallelwelten, wie sie uns in Kapitel 2 begegnet sind.
In Kapitel 4 führt uns unsere Reise zur Stringtheorie. Nach einem kurzen Überblick über deren Grundlagen berichte ich kurz über den aktuellen Stand der Dinge bei diesem Ansatz zur Vereinheitlichung aller Naturgesetze. Solchermaßen gerüstet, untersuchen wir in den Kapiteln 5 und 6 neuere Entwicklungen in der Stringtheorie, die auf drei neue Arten von Paralleluniversen schließen lassen. Eine davon ist das Branwelt-Szenario: Es postuliert, dass unser Universum eine von möglicherweise sehr vielen »Scheiben« ist, die in einem höherdimensionalen Raum schweben wie eine Scheibe Brot in einem größeren kosmischen Brotlaib. 1 Wenn wir Glück haben, wird dieser Ansatz in nicht allzu ferner Zukunft im Large Hadron Collider, abgekürzt LHC, einem gigantischen Teilchenbeschleuniger in Genf, beobachtbare Spuren hinterlassen. Eine zweite Variante ergibt sich aus der Vorstellung, dass Branwelten kollidieren, wobei alles, was sie enthalten, ausgelöscht und jeweils ein neuer, heftiger Urknall-ähnlicher Anfang in Gang gesetzt wird. Es ist, als würden zwei Riesenhände zusammenklatschen, und zwar womöglich immer wieder: Branen können zusammenstoßen, abprallen, einander durch Gravitation anziehen und erneut kollidieren – ein Kreislauf, durch den Universen entstehen, die nicht im Raum, sondern über die Zeit hinweg parallel existieren. Das dritte Szenario ist die Stringtheorie-»Landschaft«; ihre Grundlage bildet die ungeheure Zahl möglicher Formen und Größen für die zusätzlichen Raumdimensionen, welche die Stringtheorie erfordert. Wie wir noch genauer erfahren werden, lässt die String-Landschaft in Verbindung mit dem inflationären Multiversum auf eine riesige Ansammlung von Universen schließen, in denen alle möglichen Formen der zusätzlichen Dimensionen realisiert sind.
In Kapitel 6 konzentrieren wir uns auf die Frage, inwieweit diese Überlegungen neues Licht auf eine der erstaunlichsten Beobachtungen des letzten Jahrhunderts werfen: Der Raum scheint gleichmäßig mit einer ungewöhnlichen Sorte von Energie angefüllt zu sein, bei der es sich um eine Version von Einsteins berüchtigter kosmologischer Konstante handeln könnte. Diese Beobachtung inspirierte einen Großteil der neueren wissenschaftlichen Erforschung von Paralleluniversen und führte zu einer der hitzigsten Diskussionen über das Wesen akzeptabler wissenschaftlicher Erklärungen seit Jahrzehnten. Kapitel 7 erweitert das Thema und stellt die allgemeinere Frage, ob man die Beschäftigung mit Universen außerhalb unseres eigenen überhaupt noch als Teil der Naturwissenschaft ansehen kann. Lassen sich solche Überlegungen überprüfen? Haben wir einen Fortschritt erzielt, wenn wir mit ihrer Hilfe unerledigte Probleme lösen, oder haben wir damit diese Probleme nur unter einen kosmischen Teppich gekehrt, der bequemerweise nicht zugänglich ist? Ich habe mich bemüht, die wesentlichen Aspekte der konkurrierenden Sichtweisen darzulegen, und betone gleichzeitig meine eigene Ansicht, wonach Paralleluniversen unter bestimmten Voraussetzungen eindeutig zum Forschungsgebiet der Naturwissenschaft gehören.
Kapitel 8 hat die Quantenmechanik mit ihrer Viele-Welten-Version der Paralleluniversen zum Thema. Zu Beginn rekapituliere ich kurz die Grundzüge der Quantenmechanik, dann konzentriere ich mich auf ihr größtes Problem: Wie gewinnt man eindeutige Ergebnisse aus einer Theorie, deren grundlegende Aussage es erlaubt, dass einander widersprechende Wirklichkeit in einem amorphen, aber mathematisch präzise beschreibbaren, von Wahrscheinlichkeiten geprägten Dunst nebeneinander existieren? Ich führe Schritt für Schritt durch die Überlegungen, mit denen man die Quantenrealität auf der Suche nach einer Antwort in einer eigenen Fülle von Parallelwelten verankert hat. Das Kapitel 9 führt uns noch weiter in die Quantenrealität hinein, und schließlich gelangen wir zu der nach meiner Einschätzung seltsamsten These über Paralleluniversen. Sie erwuchs im Laufe von dreißig Jahren aus theoretischen Untersuchungen zu den Quanteneigenschaften Schwarzer Löcher. Ihren Höhepunkt fanden die Arbeiten im letzten Jahrzehnt mit einem verblüffenden Befund aus der Stringtheorie: Er legt die bemerkenswerte Vermutung nahe, dass alles, was wir erleben, nichts anderes ist als eine holographische Projektion von Prozessen, die sich auf einer weit entfernten, uns umgebenden Oberfläche abspielen. Wir können uns in den Arm kneifen, und was wir dabei spüren, ist real; dennoch spiegelt sich darin ein paralleler Prozess, der in einer anderen, weit entfernten Wirklichkeit abläuft.
In Kapitel 10 schließlich steht die bisher noch eher fantastische Möglichkeit künstlicher Universen im Mittelpunkt der Betrachtung. Am Anfang stelle ich die Frage, ob die Gesetze der Physik uns in die Lage versetzen, neue Universen zu erzeugen. Dann wenden wir uns Universen zu, die nicht mit Hardware, sondern mit Software erschaffen wurden – die also in einem technisch extrem fortgeschrittenen Computer simuliert werden –, und gehen der Frage nach, ob wir mit Sicherheit behaupten können, dass wir nicht selbst in solch einer von anderen Wesen in Gang gesetzten Simulation leben. Dies führt uns zu dem umfassendsten Vorschlag im Zusammenhang mit Paralleluniversen, der seinen Ursprung in der Philosophie hat: Danach ist jedes mögliche Universum irgendwo realisiert und bildet einen Teil des größten aller denkbaren Multiversen. Eine solche Diskussion entwickelt sich zwangsläufig zu einer Untersuchung der Frage, welche Rolle die Mathematik bei der Aufdeckung naturwissenschaftlicher Rätsel spielt und ob wir letztlich in der Lage sind, zu einem immer tieferen Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen oder nicht.
Paralleluniversen sind ein höchst spekulatives Thema. Mit keinem Experiment und keiner Beobachtung wurde bislang nachgewiesen, dass es sich bei Paralleluniversen um mehr handelt als um theoretische Überlegungen. Deshalb geht es mir in diesem Buch auch nicht darum, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass wir Teil eines Multiversums sind. Ich bin von nichts überzeugt – und das ist ganz allgemein eine vernünftige Haltung –, das nicht durch handfeste Daten belegt ist. Dennoch finde ich es seltsam und zugleich aufschlussreich, dass zahlreiche Entwicklungen in der Physik, wenn man sie nur weit genug vorantreibt, uns zu irgendeiner Version paralleler Universen führen. Es ist nicht so, dass Physiker mit Multiversum-Netzen in der Hand bereitstünden und damit jede Theorie einfangen wollten, die ihnen über den Weg läuft und irgendwie – und sei es auch auf noch so seltsame Weise – zur Lehre von den Paralleluniversen passt. Vielmehr erwachsen alle Vermutungen über Paralleluniversen, die wir hier ernsthaft betrachten wollen, unverhofft aus der Mathematik von Theorien, mit denen man eigentlich herkömmliche Befunde und Beobachtungen erklären will.
Es ist also meine Absicht, klar und prägnant die gedanklichen Schritte und die Kette theoretischer Erkenntnisse darzulegen, die Physiker dazu veranlassen, aus verschiedenen Blickwinkeln die Möglichkeit zu betrachten, dass unser Universum eines von vielen ist. Ich möchte ein Gespür dafür vermitteln, wodurch moderne naturwissenschaftliche Forschung – und nicht ungezügelte Fantasien wie die Grübeleien meiner Kindheit über die Spiegel – auf ganz natürliche Weise diesen erstaunlichen Gedanken nahelegt. Ich möchte zeigen, wie manche ansonsten verwirrende Beobachtungen in diesem oder jenem Rahmen vor dem Hintergrund von Paralleluniversen in hohem Maße verständlich werden können; gleichzeitig werde ich die entscheidenden, ungelösten Fragen beschreiben, die dafür gesorgt haben, dass dieser Erklärungsansatz bis jetzt nicht vollständig realisiert werden konnte. Mein Ziel ist, Ihren Sinn für das, was sein könnte – Ihre Perspektive darauf, wie die Grenzen der Realität vielleicht eines Tages durch die derzeit laufenden wissenschaftlichen Entwicklungen neu gezogen werden –, zu schärfen, Ihnen durch die Lektüre ein anschauliches Bild der reichhaltigen Möglichkeiten zu vermitteln.
Manche Menschen schrecken vor der Vorstellung von Parallelwelten zurück; wenn wir Teil eines Multiversums wären, würden unser Platz und unsere Bedeutung im Kosmos aus ihrer Sicht an den Rand gedrängt. Ich gehe anders an die Sache heran. Ich sehe keinen Sinn darin, unsere Bedeutung nach unserer relativen Häufigkeit zu bemessen. Das Befriedigende am Menschsein, das Aufregende, wenn man am Unternehmen der Naturwissenschaft teilnimmt, ist etwas anderes: unsere Fähigkeit, mit analytischem Denken gewaltige Entfernungen zu überbrücken, in den Weltraum und innere Räume vorzudringen – und, sofern sich manche der Ideen, die uns in diesem Buch begegnen werden, als richtig erweisen sollten, sogar über unser eigenes Universum hinauszugehen. Aus meiner Sicht macht die Tiefgründigkeit unserer Erkenntnisse, die wir von unserem einsamen Standpunkt in der pechschwarzen Stille eines kalten, unwirtlichen Kosmos aus gewonnen haben, das aus, was über die Weiten der Wirklichkeit hinweg widerhallt und unser Dasein kennzeichnet.