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Ismar und Clara haben beide einen langen Weg vor sich. Während Clara aus ihrem Klosterleben zu entfliehen versucht, muss Ismar viel über sich und andere lernen, nur um zu merken, dass sein bisheriges Leben ein Lichtfleck in der Dunkelheit war. Wer Freund und Feind ist, lässt sich für beide nur schwer erkennen und so bleiben Ismar und Clara auf ihren Wegen viele Entdeckungen nicht erspart. Doch wo andere nur ihren Vorteil suchen, gibt es auch solche, die Ismar und Clara auf ihren Wegen begleiten und sie mehr lehren als in Büchern geschrieben steht.
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Marc Lindner
Die verborgenen Geheimnisse
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Ismars Strafe
Bruder Johannes' Mission
Ells Vater
Der Nussbaum
Das ausgelassene Abendessen
Der unerwartete Besuch
Die Rückkehr der Novizin
Manegold
Die Predigt
Die Lehre einer Abtrünnigen
Magdalena
Tag der Entscheidung
Der Besuch
Die Entscheidung des Abtes
Rauchzeichen
Der vergessene Weg
Klosterleben
Der Preis der Freiheit
Das Geheimnis des Klosters
Das Lager im Wald
Der kaputte Tisch
Der Aufbruch
Das große Grab
Abschied
Impressum neobooks
An diesem Wochenende war Monatsmarkt. Ismar mochte diese Tage. Anders als bei den üblichen Wochenmärkten kamen auch Handwerker und Händler, die seltener die Burg aufsuchten. Einige kannten Ismar und unterhielten sich gerne mit ihm. Vielleicht lag es auch daran, dass er nicht selten etwas kaufte, wenn es ihn faszinierte, aber auch seine Neugier und sein ehrliches Interesse schienen sie an ihm zu schätzen. Seine Begeisterung war umso größer, je weniger er von etwas verstand. Das Wissen, das er hier erlangte, war anders als das, was ihm sein Hauslehrer vermittelte, auch wenn er diesen bisweilen um Erklärungen bat, die über das Wissen der einfachen Leute hinausging.
Wohlgelaunt sah Ismar dabei zu, wie die Einzelnen ihre Stände aufbauten oder hektisch ihren Platz suchten oder gegen aufdringliche Platzneider zu verteidigen versuchten. An etlichen Stellen brachen kleine Raufereien aus, doch im schlimmsten Fall reichten wenige Worte der Stadtwachen, die an diesem Tag vermehrt patrouillierten, um Streitereien zu beenden und dafür zu sorgen, dass einer der Streithähne weiterzog, wenn auch mit einer Faust in der Tasche.
Plötzlich hörte Ismar eine aufbrausende Stimme toben. Es war kein Streit, sondern reines Geschimpfe. Es war nicht weit entfernt, aber Ismar musste seine Stellung auf der Mauer aufgeben, um es sich anzusehen. Er konnte Geschimpfe nicht ausstehen. Wenn zwei sich stritten, war es ihm egal, aber bei Geschimpfe gab es immer einen, der sich nicht wehren konnte.
Ismar kletterte an einem kleinen Wachturm vorbei und eilte in geduckter Haltung westwärts und verließ damit die Hauptmarktstraße. Es war Ells Vater, der mit seiner Tochter schimpfte. Ell ließ es wie selbstverständlich über sich ergehen und mühte sich vergebens ab, ihre Hühner zusammenzutreiben. Doch nun, da sich Hektik unter diese gemischt hatte, versuchten sie in alle Richtungen zu fliehen und sich unter irgendwelchen Gegenständen zu verstecken. Das Geschreie war wenig förderlich um Ells Bemühen, die Hühner beisammenzuhalten oder gar zu fangen, zu unterstützen. Dabei schrie er Ell genau deshalb an, da er weiter zu ihrem Standplatz wollte. Doch als wäre Ell mit einem Fluch belegt, stob ihr Gefieder entgegen ihrer Natur immer wieder auseinander, wenn sie die sieben Hühner zusammengetrieben hatte.
Ismar konnte sich das Schauspiel nicht länger anschauen. Er ließ sich hinter einem Stand die Mauer hinabgleiten. Als er hinter einer fülligen Marktdame hervortrat, schrie diese erschrocken auf und verschaffte ihm mehr Aufmerksamkeit als beabsichtigt.
Er versuchte sich zu entschuldigen, doch die Frau wollte davon nichts wissen und drohte ihm in unterdrücktem Ärger für das nächste Mal Schläge an.
Mit einer wohlgeübten Unschuldsmiene empfahl er sich und stellte sich zwischen Ell und ihren tobenden Vater.
„Warte, ich helfe dir.“ Ismar ignorierte, dass ihr Vater ihn nun in seine Flüche mit aufnahm. Ell war leicht verzweifelt und sah ihn resignierend an.
Ismar zögerte nicht lange und hatte alsbald das erste Huhn gefangen, das sich eben unter einen der Wagen stehlen wollte. Er ging damit zu Ell und reichte es ihr mit den Füßen nach oben. Ihr Vater stemmte die Hände in die Seiten seines dicken Bauches und blickte mürrisch drein. Statt zu schreien, begnügte er sich damit, ungeduldig zu atmen. Ismar fing ein Huhn nach dem anderen ein, um es Ell zu geben. Ismar fing sich etliche Verwünschungen ein, weil er anderen Marktteilnehmern in die Quere kam. Es war Ell unangenehm, nicht helfen zu können, doch mit den Hühnern in der Hand, war es ihr nicht möglich. Ebendies war ohnehin ihr Dilemma gewesen. Es war schier unmöglich, allein sieben Hühner einzufangen und gleichzeitig festzuhalten. Jeder, insbesondere ihr Vater, musste das wissen.
Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht, brachte Ismar endlich das siebte Huhn. Doch da wurden die Hühner unruhig und flatterten selbst mit dem Kopf nach unten hängend wild umher. Das war sonderbar, dann normalerweise taten Hühner das nie. Plötzlich stöhnte Ell schmerzhaft auf und ließ eine Hand los. Ihr Vater schrie auf und wollte sie schlagen, doch Ismar ging dazwischen und fing unfreiwillig die Ohrfeige an ihrer statt ein. Verdutzt blieb ihr Vater stehen und stotterte etwas Unverständliches zusammen. Er wusste nur zu gut, wer er war. Ismar wendete sich Ell zu und wollte fragen, was los war als er sah, dass ihr Arm blutete. Gleich darauf traf auch ihn ein Stein, der eigentlich für Ell oder ihre Hühner gedacht war. Ismar drehte sich wütend um und erkannte Mauricius, wie er auf dem Dach eines niedrigen Hauses hockte und seine Steinschleuder auf sie gerichtet hielt.
„Hey du Dumpfbacke, komm da herunter, du feiger Hund!“, schrie Ismar ihn an.
„Komm doch hoch, wenn du dich traust.“ Der Junge streckte ihm die Zunge heraus und hielt sich für den Größten.
„Na warte, dir werde ich noch Manieren beibringen!“ Mit diesen Worten nahm Ismar Anlauf und war in drei Zügen auf dem Dach, wo er dem verdutzten Mauricius gegenüberstand.
Ismar nutzte dessen Überraschung und entriss ihm gleich die Schleuder. Der Junge war stärker als Ismar, doch Ismar war flinker und wusste die Bewegungen seines Gegenübers zu seinem Vorteil zu nutzen. Bald lag Mauricius flach auf dem Dach mit einem Arm hinter dem Rücken.
„Komm da herunter“, schrie eine Männerstimme.
Ismar blickte verwundert hinunter und sah dort den Burgherren stehen, seinen Vater. Ismar schluckte kräftig und stand sogleich auf und gab Mauricius frei. Ohne zu zögern, ging Ismar auf dem Dach nach vorne, da er wusste, dass alles Zögern die Konsequenzen nur verschlimmern würde.
Er wollte eben hinabspringen, als er hörte, dass Mauricius auf ihn zulief. Im letzten Moment duckte sich Ismar und sprang zur Seite. Mit dem Schwung, mit dem er Ismar hinabstoßen wollte, fiel Mauricius herunter. Schmerzhaft landete er auf allen Vieren und begann gleich zu weinen. Ismar beeilte sich hinab.
„Sei still und verschwinde du hinterhältiger Hund. Das geschieht dir nur recht!“
Ismar stellte sich aufrecht vor seinen Vater, so wie dieser es ihn gelehrt hatte. Als Dank empfing er eine derbe Ohrfeige, die sogar Ells Vater zusammenzucken ließ. Vielleicht lag es auch nur an seinem schlechten Gewissen.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht herumprügeln sollst.“
Ell stellte sich neben den Burgherren und wollte es wagen ihm zu widersprechen. Ismar schüttelte rasch den Kopf und drückte sie zur Seite.
„Verzeiht Vater, ich war unartig. Last mich helfen, dem Mädchen ihren Schaden gutzumachen, sie hat drei ihrer Hühner verloren.“
Der Burgherr wank einen Mann zu sich.
„Zahle dem Mädchen für ihre drei Hühner und verdoppele es für den Schreck, den es erlitten hat.“
Ell bedankte sich mit einem ungeübten Knicks. „Vielen Dank Herr, ihr seid zu gnädig.“
„Ein Mann hat sich ehrenhaft zu benehmen. Es soll nicht euer Schaden sein, wenn mein Sohn sich nicht zu benehmen weiß.“
Ell knickste vorsichtshalber gleich noch einmal und nahm mit großen Augen die Zahlung des Schatzmeisters entgegen. Sie hatte in ihrem Leben noch keine so teuren Hühner besessen, als sie nun bezahlt bekam. Selbst Ells Vater machte große Augen und sah sich auch zu Dank verpflichtet und verneigte sich ungelenk.
„Du wirst deine Schuld abarbeiten, Ismar!“ Sein Vater erhob die Stimme, so dass es jeder im Umkreis gut verstehen konnte. „Du gehst in den Stall die Pferde missten und du wirst so lange deine Dienste anbieten, bis die Schuld beglichen ist. Es sind nicht die Steuerzahler, die für deinen Unfug einstehen müssen.“ Mit diesen Worten verließ der Burgherr den Schauplatz.
„Warum hast du deinem Vater nicht die Wahrheit gesagt?“, fragte Ell ungläubig.
„Weil sie ihn nicht interessiert hätte. Es gibt Väter, die strafen lieber, als zu verstehen.“ Ein Seitenblick ließ Ells Vater verstehen, wer gemeint war. Dieser stand unbeholfen umher, da er wusste, dass Ismar an diesem Tag zweimal wegen seiner Tochter ungerechtfertigt Ohrfeigen bezogen hatte.
„Komm wir müssen uns beeilen die Hühner einzufangen, bevor sie wirklich verschwunden sind.“ Ismar versuchte die verschreckten Hühner einzufangen und diesmal half ihm gar Ells Vater.
Doch sie fanden nurmehr zwei der drei Fehlenden. Das Dritte würde wohl einen glücklichen Dieb sättigen. Ells Vater wollte ihm die zwei Hühner geben, da er sie schließlich auch bezahlt hatte, aber Ismar lehnte ab, und ließ sich stattdessen das Versprechen geben, dass er Ell fortan gerecht behandeln sollte. Ismar war sich nicht sicher, ob es etwas helfen würde, aber er war gewillt an das Gute im Menschen zu glauben.
„Die Strafe wird mir nicht schaden“, verabschiedete sich Ismar selbstbewusst und verschwand in der gaffenden Menge.
Es war längst nicht die erste Strafe dieser Art. Sein Vater verabscheute Gewalt und unnütze Strafen. Eine Ohrfeige war das Höchstmaß an körperlicher Pein, die Ismar ertragen musste, doch selbst dies kam nur selten vor und meist nur bei einem großen Publikum, wie an diesem Tag. Obwohl Ismar erst zehn war, gab es nurmehr wenige Arbeiten, bei denen er noch keinen Strafdienst geleistet hatte. Das Interessante an diesen Strafen war, dass er sich diese selbst aussuchen durfte, diesmal mit Ausnahme des Stallmistens, was eine der Lieblingsstrafen seines Vaters war. Doch das störte Ismar nicht. Er mochte Casper und Michel beide gut leiden und einer der beiden war meist in den Ställen. Sie erlaubten ihm bisweilen gar, den Pferden das Fell zu striegeln oder sie am Zügel auszuführen. Obwohl die Arbeit des Stallmistens hart war, mochte es Ismar, so nah bei den Pferden zu sein. Dass das Ganze Strafe sein wollte, erheiterte ihn dabei nur. Ohnehin half er hier, wie auch woanders mehr, als er sich durch Strafen als Pflicht einhandelte. Doch nur im Falle einer Strafe tauschte er seine Dienste gegen Geld. Üblicherweise tauschte er es gegen kleine Kunstwerke oder Lehrstunden. Beim Schmied hoffte er mit siebzehn ein eigenes Schwert zu erlangen, aber das konnte er mit bloßer Arbeit nicht erreichen. Doch zum Glück wusste Haman, der Schmied, es zu schätzen, dass Ismar ihm das Rechnen und in Ansätzen das Schreiben beibrachte. Das war weit mehr Arbeit als Ismar es sich hätte vorstellen können, denn ihm selbst bereitete das Rechnen keinerlei Mühe. Doch so geschickt Haman mit dem Eisen umging, so ungeschickt stellte er sich mit Zahlen an. Nicht selten bezeichnete er es gar als Hexenwerk, kurz bevor er die Lehrstunde abbrach. Aber Ismar hatte ihn mehrmals davor bewahrt über den Tisch gezogen zu werden und so willigte er immer wieder ein, doch weiter zu üben.
An diesem Tag hatte Ismar allerdings wenig Glück. Michel kam der Arbeit nicht hinterher. Wegen des Monatsmarktes war der Stall zum Bersten gefüllt, ebenso drinnen, wie auch draußen die überdachten Flächen. Sogar einige störrische Esel wollten gefüttert werden. Zu allem Übel war Casper ausgefallen, weil ein junger Hengst in der Unruhe ausgetreten und ihn getroffen hatte. Dabei konnte Casper sich noch glücklich schätzen. In drei Tagen würde er wohl wieder stehen können, aber auf Wochen würde er keine schwere Arbeit verrichten können.
Michel war völlig damit ausgelastet, die Pferde notdürftig zu versorgen und den Reitern ihre Pferde abzunehmen oder zu geben, wenn sie die Stadt verließen. An Ausmisten war nicht zu denken, auch wenn ihm zwei ältere Männer halfen. Dementsprechend viel war für Ismar zu tun und Michel war mehr als froh über seine Hilfe. Bis in den späten Nachmittag füllte Ismar die Karren, die die Gehilfen dann hinausfuhren. Gegen Ende schaffte er es kaum noch die Mistgabel hochzuheben, selbst wenn er kaum Mist darauflegte. Deshalb war er diesmal froh als die Arbeit vollrichtet war und er den Dienst quittieren konnte.
Danach war er zu müde, um noch über den Markt zu gehen, der sich ohnehin bereits im Rückbau befand. Zumindest für all jene aus dem Umland, die nur einen der zwei Tage blieben und noch vor Einbruch der Nacht zu Hause ankommen wollten. Zurück zu seinem Vater wollte Ismar aber noch weniger. Er verspürte keine Lust ihm über den Weg zu laufen und zudem wollte er seine Schuld begleichen. So ging er zu Haman, weil er dort auch im Sitzen Arbeit fand.
„Ah, Ismar, gut dass du kommst. Es gibt viel Arbeit, wie du siehst.“ Haman war bester Laune und konnte sich nicht über mangelnde Kundschaft beklagen. Viele Reisende wünschten neue Hufeisen für ihre Pferde, gaben Bestellungen auf oder wünschten Reparaturen, die sie dann später im Jahr abholen würden.
„Kannst du Holz nachlegen?“ Haman schenkte Ismar nur kurz Aufmerksamkeit, weil er nicht wusste, was er zuerst tun sollte.
„Pfff“, stöhnte Ismar. „Ich war eben bei Michel.“ Obwohl er seine Arme kaum mehr spürte, legte er einige Scheite Holz nach.
„Der kann nicht viel Arbeit für dich gehabt haben“, scherzte Haman, „so viele Pferde wie bei mir sind, muss der Stall bei ihm leer sein.“
„Casper ist von einem Pferd getreten worden“, berichtete Ismar.
„Oh, schlimm?“ Haman hielt erschrocken inne. Casper war sein Cousin. Die beiden neckten sich zwar ständig, aber sie standen sich trotzdem sehr nahe.
„Michel meint er würde wieder ganz der Alte werden.“ Die Flammen nahmen sich rasch dem nachgelegten Holz an.
„Sieht ihm auch ähnlich sich einen Pferdekuss einzuhandeln, um ein paar Tage den faulen Lenz mimen zu können“, lachte Haman, ohne ganz seine Sorgen aus seinem Ton fernhalten zu können. „Und du durftest das dann auch noch ausbaden. Da hast du dir aber einen ungünstigen Tag ausgesucht.“
„Vater hat mir wieder eine Geldstrafe auferlegt“, murrte Ismar. Wie selbstverständlich ging Ismar hinter ein massives Pult und kletterte auf einen für ihn zu großen Hocker.
„Ah, das ist eine gute Idee“, zeigte sich Haman erleichtert. „Dann kann ich endlich weiterarbeiten.“
Ismar nahm sich der anstehenden Kundschaft an. Etlichen passte es nicht, von einem Knaben bedient zu werden, aber wenn sie sahen, wie Ismar die Bestellungen niederschrieb, gaben sie meistens Ruhe. Nur selten war es nötig, dass Haman bestätigte, was Ismar sagte, damit sich die vornehmere Kundschaft fügte. Ismar hatte für sich Preislisten angefertigt und konnte abschätzen, was Haman direkt erledigen konnte oder bis wann etwas fertig sein konnte. Wenn er sich nicht sicher war, fragte er Haman, der sich nun fast vollständig auf seine Arbeit konzentrieren konnte.
Besonders die Boten freuten sich über Ismars Anwesenheit, weil ihre Wartezeit deutlich verkürzt wurde. Auf Wunsch schrieb er ihnen sogar eine Bestätigung der Bestellung mit Preis und Datum der Fertigstellung. Diesen Dienst hätte Haman ihnen niemals gewähren können.
Ismar war froh diesmal im Sitzen arbeiten zu können und wurde sich abermals bewusst, warum es gut war, so viel zu lernen.
„Entschuldigen sie, werter Herr“, schmeichelte ein Mann in einfacher Arbeitskleidung Ismar.
Ismar blickte lächelnd auf. Es war längst Abend und der letzte Kunde war schon eine Weile weg und Ismar war dabei die Einnahmen abzuschätzen und die Bestellungen beiseitezulegen. Übermorgen, wenn der Markt vorbei war, würde er Haman alles vorlesen, weil dieser kaum schreiben und nur sehr schlecht lesen konnte.
„Wie kann ich behilflich sein?“ Ismar machte von seiner guten Erziehung gebrauch.
„Es ist ein wenig kompliziert“, sprach der Mann mittleren Alters um den heißen Brei. „Vielleicht ist es besser ich rede direkt mit Haman.“
Wahrscheinlich wollte der Mann einen Freundschaftsdienst, wollte aber gleichzeitig nicht derjenige sein, der Haman bei der Arbeit störte und hoffte, dass Ismar dies für ihn übernahm.
Ismar war das einerlei und so ging er mit dem Mann hinüber zum Amboss, wo Haman, völlig in seinem Element, auf ein Stück Eisen eindrosch.
„Haman, hier ist jemand der dich sprechen möchte.“
„Moment.“ Das Stück war noch rotglühend und ließ sich leicht formen, und er wollte die Hitze nicht vergeuden. Nach zweidutzend Schlägen legte er das Stück zurück in den Ofen und drehte sich mit von der Hitze gerötetem Gesicht um.
„Oh, Bechtol, altes Haus, dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wie laufen die Geschäfte?“
„Ehrlich gesagt, ging es schon besser. Jetzt da sie den Wald im Norden der Stadt roden, will kaum einer mehr das Holz aus dem Westen, wo ich die Lizenz zum Holzfällen habe. Es ist mit einem Tagesmarsch zu weit entfernt. Es lohnt nur für das gute Bauholz, da es besser ist als die jungen Bäume im Norden.“
„Und wie kann ich dir helfen?“
Ismar konnte Haman ansehen, dass sie gute Freunde waren.
„Ich musste mir einige zusätzliche Pferde zulegen, weil keiner mehr bereit ist, das Holz selbst holen zu kommen.“
„Dann brauchst du wohl Hufeisen?“, mutmaßte Haman.
„Ja, vier Tiere sind vom letzten Jahr und hatten noch gar keine und bei zwei weiteren sollten die Beschläge erneuert werden.“
„Das ist kein Problem. Ich nehme an du möchtest, dass ich deswegen zu dir komme, damit du mit diesen lahmen Gäulen nicht herkommen musst.“
„Das wäre prima aber nicht wirklich nötig. Mein Problem ist, dass ich kein Geld mehr habe. All mein Besitz steckt nun in den Tieren.“
„Aber Bechtol, du kannst jederzeit bei mir anschreiben, das weißt du doch.“
„Das werde ich dir nie vergessen!“ Bechtol war mehr als erleichtert und es war ihm anzumerken, dass er nur widerwillig zum Schuldner wurde.
„Warum so kompliziert?“, meldete sich Ismar zu Wort.
Bechtol sah Ismar verwundert an. Er war es wohl nicht gewohnt von einem Jungen im Gespräch unterbrochen zu werden, doch scheinbar machte es Haman nichts aus, und überrascht war er wohl auch nicht.
„Haman, bei den Unmengen an Holz die du brauchst, kann Bechtol dich gleich damit bezahlen.“
Bechtol machte große Augen. „Natürlich, daran hatte ich gar nicht gedacht.“
Auch Haman nickte eifrig und klopfte Ismar anerkennend auf den Kopf. „Oft scheinen die komplizierten Lösungen einfacher zu sein, weil es kompliziert ist, die einfachen Lösungen zu finden.“ Das war einer von Hamans Lieblingssprüchen, wenn er sich unnütz Mühe gegeben hatte.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht zog Ismar von dannen. Es war Zeit, dass er zu Hause einkehrte, sonst würde es nochmals Ärger geben. Derweil blieb Bechtol bei Haman und ging ihm soweit er konnte zur Hand. Haman hatte ihm für die Nacht ein Quartier angeboten, aber er musste noch bis zum letzten Licht des Tages arbeiten, weil Morgen einige ihre Bestellung abholten, bevor sie abreisen würden.
Hönnlin ritt ohne Eile weiter nach Westen. Er hatte unterwegs viel erlebt und viel gelernt. Das Leben, das er früher geführt hatte und das nun auf ihn wartete, würde er nicht weiterführen können. Dort würden sie ihn Bruder Johannes nennen, doch den Namen hatte er irgendwo auf der Rückreise abgelegt. Zwar trug er noch sein Mönchgewand, doch hatte das eher praktische Gründe. Auf seinen Reisen hatte er seinen Glauben gefunden und gefestigt, aber das führte dazu, dass er sich von seiner Religion würde trennen müssen. Hönnlin wollte den Menschen dienen und seinem Glauben treu sein. Er wollte keine Lügen leben oder leere Worte predigen wie seine Brüder. Im Gegensatz zur Kirche wollte er sich fremdem Wissen nicht verschließen. Wüsste die Kirche um sein Wissen und um seinen Besitz, soviel war gewiss, würde er als Ketzer brennen. Hönnlin wusste nicht alles, eigentlich war er sich bewusst, dass er recht wenig wusste, aber es reichte, um die Mechanismen der Kirche zu durchschauen. Sie diente sich selbst und nicht wie sie predigte Gott und erst recht nicht den Menschen, die sie dumm und abergläubisch zu halten pflegte. Hönnlin war auf seiner Reise viel Wirken seiner Kirche begegnet. Wirken, das schon lange vergangen war, und jenes, das noch andauerte.
Nein, Hönnlin war sich sicher. Die Wege seiner Kirche und der seine würden sich trennen, doch erst noch würde er in seine Heimat reisen. Dort würde er dann auf seine Weise Gott, und vor allem den Menschen dienen. Aber zuvor musste er noch etliche Tagesreisen hinter sich bringen und dabei wollte er den Schutz seines Ordens nicht aufgeben, schließlich hatte er die Reise auch in deren Interesse auf sich genommen. Bloß die Antworten, die er gefunden hatte, waren nicht die gewesen, die zu finden seine Mission gewesen war. Aber dies war nun einmal die Gefahr, wenn man nach Antworten suchte, und sicher nicht sein Fehler.
Bis Norditalien hatte er es bereits zurückgeschafft, doch die Spuren des Winters waren hier noch zu spüren. Deshalb hatte er es auch nicht eilig, da er wusste, dass er die Alpen erst mit Beginn des Sommers würde überqueren wollen. Deshalb wollte er am folgenden Tag auch ein Kloster aufsuchen und für wenige Wochen rasten.
Der Abend brach herein und so suchte Hönnlin sich ein geschütztes Plätzchen in einem Waldstück abseits des Weges.
An einer lichten Stelle grub er ein Loch. Dabei legte er die Erde auf einer Decke ab, da er keine Spuren hinterlassen wollte. Er vermied es, das Loch groß werden zu lassen und grub stattdessen in die Tiefe. Doch die zahlreichen Wurzeln erschwerten sein Bemühen. In unregelmäßigen Abständen hielt er inne und überprüfte, ob sich keiner näherte.
Schließlich nahm er einen Teil seines gut verstauten Gepäckes, legte es fest in Leder verschnürt in die Erde und schloss das Loch. Die überschüssige Erde trug er fort und verteilte sie unauffällig. Über der Grabstelle entzündete er ein gemütliches Feuer und richtete sich für die Nacht ein. Er sparte diesmal nicht mit dem Holz, mit dem er das Feuer unterhielt.
Er kochte sich Wasser für einen Tee und stand nochmals auf, um wie fast jeden Abend eine Walnuss zu pflanzen. Erst dann aß er zu Abend und nutzte die letzten hellen Minuten zum Lesen, und legte sich dann früh schlafen.
Am Morgen darauf war die Feuerstelle abgekühlt. Sorgsam überprüfte er, dass die Asche die Spuren seines Versteckes kaschierte, und prägte sich die Stelle gut ein, für den Fall, dass er unerwartet doch länger fernbleiben würde.
Eine halbe Tagesreise trennte ihn von dem kleinen Städtchen mit dem vertrauten Kloster. Auch deshalb war es eher ungewiss, dass einer sich hierher verlief.
Gegen Mittag trat er durch das Stadttor. Es herrschte nur mäßiges Treiben auf den Straßen. Wie anderenorts auch waren die meisten damit beschäftigt, die Arbeiten zu vollrichten, für die beim nächsten Wetterumschwung keine Zeit mehr bleiben würde. In zwei Wochen würde vieles hier anders aussehen. Hönnlin mochte diese Atmosphäre und ging deshalb nicht auf direktem Weg zum Kloster.
Hönnlin brachte seinen Esel zum Stall des Ordens. Dieser verdiente den Namen nicht wirklich, aber der Abt würde es ihm nicht verzeihen, wenn er sein Tier im Stall der Städter unterbringen würde. Hönnlins Esel war heute das einzige Tier im Stall, da das Kloster über keine Eigenen verfügte und nur jene seiner Gäste versorgte. Hönnlin wusste aber, dass dies mehr schlecht als recht geschah und versorgte es gleich selbst.
„Bruder Johannes! Meine Augen haben mich nicht getäuscht“, wurde Hönnlin von der Seite angesprochen, als er seinen Esel striegelte. „Was für eine Freude.“
„Bruder Matthias“, begrüßte Hönnlin seinen Ordensbruder und guten Bekannten. Sie hatten einige kleine Reisen gemeinsam bestritten, bevor der einige Jahre ältere Bruder Matthias hier schließlich hängen geblieben war. Aber von den Abenteuern der anderen hörte er immer noch gerne und träumte sich dann mit auf Reisen. Wäre sein Rheuma nicht schlimmer geworden, wäre er wohl auch nicht sesshaft geworden.
Lange blieben die beiden im Stall und tauschten sich aus. Es gab viel zu erzählen.
„Aber was bin ich dir ein Freund“, unterbrach Bruder Matthias sich selbst. „Ich frage dich aus und denk dabei nur an mich. Du hast sicher Hunger und ein wenig Rast wird auch dir nichts schaden. Komm ich bringe dich in die Küche.“
Hönnlin hatte nichts dagegen einzuwenden, und folgte der Einladung gerne. Die Küche war wie gewohnt spärlich ausgestattet und nun nach dem Mittagsessen menschenleer. Bruder Matthias legte ein Stück Holz auf die Glut im Ofen und kochte Hönnlin Haferbrei. Zur Feier des Tages griff Bruder Matthias in ein Gefäß mit den klostereigenen Rosinen und ließ diese im Haferbrei verschwinden.
Bruder Matthias setzte sich mit an den Tisch, aß selbst aber nichts. Stattdessen hielt er nun seinerseits Hönnlin Gespräch und unterrichtete ihn über das wenige, das sich im Kloster zugetragen hatte, aber auch über das, was ihm von außerhalb zu Ohren gekommen war. Für Letzteres begeisterte er sich merklich inniger.
„Welcher Faulpelz wärmt sich da wieder am Herd“, wurde eine Stimme aus dem Flur herangetragen. „Oh, es wird gar gegessen!“ Die Stimme kam Hönnlin bekannt vor, aber es war das Temperament, das ihm verriet, wer gleich zur Tür hereintreten würde.
„Bruder Matthias, erklärt euch.“ Er sah Hönnlin erst jetzt und sah ihn prüfend an, da er ihn nicht gleich erkannte.
„Vater Andreas, Bruder Johannes ist von seiner langen Reise zurückgekehrt. Die Nächstenliebe verpflichtete mich, unserem Gast Rast und Verpflegung zuteilwerden zu lassen.“
„Nun gut, meine Schuldzuweisung war unnötig“, ruderte der Abt zurück, zumal er sah, dass Bruder Matthias nichts vorzuwerfen war.
„Herzlich willkommen zurück, Bruder Johannes“, begrüßte der Abt Hönnlin reserviert. „War die Reise gesegnet?“ Hönnlin war dem Abt nicht verhasst, aber dieser betrachtete sein Treiben mit Argwohn. Er verachtete das Reisen. Er war vielmehr der Auffassung, dass das Leben eines Mönches innerhalb der Klostermauern vonstatten zu gehen hatte. Hier sollte er beten, schreiben, den Garten unterhalten und sich im Verzicht üben. Er war einer der wenigen Äbte, denen Hönnlin auf seinen Reisen begegnet war, die das ernst meinten und nicht nur ihren Mönchen auftrugen. Da Hönnlin das wusste, nahm er ihm sein kühles Benehmen nicht übel. Den Abt quälte nur ein Laster, wenn man es so nennen wollte, er liebte es neue Bücher lesen zu können, wohl aber nur jene, die mit der Kirche zu vereinen waren. Für ihn galt es als höchste Aufgabe daraufhin die Botschaft des Herrn kopieren oder übersetzen zu lassen und in die Welt hinaustragen zu lassen. Deshalb war dieses Kloster auch weithin bekannt für seine sorgsame Kopierwut. Das war auch der Grund, warum er Hönnlins Treiben widerwillig unterstützte, denn nicht wenige Schätze seiner Bibliothek verdankte er ihm und, wie der Abt es bezeichnete, anderen Abenteuern.
„Ich bin nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. An etlichen Stellen werden auch Kopien für das Kloster erstellt. Ihr könnt stolz auf die hiesige Bibliothek sein. Das Interesse an den Schriften, von denen ich berichten konnte, war groß“, erzählte Hönnlin nicht ohne Freude.
„Stolz ist ein falscher Freund“, belehrte Vater Andreas. „Aber es freut mich, dass die Schriften des Herrn auch in diesen fernen Gegenden Anklang finden.“
„Selbst in der Ferne ist Gott vielen nah“, stichelte Hönnlin, der damit seine Abenteuerlust verteidigte. Der Abt nickte stumm und spielte gedankenvertieft mit seinen Fingern.
„Ruht euch erst einmal aus“, fuhr der Abt fort. „Wenn ihr wollt, könnt ihr mir Morgen genauer von euren Reisen erzählen.“
Hönnlin war dieser Aufschub recht und so nutzte er den restlichen Tag, um durch das Kloster und seinen Garten zu streifen, während er alte Bekanntschaften auffrischte.
Am folgenden Morgen nahm der Abt Hönnlin gleich nach der ersten Andacht in Beschlag. Während die Brüder zum Frühstück gingen, folgte Hönnlin Vater Andreas nach einem kurzen Umweg in dessen Arbeitszimmer. Hönnlin war darauf vorbereitet gewesen und hatte den Ertrag seiner Pilgerfahrt bereitgestellt.
Es war ein etwas merkwürdiger Besuch. Wirklich gut kannten die beiden sich nicht. Ihre Verbundenheit fußte fast nur auf ihre gemeinsame Ordenszugehörigkeit. Zwar war Hönnlin in all den Jahren öfters hier gewesen, doch meist nur für wenige Tag und zweimal für einige Wochen. Ihre Gespräche waren meist kurz und zweckgebunden. Vater Andreas hatte nie einen Hehl daraus gemacht, das Reisen von Mönchen nicht zu mögen, wenngleich er das Missionieren durchaus begrüßte. Hönnlin wusste nie recht, ob Vater Andreas sich des Widerspruchs bewusst war, oder ob es genau das war, worüber er sich eigentlich am meisten ärgerte.
„Wie lange beabsichtigt ihr zu bleiben?“, fragte der Abt unvermittelt, nachdem er sich alle Bücher und Schriften angesehen hatte und die beiden Bücher, die Hönnlin für dieses Kloster mitgebracht hatte, sorgsam in einem Schrank verstaute.
„Ich gedachte in meine Heimat zurückzukehren und mich ganz dem Klosterleben zu widmen.“
„Das freut mich zu hören. Ihr werdet sehen, eure Seele wird endlich Ruhe finden.“
Hönnlin nickte verständnisvoll. „Aber ich wollte die Alpen nicht vor Beginn des Sommers überqueren, darum wollte ich mich für wenige Wochen den Aufgaben hier stellen und wenn es möglich ist, solange hierbleiben.“
„Ihr seid stets willkommen und eine Bereicherung für das Kloster.“
Hönnlin fand, dass sich der Abt diesmal eigenartig benahm. Er war auch unruhiger als es Hönnlin von ihm kannte.
„Sind die Bücher fertig, um die ich gebeten hatte?“
„Soweit ich weiß, sind sie bereits seit Monaten fertig. Sie liegen für euch bereit.“ Der Abt war mit seinen Gedanken woanders.
„Dann wird es wahrlich Zeit, dass ich zurückkehre. Ich war nun etliche Jahre fort.“
„Darf ich um etwas Aufschub eurer Heimreise bitten?“
„Wenn es euer Wunsch ist.“ Hönnlin war gespannt, auf was der Abt hinaus war. Auf jeden Fall behagte es ihm nicht, Hönnlin das fragen zu müssen.
„Die Nonnen sind vor dem Winter mit einem Wunsch an mich herangetreten, den ich nicht abschlagen kann“, begann Vater Andreas schwerfällig.
Hönnlin wartete geduldig.
„Sie haben eine Novizin, die nach Frankreich muss. Dort soll sie ihr Französisch festigen, da sie des Italienischen nun mächtig ist.“
„Und jetzt sucht ihr sicheres Geleit?“
„Ja, die Nonnen wollen sie nicht unkultivierten Menschen in Obhut geben, erst recht nicht für eine solch lange Reise.“
„Sie ist wohlmöglich von großem Wert“, schlussfolgerte Hönnlin und aus dem Gesicht des Abtes konnte er lesen, dass er recht hatte.
„Jeder Mensch ist gleich viel wert!“, behauptete Vater Andreas mit gespielter Empörung, da er die Wahrheit weder aussprechen noch hören wollte.
„Die Nonnen können keine solche Reise unternehmen, es wäre für sie zu gefährlich.“
„Es ist für jede Frau gefährlich, erst recht, wenn sie wie Nonnen weithin als solche erkenntlich sind“, bestätigte Hönnlin. Er verstand die Nonnen nur allzu gut. Das Problem das Vater Andreas wegen dem Ganzen empfand, war eigentlich nur, dass er Hönnlin abermals in ein Abenteuer schickte.
„Ich nehme an, ich soll mit ihr allein reisen und Sorge tragen, dass sie unbeschadet ankommt?“
„So ist es“, sprach Vater Andreas es erleichtert aus, nun da es heraus war.
Hönnlin dachte eine Weile nach.
„Ich bin für ihren Schutz verantwortlich?“, fragte Hönnlin nach.
„So ist es!“
„Als Novizin ist die Reise zu gefährlich. Für sie genau so wie für mich.“
Der Abt mochte das Wort gefährlich noch weit weniger hören als das Wort Abenteuer.
„Ich bin gerne dazu bereit, aber sie wird sich kleiden wie ein Mönch.“
„Das kommt nicht infrage!“, empörte sich Vater Andreas.
„Wenn euch ihr Schutz wichtig ist, werdet ihr dem zustimmen“, blieb Hönnlin ruhig.
Der Abt schüttelte hilflos den Kopf.
„Meinet wegen kann sie die Stadt als Novizin verlassen und als Novizin wird sie ankommen. Aber dazwischen trägt sie Mönchskleidung.“
Der Abt dachte darüber nach.
„Es bleibt unser drei Geheimnis. Es dient einzig ihrem Schutz“, versprach Hönnlin.
„Es ist eine Sünde, ein Leben unnütz in Gefahr zu setzen. Der Herr wird über euch wachen, aber ihr sollt ihn nicht auf die Probe stellen. Clara wird die Stadt als Novizin verlassen. Gott allein weiß was danach passiert.“
„Wann soll die Reise beginnen?“, fragte Hönnlin.
„In etwa einem Monat. Noch ist es zu kühl.“
„Dann bereite ich alles vor“, nahm Hönnlin die Aufgabe an. Für ihn spielte es keine Rolle, dass ihm ein Umweg auferlegt wurde. Dann würde er eben über Frankreich reisen. Hier war das Gebirge ohnehin leichter zu überqueren.
Gute drei Wochen nach Hönnlins Ankunft im Kloster schwang das Wetter um, und es wurde spürbar wärmer. An einem Montagsmorgen standen die Äbtissin und Clara beim Abt im Arbeitszimmer. Hönnlin war dorthin bestellt worden, damit sich die Äbtissin ein Bild von ihm machen konnte.
Neben Clara vertraute sie ihm auch eine fest eingepackte Kiste an. Vater Andreas musste davon gewusst haben, denn er war keineswegs überrascht.
„Darin ist ein Brief für die Äbtissin. Auch sind Bücher darin für deren Bibliothek. Gebt gut darauf acht.“
Hönnlin versprach Clara und die Bücher vor allem zu schützen, soweit es in seiner Macht lag, den Rest würde er Gott anvertrauen. Hönnlin konnte sich nun sicher sein, dass Clara aus einer reichen Familie stammte. Die Bücher waren die Bezahlung der Ausbildung. Vielleicht hatte auch die Äbtissin selbst entscheiden, das erhaltene Geld gegen Bücher einzutauschen.
Am Morgen danach reisten sie ab. Doch es würde länger dauern als Hönnlin gedacht hatte. Clara war es untersagt worden, zu reiten und so verließen sie die Stadt mit nur einem Esel. Zumindest in einer Sache hatte Hönnlin aber Glück. Clara schien keineswegs verängstigt, wie er es von einer Novizin erwachtet hätte. Vielmehr konnte Hönnlin in ihr das Fernweh erkennen und er spürte, dass sie sich auf die Reise freute. Die Mahnungen und Anweisungen der Äbtissin ließ sie geduldig über sich ergehen. Als sich die Nonne umdrehte und mit gemessenem Schritt fortging, glaubte Hönnlin ein Anflug von einem Lächeln zu erkennen. Doch als sie seinen Blick auffing, gefror ihr Gesicht und sie sah zu Boden. Als sie die Stadtmauern hinter sich ließen, verrieten ihre Augen ihre versteckte Vorfreude. Hönnlin musste schmunzeln. Deshalb hatte sie wohl auch so schüchtern den Blick gesenkt gehalten. Sie hatte wohl befürchtet, dass ihre Freude ihr anzusehen wäre.
„Du freust dich aber viel“, brach Hönnlin das Schweigen.
„Ich reise gerne“, gestand Clara nach anfänglichem Zögern.
„Das ist aber selten für eine Novizin.“ Hönnlin sah prüfend zu ihr herab.
„Gott hat sich nicht so viel Mühe gegeben, die Welt zu erschaffen, damit wir alle im Kloster bleiben“, lächelte sie ihn frech an. Das war eindeutig nicht das erste Mal, dass sie diese Antwort gab.
Hönnlin nickte anerkennend und konnte sich lebhaft vorstellen, dass die Nonnen es nicht immer einfach mit Clara gehabt haben mochten.
Hönnlin bemerkte, wie Clara den Horizont mit ihren Blicken abtastete. Zwar verbot sie sich wohl ruckartige Bewegungen, doch auch so viel es ihm auf. Ihm selbst erging es nicht anders, wenn er lange an einem Ort verweilt hatte. Alles in ihm sehnte sich dann danach etwas Neues zu sehen und das Weite vor sich zu entdecken.
„Du fragst gar nicht, wie lange wir unterwegs sein werden?“
„Das tut nur, wer es eilig hat“, antwortete Clara sorglos.
„Und du hast es nicht eilig?“, neckte Hönnlin.
„Ich“, begann Clara. „Ich bin Novizin, ich muss nicht alles wissen“, versteckte Clara sich hinter einer Aussage, die nicht die ihre war.
Hönnlin versuchte sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Während der nächsten Stunde sprach keiner ein Wort.
„Warum gehen wir in östlicher Richtung?“, fragte Clara, nachdem sie bereits eine Weile abgebogen waren.
„Woher kennst du die Himmelsrichtung?“, wunderte sich Hönnlin.
Clara sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Sie antwortete aber nicht darauf. Wahrscheinlich konnte sie Hönnlin nicht genug einschätzen.
„Na gut“, lenkte Hönnlin ein. „Es ist nur ein kurzer Umweg. Ich habe noch etwas zu erledigen.“
Hönnlin wartete auf eine weitere Frage, doch die blieb aus.
Vom Umweg unbekümmert schritt sie weiter und ließ ihren Blick hin- und her schweifen. Sie merkte aber, dass Hönnlin sie beobachtete und erwiderte einige Blicke mit einem zarten Lächeln.
Hönnlin ging etwas langsamer, als wenn er alleine unterwegs gewesen wäre. Er wollte Clara nicht gleich am ersten Tag überfordern. Er fürchtete Klagen während der restlichen Reise hören zu müssen. Doch auch hierin überraschte ihn Clara.
Noch etlichen Stunden erkannte er das Waldstück wieder, das er sich eingeprägt hatte.
„Hier werden wir den Weg verlassen“, setzte Hönnlin an. Clara blickte ihn neugierig an. „Ich habe hier etwas zurückgelassen, was ich nun wieder abhole“, erklärte Hönnlin, um Clara nicht unnötig zu verängstigen.
Clara nickte stumm und hielt ihre Fragen für sich. Doch es war keine Spur von Angst in ihren Zügen zu erkennen. Wahrscheinlich hatte sie der Äbtissin geglaubt, dass sie ihm vertrauen konnte. Vielleicht war sie aber auch stets so behütet gewesen, dass sie glaubte, jedem vertrauen zu können. Hönnlin nahm sich vor sie später während der Reise darauf anzusprechen. In dieser Welt konnte man nicht vorsichtig genug sein, besonders als junge Frau.
Wie zu erwarten hatte sich der Wald in den wenigen Wochen beachtlich gewandelt und ein neues Kleid angelegt. Zum Glück hatte sich Hönnlin markante Bäume eingeprägt und so fand er zielsicher seine einstige Lagerstelle. Clara achtete nicht auf den Weg. Sie war fasziniert von all den Tieren, denen sie begegneten und die sie aufschreckten. Einige sah sie wohl zum ersten Mal bewusst. Hönnlin freute sich über die großen Augen, die sie dabei machte und erklärte ihr, was er wusste. Auch maß er seine Schritte bedächtig ab, um weniger Lärm zu verursachen. Doch sein Esel erinnerte sich an seinen störrischen Charakter und machte alles zunichte. Ihm gefiel es nicht, ständig stehen bleiben zu müssen und gab das lauthals kund. Unzählige Vögel flogen in den Himmel und weithin nahmen die Waldbewohner Reißaus oder versteckten sich.
„Dummer Esel“, schüttelte Hönnlin den Kopf.
Clara lachte nur.
„Komm, du kannst mir suchen helfen. Hier irgendwo müsste eine alte Feuerstelle sein. Wahrscheinlich sind nun Blätter darüber.“
Mit freudiger Aufregung half Clara beim Suchen. Hönnlin wusste in etwa, wo die Stelle sein musste, doch er ließ Clara sie finden.
„Hier ist sie“, rief Clara mit für eine Novizin unangebrachter Begeisterung.
Als Hönnlin sich umdrehte, waren die Blätter bereits weggewischt. Die Asche war größtenteils weggeweht und nur mehr grobe Stücke und geschwärzte Erde verrieten das einstige Lagerfeuer.
Hönnlin nahm seine kleine Schaufel und wollte ansetzen das Loch erneut auszuheben, doch Clara bettelte förmlich darum, es selbst tun zu dürfen.
Er wollte sie ermahnen vorsichtig zu sein, doch dazu ließ ihm Clara keinen Grund. Clara schien die geborene Schatzsucherin zu sein. Nur vergaß sie schnell ihre Novizinnentracht und so musste Hönnlin deswegen ihre Abenteuerlust zügeln.
Vorsichtig hob Clara das in Leder eingewickelte Paket hervor und wischte vorsichtig, beinahe andächtig, die anhaftende Erde ab. Nach kurzem Betrachten reichte sie es Hönnlin, ohne zu wagen es zu öffnen.
Hönnlin sah sie eine Weile ins Gesicht und auch wenn Clara es schaffte seinen Blick zu erwidern, stellte sie keine Frage, auch wenn ihre Neugier geweckt war.
„Du möchtest nicht wissen, was darin ist?“, neckte Hönnlin, da es ihm egal sein konnte, wenn sie es wusste.
„Doch“, lachte Clara. „Aber sie werden es kaum hier verstecken, wenn sie möchten, dass jeder weiß, was sie haben.“
„Ja, das stimmt wohl“, zeigte sich Hönnlin beeindruckt. „Du hast einen wachen Geist.“
Clara lächelte zufrieden und schloss das Loch.
„Aber ich möchte überprüfen, ob alles unbeschadet ist und ich habe das Gefühl, dass mein Geheimnis bei dir gut aufgehoben ist.“ Clara würde nichts verraten können, denn in Frankreich würde er das letzte Mal als Bruder Johannes einkehren.
Es waren rund zwei Dutzend Schriften, die Hönnlin hier vergraben hatte, davon waren aber nur die Hälfte als Bücher zu bezeichnen. Auch zwei Schriftrollen waren, darunter und ansonsten waren es notdürftig zusammen gebundene Zeichnungen und Texte.
Abermals konnte er sich an Claras großen Augen erfreuen und er ließ sie bereitwillig hineinschauen.
„Aber das kann man doch nicht lesen, oder?“, wollte Clara verwundert wissen, als sie arabische Texte sah.
„Doch, aber es ist eine andere Schrift wie die unsere. Das ist die arabische Schrift“, erklärte Hönnlin.
„Es gibt mehrere Schriften?“ Davon hatte sie noch nie gehört.
„Ja, viele“, bestätigte Hönnlin. „Aber frag mich nicht wie viele.“
„Aber“, wunderte sich Clara, „es gibt doch schon unterschiedliche Sprachen und alle die ich kenne haben die gleiche Schrift. Wie kann das sein?“
„Nun die Schrift ist wohl an vielen Orten gleichzeitig entwickelt worden und deshalb gibt es in vielen Regionen unterschiedliche Schriften. Bei uns hat sich wohl für viele Länder nur eine Schrift behaupten können.“ So recht wusste Hönnlin hierauf auch keine Antwort.
„Aber es ist schon schwer genug eine andere Sprache zu lernen. Wie soll das gehen, wenn man auch noch eine andere Schrift lernen muss?“, versuchte Clara sich die Mühe vorzustellen. „Können sie das lesen?“
„Ja, aber es fällt mir schwer. Aber nur so kann man ganz neue Dinge lernen.“
„Was für Dinge?“, wollte Clara wissen.
„Andere Kulturen, andere Vorstellungen aber auch Erfindungen in Medizin oder in der Kunst des Bauens.“
Clara machte große Augen und blickte Hönnlin sprachlos an.
„Aber warum haben sie die hier versteckt?“, fragte Clara nach einer Weile, als Hönnlin dabei war sie einzupacken. „Im Kloster wären sie doch viel besser geschützt und da könnte jeder sie lesen.“
„Glaubst du das?“, antwortete Hönnlin mit einer Gegenfrage.
Die Frage machte Clara nachdenklich und so antwortete sie nicht gleich darauf.
„Ich habe dir etwas noch nicht gesagt, weil keiner außer dir es wissen darf.“
Clara runzelte die Stirn, während Hönnlin zum Esel ging und in einer Tasche kramte.
„Hier habe ich noch eine Mönchskutte und ich möchte, dass du die während der Reise trägst.“
„Wieso? Was ist an meiner Kleidung nicht gut“, fragte Clara verwundert. Aber sie wirkte keineswegs schockiert, so wie Hönnlin es erwartet hatte.
„Hier draußen ist eine andere Welt als in einem Kloster, oder selbst in der Stadt. Hier ist es gefährlich als Mädchen herumzulaufen. Du bist weithin als einfaches Opfer erkennbar. Als zwei Mönche werden wir weniger Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“
Clara verstand das nicht ganz, aber sie glaubte ihm.
„Na gut, mir gefällt die Novizinnentracht ohnehin nicht“, lachte sie und schlug sich dann die Hand auf den Mund.
„Keine Angst, das bleibt unser Geheimnis“, lächelte Hönnlin belustigt. „Ich schätze ehrliche Meinungen.“
Clara brannte eine Antwort auf der Zunge, aber sie wagte nicht sie auszusprechen. Aber auch so wusste er, was sie sagen wollte, und konnte sie nur allzu gut verstehen.
Hönnlin reichte ihr die Kleidung und Clara ging fort, sich umziehen. Als sie zurückkehrte hatte sie die Kapuze aufgesetzt, grinste frech und freute sich diebisch. Wahrscheinlich stellte sie sich das Gesicht der Äbtissin vor, wenn diese sie so sehen würde.
„Wir können nun den Weg zurück zur Kreuzung gehen“, begann Hönnlin und versuchte seinerseits ein Grinsen zu unterdrücken, „oder wir gehen auf direktem Weg durch den Wald. Du entscheidest.“
„Durch den Wald“, antwortete Clara prompt und spielte mit den ungewohnt weiten Ärmeln ihrer Kutte.
„Du bist mir eine Novizin“, lachte nun Hönnlin und konnte sich nicht mehr halten.
Clara versuchte eine Unschuldsmiene aufzusetzen, doch vergebens, und so fiel sie mit in sein Lachen ein. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich das richtig an. Hönnlin war nicht so wie die anderen Mönche und erst recht nicht wie die Nonnen, die sie kannte.
Hönnlin schlug nicht den direkten Weg ein. Stellenweise war der Wald zu dicht und so folgten sie den Pfaden von Wildschweinen und anderem Getier. Er schwor Clara darauf ein, dass sie weglaufen sollte, wenn sie ein Wildschwein mit Jungen zu sehen bekämen. Von der Abenteuerlust, die sie nun vollkommen durchströmte, enthemmt, demonstrierte sie ihm auch gleich ihr Können, was das Klettern anbelangte.
„Etwa so“, strahlte Clara ihm aus vier Metern Höhe entgegen.
„Genauso!“ Hönnlin hatte die Arme in die Seite gestemmt, weil er sich in der Pflicht gesehen hatte zu protestieren, doch er brachte es nicht fertig. Sein resignierendes Kopfschütteln galt genauso viel sich selbst, wie auch Clara. „Wer hat dir das alles beigebracht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das neuerdings im Kloster lernt.“
„Ich musste mich einige Male verstecken“, berichtete Clara mit einer Unschuldsmiene, dass Hönnlin abermals lachen musste. Nein, er war wirklich nicht mehr für das Klosterleben gemacht. Ihm fehlte der notwendige Ernst.
„Das kann ich mir bei dir lebhaft vorstellen, wobei einige Male wohl auch anders zu nennen wäre?“
„Manchmal bin ich auch artig“, protestierte Clara entrüstet.
„Du meinst, dass du dich manchmal nicht hast erwischen lassen?“
„Ist doch das Gleiche!“, stellte sich Clara beleidigt und kletterte geschickt hinab. Unten angekommen verdrehte sie die Augen und ging an Hönnlin vorbei als wollte sie nichts mehr hören.
„Du hast mir wirklich noch gefehlt“, lachte Hönnlin.
Clara blieb kurz stehen, grinste frech und nickte als Bestätigung bevor sie weiter ging.
Hönnlin blieb stehen und lächelte schwermütig. „Armes Ding, was machst du in einem Kloster?“, flüsterte er zu sich selbst. Er atmete tief aus und folgte Clara, die inzwischen etliche Meter voraus war.
Bis zum Abend hatten sie den Rand des Waldes noch nicht erreicht. Es gab für Clara viel zum Staunen und im Gegensatz zum Vormittag legten sie vermehrt Rast ein. Keiner der beiden hatte es eilig und so sah Hönnlin es auch nicht ein, sich unter Zeitdruck zu setzen. Während Clara das Abenteuer genoss, bot es Hönnlin Gelegenheit, über das Leben nachzudenken, das er bald führen würde. Er hatte schon lange darüber nachgedacht, aber jetzt war es bald so weit. Er war sich seines Entschlusses sicher, aber es lag doch viel im Ungewissen. Und schließlich war es auch nicht so, dass das Leben, das er hinter sich ließ, ihm verhasst wäre. Er hatte viel gelernt, viele bewundernswerte Menschen kennen gelernt, von denen einige ihn auch nicht unwesentlich geprägt hatten. Aber das Leben, das er bis eben führte, schaffte es nicht mehr ihn zu erfüllen. Stellen in ihm waren leer, während er viel Zeit damit verbringen musste, Dinge zu tun, von denen er nicht überzeugt war. Genau von diesem Ballast wollte er sich lossagen. Aber er würde auch Freunde zurücklassen. Viel Vertrautes und auch Sicherheit würden ihm verloren gehen. Es war nicht so, dass ihm dies Angst machen würde, aber es beschäftigte ihn doch, nun da es bald so weit war. Vielleicht zeigte er sich Clara auch deshalb so offen. Er löste bereits die ersten Bande und bald gab es kein Zurück mehr, denn die Worte, die er sprach, würden ihn irgendwann einholen.
Ismar war spät dran und er wusste das. Ebenso wie er um den Ärger wusste, der ihm drohte, da er beim Abendessen nicht erschienen war. Aber zumal im Sommer vergaß er abends schnell die Zeit, weil es nicht früh dunkel wurde. Nach seinem Unterricht war er gleich hinunter zu Casper gelaufen, weil der sich um die Erweiterung des Stalles kümmerte. Die steinernen Wände des Erdgeschosses waren fertig und jetzt arbeitete er daran, die hölzerne Decke zu verlegen. Darauf wollte er noch ein niedriges Obergeschoss aus Holz bauen, damit sie hier eine kleine Werkstatt bekamen, nur um Geschirr und Sattel zu pflegen. Seid Casper vom Pferd getreten worden war, suchte er sich gerne andere Arbeit, auch wenn er keine Angst vor Pferden hatte. Wahrscheinlich legte er deshalb selbst so viel Hand beim Bau des Stalles an.
Zwar behauptete er fleißig, der Schreiner würde Wucherpreise fragen, aber keiner kaufte ihm das ab. Dennoch machte es Ismar höllisch Spaß, Casper zu helfen, vielleicht auch deshalb, weil der Schreiner und Casper bisweilen unterschiedliche Sichtweisen besaßen, wie gebaut werden sollte.
Eigentlich war es reiner Zufall gewesen, dass Ismar daran gedacht hatte, nach Hause zu müssen. Schreie hatten ihn und Casper aus ihrem Eifer gerissen. Bei dem Gedanken, wer dort Ärger bekam, fühlte sich Ismar an jenen erinnert, der ihm nun drohte. Dabei, ganz so schlimm war es nicht, denn er hatte bereits zweimal diese Woche Strafen bekommen und die arbeitete er eben bei Casper ab. Aber dennoch, das musste nicht sein. Ismar fürchtete, dass sein Vater bald dahinterkommen würde, dass dies keine Strafe war.
Er beeilte sich nach Hause zu kommen, deshalb fiel ihm nicht gleich auf, welche Hektik auf den Straßen herrschte. Ständig rief ein anderer und Menschen liefen kreuz und quer. Das war mehr als merkwürdig an einem Abend eines so gewöhnlichen Tages. Ismar wollte wissen, was da los war, doch er wagte nicht langsamer zu werden. Doch dann wurde ihm das Treiben zu bunt. Die Menschen, die ihm entgegen strömten, benahmen sich sonderbar.
Plötzlich sah er Wilbolt, Ells Vater, auf ihn zulaufen. Da musste etwas passiert sein. Ells Vater lief nie. Ismar wollte ihn ansprechen, doch Wilbolt kam ihm zuvor. Er machte hektische Gesten, als wollte er Ismar verscheuchen. Verdutzt blieb Ismar stehen.
„Komm“, hauchte Wilbolt. „Du musst hier weg.“ Er griff im Laufschritt Ismars Arm und zerrte ihn mit sich fort.
„Was ist los? Ich muss nach Hause!“
„Jetzt nicht“, presste Wilbolt zwischen den Zähnen hindurch und versuchte so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu erregen. Er blickte sich prüfend um, als suchte er etwas, oder jemanden.
„Ich erklär es dir unterwegs“, beschwichtigte Wilbolt, als er Ismars Widerstand spürte. „Du musst mir vertrauen!“
Eigentlich müssten die beiden weithin auffallen, doch in der ganzen Aufregung nahm keiner von ihnen Notiz.
„Du darfst nicht gesehen werden! Vertrau mir.“ Wilbolt hielt mit eiligen Schritten auf das Stadttor zu. Wilbolt hatte ihm noch nie das Gefühl vermittelt, ihm vertrauen zu müssen. Zumal Ismar ihn meist verärgert hatte, weil er Ell vor ihm geschützt hatte. Dennoch klang Wilbolt ehrlich besorgt. Entweder das, oder der Umstand, dass alle so aufgeregt waren, sorgte dafür, dass Ismar sich fügte und mit Wilbolt die Stadt verließ.
„Was ist los? Warum sind alle so durchgedreht?“, verlangte Ismar zu wissen als sie in einiger Entfernung zur Stadtmauer waren. Sie waren nicht allein auf der Straße, aber außer Hörweite der n.
Wilbolt zögerte und zog Ismar weiter.
„Komm weiter. Ich erklär es dir, aber du musst weiter gehen“, lenkte Wilbolt ein, als Ismar abermals versuchte stehen zu bleiben.
„Du musst mir versprechen nicht zu schreien und auf keinen Fall darfst du zurücklaufen!“, begann Wilbolt.
Ismar zögerte. Wenn Wilbolt so anfing, dann würde er mit Sicherheit zurückwollen.
„Versprich es mir!“, beharrte Wilbolt.
„Ich verspreche es“, presste Ismar widerwillig, aber ungeduldig hervor.
„Es sind Verräter in der Stadt“, begann Wilbolt endlich. „Sie haben deine Eltern vergiftet.“
„Nein“, rief Ismar und drehte sich um. Wilbolt hatte die Bewegung vorausgeahnt und griff ihn mit seinem starken Arm. Er hob ihn hoch und drückte ihm eine Hand auf den Mund.
„Du kannst nichts tun, Junge. Sie sind auch hinter dir her. Sie dürfen nicht wissen, wo du bist!“
Vorsichtshalber ließ er die Hand auf Ismars Mund. Denn auch er war in Gefahr, wenn sie wussten, dass er Ismar bei sich versteckte. Und das Schlimme daran war, dass er nicht einmal wusste, wer sie waren.
„Wer auch immer das war, er will, was dir zusteht. Ich habe gehört, dass zwei Männer sich nach dir erkundigt haben. Sie dürfen dich nicht finden.“ Wilbolt spürte, wie Ismars Widerstand nachließ und so entfernte er seine Hand. Er behielt ihn aber weiterhin auf dem Arm, denn er kannte seinen Eigenwillen zur Genüge.
„Ich bringe dich zurück, sobald es für dich sicher ist.“
„Sind sie tot?“, fragte Ismar und spürte Tränen seine Wangen hinunterlaufen.
„Soweit ich weiß, ja. Ich habe es nicht selbst gesehen.“
Ismar sprach seine Hoffnung nicht aus.
„Ich gehe morgen früh zurück in die Stadt und werde mich umhören. Wen soll ich fragen, was mit dir geschieht?“
Ismars Gedanken überschlugen sich.
„Was ist mit meiner Schwester? Was ist mit Elisabeth?“
„Ich habe sie nirgends gesehen. Aber ich habe auch nur nach dir gesucht.“ Wilbolt dachte nach. „Aber außer deinen Eltern schien keiner vergiftet worden zu sein.“
Wilbolt merkte, dass das wenig beruhigend war.
„Wahrscheinlich hat auch jemand sie versteckt. So wie ich dich.“
Ismar murmelte unverständlich.
Als Ismar am folgenden Morgen in Wilbolts Haus aufwachte, hatte er das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben. Dennoch war er hellwach und wollte unbedingt in die Stadt. Doch Wilbolt ließ es nicht zu, und so blieb Ismar bei Ell und ihrer Mutter zurück, während Wilbolt in aller Früh in die Stadt ging. Er würde versuchen, zu Ismars Hauslehrer zu gelangen und sollte er daran gehindert werden, sollte er sich an Casper wenden, weil dieser durchgelassen würde.
Obwohl Wilbolt bereits am frühen Mittag zurückkehrte, wurden es lange Stunden für Ismar. Das erste Mal wollte er sich die Zeit nicht durch Arbeit vertreiben und durch nichts, was sich Ell oder ihre Mutter einfallen ließen, war er davon abzubringen, beim Fenster stehen zu bleiben.
„Er kommt“, rief er plötzlich. Obgleich er sich vorgenommen hatte, Wilbolt entgegenzulaufen, sobald er diesen sah, blieb Ismar stehen und wandte seinen Blick nicht mehr von Wilbolt, bis dass dieser in der Tür erschien. Ell und ihre Mutter wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten und stellten sich hinter Ismar.
Wilbolt blickte die drei an und wusste nicht, wie er es sagen sollte. Unterwegs hatte er einige Varianten ausprobiert, doch nun wollte ihm keine mehr einfallen. Jeder der Wilbolt kannte, wusste, dass er kein Mann der Worte war.
„Deine Eltern sind beide tot. Aber deine Schwester lebt und sie ist in Sicherheit“, sagte Wilbolt steif.
Ismar blieb reglos stehen. Wut und Hilfslosigkeit lähmten ihn. Obwohl er versucht hatte, sich keine Hoffnung zu machen, traf ihn der Schlag ein zweites Mal.
Ell griff vorsichtig noch seiner Hand und er ließ es zu.
„Dein Hauslehrer bat mich, dir dies zu geben.“ Wilbolt nahm einen Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Ismar. „Er bat mich, dass du noch zwei Tage bei uns bleibst. Er sorgt sich um deine Sicherheit.“ Wilbolt hielt kurz inne. „Aber das wird er dir wohl auch geschrieben haben.“
Ismar wollte aufbegehren, besann sich dann aber anders und öffnete den Brief. Zahlreiche Strafen hatten es ihm abgewöhnt zu schnell zu antworten.
Er erkannte gleich Wigandus' Schrift, auch wenn dieser diesmal sichtlich in Hast geschrieben hatte. Dennoch war der Brief ungewöhnlich lang. Er bestätigte ihm, was er bereits von Wilbolt wusste. Obendrein versuchte er ihn zu beruhigen und bat ihn vernünftig zu sein. Wigandus würde versuchen beim Bischof Schutz für ihn und seine Schwester zu erwirken. Der Sitz des Stadthalters würde neu vergeben werden und er wäre der Einzige, der später einen Anspruch äußern dürfte, aber noch war er zu jung.
Er lobte gar Wilbolt für dessen besonnenes Handeln und schwor Ismar ein, ihm zu vertrauen.
„Es gab einen Verräter, der deinem Vater nah stehen musste, sonst hätte das so nicht geschehen können“, schrieb Wigandus. „Auch ich werde bald die Stadt verlassen und einige andere auch. Gleichwohl wer von dieser Tat seinen Nutzen zieht, die Stadt wird nicht mehr die Gleiche sein“, hieß es einige Zeilen später.
Ismar überflog den Brief erst hastig, dann noch einmal langsam. Keiner sprach ein Wort. Ismars Hände zitterten und Tränen liefen ihm die Wange hinunter. Er wusste, was das bedeuten würde, auch er musste die Stadt verlassen. Schlimm genug, dass seine Eltern tot waren, aber nun verlor er auch noch seine Heimat, alles, was ihm vertraut war.
„Wigandus wollte, dass ich dir noch etwas sage, das er nicht niederschreiben wollte“, begann Wilbolt als Ismar seinen Kopf hob. „Er möchte dich nochmal sehen, bevor er geht.“
„Kann ich jetzt zu ihm?“ Ismar hielt auf die Tür zu.
„Nein, Wigandus hat kurz nach mir die Stadt verlassen. Er hatte bereits gepackt. Er hat mir gesagt, wo ich ihn in drei Tagen finden werde.“
„Ich muss aber etwas tun. Irgendwas!“, schrie Ismar hilflos.
Ells Mutter eilte zu ihm und nahm ihn in den Arm.
„Junge“, setzte Wilbolt an, doch dann merkte er, dass ihm die Worte fehlten.
„Dein Vater war ein gerechter Herr. Wir werden ihn alle vermissen“, sagte er schließlich aus tiefster Überzeugung.
„Wohl wahr“, bestätigte seine Frau. „Du kannst auf ewig stolz auf ihn sein!“
Drei Tage später brachen Wilbolt und Ismar zum Treffpunkt auf. Ismar war völlig erschöpft. Wilbolt hatte versucht ihn mit Arbeit abzulenken und Ismar hatte geschuftet wie ein Berserker.
Der Junge tat Wilbolt leid und er wurde sich aufs Neue bewusst, wie oft er ihm Unrecht getan hatte. Weder sein Vater noch er hatten diesen Verlust verdient, aber vielleicht musste dies das Schicksal all derer sein, die gutherzig waren, schloss Wilbolt wehmütig. Vielleicht war das Gottes Wille, um die Menschen zu bestrafen. Wilbolt machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie. Er hatte zu viel Schreckliches von Bekannten und Verwandten gehört, die andere Lehnsherren hatten.