Kopfsprung ins Leben - Marc Lindner - E-Book

Kopfsprung ins Leben E-Book

Marc Lindner

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Beschreibung

Theo ist der jüngste Spross einer erfolgsverwöhnten Familie. Demnach selbstverständlich ist es für ihn, sich und seinen Studienabschluss gebührend zu feiern. Doch im Rausch dieser Party beginnt er sich Fragen zu stellen und die Fassade, die für ihn das Leben darstellt, beginnt zu bröckeln. Jane, seine Putzfrau, bringt ihn ungewollt auf eine Idee. Er möchte Bedeutung für sein Leben, und ist selbstsicher genug zu glauben, diese während einer simplen Reise zu finden. Doch was er findet sind Antworten auf Fragen, die er nie gestellt hat. Er beginnt zu verstehen, dass es jenseits seines Tellerrandes mit dem goldenen Löffel eine andere Welt gibt, und er muss sich dort Herausforderungen stellen, die ihm bisher fremd waren.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Marc Lindner

Kopfsprung ins Leben

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Impressum neobooks

Kapitel 1

Die hellen Marmorplatten blendeten in der grellen Nachmittags­sonne. Mit zusammengekniffenen Augen ließ ich meinen Blick über die Terrasse gleiten. Kritisch überprüfte ich die Handtücher, die auf den Liegen lagen. Lässig lehnte ich am Rahmen der weit geöffneten Schiebetür. Während der Sommermonate gab diese meistens die gesamte Wohnzimmer­breite der frischen Meeresluft preis und verlieh dem Raum die Illusion gänzlich wandlos zu sein. Befriedigt stellte ich fest, dass die Getränkeboxen unter den kleinen Schirmen mit frischem Eis befüllt waren und jedem Geschmack die passende Erfrischung boten. Die neu angebrachten Unterwasserspots verliehen dem Wasser im Pool ein Tiefseeblau. Als sie den Pool in karibisches türkisgrün tauchten, bewegte für einen Augenblick ein Schmunzeln meine Lippen. Vater hielt es für etwas übertrieben, doch ich fand, es war sein Geld durchaus wert gewesen. Was nützte einem schließlich eine Ferienwohnung, wenn man nicht das Gefühl hatte, im Urlaub zu sein.

Zufrieden mit dem Anblick, stieß ich mich am Rahmen ab und ließ mich etwas widerwillig zu einem Rundgang bewegen. Die seit einer Woche unermüdlich drückende Frühlingssonne hatte mich bisher weitestgehend hin zu schattenreichen Plätzen geschmeichelt. An diesem Tag jedoch galt es, Gastgeberpflichten nachzukommen. Ich wollte mich selbst davon überzeugen, dass alles in meinem Sinne vorbereitet war. Schließlich feierte man nur einmal seinen Uniabschluss. BWL in 13 Semestern war eine Leistung, die gern gefeiert werden wollte.

Es war nicht meine erste Fete, aber die Erste, die ich in Eigenregie führte. Demgemäß detailbesessen war ich an die Aufgabe herangegangen und nahm die Herausforderung mit von mir ungekanntem Elan und Ernst an. Ich war der Nesthocker in unserer Familie. Selbst wenn ich in meiner Unistadt in einer WG gewohnt hatte und nur sporadisch zu Hause eingekehrt war, blieb der Eindruck an mir haften, als wäre es der angeborene Tatbestand des Letztgeborenen. Meine Zwillingsbrüder waren seit beinahe zehn Jahren in den Staaten tätig und meine Schwester hatte sich zur erfolgsverwöhnten Managerin hochgearbeitet und lebte seit nunmehr zwei Jahren in einem ständigen Jetlagzustand und gondelte in der Weltgeschichte herum, ohne dass irgendwer sagen konnte, wo sie Rast einlegte, geschweige denn, wo sie wohnte.

Den Pool umschreitend überprüfte ich das gleichmäßige Leuchten der hinter Milchglas versteckten Strahler, von denen keiner als solcher zu erraten war. Ein Atemzug kühlte überraschend meinen Nacken. Jemand war um eine Biegung getreten. Ich tat als habe ich ihn nicht bemerkt und starrte ungestört auf meine neue Errungenschaft. Ein bemessener aber eilig ausgeführter Schritt rückwärts brachte die Person in meinem Rücken auf Abstand. Wort- und bewegungslos blieb sie stehen und wartete darauf, dass ich den Weg freigab.

Ich genoss für einen Moment die Huldigung meiner gesellschaftlichen Stellung und trat wie beiläufig zur Seite und gab mich verwundert, mich nicht allein zu wissen.

Jane stand mit lächelndem Gesicht da und nickte dankbar, dass ich sie nicht weiter zur Tatenlosigkeit verdammte. Ihre schwarzen Hände und Arme waren überfüllt mit Bademänteln, die den Gästen zur Verfügung stehen sollten. Ich hatte Jane diese Party etwas kurzfristig angekündigt. Nicht, dass sie spontan gewesen wäre, ich hatte schlicht vergessen, es ihr zu sagen. Doch wie stets, so war sie auch diesmal nicht aus der Ruhe zu bringen und dachte selbst an Kleinigkeiten, die niemand ihr jemals aufgetragen hatte.

„Na Jane, glaubst du meine Freunde werden sich wohlfühlen?“ Meine heitere Laune färbte auf meinen Ton ab.

„Gewiss Sir.“ Damit wäre üblicherweise ihr Gespräch zu Ende gewesen. „Ich kenne keinen der so vorausschauend Parties plant wir ihr! Euer Vater ausgenommen, Sir.“ Jane strahlte mir entgegen. Nicht wenig war sie an meiner Erziehung mitverantwortlich und ihr „Sir“ war kaum mehr als ein Necken. Sie wusste, wie sehr mir ihre Komplimente schmeichelten. Ich war auch der Einzige, der so vertraut mit ihr reden konnte. Ich zweifelte gar, dass Vater ihren Namen überhaupt kannte. Nennen tat er sie stets „die Putze“ und entkräftete gleichsam jede Kritik, die ihre Daseinsberechtigung in Zweifel stellen wollte. Ein durchweg sozialer Zug. Direkt anreden tat er sie nie. Er befand, dass Personal sich dadurch auszeichnete, selbsttätig zu handeln und sich in einer Art Parallelwelt ohne jedwede Verbindung zu den Arbeitgebern zu bewegen.

„Danke. Wie immer hast du recht!“ Ich wollte mir nicht sagen lassen, mit meinen Komplimenten zu geizen.

Erneut nickte sie und strahlte mir unbeirrt freundlich entgegen. Sicheren Schritts trat sie an der Kante des Pools entlang und ließ einen großzügigen Meter zwischen uns unausgefüllt. Ihr massiger Leib, in eine schwarz-weiße Uniform gehüllt, entfernte sich in unnachahmlicher Geräuschlosigkeit. Ich blieb eine Weile stehen und sah Jane bei ihren geübten Handgriffen zu. Trotz der Hitze, die zugegebenermaßen meinen Verstand in Mitleidenschaft zog, war auf ihrer dunkelbraunen Haut nicht ein einziger Tropfen Schweiß zu erkennen. Daran, dass sich Zeichen von Erschöpfung bei ihr zeigten, war nicht zu denken. Und das, obwohl sie zu unmenschlichen Zeiten bereits auf den Beinen war.

Ich schüttelte den Kopf und schritt einen geschwungenen Pfad durch die gepflegte Gartenanlage und kam zurück in den Schatten, um den Rest des Weges unter den Arkaden längst des Hauses zurückzulegen. Ein weiter Platz mit weißem Kies warf das Sonnenlicht in alle Richtungen zurück. Obwohl das Eingangstor offen stand, parkten vier Autos draußen. Schwarz, gelb, rot und silbern funkelten sie aus dem Schatten hervor. Vater mochte es nicht, wenn Autos dem Haus die Show stahlen. Nicht selten waren seine Geschäftsfreunde, die er ab und an einzuladen pflegte, verwundert, wenn sie in der Auffahrt ihre Autos stehen lassen mussten und genötigt waren, den Anblick des Hauses zu genießen, während sie über den Vorhof schritten.

Genauso wenig schätzte es Vater, wenn die Lacke der Sonne ausgesetzt waren. Deshalb hatte er kurzerhand die meisten Bäume der Allee roden, und eine Überdachung errichten lassen. Als Ausgleich wurde diese von einer steuerfinanzierten Solaranlage bedeckt, und spendete seinem Porsche nachhaltigen Schatten.

Dass das Tor offen stand, würde ihn bei der drohenden Schar an Besuchern mehr als beunruhigen. Aber ich würde meinen Freunden eine solch erschwerte Anreise nicht zumuten. Steve würde mir die Abwechslung sicher danken, die ich ihm bot. Morgen durfte er dann den Kies ebnen und die Spuren der Reifen tilgen. Ohne dass es ein Zutun meines Vaters bedurft hätte, war Steve einer unserer wortkargsten Angestellten. Er schätze – aus mir unverständlichen Gründen – die monotonen Arbeiten am meisten. Um nachzudenken, wie Mutter immer scherzte. Also würde Steve Morgen den Rechen zur Hand nehmen und bis zum Sonnenuntergang nach der perfekten Anordnung der Kieselsteine trachten. Worüber er derweil nachdenken wollte, blieb mir schleierhaft. Sein Leben war ereignislos, und dank der Monotonie geordneter als ich es je von einem Leben für möglich gehalten hätte. Jedenfalls bevor ich ihm das erste Mal begegnet war.

Alles war wie von mir gewünscht. Auch hier war mein Einschreiten also unnötig. Meine Armbanduhr verriet mir, dass es noch eine Stunde dauern würde, bevor mit den ersten Ankömmlingen zu rechnen war. Verlegen blieb ich stehen und rieb mir den Unterarm. Ich mochte dieses Warten gar nicht. Angestrengt dachte ich nach, ob ich mir noch etwas einfallen lassen könnte. Doch außer aufgestauter Hitze war in meinem Kopf nichts zu finden. Vielleicht sollte ich der Bar einen Testbesuch abstatten. Ein reflexartiges Nicken hieß den Vorschlag für gut und meine Beine kamen dem Befehl zuvor und trugen mich hinein. Die Klimaanlage, die üblicherweise für angenehme Kühle sorgte, ließ meinen schwitzenden Körper einen Moment lang frösteln, doch meine Haut erinnerte sich rasch, wie wohltuend diese Frische war. Ein Martiniglas rann zügig meine Kehle hinab und fand kaum Zeit meinen Gaumen zu benetzen. Frevel, dachte ich, und schimpfte stumm über meine Ungeduld.

Ich fragte mich, wann ich bloß so erwachsen geworden war, dass ich mir so viele Gedanken machte. Wo war dieser unbekümmerte Student, der keine Party ausgelassen hatte? Ich sah mich schon so trocken wie meinen Vater werden. Ständig am Planen und derweil nichts Anderes im Sinn als Termine und Verpflichtungen. Unsinn, lachte ich dem Spiegel hinter der Bar entgegen, schließlich schmiss ich eine sinnlose Fete, die mit Geschäftssinn rein gar nichts gemein hatte. Mein Gegenüber hinter der Bar legte seine Stirn in Falten. Viele meiner Freunde waren Töchter und Söhne der Geschäfts­freunde meines Vaters. Wenn sie nicht zufrieden wären, würde selbst mein ernsthafter Vater mich rügen, obwohl er den Lärm der Jugend als geistlose Kinderei abtat und nur wenig Verständnis dafür aufbringen wollte. Doch selbst er hatte sich an den Einladungen beteiligt, ohne dass es mein Mitwissen oder das der Eingeladenen bedurft hätte. Das machten unsere Väter unter sich aus. Dass die Einladung zum Jugendtreff von den Sprösslingen dann nicht angenommen wurde, war sehr selten und nie ohne triftigen Grund. Es galt zu repräsentieren und die Neugier der Eltern zu stillen. So oder so ähnlich konnte man die Tätigkeit meiner Generation beschreiben. Zumindest dann, wenn man die Gelage in ein schönes Licht rücken wollte. Für uns gab es nur eines: Feiern und Spaß haben. Umso ausgefallener die Party umso besser. Dabei wurden die Statussymbole unserer Eltern zur Kulisse degradiert.

Ich hob ein weiteres Glas an und bemerkte, als die Flüssigkeit meine Zunge berührte, dass ich mir diesmal Cognac eingeschenkt hatte. Verwundert über meine Wahl ließ ich mir diesmal Zeit, ihn zu genießen, und leerte das Glas in mehreren Zügen. Das Hobby meines Vaters, unsere Bars selbst mit Getränken zu bestücken, war dank seines guten Geschmacks eine Bereicherung. Mit dem letzten Schluck hob ich das Glas dem Spiegel entgegen und sprach einen kurzen Toast auf meinen Vater.

Meine anfänglich heitere Laune kehrte zurück und ein Lachen verdrängte die ernste Stimmung, die mich zwischenzeitlich ergriffen hatte.

Hinter mir klopfte es gegen eine Glasscheibe. Reflexartig rutschte das Glas hinter eine Flasche, bevor ich mich umdrehte und dabei möglich unerschrocken zu wirken versuchte.

„Verzeihung“, meinte der Ankömmling und deutete mit einem leichten Kopfnicken eine Begrüßung an. Seine Kleidung verriet, warum er gekommen war. „Ihre Haushälterin meinte, ich sollte mich hier bei ihnen melden.“ Der Haushälterin war er sicher nicht begegnet. Die hatte heute ihren freien Tag, er musste Jane meinen, deren Auftreten so Manchen schon hatte glauben lassen, es mit der Haushälterin zu tun zu haben. Der Mann mit südländischer Färbung stand etwas unbeholfen an der offenen Glastür. „Sir?“

Offenbar war er darüber verwundert nicht meinen Vater anzutreffen, dachte ich. Den Barkeeper kannte ich nicht. Sam, der üblicherweise unsere Getränke mixte, musste für Ersatz gesorgt haben – auch ihn hatte ich erst kurzfristig von diesem Abend in Kenntnis gesetzt. Ein Brummen entwich meiner Kehle. Es gefiel mir nicht, dass der Fremde mich nicht als Herr des Hauses erkannte. Ich stand auf, willens ihm durch meine Selbstsicherheit diese Meinung auszutreiben.

„Wenn du magst, kannst du mir gleich einen Cocktail mixen.“ Ich lächelte ihm freundlich zu und mein ausgestreckter Arm deutete an, wie das, „wenn du magst“ zu verstehen war. Er näherte sich mir und ich schritt auf die Terrasse zu. Dass ich nicht direkt auf ihn zuhielt, verwirrte ihn noch mehr. Seine Schritte wurden unregelmäßig und zunehmend kleiner. Unvermittelt blieb ich stehen und reichte ihm meine Hand, die er dankbar schüttelte. Ich spürte, dass er ansetzen wollte, etwas zu sagen und kam ihm zuvor.

„Etwas alkoholfreies zur Erfrischung, nicht zu süß.“

Er nickte eifrig, und bevor er sich entsann, dass er etwas sagen wollte, war ich weiter geschritten. An der Terrasse angelangt blieb ich stehen und lehnte mich wie zuvor gegen die Wand. Ich hörte keine Schritte in meinem Rücken. Der Barkeeper musste unentschlossen stehen geblieben sein. Meinen Blick ließ ich auf dem Pool ruhen und musste schmunzeln. Dass ich so tat, als wäre es für mich alltäglich neue Angestellte einzuweisen, musste ihn beeindruckt haben. Ich stand eine Weile so da, bevor ich Schritte hörte, gefolgt von leisem Klirren.

Wirklich kontrollieren musste ich den Neuen nicht. Sam würde keinen als Vertretung schicken, für den er nicht die Hand ins Feuer legen würde. Wer auch immer dieser Südländer war, er musste sein Handwerk verstehen.

Mein Blick fuhr prüfend die Außenanlage entlang. Eine innere Genugtuung ergriff mich beim Anblick eines jeden Details, das meinen Anforderungen entsprach. Wenn Jane es geschafft hatte ihren Einfallsreichtum einmal mehr unter Beweis zu stellen, stahl sich mir gar ein Schmunzeln über die Lippen.

Das Wasser vor mir änderte abermals seine Färbung. Leicht verärgert starrte ich auf die Oberfläche. Auch wenn mich diese Errungenschaft ungemindert erfreute, so durfte ich nicht zulassen, dass die Wirkung so leichtfertig verpuffte. Entschlossen diesem Problem die gebührende Dringlichkeit zu widmen, griff ich in die Hosentasche und zog mein Smartphone hervor. Wenige Fingerzuckungen später war die passende App geöffnet. Farbpaletten, Effekte und Wassertiefen ließen der Fantasie kaum Grenzen erscheinen. Kaum war meine Wahl bestätigt, änderte sich das Farbspiel zu einem kräftigen Marineblau. Die Änderungen deaktivierte ich bis nach Beginn der Dämmerung, während die Übergänge mit der Einstellung „fließend“ versehen wurden. Die Gäste sollten nicht bemerken, dass sich das Wasser änderte. Gedanken malten mir ein Grinsen ins Gesicht. Ich freute mich bereits auf die rätselnden, verwirrten Blicke, wenn sie unentschlossen waren, ob ihre Augen ihnen einen Streich spielten oder ob tatsächlich der Pool anders aussah, als noch Minuten zuvor.

Die Vorstellung genießend, vernahm ich Schritte, die sich von hinten näherten. Der Barkeeper schritt in einem sanften Bogen an mir vorbei und blieb am Rande meines Blickfeldes stehen. Er trug ein Glas bei sich und seine Gestik bot es mir an, ohne es mir aber aufdringlich in die Hand drücken zu wollen. Als würde er den Ausblick genießen, hatte er den Kopf gen Garten gerichtet. Niemand der uns zusah, würde auf den Gedanken kommen, ich könnte ihn warten lassen.

Ich tat als habe ich ihn eben erst bemerkt und blickte auf. Fast gleichzeitig vollendete er seine Geste und das Glas fand den Weg in meine Hand. Kein Zweifel, er tat lässig und war doch ungemindert aufmerksam.

Ich ließ ihm nochmals Gelegenheit die Anlage zu genießen. Bevor ich das Glas anhob, begutachtete ich die Präsentation, die – wie zu erwarten – keinen Makel erkennen ließ. Ich prostete ihm zu und sprach somit das erste wortlose Kompliment aus. Er schimpfte den Eindruck Lügen, sein Blick wäre im Garten gewesen und erwiderte sogleich mit einem angedeuteten Nicken seinen Dank.

Kleine Schlucke sollten zeigen, wie routiniert ich war, und dass Qualitätssicherung mir eine Herzensangelegenheit war. Herrlich, dachte ich und genoss das Bild, das ich von mir anfertigte. Dabei nutzte ich die Zeit und versuchte mich an die gestellten Anforderungen zu erinnern. Bevor mir jedoch dämmerte, was ich bestellt haben mochte, bestätigten mir Zunge und Gaumen, dass es ihnen zusagte, und verlangten, dass ich den Rest des Glases in einem Schluck leerte. Mit dem letzten Tropfen erinnerte ich mich an meine Bestellung und nickte zufrieden.

„Meine Gäste werden diesen Abend sicher genießen“, entließ ich den Barkeeper zu seiner Arbeit und freute mich darüber, so großzügig gewesen zu sein, uns beide mit einem Kompliment versorgt zu haben.

Er drehte sich um und ich konnte eben noch erkennen, wie sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Warte kurz.“ Er blieb stehen. „Wie sagtest du noch mal, war dein Name?“

Die Spuren seiner guten Launen blieben erkennbar, als er sich umdrehte.

„Emilio.“ Sein unbeirrtes Grinsen besaß die Frechheit mir zu erklären, dass er seinen Namen noch mit keiner Silbe erwähnt hatte und er nicht den geringsten Zweifel daran hegte, dass ich mir dessen völlig bewusst war.

Ein ungutes Gefühl mahnte mich, dass dieser unverschämte, sympathische Kerl mir nicht mit dem angebrachten Respekt entgegen trat.

„Sir!“ Emilio verneigte sich und trat ins Haus.

Jetzt wusste ich den Übeltäter beim Namen zu nennen. Jane hatte dafür gesorgt, dass mein Machtgeplänkel für meinen Geschmack zu sehr auf Augenhöhe stattfand.

Emilio genoss sichtlich mein Schweigen und war gewillt dieses Spiel zu zweit zu bestreiten. Na warte, dachte ich. Doch Emilio war sogleich im Haus verschwunden und vertagte die nächste Runde auf später.

Derweil würde ich mir Jane vorknöpfen. Der mussten diese Flausen ausgetrieben werden!

Wollte ich sie finden, würde ich sie erst suchen müssen. Wo sie sich rumtrieb, war selten vorhersehbar. Selbst wenn man wusste, wo sie jetzt war, so musste dies eine halbe Minute später nicht mehr so sein.

Mit der von Vater geforderten Selbstständigkeit nahm es Jane von all unseren Angestellten am genauesten. Von wegen Haushälterin, wenn Jane ihre Arbeitskleidung nicht tragen würde, könnte sie genauso gut die Hausherrin abgeben.

Auch wenn ich damit begann, die schattenreichen Plätze nach ihr abzusuchen, so erfüllte mich wenig Hoffnung, sie dort zu treffen. Resignierend stellte ich rasch fest, dass ich mich erneut der Hitze aussetzen musste. Doch meine Suche blieb erfolglos. Überall, wo ich hinkam, zeugte vollendete Arbeit von ihrer ehemaligen Präsenz. Einzig ihre physische Erscheinung blieb mir verwehrt. Als wäre eine Armee an Dienerschaft über das Anwesen hergezogen und auf einmal spurlos verschwunden, war es unwirklich still in der späten Nachmittagshitze. Schweißperlen auf der Stirn kündeten von meiner schonungslosen Suche.

Geblendet von weiß reflektierenden Kieselsteinen stand ich oberhalb der Auffahrt und blickte hinab zum knapp zwei Kilometer entfernten Strand, in den der sanft auslaufende Hügel unserer Ferienwohnung endete. Kleine Gestalten liefen dort tobend zwischen röstenden Touristen umher. Die Distanz ließ den Lärm zu entspannender Geräuschlosigkeit abebben und die oberen Schichten der Gesellschaft unberührt. Ich zog die Meeresluft tief in die Lungen und genoss die Stellung, deren ich es verdankte hier stehen zu dürfen. Stolz ergriff mich, als mir bewusst wurde, dass ich nicht zu diesen ungehört lärmenden Menschen zählte. Meine Party heute Abend würde von sich reden machen.

Rascheln riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt senkte ich den Blick.

„Junge, nimm mal!“ Jane mühte sich vor mir den Hang hoch. Eine Hand hielt sie vor sich gestreckt. In ihr hing ein Eimer, den sie mir zu Abnahme reichte.

„Was machst du da?“, rief ich ihr verständnislos entgegen.

Der Eimer baumelte, als sie einen Schritt zurückrutschte.

Jane blickte auf und sah mich an, als könnte ich nicht bis drei zählen.

Eine mir unerklärliche Art von Magie ließ meinen Rücken sich beugen und ehe ich mich versah, hatte ich ihr einen Eimer abgenommen.

Nochmals gab sie sich dem Versuch hin, den letzten Meter des steilen Abhangs zu überwinden. Erneut rutschte sie ab, doch der zweite Eimer fand den Weg in meine ausgestreckte Hand.

So von ihrer Last befreit, war ihr dritter Versuch von mehr Erfolg gekrönt. Ein erleichtertes Schnaufen berichtete von den Mühen, ihren massigen Leib der Gewichtskraft entgegen arbeiten zu lassen. Nichtsdestotrotz wirkte sie ungemindert tatfreudig, als sie neben mir zum Stehen kam.

„Dass mir Steve nichts davon erfährt. Das bleibt unser Geheimnis, klar?“

„Klar!“, antwortete ich hastig. Ich biss mir auf die Zunge. Es klang viel zu sehr nach kleinem Junge. Und ohnehin, wem glaubte sie wohl, dass ich erzählen würde, dass ich Jane bei der Gartenarbeit geholfen hatte.

Sie nickte zufrieden und schritt an mir vorbei. Unbeholfen sah ich die Eimer in meinen Händen an. Frisch gerupftes Unkraut aus der Böschung ließ diese schwer werden. Ich sah auf und bemerkte wie Jane sich unbekümmert entfernte. Ich schüttelte den Kopf und schritt ihr schwer beladen hinterher.

„Jane! Warte!“ Mein Protest war unüberhörbar. Jane jedoch schritt ungestört weiter. „Jane!“ Mein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck unterdrückter Wut. Nochmals würde ich ihr nicht hinterher rufen und mich der Blöße aussetzen, dass sie mich ignorierte.

Meine Füße stampften kräftig auf und traten meine Wut in den ebenmäßig verteilten Kies und ließen die ersten Spuren des heutigen Abends erscheinen.

Jane ging zielstrebig am Haus vorbei, durchquerte die Gartenanlage und hielt auf das kunstvoll ausstaffierte Garten­häuschen zu. Ihre Schritte waren so zügig, dass es mir – beladen wie ich war – kaum möglich war, ihr zu folgen. Erst als sie sich dem Gartenhäuschen bedrohlich näherte, verringerte sie ihr Tempo. Sie sah sich vorsichtig um, während ihre Körperhaltung es an jeglichem Schuldbewusstseins mangeln ließ.

Jane wusste, dass sie dort nichts zu suchen hatte. Der ansonsten schweigsame Steve würde toben. Selbst wenn sich die erste Wut gelegt hätte, würde er noch Tage, wenn nicht gar Wochen, schweigend weiter toben. Allenfalls meinem Vater war es gestattet, dort einzutreten. Ein Privileg wohl, von dem Vater niemals Gebrauch machen würde. Jane jedoch ließ sich von Grenzen nicht beeindrucken. Lediglich gesehen wollte sie wohl nicht werden.

Sie zog einen Schlüssel hervor und öffnete Steves Schloss, das er dort eigenmächtig angebracht hatte. Laut meinem Kenntnisstand hätte es nur einen Schlüssel dafür geben dürfen und den trug Steve stets bei sich.

Sie trat ein und machte Licht. Erst jetzt holte ich sie ein und trat in die Türöffnung. Zweimal musste ich kräftig ein- und ausatmen, um mich von dieser Jagd zu erholen. Ich öffnete den Mund, um mit der Predigt loszulegen.

„Was willst du hier?“ Jane kam mir zuvor und sah mich amüsiert an. „Der Kompostbehälter ist gleich nebenan. Wir dürfen die Eimer nicht so reinstellen.“

Unglaublich, Jane machte mich zum Komplizen. So tat ich, was getan werden musste. Neben dem weißen Holzbau entleerte ich die beiden Eimer in einer großen hölzernen Truhe, dessen Funktion durch nichts verraten wurde.

Mit den leeren Eimern trat ich ein, wo sie mir von Jane sogleich abgenommen wurden. Sie brachte sie zum Spülstein und tilgte die letzten Spuren ihres Verstoßes gegen ungeschriebenes Gesetz.

Mein Blick bat Jane, sich zu beeilen. Ich wurde das Gefühl nicht los, ständig nach draußen sehen zu müssen, ob niemand kam. Ich musste innerlich lachen und gebot mir, dies zu unterlassen. Stattdessen sah ich mich im Gartenhäuschen um. Sein Innenleben sah ich heute zum ersten Mal. Es entsprach dem genauen Abbild, wie ich mir Steves Seele vorstellte. Setzwaage und rechter Winkel wären hier nutzlos. Es gab nichts das einer Ausrichtung bedürften würde. Jede Berührung eines Gegenstandes musste unweigerlich in dessen Schieflage enden.

Jane war sich dessen bewusst und beschränkte ihr Handeln auf die beiden entwendeten Eimer. Diese hatte sie eben getrocknet und stellte sie in die beiden gleich hohen Stapel.

Erst als das Schloss zuknackte und der Schlüssel ohne Existenz­berechtigung verschwunden war, konnte ich frei atmen.

Jane trat an mir vorbei, zwinkerte mir zu und war alsbald verschwunden.

Es dauerte eine Weile bis mir bewusst wurde, warum ich Jane hatte aufsuchen wollen. Der zweite Gedanke, der mich befiel, war, dass bald die Party beginnen würde und die ersten Gäste in Kürze eintreffen konnten. So beschränkte sich mein Protest auf ein Schulterzucken. Wirklich verwundert war ich indes nicht. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass Jane dieses Kunststück vollbracht hatte.

Auch Jane wusste, dass die Zeit gekommen war, und hatte das Anwesen verlassen. Erst Morgen würde sie zurückkehren, zusammen mit Steve, und sich den Spuren des anbrechenden Abends annehmen.

Allerdings dauerte es noch einige Zeit, bevor die ersten Gäste den Hof entweihten. Keiner wollte seinen Eltern die Blöße geben, unter den Ersten zu sein und so zu zeigen, wie besessen sie waren, zu kommen. Vielmehr sollte ich mich geehrt fühlen, dass sie es trotz ihrer wenigen Zeit hatten einrichten können, zu erscheinen. So zumindest die Deutung des Etiketts, das mit der Ankunft der Gäste bereits in weiten Zügen seine Schuldigkeit getan hatte.

Natürlich wusste ich es besser. Meine Generation hatte einen Ausweg gefunden. Eine recht heitere Errungenschaft, die wie ich nun feststellen musste, auch eine Schattenseite besaß.

Geladen war für sieben Uhr. Aber selbst um acht wies der Kies keinen Streifen auf. Ich wollte das Beste aus der Situation machen und verzog mich in die Bar.

Emilio mixte mir unaufgefordert einen Cocktail. Sein Mitgefühl ärgerte mich, doch er bot mir keine Angriffsfläche, meine Wut los zu werden. Der Spiegel zeigte mir die unliebsame Wahrheit, allein zu sein. Emilio sprach kein Wort und blieb keinen Moment untätig. Er schien seine ganz eigenen Vorstellungen zu haben, wie er auf meine Gäste vorbereitet sein wollte.

Er fügte sich widerstandslos der Hausordnung und traf die nötigen Entscheidungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie all unsere Angestellten. Meine Anwesenheit war so sinnlos, wie meine Anweisungen. Alles funktionierte, alles lief wie geschmiert.

Der Spiegel prostete mir zu und so tat ich, was mir zu tun übrig blieb. Ich trank aus, stellte das Glas hin, beglich die Rechnung mit einem abwesenden Lächeln, gab gedankenlos ein Kompliment als Trinkgeld und stand auf, bevor Emilio mich durch eine weitere Aufmerksamkeit daran erinnern konnte, dass ich allein und nutzlos war.

Ein flüchtiger Blick Richtung Auffahrt reichte, um mich zu vergewissern, dass keiner gekommen war. Ich bezwang meine auflodernde Wut, fluchte lautlos und stieg die offene Treppe hoch. Wenigstens meine engsten Freunde hätten pünktlich sein können. Aber nein, auch sie wollten sich den Spaß nicht entgehen lassen, den so eine Aufwärmparty bot. Erst später würden sie dann alle gemeinsam im Autokorso meiner Einladung Folge leisten.

Ich ging in mein Studierzimmer, da ich von dort aus die Auffahrt im Blick hatte. Es war ein seltsames Gefühl hier zu stehen. Gelernt hatte ich hier nur selten, aber wenn, dann intensiv. Meist kurz vor den Klausuren hatte ich mich hierher verkrochen, um das aufzuholen, was ich während der Semester durch mangelnden Fleiß versäumt hatte. Herrlich, wie man durch geeignete Wortwahl alles in ein besseres Licht rücken konnte. Ich musste schmunzeln und ein wenig schwermütig dachte ich daran, dass meine Studienzeit nun vorbei war. Ab jetzt begann der Ernst des Lebens, wie Vater mir in letzter Zeit gehäuft androhte.

„Zum Teufel!“ Diesmal durfte ich laut fluchen. Emilio konnte mich nicht hören. Ich rieb mir kräftig über die Stirn, als könnte ich damit diese Gedanken vertreiben. Bis auf leichte Kopfschmerzen blieb es ergebnislos. Da fiel mir ein, dass noch etwas Konzen­trations­­saft im Kühlschrank in der Ecke stand. Das Bier war angenehm kühl und beruhigte mich ein wenig.

Ich zog meinen Sessel ans Fenster und sah hinunter zum Strand. Vollkommene Geräuschlosigkeit erfüllte meine Ohren, und doch war es mir, als könnte ich Partygetöse hören.

Schatten tanzten zur Musik. Dahinter saß ich als Spiegelbild und vervollständigte die Illusion, die mein Empfinden in Bilder kleidete. Eigentlich hätte ich genauso gut dahin gehen können, schließlich wusste ich, wo wir uns zu diesem Zwecke trafen.

Dieser Frevel ging natürlich nicht. Meine Verpflichtung zu repräsentieren hielt mich davon ab. Die erste Verpflichtung, wie zum Hohn, war wegen einer Party, deren Sinnlosigkeit wir mit reichlich Alkohol zu begießen beabsichtigten.

Das Bier war ausgetrunken, doch ich war zu faul, um mir eine neue Flasche zu holen. So blieb ich im Sessel und stierte auf den Hof, schwelgte in meiner melancholischen Stimmung und bedauerte mich selbst. Wenigsten brachte ich es fertig, mich nicht selbst zu foltern, in dem ich unablässig die Uhr nach ihrer Meinung fragte.

Von weit herangetragene Bässe schreckten mich auf. Gelegentliches Hupen verlangte in gewohnt ordinärer Weise nach Aufmerksamkeit. Meine Gäste kündeten an, mich endlich mit ihrem Besuch zu beehren. Einem feindlichen Angriff nicht unähnlich, erzwangen sie im Autokorso den von Villen überwucherten Berg. Die Bässe, abwechselnd von Häuserfronten und Felsüberhängen gedämpft, ertönten siegesgewiss. Sie ließen wenig Raum für Zweifel darüber, wem diese Insel gehörte.

Ein bitterer Geschmack drang mir die Kehle hoch. Ein unbewusstes Schlucken ließ mich meinen trockenen Gaumen wahrnehmen. Es lag eindeutig nicht an mangelndem Trinken. Vielmehr trug der Umstand warten zu müssen und die daraus folgende unterdrückte Wut daran die Hauptschuld. Ich gefiel mir in der Rolle des Hausherren. Als großzügiger Gastgeber auftreten zu können, erfüllte mich mit Genugtuung. Nicht aber die unleugbare Tatsache, dass ausnahmslos alle ein x-beliebiges Saufgelage abgehalten hatten, anstatt mit Zeiten auf meiner Feier zu erscheinen.

PS-starke Motoren jaulten auf und ließen auf Hochglanz poliertes blechernes Vermögen die Auffahrt erklimmen. Unnötiges Hupen begrüßte mich. Scheinbar unberührt schlenderte ich über den Kies. Staub wirbelte auf, als Einige ihre Fahrkünste mit gezogener Handbremse unter Beweis stellen wollten und doch daran scheiterten, vollendete Kreise im Kies zu hinterlassen. Vater hätte wohl einen Herzkasper erlitten doch mir zwang es lediglich ein süffisantes Grinsen ins Gesicht – ich konnte es besser. Die Spuren zu beseitigen hatte Steve schon so manchen Nachmittag gekostet.

„Hey!“ Irgendein aufgeblasener Kerl glaubte meine Aufmerk­samkeit für sich beanspruchen zu dürfen. Er rief quer über den Hof, ohne dass ich ihn im Tumult ausmachen konnte oder wollte. Autotüren wurden zugeschlagen. Gejaule und geschriene Vokale verrieten, dass der Ansturm nun seinen Höhepunkt erfuhr.

„Ahoi“, grüßte ein fröhlich Angetrunkener in meine Richtung. Auch ihm wandte ich mich nicht zu und setzte meinen Rundgang über den Hof fort. Todesmutig bewegte ich mich zwischen anbrausenden Angebern, die in einer sündhaft teuren Blechlawine den Hof zuschütteten. Die ausgelassene Stimmung ließ meinen Unmut schwinden.

„Na“, nickte ich einem im Vorbeigehen zu.

„Recht heiß heute“, grölte er „gib es auch anständig was zu trinken?“ Ich zuckte mit den Schultern, als würde mich das nichts angehen. Er derweil reckte sein Haupt und ließ sich von zwei Mädchen anhimmeln als habe er mit seinem Wetterbericht der Wissenschaft soeben einen großen Dienst erwiesen.

„Hey“, begrüßte mich Sebastian, einer meiner etwas engeren Freunde. „Wusste gar nicht, dass so viele kommen würden.“

Auch für ihn blieb ich nicht stehen. „Ich auch nicht“, log ich und blickte mich verwundert um und kommentierte es mit einem weiteren Schulterzucken.

Der Anmut des Anwesens war verwirkt. Die Pracht des Hauses nur mehr Kulisse einer antanzenden Meute. Ich musste Vater Recht geben. Der Sinn seines Verbotes wurde schnell deutlich. Doch bei der Frevelbande konnte ich ohnehin nur Eindruck schinden, indem ich mich von allem unbeeindruckt zeigte. Diesem Umstand trug ich mit reichlich zur Show gestellter Gleichgültigkeit Rechnung. Als wäre ich zu einem abendlichen Rundgang heraus gekommen, nickte ich gelegentlich, grüßte sporadisch und erwiderte die derbsten Bemerkungen mit theatralischer Gelassenheit.

Es kostete mich Einiges an Überwindung, nicht lachen zu müssen. Meine engsten Freunde versuchten unter den anderen Gästen hervorzustechen, indem sie sich mit mir und dem Anwesen vertraut zeigten. Nachdem sie mich so feige im Stich gelassen hatten, strafte ich auch sie mit förmlicher Distanz. Eine Einladung, mir zu folgen, sprach ich nicht aus. Zu einer weiteren Demütigung war ich nicht bereit. Sie folgten mir auch so. Teils Neugier, teils die Getränke waren für einige Motivation genug. Andere versuchten sich zu profilieren, indem sie sich gleich wie zu Hause fühlten und freizügig Snacks austeilten und kühlgestellte Champagnerflaschen unbekümmert schüttelten und sich über umherfliegende Korken freuten, nur um dann dem Zwang zu erliegen, den aus der Flasche strömenden Inhalt mit dem Mund vor der Verschwendung zu bewahren. Es waren alles selbst ernannte Helden. In Windeseile herrschte Anarchie. Die Rebellion meiner Generation nahm ihren üblichen Lauf. Unbedarfte Partygänger, meist Sprösslinge aus gesellschaftlich emporstrebenden Familien, ließen sich von Nebenschauplätzen ablenken und vergeudeten Durst und Hunger in einem unbedachten Saufgelage. Erfahrene Gäste wussten, dass der Abend noch jung war. Sie hatten die Warm-up-Party genutzt, um ausreichend angeheitert durch anfänglichen Verzicht zu zeigen, dass das präsentierte Angebot für sie alltäglich war.

Ich vergeudete keine Kraft, die Unruhestifter zu mehr Benehmen zu bewegen. Ganz im Gegenteil. Sie erfüllten eine wichtige soziale Aufgabe. Wir erfahrenen Trinker feuerten sie gar an und vermochten uns durch unser gelegentliches Gelächter von ihnen abzugrenzen. Die Besten unter ihnen belohnten wir mit missbilligendem Kopfschütteln. Diesen Unterbrechungen folgten dann hinter vorgehaltener Hand geführte Gruppengespräche, die der engeren Bindung dienten. Herkunft und Vermögen des gefeierten Rüpels wurden mit Vermutungen und Gerüchten ermittelt. Dabei war dies selten vorrangig abwertend gemeint. Es galt vielmehr dem gesellschaftlichen Zweck, Neulinge kennen zu lernen. Nebenbei half es uns allen. Denn nur so könnten wir die unstillbare Neugierde unserer Eltern etwas lindern.

„Hey Theo“, grüßte mich Sebastian. Er hatte den Barkeeper bereits gefunden und winkte mir mit einem halb geleerten Cocktail zu. Ein geschickter Einsatz seines Ellbogens reichte ihm und schon war er in unserem elitären Kreis aufgenommen. Fritz, einer der Jüngeren, hatte zu viel Platz zwischen sich und mir gelassen. Deshalb musste dieser nun mit Sebastians Rücken vorlieb nehmen. Fritz war nicht bloß für sein Alter zu groß geraten. Er wollte eben Protest einlegen, doch Sebastian schaffte es, sich im richtigen Augenblick umzudrehen.

„Entschuldigung Fritzchen“, blickte Sebastian nach oben zu Fritz und würgte ihn so ab. Ungeniert wandte sich Sebastian gleich wieder mir zu. „Nicht schlecht dein Softmixer.“

Gelächter verwirrte Fritz. Unentschlossen blieb er stehen.

„Ja Theo, mir hat er doch glatt einen Früchtesaft gegeben, als ich um Erfrischung bat! Ist wohl ein Kindergeburtstag heute.“ Grölendes Gelächter entlohnte Max für seinen Auftritt.

„Nein, den Erwachsenen schenkt er auch Alkohol aus“, verteidigte mich Sarah. Sie hob ihr Glas und schenkte Max ein provokantes Grinsen. Sie hätte wohl jeden verteidigt, wenn sie damit Max ärgern konnte. Max ließ sich auch nicht lange bitten. Nachdem seine Drohgebärden einen Teil seines Saftes verschüttet hatten, drehte er sich um – wohl um seine Röte zu verbergen. „Dem werde ich was erzählen!“ Stampfend eilte er davon.

„Vergiss deinen Ausweis nicht!“, rief Sarah ihm hinterher.

Er wusste, dass er ihr nichts entgegnen konnte, was sie nicht gegen ihn verwenden würde und tat als hätte er es nicht gehört.

Was er nicht wusste, war, dass Sarah für ihn schwärmte. Und dies nicht einmal heimlich, denn es war für uns alle offensichtlich. Dieses Spektakel ging nun seit Wochen schon so. Auch deshalb war das Gelächter herzhaft laut, während Max von dannen zog.

Was Sarah an ihm fand, war weniger erkennbar, denn sobald sie den Mund öffnete, bekam er das Stottern oder brachte gleich gar kein Wort zustande. Nicht selten gar trieb sie ihn mit nur wenigen Sätzen in die Flucht. Trotz seines üblicherweise aufgeblähten Benehmens kam er nie dazu, sie zu beeindrucken.

Der überlange Fritz hatte einen taktischen Rückzug angetreten. Sebastians Eröffnungsgag war verflogen und so hatte er auch nichts mehr zu sagen. Er pflegte die Kunst des Dazwischen­platzens. An Diskussionen, die eine Satzlänge überschritten, zeigte er wenig Interesse.

Max kam zurück. In seinem Schlepptau folgte Emilio mit strahlendem Gesicht und beladenem Wägelchen, in dem er den wichtigsten Teil der Bar mit sich führte. Max dekorierte ungestüm den Tisch in unserer Nähe um. Nachdem der Nachbartisch die doppelte Beladung aufwies, klatschte Max zufrieden in die Hände und sprang auf den Tisch.

Ein gellender Pfiff ließ den Tumult am Schwimmbecken abebben. Max Bemühen verfehlte nicht die gewünschte Wirkung. Selbst Emilio schien die Initiative mit Freude abzuwarten und postierte sich geduldig und gut sichtbar daneben.

„Leute, kommt mal her!“ Max wusste die Aufmerksamkeit für sich und kostete es aus. „Ein wichtiges Ereignis will angekündigt werden.“

Emilio ließ einen Cocktailbecher in die Luft schwirren und fing ihn Sekunden später hinter seinem Rücken auf. Max Worte waren damit unnütz geworden. Dadurch wollte er sich seinen Auftritt aber nicht rauben lassen.

„Ich präsentiere euch den Meister der Flaschen, Emilio the Mixer.“ Zwei Shaker flogen in sich kreuzenden Bahnen nach oben.

„Der unerfreuliche Zwischenfall mit den Fruchtsäften war wohl ein fader Scherz unseres Gastgebers.“ Gelächter schalte über das Anwesen.

In meiner Tasche ballte sich eine Faust. Sebastian klopfte mir auf die Schulter und so stimmte ich widerwillig in das Lachen mit ein. Jeder Versuch einer Verteidigung wäre fatal gewesen.

„Dank meines Eingreifens sind alle unzumutbaren Getränke von der Karte gestrichen!“ Diesmal währte das Gelächter nicht solange. Emilio verlangte wortlos die Aufmerksamkeit für sich. Nicht nur für Angetrunkene war seine Showeinlage schwindelerregend. Max tat als wäre dieser frühe Übergang von ihm beabsichtigt gewesen und zeigte mit ausgestreckten Armen auf Emilio. Sein Nicken, mit dem er die Bühne übergeben wollte, wurde kaum mehr beachtet.

Die Feier nahm ihren Lauf. Die einzelnen Unterbrechungen folgten einem eigenen Rhythmus. Janes Vorbereitungen wurden gern genutzt und bald waren überall Bademantel zu finden. Die Ordnung schwand schneller als die Sonne sich zur Nacht senkte. Licht und Lärm vertrieben jede Müdigkeit. Meine Teilnahme am Geschehen war entbehrlich und so ertappte ich mich des Öfteren, dass ich ziellos über das Gelände schritt. Bald war jeder mir vorgestellt worden und die Fremden, deren Namen ich nun kennen könnte, fühlten sich gänzlich wie zu Hause.

Nicht selten empfahl ich mich gar rückwärts und ließ aufgescheuchte Pärchen ungestört. Von den Ruhmeshymnen, die ich mir heimlich erhofft hatte, war kein Ton zu hören. Man kannte sich und traf sich hier, weil es schlicht eine Gelegenheit war, uns selbst zu feiern. Jeder für sich und durch das Anwesen von den unwichtigen Leuten der Insel abgesondert.

„Ist toll hier“, stieß ich mit einem leidenschaftlichen und gleichermaßen unbegabten Sänger zusammen. Er schlang seine Arme um mich. Ich brummte und versuchte sie zu lösen.

„Weißt du ...“ Er blickte kurz in den Himmel und starrte mich dann an. „Weißt du ...“ Er war verwundert, dass ich ihn offenbar nicht in den Arm nehmen wollte. „Weißt du eigentlich welcher eingebildeter ...“ Trotz meines Bemühens ihn los zu werden, ließ er sich nicht beirren. Nur seinem Alkoholpegel musste er Tribut zollen und musste eine Pause einlegen, bevor er weitersprechen konnte.

„Weißt du, welchem eingebildeten Trottel wir die Party verdanken?“ Sein Atem stank fürchterlich. Er kippte vorn über und sein Gewicht lastete vollends auf mir. Unangemessene Gewalt wäre von Nöten gewesen, ihn nun von mir zu trennen. Sein Kinn lag auf meiner Schulter und sein Arm glitt mir unangenehm sanft den Rücken hinunter.

„Dem, der sich gerade an deine Freundin macht“, flüsterte ich ihm ins Ohr und bekam das ungute Gefühl mich übergeben zu müssen.

Ihn schienen die Worte weit mehr zu beeindrucken, als ich gehofft hatte. Er ließ von mir ab und richtete sich kurzzeitig auf. Er verlor aber schnell das Gleichgewicht und musste zwei Schritte nach hinten treten, um stehen zu bleiben. Erleichtert atmete ich auf und sog die saubere Luft genüsslich ein. Auf den Schreck genehmigte er sich einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Nachdem er die nächste Gleichgewichtsstörung ausbalanciert hatte, hob er die Flasche in meine Richtung.

„Ich habe eine Freundin?!“ Er lachte vergnügt auf. „Wieso sagt mir das denn keiner?“ Er wirkte als wollte er mich erneut in den Arm nehmen. Vorsichtshalber trat ich einen Schritt rückwärts. Unterdessen hatte er es sich anders überlegt und sich umgedreht. Seine Arme waren dabei reichlich beschäftigt, seinen Körper aufrecht zu halten.

„Trottel“, lachte er und schritt noch tiefer durch den Garten. „Trottel“, rief er voller Begeisterung. „Trottel mein Freund, zeig mir, wer meine Freundin ist.“ Er begann von Neuem, die Nacht mit seinem Gesang zu bestrafen.

Beruhigt ihn los zu sein, machte ich mich auf in Richtung Partygetöse, bevor ich einem weiteren Irren Gelegenheit bot, mich anzuspringen.

Es war ein ungewohntes Gefühl am Rande der Gartenanlage zu stehen. Vor mir erblickte ich eine lichtertränkte Kulisse. Trunkene jaulten, riefen sich zu und lachten. Gruppen bildeten und lösten sich auf. Von mir schien derweil niemand Notiz zu nehmen. Weder mein Erscheinen noch meine Abwesenheit fand auf irgendeine Weise Beachtung. So blieb ich unentschlossen stehen und verbarg mich im Halbdunkeln. Im Garten dienten die Spots lediglich den Pflanzen und huldigten ihnen mit punktuellen Lichtoasen.

Ich konnte mich nicht entscheiden, welche Gruppe ich mit meiner Aufmerksamkeit als Gastgeber beehren sollte. Etwas abseits vom Geschehen erspähte ich einen unbeleuchteten Fleck. Ein mir fremder Gedanke führte mich dorthin. Verwundert, dass ich ungestört dort angekommen war, drehte ich mich um. Das Geschehen berührte mich nicht. Ich wandte mich ab und erkannte, dass ein verborgener Pfad den Abhang hinab führte. Ein Schrei ließ mich aufschrecken. Obwohl mein Blut in Wallung geriet, musste ich feststellen, dass nicht ich gemeint war. Meine Füße zogen mich ins Dunkel hinein. Bevor der Abhang steil wurde, erhob sich mit einem kleinen Absatz eine Wand aus der Erde. Dies war unverkennbar Steves Reich. Eine üppige Hecke verbarg die Sicht auf Vaters Anwesen.

Ich saß eine Weile auf der niedrigen Mauer und versuchte das gedämpfte Partygetöse zu verdrängen. Es dauerte lange, bis ich die Aussicht über die Insel wahrnahm. Nach einer Weile gar fragte ich mich, warum ich die Stelle nicht schon viel früher entdeckt hatte. Ich musste lachen. Es fühlte sich an, als würde ich etwas Verbotenes tun. Einfach nur hier zu sitzen und meine Gäste allein zu lassen.

„Schön hast du es hier.“ Eine leise Stimme schreckte mich auf.

Ich drehte mich um und suchte nach jemandem, der dort stand. Ich hörte ein amüsiertes aber unaufdringliches Lachen. Dort stand niemand. Ich folgte dem Lachen. Erkennen konnte ich sie nicht, aber nun wusste ich, dass dort im Dunkeln ein Mädchen ebenfalls auf der Mauer saß. Obwohl sie nicht weit entfernt saß, hatte ich sie bisher nicht bemerkt. Mir wurde unwohl. Sie muss die ganze Zeit über hier gesessen haben. Hatte sie mich beobachtet?