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Seit annähernd 2000 Jahren greift die katholische Kirche im Namen Gottes in die Sexualität des Menschen ein, stellt Gebote und Verbote auf, die - oft bis ins intime Detail - festlegen, was als Sünde zu gelten hat. Georg Denzler, Professor (em.) für Kirchengeschichte an der Universität Bamberg, unternimmt in diesem Buch einen Gang durch die Kirchengeschichte, um die Grundlinien der kirchlichen Ehe- und Sexualmoral im historischen Kontext zu präsentieren. Dabei kommt viel Erstaunliches zutage. Bei den bis heute als unverrückbar geltenden Normen und Gesetzen handelt es sich meist um rein kirchliche Setzungen, die sich im Laufe von Jahrhunderten, manchmal sogar durch historische Zufälle, herausgebildet haben, ohne Grundlage in der Bibel zu besitzen. Auch zeitbedingte Moralvorstellungen sind von der Kirche oft als göttliches Gebot ausgegeben und durchgesetzt worden. Gestützt auf ein reiches Quellenmaterial arbeitet Georg Denzler die jeweils gültige Sexualmoral der Kirche heraus, indem er mannigfache Entwicklungen - Zusammenhänge wie Brüche - aufzeigt.
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Seitenzahl: 523
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SONDERAUSGABE
Exklusiv für unsere Leser
Seit beinahe 2000 Jahren greift die christliche Kirche im Namen Gottes in die Sexualität des Menschen ein, stellt Gebote und Verbote auf, die – oft bis ins intime Detail – festlegen, was als Sünde zu gelten hat.
Georg Denzler, ehedem Ordinarius für Kirchengeschichte an der Universität Bamberg, unternimmt in diesem Buch einen Gang durch die Kirchengeschichte, um die Grundlinien der kirchlichen Ehe- und Sexualmoral im historischen Kontext zu präsentieren. Dabei kommt viel Erstaunliches zutage. Bei den bis heute als unverrückbar geltenden Normen und Gesetzen handelt es sich meist um rein kirchliche Setzungen, die sich im Laufe von Jahrhunderten, manchmal sogar durch historische Zufälle, herausgebildet haben, ohne Grundlage in der Bibel zu besitzen. Auch zeitbedingte Moralvorstellungen sind von der Kirche oft als göttliches Gebot ausgegeben und durchgesetzt worden. Gestützt auf ein reiches Quellenmaterial arbeitet der Autor die jeweils gültige Sexualmoral der Kirche heraus, indem er mannigfache Entwicklungen – Zusammenhänge wie Brüche – aufzeigt.
Am Schluss macht Denzler eine kritische Bilanz auf, in der er auf aktuelle Moralprobleme verweist, denen die Kirche mit ihren traditionellen Entscheidungen nicht gerecht wird. Gleichzeitig macht er auf Alternativen zur bisherigen Sexualmoral der Kirche aufmerksam.
Für diese Ausgabe wurde der Text durchgesehen und die Bibliographie aktualisiert.
Georg Denzler, geboren 1930 in Bamberg. Studium der katholischen Theologie in Bamberg. 1955 Priesterweihe. 1962 Promotion, 1967 Habilitation im Fach Kirchengeschichte an der Universität München. Seit 1971 o. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Bamberg. 1973 Heirat. 1998 Emeritierung.
Georg Denzler
2000 Jahre kirchliche Sexualmoral
Fürmeine Frau Ireneundunsere Kinder Paul und Pia
eISBN 978-3-86789-749-5
1. Auflage dieser Sonderausgabe
Alexanderstraße 1
10178 Berlin
© 2013 by BEBUG mbH / Gemini Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: Jana Krumbholz, ACDM
Vorwort
Vorwort zur Neuausgabe
Einführung
Alte Kulturvölker, Griechische und römische Antike, Religion und Sexualität
Teil 1: Sexualität in der Ehe
I. Wesen und Zweck der Ehe
Liebe und Sexualität im Alten Testament, Das Neue Testament: Jesu Beispiel, Die Lehren des Paulus, Die böse Begierlichkeit, Sexuelle Begierde als Erbsünde, Rein ist, wer enthaltsam lebt, Die Legende von der Josephseh, Askese als Weltflucht, Buße nach Tarif, Körper gegen Geist, Die Katharer oder die Reinen, Sexualfreundliche Mönchsstimmen, Kirchlicher Ehesegen, Konziliare Ehedoktrin, Die Ehelehre des Römischen Katechismus, Die Beichte als Disziplinierungsinstrument, Asketischer Rat: Gebrauchen, nicht genießen!, Ehe als Lebensgemeinschaft, Die Rangordnung der Ehezwecke, Rigorose Moraltheologen als Sprachrohr des Lehramts, Umstrittene Bekehrung zur Geschlechtlichkeit, Der Papst schweigt, Die »sexuelle Revolution« und die Kirche
II. Eheschließung
Freiwillige Entscheidung für die Ehe, Gegen Geheimehe:, Verpflichtende Eheschließungsform, Die Ehe als Vertrag, Hindernisse für die Ehe, Die Zivilehe, Die Ehe als Sakrament, Konfessionsverschiedene Ehe
III. Ehescheidung
Scheidungsbrief im Alten Testament, Jesu Nein zur Ehescheidung, Keine Regel ohne Ausnahme, Synodale und päpstliche Dekrete, Bußstrafen wegen Ehebruch und Bigamie, Scheidungspraxis der Ostkirchen, Es bleibt bei der Unauflöslichkeit der Ehe, Ausweg: Annullierung der Ehe, Zivile Ehescheidung, Keine Gnade für wiederverheiratete Geschiedene
IV. Geburtenregelung
1. Empfängnisförderung
2. Empfängnisverhütung
3. Abtreibung
Teil 2: Sexualität außerhalb der Ehe
I. Geschlechtsverkehr vor und außerhalb der Ehe
Sexualität nur in der Ehe, Andere Zeiten, andere Sitten, Neue Aspekte, Ehe ohne Trauschein, Der Staat folgt nicht mehr der Kirche, Kirche und Jugendmoral heute
II. »Abnormitäten«
1. Onanie
Verstoß gegen das Naturrecht, Eine perverse Gewohnheit?, Auch heute keine Kursänderung
2. Kastration
Kastration aus Rache, Kastration zum Lob Gottes
3. Homosexualität
Ein Problem des Klerus, Ein verfluchtes Laster, Alte Verurteilungen trotz neuer Erkenntnisse, Unvermeidliche Konflikte, Private Hilfsaktionen
4. Prostitution
Ein notwendiges Übel, Dirnen zuhauf, Frauenhäuser, Jesus und die Sünderin, Keine Seelsorge für Prostituierte
5. Illegitimität
Mätressenwesen und doppelte Moral, Legitimierung, Kein moralischer Gradmesser, Rechtliche Maßnahmen, Erziehung zur »Reinheit«
6. Polygamie
Jesus fordert die Einehe, Eine Forderung des Naturrechts, Ein Problem für die Mission
Exkurs: Gefahrenzonen
1. Baden, 2. Tanzen, 3. Turnen
Teil 3: Sexualität der Frau
I. Die Frau als Untergebene des Mannes
Matriarchat schon am Anfang?, Patriarchat in der Antike, Vom Matriarchat zum Patriarchat im Alten Testament, Die Rippe Adams, Eva als die Hauptschuldige, Jesus und die Frauen, Paulus – ein Frauenfeind?, Frauen setzen sich zur Wehr, Männer für Frauen, Männer gegen Frauen, Päpste heute auf neuem Kurs, Exportmoral
II. Die Frau als Sünderin oder Heilige
Sündige Eva, Heilige Maria, Jungfrau und Mutter zugleich, Sei gegrüßt, Maria, Revision des Marienbildes, Aphrodite oder Maria?, Keuschheit gleich Ehelosigkeit, Eine Kaiserin wird zur Jungfrau gemacht, Mönche und Nonnen, Doppelklöster, Bräute Christi hinter Gittern oder in der Welt, Die Beginen als erste christliche Frauenbewegung, Was ist die Frau wert?
III. Die Frau als Hexe
Pakt mit dem Teufel, Der »Hexenhammer«, Zwei Frauenschicksale
IV. Die Frau als Liturgin
Die Frau ist nicht würdig …, Veto gegen Ministrantinnen, Veto gegen Diakoninnen, Veto gegen Priesterinnen, Frauen schweigen nicht mehr
Bilanz und Ausblick
Anmerkungen
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
»Was mich beschäftigt hat, auch von meiner Jugend an bis auf den heutigen Tag in gleicher Weise, ist die Verbindung von Ehe, Sexualität, Erotik und Religion und der Ausdruck dafür im Alten und Neuen Testament« (Heinrich Böll).1
Als Kirchenhistoriker interessierte mich schon früh und interessiert mich immer mehr – weit über den Schriftsteller Heinrich Böll hinaus –, wie meine Kirche, die römisch-katholische, im Laufe von Jahrhunderten mit der Sexualität des Menschen umgegangen ist. Zuerst suchte ich in den klassischen Handbüchern der Moraltheologie, stets darauf bedacht, die geschichtliche Entwicklung bestimmter Themen kennenzulernen. Doch die Geschichte wird meist nur knapp aufgezeigt; viel wichtiger erschienen den Autoren die theologischen Begründungen und praktischen Weisungen. Dann stürzte ich mich in den nicht zu durchsegelnden Ozean einschlägiger Quellen- und Literaturwerke. Vor dem Ertrinken bewahrte mich der oft wiederholte Entschluss zur Beschränkung, geäußert als Stoßseufzer: Man kann nicht alles lesen und muss auch nicht alles wissen!
War es nicht vermessen, eine so komplizierte Materie über einen Zeitraum von fast zweitausend Jahren ganz alleine aufzeigen zu wollen? Wäre nicht Teamwork geboten gewesen? Ja und nein. Ohne Zweifel weiß der auf eng begrenztem Gebiet tätige Gelehrte viel gründlicher Bescheid. Dem Spezialisten dagegen droht die Gefahr der Vereinsamung, der Einigelung, der Engführung, weil er zwangsläufig kaum nach vorne oder hinten, selten nach rechts oder links schaut, sondern immer nur auf seinen Ausschnitt aus dem Ganzen konzentriert bleibt.
Mein Bestreben ging dahin, die gesicherten Resultate vieler Detailstudien zusammenzustellen, um so leichter sichtbar zu machen, ob bei bestimmten Punkten oder Linien Zusammenhänge (Kontinuitäten) oder Unterbrechungen bestehen, und vor allem dies, ob da, wo wir heute stehen, noch etwas vom biblischen Ursprung zu finden ist. Um die Entwicklungslinien, sozusagen die roten Fäden der christlichen Sexualmoral deutlicher in den Blick zu bekommen, bevorzugte ich stets die chronologisch-historische Betrachtungs- und Darstellungsweise, auch wenn sich deshalb Überschneidungen nicht immer vermeiden ließen.
Die vielen und oft ausführlichen Quellenzitate sollen ein tieferes Eindringen in das Denken und Handeln einzelner Personen und ganzer Gruppen ermöglichen. Wenn wir die kirchliche Vergangenheit mit kritischem Sinn studieren, geht es nicht darum, »ein Urteil über die zu fällen, welche unter schwierigen Umständen der Kirche gedient haben, so gut sie konnten, sondern vielmehr darum, aus ihrer Erfahrung Lehren zu ziehen, damit wir nicht in dieselben Fehler verfallen«.2
Nach einem kurzen Blick auf alte Kulturvölker und die griechisch-römische Antike wird im ersten Teil die Sexualität in der Ehe behandelt. Grundlegend sind die Aussagen der Bibel und der kirchlichen Tradition zum Wesen und Zweck der Ehe; von aktueller Bedeutung ist der historische Befund zu Fragen der Eheschließung, der Ehescheidung und der Geburtenregelung.
Im zweiten Teil geht es um die Sexualität außerhalb der Ehe. Dem Kapitel über vorehelichen Geschlechtsverkehr folgt ein weiteres über sogenannte Abnormitäten (Onanie, Kastration, Homosexualität, Prostitution, Illegitimität, Polygamie) und ein Exkurs über Gefahrenzonen (Baden, Tanzen, Turnen).
Der dritte Teil ist der Sexualität der Frau gewidmet. Untergebene oder Partnerin des Mannes, sündige Eva oder heilige Maria, Jungfrau oder Mutter, Hexe oder Priesterin – zwischen diesen Polen bewegen sich die Einschätzungen der Kirche.
Viele Beweise und Beispiele amüsieren den Leser von heute nur noch, andere wieder stimmen ihn nachdenklich, wenn er sieht, mit welcher Leichtigkeit das Lehramt der Kirche moralische Forderungen als göttliches Gesetz ausgibt und ihre Verwirklichung mit rigorosen Mitteln durchzusetzen sucht. Und dies alles letztlich nur deshalb, weil die dem Menschen von Gott geschenkte sexuelle Lust in den Augen der Kirche wegen der erbsündlichen Verderbtheit des Menschen eine verbotene Lust sein soll.
Dieses Buch will zu einem selbstbewussten Urteil über die Kirche und ihre Sexualmoral verhelfen und somit für viele Christen befreiend wirken.
Herzlich danke ich meinen Bamberger Studentinnen Andrea Deyerling und Katharina Schilling für die bereitwillige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts sowie Frau Claudia Negele für ihre redaktionelle Mitarbeit. Ein besonderer Dank gilt meinem Lektor im Piper Verlag, Herrn Ulrich Wank, der das Entstehen des Buches mit freundlichem Interesse begleitet und das Manuskript mit Blick auf den Leser verbessert hat. Ohne sein vornehmes Drängen läge das Buch noch nicht vor.
Breitbrunn am Ammersee, im September 1987
Georg Denzler
Der Gemini Verlag legt mein 1988 im Piper Verlag erschienenes Buch Die verbotene Lust. 2000 Jahre christliche Sexualmoral 25 Jahre später in einer Sonderausgabe erneut vor. Beim Vergleich des Untertitels beider Ausgaben fällt sogleich diese Änderung auf: Statt christliche heißt es jetzt kirchliche Sexualmoral. Dies hat seinen Hauptgrund darin, dass zwischen dem biblisch-neutestamentlichen und dem kirchlich-moraltheologischen Verständnis der Sexualität eine riesige Kluft besteht, die man erst in unserer Zeit mühsam zu überbrücken sucht. Jesus selbst hat zum Thema Sexualität nur wenige Worte hinterlassen. Dieses Schweigen ist beredt.
Doch die offizielle Theologie, namentlich die Scholastik im Mittelalter und ebenso die Neuscholastik in der Neuzeit, errichtete im Laufe von Jahrhunderten zur Ehe- und Sexualmoral ein Riesengebäude, in dem anderslautende Stimmen kaum zu hören waren. Das kritische Werk Christliche Moral in der Krise der Zeit. Probleme des christlichen Moralunterrichts (1950) des französischen Jesuiten Jacques Leclercq musste noch 1956 auf Weisung des Hl. Offiziums, der heutigen Kongregation für die Glaubenslehre, aus dem Buchhandel gezogen werden. Und der deutsche Dominikaner Stephan Pfürtner verlor 1974 wegen seiner schonungslosen Analyse der Sexualfeindlichkeit der Kirche die kirchliche Lehrerlaubnis (missio canonica) und seinen Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Fribourg. Bezeichnend bleibt, was Pfürtner mit Blick auf mein hier erneut publiziertes Buch über den Repressionswillen kirchlicher Autoritäten schreibt: »Den kritischen Gang – den zur Zeit letzten eines Kirchenhistorikers – durch die Geschichte der kirchlichen Sexualunterdrückung unter dem Titel „Die verbotene Lust“ konnte Georg Denzler (1989) nur deshalb veröffentlichen, weil er eine kirchlich unabhängige Professur hat« (Sexualfeindschaft und Macht, S. 131f.).
Zum weiteren Bereich der Sexualmoral gehört auch das im 12. Jahrhundert eingeführte Gesetz der Ehelosigkeit für alle Priester der römisch-katholischen Kirche. Da ich aber zur Zeit der Vorbereitung dieses Buches eine weitere Studie zum Priesterzölibat beabsichtigte, klammerte ich das Zölibatsgesetz ganz aus, so dass es hier nicht verhandelt wird.
Ob ich dieses Buch auch heute noch so wie vor 25 Jahren schreiben würde? Sicher nicht, denn die Forschung ist gerade auf diesem Gebiet weitergegangen und hat neue Resultate erbracht, die man heute nicht ignorieren darf. In der aktualisierten Bibliographie am Ende des Buches lassen sich die empfehlenswertesten neuen Publikationen leicht feststellen. Fehler und Irrtümer, die mir inzwischen bekannt geworden sind, wurden korrigiert.
Es ist vielleicht nicht überflüssig zu betonen, dass ich von Berufs wegen kein Moraltheologe, sondern ein Kirchenhistoriker bin. Wenn ich mich hier dennoch auf das Gebiet der Ethik und Moraltheologie gewagt habe, dann geschah es hauptsächlich wegen der historischen Dimension ethischer und moralischer Fragen. Die geschichtliche Betrachtung ermöglicht nach meiner Überzeugung eine weniger systemgebundene Entscheidung aktueller Probleme.
Für die sorgfältige Betreuung dieser Sonderausgabe durch den Gemini Verlag empfinde ich große Dankbarkeit.
Am Ende bleibt mir noch die Hoffnung, dass diese Publikation dem heutigen Leser auch 25 Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe Erkenntnisgewinn und Lebensorientierung bieten kann.
Im September 2013
Georg Denzler
Bei den alten Kulturvölkern galt als ungeschriebenes Gesetz, dass geschlechtliche Betätigung zwangsläufig Befleckung oder Verunreinigung, in einem gewissen Sinn sogar Schuld zur Folge hat. Deshalb mussten die alten Babylonier, wie der griechische Geschichtsschreiber Herodot († ca. 430 v. Chr.) überlieferte, nach dem Geschlechtsakt ein Bad nehmen und ein Weihrauchopfer darbringen. Dieselbe Verpflichtung bestand bei den alten Ägyptern und Arabern. Die Priester der Chewsuren in Kleinasien durften sechs Wochen vor der Feier eines Festes keinen ehelichen Sexualverkehr ausführen. War einem Kuzi (Priester) eine Frau auch nur im Traum erschienen, musste er, selbst im strengsten Winter, im Fluss baden und durfte den heiligen Ritus dennoch nicht vollziehen, weil er infolge des bösen Traumes schwere Schuld auf sich geladen hatte.1
Viele der alten Völker witterten in der ungestümen Macht des Geschlechtstriebes etwas Dämonisches, zumindest eine von bösen Geistern beherrschte Kraft. Besonders die Frau galt wegen ihrer ausgesprochenen Triebhaftigkeit als bevorzugte Einbruchsstelle des Teufels. Vorsicht vor dem weiblichen Geschlecht war daher gleichbedeutend mit Distanzierung von dämonischen Einflüssen, die vor allem bei der sexuellen Vereinigung, insbesondere beim ersten Geschlechtsakt wirken konnten.
Diese Geringschätzung oder gar Verachtung der Sexualität verhinderte jedoch nicht, dass der Geschlechtsverkehr als ein heiliger Akt angesehen wurde. Sie konnte aber andererseits auch in religiöser Prostitution enden. Im Gegensatz dazu praktizierte man die sakrale Entmannung – ein Brauch, der von Kleinasien in das nördliche Syrien eingedrungen war und von dort aus immer weiter um sich griff. Noch Jahrhunderte später ließ sich der christliche Schriftsteller Origenes kastrieren, um alle Zweifel an seiner jungfräulichen Lebensweise zu zerstreuen. Die Ambivalenz des Sexuellen trat offen zutage. Während beispielsweise im Tempel der Göttin Vesta in Rom zur Keuschheit verpflichtete Jungfrauen ihr Amt ausübten, verrichteten in einem anderen Tempel Prostituierte denselben Dienst. »Es ist verkehrt, in solchen Fällen nach einer höheren einheitlichen Idee zu suchen.«2
Ein charakteristisches Merkmal des Hellenismus, der unsere abendländische Religion, Kultur und Zivilisation grundlegend geprägt hat, besteht in der scharfen Trennung zwischen Leib und Seele (Dualismus). Dieses dualistische Prinzip, das seinen Ursprung im alten Persien hat, erzeugte jenen Spiritualismus, der den Leib als den größten Feind des Geistes betrachtet und deshalb alles Körperliche zutiefst verachtet.
Platon († 348), Gründer einer Philosophenschule (Akademie) in Athen, propagierte als eine Hauptlehre, dass die Seele des Menschen lange Zeit vor dem leiblichen Leben existiere und diesem gegenüber den unbedingten Vorrang besitze: »Der Leib ist eine Fessel, geradezu ein Übel für die Seele, also etwas, das nicht sein sollte und deshalb besser nicht wäre. Der Gebrauch des Körpers hat bei nahezu allen Menschen eine Verunreinigung der Seele im Gefolge.«3 Doch nicht einmal er selbst vermochte diesem vergeistigten Ideal des Menschen zu entsprechen. Platon blieb zwar unverheiratet, er hatte aber eine geistig hochstehende Gefährtin (Hetäre), um, wie er selbst bekannte, seiner Natur zu genügen.
Verwunderlich ist, dass Platons genialster Schüler Aristoteles († 322) zu einer gegenteiligen, positiven Sicht der Körperlichkeit gelangen konnte. Er bezeichnete die Seele als die Form des Leibes und behauptete damit eine enge Zusammengehörigkeit von Leib und Seele, wobei die Seele aber in allem den Vorrang besitze. Nach seiner Überzeugung lässt sich Glückseligkeit (Eudämonie) keinesfalls in der Lust oder im Genuss erlangen. Wenn nämlich das Glück tatsächlich in der Lust bestehe, dachte er in Übereinstimmung mit Heraklit, dann seien auch Erbsen fressende Ochsen glücklich zu preisen.
Gut und glücklich ist nach Aristoteles allein der tugendhafte Mensch. Was die Lust betrifft, die Platon völlig ablehnte, weil sie dem Geist widerstreite, wusste Aristoteles genau zu unterscheiden zwischen der Begierde als Lust auf etwas und der Zufriedenheit als Lust über etwas. Er stellte sogar eine Rangordnung der Lüste auf: an der Spitze die Lust am reinen Denken, dann die Lust an sittlichen Tugenden und zuletzt die sinnlich-körperliche Lust. Bei allem aber komme es entscheidend darauf an, dass der Mensch naturgemäß lebt.
Einen anderen Weg als Aristoteles ging Epikur († 271), der, wie Platon und Aristoteles, in Athen eine Schule eröffnete, die sich großen Zulaufs erfreute. In dieser Philosophenanstalt spielten die Begriffe Lust und Unlust eine zentrale Rolle, jedoch in dem vergeistigten Sinn, dass höchste Einsicht auch höchsten Lustgewinn garantiere. Nachfolger Epikurs interpretierten diese Lust-Philosophie allzu grobsinnlich und sind deshalb verantwortlich dafür, dass ihr Lehrmeister fälschlicherweise Vater des materialistischen Atheismus genannt werden konnte.
Mit fortschreitender Erkenntnis erlangte der Naturbegriff für das Gesamtgebiet der Moral eine immer höhere Bedeutung. Während die Ältere Stoa der menschlichen Natur einen absoluten Rang zubilligte, bahnte sich in der Mittleren Stoa (2.–1. Jh.) eine spezielle Einschätzung an. Vor allem der römische Rhetor und Staatsmann Marcus Tullius Cicero († 43 v. Chr.), durch den die stoische Weisheitslehre in der römischen Welt bekannt wurde, gab die Parole aus, der Mensch müsse sein Leben nach der Vernunft einrichten. Das dem Menschen mit der Geburt gegebene Gesetz der Natur hielt er für gleichbedeutend mit der Stimme des Gewissens.
Die Stoiker rechneten das Freisein von Leidenschaften zu ihren höchsten Zielen, weil der im Menschen wirksame Dualismus, der Widerstreit zwischen Körper und Geist, auf diesem Weg am radikalsten überwunden werden könnte. Infolgedessen richteten sie ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf, wie die unvernünftigen Triebe der Lust und Leidenschaft zu bändigen oder zu verdrängen seien – immer nach der Devise: Nichts um der Lust willen!
Im Laufe von Jahrhunderten drangen griechisch-antike Ideen über die Entstehung der Welt, die Herkunft des Bösen und die Bedeutung des Sexuellen immer weiter in das Judentum ein und führten auch dort zur Änderung mancher Grundanschauungen. Unter den Stoikern der römischen Antike ragen Seneca, Philon, Epiktet und Mark Aurel hervor. Doch keiner beeinflusste die frühchristliche Sexualethik so tiefgehend und so dauerhaft wie der jüdisch und hellenistisch gleichermaßen gebildete Philosoph und Theologe Philon von Alexandrien († ca. 50 n. Chr.), Spross einer von Palästina nach Ägypten eingewanderten Priesterfamilie. Er interpretierte die sexuellen Kultvorschriften des Alten Testaments in Analogie zu der stoischen Ethik und machte sie zu Gesetzen, die jedem vernünftigen Menschen einleuchten sollten. Der von ihm propagierte Grundsatz, der Geschlechtsverkehr dürfe nur der Erzeugung von Nachkommen dienen, durchzieht die katholische Sexualmoral bis in unsere Zeit und wurde damit indirekt zum Hauptauslöser ungezählter Gewissenskonflikte und Ehetragödien. Wie fast alle bedeutenden Philosophen der antiken Welt hielt Philon es eines Weisen für unwürdig, die sinnliche Lust zu genießen. Wer solches tut, beweist nach seiner Meinung, dass er kein vollkommener Mensch ist.
Wie schon Zenon, der Urheber der Stoa, erhob auch Epiktet von Hierapolis († 138) die Leidenschaftslosigkeit zur Lebensmaxime. An das gesamte Volk richtete sich sein Aufruf: »Wenn du dir einen sinnlichen Genuss vorstellst, so hüte dich ebenso wie bei den anderen Vorstellungen, dich davon hinreißen zu lassen. Lass vielmehr die Sache auf dich warten und gewinne dir noch einen Aufschub ab. Dann stelle dir die beiden Zeitpunkte vor, den des Genusses und den danach, wo dich die Reue packt und du dir selbst Vorwürfe machen wirst. Und dem stelle gegenüber, wie du dich freuen und mit dir selbst zufrieden sein wirst, wenn du dich enthalten hast. Wenn dir aber der Zeitpunkt des Genusses gekommen scheint, dann gib Obacht, dass dich das Einschmeichelnde, die Reize und das Verführerische der Lust nicht zu Falle bringen, sondern stelle dir dagegen vor, wie viel schöner das Bewusstsein für dich ist, einen solchen Sieg errungen zu haben.«4 Solchen und ähnlichen Überlegungen begegnen wir bei kirchlichen Schriftstellern, insbesondere bei Kirchenvätern, und auch noch bei Autoren asketischer Werke der Neuzeit auf Schritt und Tritt.
Dieselbe negative Bewertung alles Körperlichen und Sinnlichen nahm der in Ägypten geborene Plotin († 270), der genialste Kopf des Neuplatonismus, vor. In seine Fußstapfen trat Porphyrios, einer seiner namhaftesten Schüler, dem eine strenge Abtötung des Körpers zugunsten des Seelenheils als unerlässlich erschien.
Von dieser Auffassung war nur ein kleiner Schritt zu der besonders bei Neupythagoräern und Gnostikern anzutreffenden Doktrin, die freiwillige Ehelosigkeit sei höher einzuschätzen als das Eheleben. Dies ging so weit, dass der römische Rechtsanwalt und christliche Apologet Minucius Felix (3. Jh.) die Tatsache, dass viele Christen seiner Zeit freiwillig auf die Ehe verzichteten, als schlagenden Beweis für die hohe Moral der Kirche ins Feld führte. So konnten Heiden und Christen in der Verachtung des Körperlichen und Geschlechtlichen miteinander wetteifern.
Als theologisches Moment kam hinzu, dass das Verhältnis der Geschlechter immer stärker belastet wurde »von der einseitigen Betonung, ja dem falschen Verständnis der Paradieserzählung und ihrer Versuchungsgeschichte: Adam muss sterben wegen Evas Schuld, die Frau hat die Sünde in die Welt gebracht.«5
Was das Verständnis der Ehe anging, richtete sich die junge Kirche nach dem Römischen Recht, für das Ulpian die prägnante Formel aufstellte: »Heirat oder Ehe heißt die Verbindung eines Mannes und einer Frau zu ungeteilter Lebensgemeinschaft.«6
Hinsichtlich des eigentlichen Zweckes einer solchen Lebensgemeinschaft von Mann und Frau bezog die frühchristliche Theologie vielfältige Anleihen bei jüdischen und griechischen Denkern. Nur für die lebenslange Dauer der Einehe (Monogamie) konnten sich die kirchlichen Obrigkeiten auf Jesus und den Apostel Paulus als Kronzeugen berufen.
Allgemein lässt sich sagen, dass die Theologie der frühen Kirche sich bei ihren Lehren und Vorschriften über die christliche Ehe nicht so sehr von neutestamentlichen Aussagen leiten ließ, sondern vielmehr einer stoischen Sexualethik folgte, die gerade zur Zeit Jesu und kurz danach unter Philon von Alexandrien einen betont rigorosen Kurs steuerte. In juristischen Fragen nahm die Kirche der ersten Jahrhunderte meist römische Rechtsbestimmungen zum Maßstab ihrer Kanones.
Die Frage, ob religiöses Leben und sexuelle Aktivität grundsätzlich miteinander vereinbar sind oder ob zwischen beiden ein unüberbrückbarer Gegensatz bestehen muss, ist so alt wie die Menschheit.
Der kurze Blick in die Geschichte alter Völker und Religionen ließ wenigstens ahnen, dass religiöse Ansichten nicht ohne Einfluss auf das Geschlechtsleben geblieben sind.7 Die Meinungen und Lebensweisen bewegten sich zwischen Verachtung der Sexualität auf der einen und Vergötzung derselben Sexualität auf der anderen Seite. Freilich müsste man näher unterscheiden, ob diese Bejahung oder Ablehnung ganz oder nur teilweise, dauernd oder nur für bestimmte Zeiten gemeint war.
Bei den Semiten trug, wie der Historiker Eduard Meyer konstatierte, »besonders das Geschlechtsleben einen geheimnisvoll-religiösen Charakter. Der Geschlechtsakt wird daher als eine sakrale Handlung aufgefasst, die besonderer Weihen und Reinigungszeremonien bedarf.«8
Im Blick auf Christentum und Kirche betonte der katholische Theologe Josef Goldbrunner, wie entscheidend es »für die Realisierung des Glaubens« sei, »ob Eros und Religion, Liebesfähigkeit und Gottesverhältnis in einem feindlichen Dualismus getrennt sich gegenseitig stören oder ob eine Synthese gefunden wird, in der sie einander fördern«.9
In diesem Sinn plädierte auch der Biologe Joachim Illies zugunsten einer harmonischen Verbindung von Eros und Religion: »Theologie als das Sprechen von Gott ist immer auch das Sprechen von Liebe. Muss es verstummen, wenn von Sexualität die Rede ist? Es sollte gerade die Religion, die von der Liebe in ihrer umfassendsten Form kündet, sich bereithalten, auch die Sexualität in ihrer ganzen Weite als einen Ausdruck gottgewollter Geschöpflichkeit des Menschen anzunehmen … Denn eine ›Theologie der Sexualität‹ wird alle geschöpflichen Seinsweisen des Menschen auf Ihn, der die Liebe ist, zu beziehen haben.«10
Wie kaum ein Zweiter hat der Religionssoziologe Walter Schubart das Verhältnis zwischen Religion und Erotik studiert, und zwar in der Überzeugung, dass es sich dabei um Fragen von bleibender Aktualität handelt. »Wenn es nicht gelingt«, prophezeite er angesichts einer die christliche Kirche belastenden Tradition, »Religion und Erotik in eine neue, nahe und glückliche Beziehung zu setzen und die Menschenwürde mit der Geschlechtlichkeit auszusöhnen, wird es nicht zu jener Wiedergeburt der Religion kommen, auf die heute viele hoffen und von der sie alles erwarten.«11 Geschrieben im Jahre 1941.
Ob sich diese Hoffnung heute, anno Domini 2013, erfüllt hat?
Die Menschen im Alten Israel betrachteten den Bereich des Geschlechtlichen in der Hauptsache als etwas Natürliches und keineswegs als etwas Rätselhaftes, das wie ein böses Tabu ängstlich gehütet werden muss. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet uns das Hohelied (Canticum), eine kleine Schrift des Alten Testaments.
Das Hohelied, auch Lied der Lieder genannt, schildert in blumiger Sprache die erotische Beziehung zwischen Mann und Frau. So beginnt es auch ganz direkt: »Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe. Köstlich ist der Duft deiner Salben, dein Name hingegossenes Salböl; darum lieben dich die Mädchen. Zieh mich her hinter dir! Lass uns eilen! Der König führt mich in seine Gemächer. Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen, deine Liebe höher rühmen als Wein. Dich liebt man zu Recht« (Hl 1,1–4). Kurz darauf heißt es: »Ich bin krank vor Liebe. Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich. Bei den Gazellen und Hirschen auf der Flur beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt« (Hl 2,5–7).
Wie schon im 2. vorchristlichen Jahrhundert wurden bald auch in christlichen Kreisen Stimmen laut, die besorgt fragten, ob eine solche Verherrlichung der geschlechtlichen Liebe einen Platz im Kanon der heiligen Schriften verdiene. Ein rettender Ausweg – zur Rechtfertigung des Heiligen Geistes, der nach kirchlicher Lehre als Inspirator der gesamten Bibel gilt! – fand sich, indem man diese Liebesliteratur symbolisch interpretierte: als Bild der Liebe zwischen Jahwe und Israel bzw. zwischen Christus und der Kirche oder auch zwischen Christus und der einzelnen Seele oder noch spezieller zwischen Christus und Maria. Solche Versuche zeugen von einem tiefgehenden Sexualpessimismus.
Der katholische Exeget Vinzenz Hamp hielt es noch 1971, wie seiner knappen Einleitung zur Bibelübersetzung dieses Liedes zu ersehen ist, für »sehr wahrscheinlich, dass schon das vorchristliche Judentum das Hohelied als Umschreibung (Allegorie) für die Liebe Gottes zu seinem Volk auffasste«. Unter diesem Aspekt erschien das Liebesgedicht sozusagen als bibelwürdig, und so konnte es auch von der Kirche als »heilige« Schrift akzeptiert werden. Hamp erklärte weiter: »Das Christentum hat von Anfang an die allegorische oder wenigstens die typologische Deutung übernommen und den Text auf Gott(Christus)–Kirche oder Gott–Seele oder Christus–Maria übertragen.« Und um keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen, betonte er mit Nachdruck: »Nimmt man mit Recht an, dass nur wegen dieser Deutung das Buch in die Heilige Schrift kam, so kann dieser Sinn sogar als der eigentlich inspirierte, das heißt für die Bibel und den religiösen Gebrauch maßgebende, genannt werden.« Abschließend stellte Hamp warnend fest: »Praktisch muss man sagen, dass unser Buch für körperlich und geistig unreife Menschen nicht geeignet ist.«1 Eine Warnung, der man sonst nur bei pornographischer Literatur begegnet! So verfällt selbst Gottes Wort heute noch der Zensur durch sexualängstliche »Schriftgelehrte«.
Glücklicherweise gibt es aber auch andere Bibelwissenschaftler, denen das Hohelied keine moralischen Bedenken bereitet. Herbert Haag zählte es vielmehr »zu den schönsten Liebesdichtungen der Weltliteratur«. Nach seiner Meinung handelt es sich bei diesen Versen nicht bloß um Hochzeitslieder, sondern ganz allgemein um Liebeslieder: »Es wird dabei bleiben müssen, dass im Hohenlied die erotische Liebe in sich und ohne Bezug zu Ehe und Nachkommenschaft besungen wird.« Als Beweis zitierte Haag die Worte: »Komm, mein Geliebter, wir gehen hinaus aufs Feld … dort schenke ich dir meine Liebe.« Spricht so, fragte Haag, eine Ehefrau zu ihrem Ehemann? Oder dieser Vers: »Bis der Tag heranweht und die Schatten fliehen, komm her, mein Geliebter.« Wie könnte sich eine Ehefrau mit einer solchen Forderung an ihren bereits fest angetrauten Mann wenden!2
Dass ein Theologe seine Meinung ändern und, was fast noch wichtiger ist, dies auch eingestehen kann, hat der Passauer Alttestamentler Günter Krinetzki († 1986), früher Mitglied des Benediktinerordens, offen gezeigt. Während er nämlich in seiner Dissertation über das Hohelied3 noch die typologische Auslegung für richtig hielt, wenn auch mehr als Zugeständnis an damalige Kirchenverhältnisse, wollte er einige Jahre später nur noch die unmittelbare Wortdeutung gelten lassen.4 Demnach umfasst das Hohelied, das Krinetzki den Weisheitsschriften im Alten Testament zuordnete, eine Sammlung von Hochzeitsliedern und ganz profanen Liebesliedern, in denen die Gefühle und Erlebnisse junger Paare bildhaft zum Ausdruck kommen. Nach seiner Überzeugung hatte der biblische Autor die Absicht, dem Leser Gottes Plan mit der menschlichen Sexualität und dem menschlichen Eros gleichzeitig in lehrhafter und poetischer Weise nahe zu bringen. Dabei werde »jeder Isolierung des Sexus zuungunsten der vollpersonalen Liebe und Zärtlichkeit zwischen den Geschlechtern« eine ebenso klare Absage erteilt wie jeder »Minderbewertung des Sexuellen und vor allem der Frau«. Als wesentlich wollte er festgehalten wissen, dass über den Wert der Verbindung von Mann und Frau allein die Liebe entscheide, »ohne dass die eheliche Verbindung, die in den wenigen Hochzeitsliedern mit anklingt, als die einzig mögliche Form, in der die Liebe erlebt werden darf, herausgehoben wird«.5
Wenn man das unter katholischen Exegeten immer noch umstrittene Hohelied mit solchen Augen zu lesen versteht, verdient es in der Tat das Prädikat »Schulbuch der erotischen Liebe«, herausgegeben vom liebenden Gott selbst.
Doch von einer derart natürlichen Wertschätzung sind wir heute noch weit entfernt. Dies zeigt sich deutlich, wenn man die offiziellen Verlautbarungen vatikanischer Kongregationen und die Eheauffassung des jetzigen Papstes Johannes Paul II. genauer betrachtet. Bei seiner sich über Jahre erstreckenden Katechesenreihe über die christliche Anthropologie bezog der Papst auch »das Hohelied der Liebe« in seine Konzeption der menschlichen Liebe ein. Allerdings überschritt er schnell das Verständnis dieses Gedichtes als eines menschlichen Liebesliedes, wie es die Exegeten Haag und Krinetzki bejahen, als er in der Generalaudienz vom 23. Mai 1984 diese hochtheologische Deutung vorlegte: »Das Hohelied liegt mit Sicherheit auf der Linie jenes Sakraments, in dem durch die Sprache des Leibes das sichtbare Zeichen der Teilhabe von Mann und Frau am Bund der Gnade und Liebe gesetzt wird, den Gott dem Menschen anbietet.«6 Von dieser theologischen Sichtweise dürfte der gewöhnliche Leser des Hohenliedes kaum etwas ahnen. Er wird dieses Gedicht eher als Ausdruck der Freude zweier Menschen über die von Gott geschaffene und gesegnete menschliche Liebe auffassen.
Obwohl die Israeliten der Geschlechtlichkeit im Allgemeinen unbefangen begegneten, empfanden sie dennoch eine geheimnisvolle Angst vor dem sexuellen Verkehr. Der Geschlechtsakt erschien ihnen als ein Geschehen, bei dem der Körper verunreinigt wird: »Liegt ein Mann bei einer Frau und erfolgt Samenerguss, so müssen sie sich in Wasser baden; sie sind unrein bis zum Abend« (Lev 15,18). Bereits die männliche Pollution bewirkte Unreinheit: »Hat ein Mann einen Samenerguss, so bade er seinen ganzen Leib; er ist unrein bis zum Abend« (Lev 15,16; vgl. I Sam 21,5). Die Frau galt als unrein bei der Menstruation (Lev 15,19–24) und bei der Geburt eines Kindes, und zwar für eine Woche bei einem Knaben und für zwei Wochen bei einem Mädchen (Lev 12,2–5).
Diese Reinheitsvorschriften beschränkten sich aber nicht nur auf Hygiene oder Ästhetik; sie erlangten, wenn auch vielleicht nicht immer bewusst, als kultische Weisungen noch religiöse Bedeutung. Dafür waren vor allem zwei Gründe maßgebend: Zum einen verursacht der Geschlechtsakt körperliche und religiöse Verunreinigung, und zum anderen setzt die Verbindung mit Gott oder mit den Göttern sexuelle Abstinenz voraus – eine Forderung, die in erster Linie für die Feier der heiligen Mysterien gilt. Vor diesen Verunreinigungen mussten sich allen anderen voran die Priester hüten, weil sie sonst nicht würdig waren, mit Gott in Verbindung zu treten. Erst kultische Reinheit befähigte die Priester in vorzüglicher Weise zum Umgang mit dem Göttlichen und ermächtigte sie umso mehr zum segensreichen Vollzug religiöser Handlungen.
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die levitischen Reinheitsgesetze des Alten Testaments weithin übereinstimmten mit den Sexualdoktrinen stoischer Philosophen. Hier wie dort lag das Ziel menschlicher Sexualität in der Fortpflanzung, sodass für die bloße Geschlechtslust kaum mehr Platz und Berechtigung blieben. So ist auch verständlich, dass Geschlechtsverkehr während der monatlichen Regelblutung der Frau nicht stattfinden durfte (Lev 15), weil in diesen Tagen eine Kinderzeugung von Anfang an ausgeschlossen ist.
Doch blieb das Alte Testament von der für die griechisch-römische Antike charakteristischen Verachtung des Leibes und einer dementsprechenden Überschätzung des Geistes frei.
Eine Sonderstellung nahm die Sekte der Essener am Toten Meer ein. Für die heute als Qumran-Gemeinde bezeichnete Mönchskolonie am Toten Meer war eine extreme Leibfeindlichkeit kennzeichnend, die großenteils auf außerjüdische, speziell griechische Einflüsse zurückging. Aus Protest gegen die Lebensweise der jüdischen Priester blieben die Mitglieder der Sekte dem Gottesdienst im Tempel fern, ja, sie mieden sogar grundsätzlich jeden Umgang mit diesen »Menschen des Verderbens«. Zu ihren Riten gehörte eine Vielzahl von Waschungen. Unverheiratet blieb aber nur der enge Kern der Gemeinde. Eine Verbindung Jesu mit den Qumran-Jüngern lässt sich bis heute nicht erweisen. Als die Römer im Jahre 68 n. Chr. Palästina eroberten, endete bald auch das Dasein der Mönche von Qumran.
Über das Wesen der Ehe enthält das Alte Testament zwei Haupttexte. Im älteren, um das Jahr 1100 entstandenen Schöpfungsbericht, dessen Autor heute als Jahwist bezeichnet wird, erscheint der Mensch als ein Wesen, das für die Gemeinschaft geschaffen ist: »Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht … Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen; denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gen 2,18–24). Im Mittelpunkt steht hier also der starke Drang zweier Menschen nach leiblicher Vereinigung, ohne dass auch gleich der Aspekt der Kinderzeugung berücksichtigt werden muss.
Sooft in diesen ältesten Bibeltexten von »Fleisch« und »Geist« die Rede ist, bezeichnet Fleisch den ganzen Menschen in seiner Vergänglichkeit und Geist das individuelle Menschenleben.7 Die sexuelle Hingabe bedeutet einen den ganzen Menschen durchdringenden Erkenntnisvorgang. Während wir heute prosaisch sagen: »Sie schliefen miteinander«, heißt es in der Bibel vergeistigt: »Sie erkannten einander«. Allein an dieser unterschiedlichen Ausdrucksweise wird schon die Verschiedenheit der Betrachtungsweise offenkundig.
Den ungefähr sechshundert Jahre jüngeren Schöpfungsbericht schreibt man der Priesterschaft zu. Hier steht der Mensch als zweigeschlechtliches Wesen, das Gottes Bild widerspiegelt, im Vordergrund: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen 1,27 f.). Die Zusammengehörigkeit zweier Menschen wird hier mit der Zeugung von Nachkommen sowie der Beherrschung der Erde begründet.
Beide Texte sagen jedoch nichts darüber aus, dass es sich bei der Beziehung zwischen Mann und Frau immer um Monogamie handeln müsse. Das Gegenteil scheint sogar wahrscheinlicher, wenn wir an die zahlreichen Berichte des Alten Testaments über Polygamie und Konkubinat denken (vgl. S. 221 ff.). Dies erklärt vielleicht auch, warum die hebräische Sprache kein spezielles Wort für die uns heute geläufige Form der Ehe aufweist. Gewiss ist oft vom Zusammengehen und Zusammenleben zweier Menschen die Rede, doch dieses »zusammen« ist in erster Linie als eine private Angelegenheit aufzufassen, die über die Familien des Bräutigams und der Braut hinaus kaum jemanden interessiert.
Verheiratetsein war im Alten Testament wie im späten Judentum die normale Lebensform. Für Ehelosigkeit hatte man im Allgemeinen nur Verachtung übrig. Dasselbe galt für Kinderlosigkeit.
Beim Thema Geschlechtlichkeit wird besonders deutlich, dass die Bibel des Neuen Testaments nicht aus einem einzigen, einheitlichen Buch besteht, sondern aus einer Vielzahl einzelner, oft recht unterschiedlicher Schriften zusammengesetzt ist. Eine eigene Kategorie bilden dabei die vier Evangelien als jeweils voneinander abweichende Berichte über das Leben Jesu, eine andere die echten Briefe des Paulus, von denen die ihm nur zugeschriebenen genau unterschieden werden müssen.
Fundament des christlichen Glaubens sind Jesu Leben und Lehre. Was den Bereich der Sexualität betrifft, gab Jesus, von seinem entschiedenen Auftreten gegen Ehescheidung abgesehen, nahezu keine Auskunft. Es ist vielmehr sein Leben, dem wir wertvolle Hinweise verdanken. Obwohl von Geburt ein Jude, hob Jesus sich durch seine unbefangene Art im Sexuellen, am klarsten erkennbar an seinem Verhalten gegenüber Frauen, von den Anschauungen und Lebensformen seiner jüdischen Zeitgenossen ausnehmend positiv ab. Für ihn bestand kein wesentlicher Unterschied zwischen Mann und Frau; beide Geschlechter waren ihm gleichviel wert.
»Es gibt«, so fasste Herbert Haag den Befund des Neuen Testaments über Jesus zusammen, »keinen Ausspruch Jesu gegen die Prostitution, kein Wort über Homosexualität, kein Wort über Unzucht, Masturbation, vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr, kein Wort über Reinheitsvorschriften in Zusammenhang mit dem Geschlechtsleben oder auch nur über die rechtliche Stellung der Frau.«8
Der Jude Jesus zeigte auch keinerlei Respekt vor den rituellen Reinheitsgeboten, wie sie ihm aus der Heiligen Schrift, dem Alten Testament, bekannt waren (Lev 11–15; Dtn 14,4–21); im Gegenteil, er schob sie mit der ausdrücklichen Erklärung beiseite, dass der Mensch nicht durch das verunreinigt werde, was er in sich aufnimmt, sondern umgekehrt durch die bösen Gedanken und Taten, die aus seinem Herzen kommen. Damit ist der Kirche und allen Christen ein innerer Maßstab gegeben, der eigentlich vor jeder äußeren Kasuistik bewahren müsste.
So zahlreich die Untersuchungen über Aussagen des Apostels Paulus zu Fragen der menschlichen Sexualität, speziell zu seiner Ansicht über die Ehe auch sind, in allen Punkten übereinstimmende Beurteilungen ließen sich nicht erzielen.
Unbestritten ist, dass viele Äußerungen des Paulus einen eschatologisch-apokalyptischen Geist atmen – ein Umstand, der bei dem einer streng jüdischen Familie entstammenden Saulus nicht überrascht. Allerdings erhielten seine Ansichten über Sexualität und Ehe nach der Bekehrung zum christlichen Glauben eine starke Prägung durch griechisch-heidnische Ideen. Heidnische Promiskuität bildete den Hintergrund für eine Anschauung, die er im Brief an die Christen in Rom so ausdrückte: »Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, sodass sie ihren Leib durch ihr eigenes Tun entehrten« (Röm 1,24). Deutlicher noch äußerte der Apostel seine Einstellung im Brief an die Galater. Mit dem Appell zur Freiheit eines Christenmenschen wollte Paulus nicht zu Zügellosigkeit ermuntern, sondern zu strenger Zucht anhalten: »Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe. » Mit Nachdruck verwies er auf den dauernden Streit zwischen Fleisch und Geist; »denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber« (Gal 5,13 ff.).
Im sogenannten Lasterkatalog nannte Paulus unter den Werken oder Früchten des Fleisches, das heißt des rein irdisch oder auch körperlich-sinnlich ausgerichteten Menschen, an erster Stelle »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben«. Dass er »Fleisch« nicht allein sexuell verstand, beweisen die unmittelbar danach angeführten Werke des Fleisches: »Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und Ähnliches mehr«. Seine Mahnung endete mit der Feststellung: »Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt« (Gal 5,24 f.).
Die Morallehre des Paulus wendet sich nur an Christen, an Menschen also, die Gott durch Christus geheiligt hat (1 Kor 1,2). Unter dem Gesichtspunkt der Heiligung verwarf der Apostel die griechische Ethik, derzufolge alles Körperliche im Vergleich zum Geistigen als wertlos erschien und außerhalb jeder menschlichen Verantwortung stand, und betonte dagegen die enge Zusammengehörigkeit von Körper und Geist im Menschen. Weil auch der Leib am Jüngsten Tag zur Auferstehung berufen sei, verbieten sich nach seiner Überzeugung die Trennung des Leibes vom Geist ebenso wie sexuelle Freizügigkeit oder Ungebundenheit. Beide, Geist und Körper, gehörten Christus an, rief Paulus der Christengemeinde von Korinth in Erinnerung: »Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? … Soll ich die Glieder Christi nehmen und sie zu Gliedern einer Hure machen?« (1 Kor 6,11–15). Auf dieser Grundlage ruht die paulinische Theologie der Sexualität.
»Weil der Leib zur Personalität des Menschen gehört, der Geschlechtstrieb mit dem Dasein des Leibes gegeben ist, der Christ in seiner Totalität Christus angehört, ist die Einstellung des Christen zur Sexualität nichts Peripheres und das Geschlechtsleben nicht ein wertfreier, neutraler, privater Bezirk, der mit dem Christsein des Christen nichts zu tun hat.«9 Bei der sexuellen Liebe sah Paulus den Menschen stets vor die Entscheidung gestellt, ob er sich mit der Dirne oder mit dem Herrn (Kyrios) Jesus verbinden wolle. Denn auch hier gelte: Niemand kann zwei Herren dienen. Folglich lehnte er die Hurerei entschieden ab.
Es wäre gewiss falsch, Paulus der Leibfeindlichkeit zu bezichtigen, weil er sexuelle Freizügigkeit streng verurteilte. Seine Mahnungen und Warnungen richteten sich in erster Linie an die sogenannten Pneumatiker, die den Leib für wertlos hielten und ihn deshalb einem sexuellen Libertinismus preisgaben. In Wirklichkeit achtete gerade Paulus den Leib hoch und wollte ihn deshalb bei allen sexuellen Aktivitäten vom Geist beherrscht sehen.
Dies alles klingt sehr positiv. Trotzdem ist nicht zu überhören, dass Paulus, der wahrscheinlich unverheiratet blieb, die Ehelosigkeit höher schätzte als das Verheiratetsein. Den Ausschlag für diese Beurteilung gab allerdings die Erwartung des baldigen Weltenendes, aus der heraus der Apostel, wie schon erwähnt, seine moralischen Grundsätze formulierte.
Die geschlechtliche Aktivierung hielt Paulus nur innerhalb der legitimen Ehe für erlaubt. Die Ehe betrachtete er als eine Einrichtung für jene, die ein Leben in sexueller Enthaltsamkeit nicht führen konnten. So ist auch sein Rat an die Christen in Korinth zu verstehen: »Den Unverheirateten und den Witwen sage ich: Es ist gut, wenn sie so bleiben wie ich. Wenn sie aber nicht enthaltsam leben können, sollen sie heiraten. Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren« (1 Kor 7,8–9). An dieser Argumentation wird deutlich, dass das ehelose Leben für ihn eine viel höhere moralische Qualität besaß als das Leben in der Ehe und der damit verbundene Geschlechtsverkehr – Letzteres ein Zugeständnis an die Schwachen, die Unenthaltsamen.
Allerdings konnte sich Paulus für diese Bewertung nicht auf eine spezielle Weisung Jesu berufen. Die Wurzeln seiner Lehre über die Geschlechtlichkeit des Menschen liegen vielmehr im Platonismus und Stoizismus. Von ausschlaggebender Bedeutung wurde für ihn der stoische Grundsatz, dass die sexuelle Kraft einzig und allein der Zeugung von Kindern dienen sollte. So wurde der zudem von der jüdischen Geisteswelt geprägte Paulus für die meisten Schriftsteller der frühen Kirche zu einem der wichtigsten Transformatoren heidnisch-antiker Sexualnormen. Daran änderte sich nichts, bis der nordafrikanische Bischof und Kirchenvater Augustinus († 430) in Anlehnung an den Judenchristen Paulus ein System kirchlicher Sexualmoral entwarf, das auf Jahrhunderte bestimmend bleiben sollte.
Im ersten Brief an die Christen in der Hafenstadt Korinth beantwortete Paulus um das Jahr 54 von Ephesus aus einige Fragen nach dem Wesen der Ehe so: »Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber dem Mann. Nicht die Frau verfügt über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt nicht der Mann über seinen Leib, sondern die Frau. Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein. Dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht in Versuchung führt, wenn ihr euch nicht enthalten könnt« (1 Kor 7,3–6).
Diese Worte erwecken den Eindruck, als handle es sich bei der Ehe in erster Linie um eine rein sexuelle Angelegenheit, die jeder Partner als sein Recht einfordern könne. Der für das Denken des Paulus aufschlussreiche Begriff »debitum« (Pflicht) fand schnell Eingang in die Ehemoral, in das Eherecht und in den allgemeinen theologischen Sprachgebrauch. Zum Wesen der Ehe gehört demnach die beiderseitige Übertragung des Rechts auf den Leib (ius in corpus). Das Neuartige dieser sexuellen Sicht wird in seiner Tragweite jedoch erst dann deutlich, wenn man weiß, dass die gesamte Antike in diesem Punkt keine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau kannte. Der Mann spielte auch hier als Herr oder Beherrscher eine übergeordnete Rolle.
Neben dem positiven Moment der »ehelichen Pflicht« ist aber deren negative Seite nicht zu übersehen. Paulus hielt nämlich den innerehelichen Sexualakt, von der Kinderzeugung abgesehen, für ein Mittel gegen die menschliche Schwäche und deshalb auch für erlaubt, ja, für eine Pflicht, um jeden unzüchtigen Verkehr außerhalb der Ehe zu verhindern.
Die ganz anders orientierte Ehedoktrin im Brief an die Epheser, für den man jahrhundertelang Paulus als Autor annahm – der Brief wurde vermutlich von einem Schüler des Paulus verfasst –, gab den Theologen immer wieder Stoff zu neuen Spekulationen und Schlussfolgerungen. Die liebende Vereinigung von Mann und Frau bis zum Ein-Fleisch-Werden ist hier als Abbild des Verhältnisses zwischen Christus und der Kirche gedeutet: »Dies ist ein großes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche« (Eph 5,32.). So wurde die Theologie der Ehe im Handumdrehen zu einem Bestandteil der Ekklesiologie. Diese theologische Einbindung schloss freilich nicht aus, dass allein die gegenseitige Bekundung des Ehewillens die Ehe konstituierte. Erst in späterer Zeit benutzten Theologen diese Stelle als Beweis für den sakramentalen Charakter der christlichen Ehe (vgl. S. 117 ff.).
Zeugnisse über das Verständnis der Ehe bei den Christen der nachapostolischen Zeit sind nur spärlich erhalten. Bischof Ignatius von Antiochien († ca. 110), Martyrer wie sein Amtskollege Polykarp von Smyrna († 156), belehrte diesen in einem kurzen Brief über die Pflichten eines Pastors. Dazu gehöre es auch, wie ein Amboss unter den Schlägen des Hammers standzuhalten. Die Ehefrauen sollte Polykarp ermahnen, »sich mit ihren Lebensgefährten zu begnügen in Fleisch und Geist«, und an die Ehemänner richtete sich die Aufforderung, ihre Frauen zu lieben, wie Jesus die Kirche liebt.10
Polykarp gab die an ihn gerichteten Ignatiusbriefe an die Christengemeinde in Philippi weiter. In einem Begleitschreiben rief er die Frauen zu einem Leben in Glauben, Liebe und Keuschheit auf. Nach Keuschheit sollten auch die Jünglinge streben, denn, so argumentierte Polykarp ganz im Geist des Apostels Paulus, »es ist gut, sich zurückzuhalten von den Begierden in der Welt, weil jede Begierde wider den Geist kämpft und weder Hurer noch Weichlinge noch Knabenschänder das Reich Gottes erben werden noch (überhaupt) die das Unstatthafte tun«.11 Als Ziel setzte er also ein zuchtvolles Leben in der Ehe und völlige Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe. Diese wenigen Sätze enthalten bereits eine Auffassung von Sexualität und Ehe, wie sie für lange Zeit als unumstößlicher Grundsatz gelten sollte.
Zu den einflussreichen kirchlichen Schriftstellern mit apologetischer Tendenz gehört Quintus Septimius Florens Tertullian († ca. 220). Als Sohn eines heidnischen römischen Hauptmanns in Karthago geboren, studierte er in Rom und wurde dort Rechtsanwalt. Bald nach der Taufe kehrte er in die nordafrikanische Heimat zurück. In späteren Jahren wandelte er sich zum ethischen Rigoristen, der mit der Kirche brach, um der sittenstrengen Sekte der Montanisten beizutreten. Diese Abkehr verhinderte allerdings nicht, dass der enorm große Einfluss des einst katholischen Tertullian in der Großkirche anhielt.
Die eheliche Verbindung von Mann und Frau ließ Tertullian einzig und allein unter dem Aspekt der Nachkommenschaft gelten, denn »sie ist von Gott gesegnet als die Pflanzstätte des Menschengeschlechts und erfunden, um den Erdkreis zu bevölkern und die Zeit des Bestehens der Welt auszufüllen, und deshalb ist sie auch erlaubt«.12 Er gilt als der erste christliche Autor, der die bis in unsere Zeit gültige Lehre vertrat, dass der Hauptzweck der Ehe in der Zeugung von Nachkommenschaft bestehe.
In seiner Schrift über die Schauspiele steht die für Tertullians Sexualauffassung charakteristische Frage: »Welche Lust kann größer sein als der Ekel an der Lust selbst?«13 Verheiratete Frauen bezeichnete er einmal geringschätzig als solche, »die bereits ihre Jungfrauschaft der Begierlichkeit zum Opfer gebracht haben«.14
Da Tertullian die mit dem ehelichen Akt verbundene Lust als Sünde ablehnte, war die logische Konsequenz, dass er für weitestgehende Unterdrückung allen natürlichen Lustempfindens plädierte. Am besten schien ihm völlige Enthaltsamkeit, weil die »böse Begierlichkeit« sich dann überhaupt nicht auswirken könnte. Mit dieser Auffassung folgte er gewiss nicht der Bibel, vermutlich auch nicht dem Denken und Empfinden der Christen seiner Zeit, sondern vor allem einer platonischen und stoischen Gedankenwelt. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass er sich dem Montanismus zuwandte, dem die Jungfräulichkeit als höchstes Ideal galt und der die Ehe in Erwartung des baldigen Weltendes ganz ausgemerzt sehen wollte. Schon in seiner katholischen Zeit hatte Tertullian das jungfräuliche Leben, die »Brautschaft mit Gott«, höher geachtet als das Eheleben, obwohl auch dieses von sexuellen Begierden frei bleiben sollte.
Mit der Forderung einer vernünftigen, das heißt einer von sexuellen Regungen losgelösten Ehe wandte Tertullian sich in erster Linie an die Priester, damit sie als reine Diener Gottes angesehen werden könnten. Unter Berufung auf Lev 19,2, (»Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig«) hielt er Gebet – hier gleichbedeutend mit offiziellem Gottesdienst – und Geschlechtsverkehr für unvereinbar. Von da war dann nur noch ein kleiner Schritt zum Heiratsverbot für alle Kleriker, die dem Altar dienten.
Nach dem Tod eines Ehepartners war eine zweite Ehe nur ungern gesehen. Aus diesem Grund riet Tertullian seiner Frau, falls er zuerst sterben würde, von einer Wiederverheiratung ab und stimmte sogleich ein Loblied auf alle frommen Witwen an: »Sie wollen lieber mit Gott vermählt sein, lieblich vor Gott. Mägde Gottes sind sie. Mit diesem leben sie in Gemeinschaft, mit ihm unterhalten sie sich, mit ihm gehen sie Tag und Nacht um, ihm bringen sie ihr Gebet als eine Art Mitgift zu, von ihm begehren sie oftmals sein Wohlgefallen als Brautgeschenk und erhalten es.«15 Um seiner Frau einen solchen Lebenswandel näher zu bringen, verwies er sie auf viele enthaltsam lebende Christen, ledige ebenso wie verheiratete: »Wie viele sind es doch, die nach der Taufe ihr Fleisch versiegeln!«16 »Wie viele, die in gleicher Weise mit beiderseitiger Einwilligung auf die ehelichen Leistungen verzichten, die sich aus Begierde nach dem Himmelreich selbst verschneiden!«17 Kaum zu überhören ist dabei die Erinnerung an das berühmte Eunuchenwort im Evangelium des Matthäus: »Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht, und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es« (Mt 19, 12).
Klemens von Alexandrien († ca. 217), ein Zeitgenosse Tertullians, führt die Reihe der griechisch schreibenden Theologen an. Seine Studien waren hauptsächlich darauf gerichtet, wie christlicher Glaube und antike Philosophie miteinander verbunden werden könnten. Um dieses Ziel zu erreichen, musste er einen doppelten Kampf führen: auf der einen Seite gegen seine eigenen Glaubensgenossen, die nur die Heilige Schrift gelten ließen, und auf der anderen gegen die Gnostiker, deren Denken auf religiöse Erkenntnis zielte. Weil Klemens stets auf Ausgleich und Vermittlung bedacht blieb, waren mehrdeutige und auch gewagte Äußerungen unvermeidlich. Dies traf zuallererst auf den Bereich der Geschlechtlichkeit zu, da die Gnosis aufgrund ihres religiösen Erkenntnisprinzips erosfeindliche Züge trug. Der gnostische Hass gegen die Welt schloss den Hass gegen den Körper ein. Solche Gedanken verteidigte Klemens in seinen beiden Hauptwerken »Paidagogos« und »Stromata«, womit auch schon seine Wirkung auf die abendländisch-lateinische Theologie angedeutet ist. Trotzdem bewies Klemens bei seinen zahlreichen Äußerungen über die Ehe weniger Ängstlichkeit und Prüderie als im 19. Jahrhundert der Bamberger Kaplan Lorenz Hopfenmüller, dem wir die erste Übersetzung wichtiger Schriften des alexandrinischen Kirchenlehrers ins Deutsche verdanken und der in einer Bemerkung zum 10. Kapitel des 2. Buches von »Paidagogos« seiner Zeit und sich selbst ein charakteristisches Zeugnis ausstellte, wenn er zu seiner Entschuldigung bemerkte: »Von diesem Kapitel geben wir aus leicht begreiflichen Gründen nur Bruchstücke und Auszüge.«
»Das nächste Ziel der Eheleute sind Kinder«, begann Klemens seine Ausführungen über die Ehe und fügte die Erklärung an: »Auch beim Landmann ist die Sorge für die Nahrung das Motiv zum Ausstreuen des Samens; das Ziel des Landbaues ist das Einernten der Früchte. Viel höher aber steht der Landmann, der einen beseelten Acker bebaut; der eine bestellt das Feld im Hinblick auf vergängliche Nahrung, der andere wirkt an der Erhaltung des Weltalls mit; der eine pflanzt für sich, der andere im Gehorsam gegen Gott; denn Gott hat befohlen: »Vermehret euch!«19 In demselben Buch »Paidagogos«, einer Anleitung zum christlichen Leben, nannte Klemens das Zeugungsmotiv als alleinigen Zweck des ehelichen Geschlechtsverkehrs: »Zu einem anderen Zweck aber als zum Kinderzeugen den Beischlaf pflegen, ist ein Unrecht gegen die Natur. Die Zeitabschnitte, welche diese Lehrerin festgestellt hat, muss man beobachten, das Greisen- und Knabenalter nämlich; diesen ist es noch nicht, jenen nicht mehr gestattet zu heiraten. Auch will sie nicht, dass der Mensch immerfort der Ehe pflege.« Und mit letzter Deutlichkeit erklärte er, dass die Ehe im Streben nach Kindern bestehe, »nicht in ungesetzlichem und vernunftwidrigem Geschlechtsgenuss«.20
Dass Klemens den sexuellen Genuss in der Ehe sogar für sündhaft hielt, überrascht nun nicht mehr. »Man muss also jegliches schmutzige und befleckte Betragen von der Ehe fernhalten, damit man uns nicht zu unserer Schande nachsagen kann, dass die Paarung der unvernünftigen Tiere entsprechend dem allgemein zugestandenen Zweck besser mit der Natur übereinstimme als die eheliche Vermählung der Menschen.«21 Einem echten Stoiker gleich, gab Klemens die Maxime aus: »Über die Begierde herrschen, gegen den unteren Menschen ein Despot sein, das ist die edelste Herrschaft.«22
Klemens von Alexandrien begründete mit dem Ideal der allein auf Nachkommen orientierten und auf jede Form der Leidenschaft verzichtenden Ehe am Ende des 2. Jahrhunderts eine Tradition, die in der Patristik ebenso wie in der Scholastik und selbst in der Neuzeit ohne wesentliche Veränderungen fortbestand. Am erstaunlichsten daran ist, dass diese in das persönliche Leben der Eheleute so spürbar eingreifende Doktrin nicht neutestamentlicher Geistigkeit verpflichtet war, sondern stoisch-gnostisches Gedankengut mit einer christlichen Note versah, ohne dessen ursprünglichen Sinn zu verändern.
Ebenfalls aus der ägyptischen Hafenstadt Alexandrien stammte Origenes († ca. 254), der wohl größte griechische Theologe der Kirche im Altertum. Er war ein Schüler des Klemens von Alexandrien und trat dessen Nachfolge als Leiter der berühmten alexandrinischen Katechetenschule an. Das strenge Leben eines Asketen führend, entschloss sich Origenes zur Entmannung, weil er das Wort Jesu von der Beschneidung um des Himmelreiches willen (Mt 19,12) wörtlich interpretierte. Jetzt musste er auch nicht mehr befürchten, der Unzucht verdächtigt zu werden. Der kirchlichen Dogmatik hinterließ Origenes ein verhängnisvolles Erbe mit der Lehre, dass der Sündenfall von Adam und Eva im Paradies ein sexuelles Vergehen gewesen sei, welches als Erbsünde alle ihre Nachkommen belaste. Konkret hieß dies, dass jeder neugeborene Mensch durch den elterlichen Zeugungsakt als eine unreine, sündige Frucht auf die Welt komme. Zwei Jahrhunderte später begegnen wir derselben Ansicht bei Papst Leo I., der sich dafür auf Psalm 50 berief, dessen Vers 7 lautet: »Ich bin in Schuld geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen!« Der Papst verstand den Psalmisten hier so, als ob jede geschlechtliche Vereinigung aufgrund der mit ihr verbundenen sinnlichen Lust nur sündhaftes Tun sein könne.
Die sexuelle Veranlagung des Menschen gehört nach Origenes wie Krankheit und Tod zu den bösen Folgen der Ursünde. Folglich teilte er die Menschen in zwei Stände ein: die Verheirateten als Stand der Unvollkommenen und die Ehelosen als Stand der Vollkommenen.
Die gesamte Sexualethik des Origenes war bestimmt von dem Grundsatz, dass jede sexuelle Betätigung außerhalb der Ehe sündhaft sei. Er vermengte die kultischen Reinheitsvorschriften des Alten Testaments mit einem sexualethischen Pessimismus, was zur Folge hatte, dass alles Geschlechtliche als schlecht und schmutzig erscheinen musste. Am Ende stand bei ihm die Überzeugung, dass der Heilige Geist sich jeweils für die Dauer des ehelichen Aktes verabschiede. Geschlechtsverkehr unmittelbar vor dem Gottesdienst lehnte er konsequent ab.
Das origeneische Moralkonzept fand zahlreiche Anhänger und gewann – anders als sein dogmatisches Lehrgebäude – fast die Autorität einer kirchlichen Doktrin. Sein Schüler Dionysius († 264), der um 231 zum Vorsteher der Katechetenschule in Alexandrien ernannt und 247 zum Bischof dieser Stadt gewählt wurde, schloss jede menstruierende Frau vom Empfang des Abendmahls aus, weil der Empfänger an Leib und Seele rein sein müsse.
Einen Schritt weiter noch ging Timotheus, ebenfalls Bischof von Alexandrien, wenn er, um die rituelle Reinheit zu garantieren, die Taufe einer Frau zur Zeit ihrer Menstruation nicht erlaubte. Den Geschlechtsakt am Wochenende hielt er für unzulässig, weil die Eheleute sonst nicht würdig gewesen wären, am darauf folgenden Sonntag zur Kommunion zu gehen.
Nach einem Bischof Cyprian von Karthago fälschlich zugeschriebenen Sermon, der aber zu dieser Zeit in nordafrikanischen Asketenkreisen entstanden ist, gestattete der Prediger nur unverheirateten Gläubigen den täglichen Kommunionempfang. Unter dieser Voraussetzung war es folgerichtig, wenn man in erster Linie von den Priestern als Dienern der Geheimnisse erwartete, dass sie ehelos lebten. Auf diese Weise, hieß es in Kreisen der Kirchenhierarchie, sei am besten die Gewähr gegeben, dass die Priester die tägliche Eucharistie, die im 4. Jahrhundert allmählich zur Regel wurde, auch würdig feierten.
Der wegen seines asketischen Lebens bekannte Mönch und Kirchenvater Hieronymus († 420) sah nur noch diese Alternative: »Entweder beten wir allzeit und sind Jungfrauen, oder wir hören mit dem Gebet auf und dienen der Ehe.«23 Damit war schon eine wesentliche theologische Grundlage für das erst Jahrhunderte später in Kraft getretene Zölibatsgesetz für Priester gegeben.
Bei einer derart allgemeinen Verachtung der Sexualität musste die Kirche andererseits darauf bedacht sein, nicht die Ehe selbst, im Neuen Testament unmissverständlich als eine göttliche Einrichtung ausgewiesen, in Verruf zu bringen oder ganz abzulehnen. Die kirchlichen Schriftsteller hielten die Ehe hauptsächlich aus diesen zwei Gründen für gestattet: Vermehrung des Menschengeschlechts und Beruhigung der sinnlichen Leidenschaft.
Weil der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus († 407), dessen literarisches Werk an Bedeutung vielleicht nur noch von Augustinus übertroffen wird, den Fortbestand der Menschheit als wichtigstes Ziel schon zu seiner Zeit für erreicht hielt, blieb die göttliche Institution der Ehe nur noch für jene übrig, die ihre sexuellen Begierden nicht bewältigen konnten. Eine zweite Heirat nach dem Tod des Ehepartners – Digamie zum Unterschied von Bigamie – sollte ganz unterbleiben. Auch wenn die Kirche der ersten Jahrhunderte diese Haltung keineswegs allgemein billigte, so machte sie sich diesen Standpunkt doch zunutze, indem sie Männern, die ein zweites Mal geheiratet hatten, den Eintritt in den geistlichen Stand verweigerte.
Ein Aspekt der Ehe fand bei Chrysostomus besondere Erwähnung, als er den heute noch bei Hochzeitsmessen vielzitierten Vers »Ihr Männer, liebet eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt hat« (Eph 5,25) kommentierte. Um nämlich zu verhindern, dass die unmittelbar vorausgehende Mahnung an die Frauen, sie sollten ihren Männern untertan sein wie Christus dem Herrn, allzu sklavisch gedeutet werde, erinnerte er mit fast überschwänglichen Worten alle Ehemänner an ihre Liebespflicht: »So sorge auch du für sie, wie Christus für die Kirche sorgt! Müsstest du auch dein Leben für sie hingeben, müsstest du dich auch in tausend Stücke zerreißen lassen, müsstest du auch alles Erdenkliche ertragen und leiden: weigere dich dessen nicht!… Auch wenn du sehen musst, dass sie dich verschmäht, spröde behandelt und verachtet, so kannst du sie doch dir unterwerfen durch zahlreiche Beweise deiner Sorge, Liebe und Freundschaft … Denn was ist das für eine Ehe, wenn die Frau vor dem Manne zittert?«24 So erfreulich diese Paränese in den Ohren der in vielerlei Hinsicht benachteiligten Ehefrauen auch geklungen haben mag, es blieb doch bei einem Appell zur Erfüllung des allgemeinen Liebesgebotes, auch wenn die Ehefrau vielleicht besondere Erwartungen hegen durfte. Der Gedanke jedoch, dass zur ehelichen Liebe auch sexuelles Begehren und Gewähren gehören könnten, lag dem Presbyter Chrysostomus, der zehn Jahre vor seinem Tod noch auf den Bischofsstuhl der Reichsstadt Konstantinopel gezwungen werden musste, wie allen Theologen dieser Zeit völlig fern, da sie sich Sexualität nicht ohne mehr oder minder schwere Vergehen denken konnten.
Chrysostomus nahm insofern eine Sonderstellung ein, als er die menschlichen Begierden nicht nur körperlich verstand. Bei der Auslegung des Paulus-Wortes vom Widerstreit zwischen Fleisch und Geist (Gal 5,17) unterstrich er, dass es sich beim Begehren des Fleisches um eine Seelen- und nicht um eine Fleischeskraft handle, denn Paulus verstehe unter Fleisch »nicht diesen physischen Leib, sondern den bösen Willen« des Menschen.25
Tatsächlich zählte Paulus, wie Chrysostomus richtig erkannte, bei den Werken des Fleisches auch geistige Laster wie Götzendienst, Zauberei, Streit und Neid auf. Er dachte also, wenn er vom Fleisch (sarx) des Menschen redete, an den Menschen als ein Geschöpf, das sich gegen Gott versündigen könne. Jede Sünde nehme im Geist des Menschen ihren Anfang und nur in bestimmten Fällen im Körper ihr Ende. Erst in unserer Zeit entdeckten Bibelexegeten dieses differenzierte Verständnis des paulinischen Sarx-Begriffes wieder und zogen daraus wichtige Folgerungen für die Theologie (vgl. S. 3o).
Der größte Einfluss auf die im Hochmittelalter entstandene Theologie der Ehe ging neben den Paulusbriefen des Neuen Testaments von Aurelius Augustinus († 430) aus, wenngleich auch sein umfangreiches theologisches Opus zum großen Teil einen Kommentar zu den biblischen Schriften darstellt. Uns interessieren hier vor allem die Abhandlungen über das Gut der Ehe (De bono coniugali) und über die Jungfrauen (De virginibus).
»Nicht so sehr ein Freund der Ehe als ein Sklave meiner Begierde«. Dies gestand Augustinus von sich in seinen »Confessiones«;26