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1975: Drei junge Leute wurden bei einem Zelturlaub überfallen. Eine Frau wurde dabei erschlagen, ein Mann blieb seither spurlos verschwunden. Der dritte Mann ist dreißig Jahre später ein erfolgreicher Unternehmer, als seine Frau entführt wird. Der Entführer spielt ein seltsames Spiel mit seinem Opfer. Siebels und Till ermitteln zunächst bei dem Entführungsfall. Dabei müssen sie aber die Spur aus der Vergangenheit wieder aufnehmen. Der ungeklärte 30 Jahre alte Mord und der Vermisstenfall sind plötzlich wieder aktuell. Als sich der Verfassungsschutz in die Ermittlungen einschaltet, wird den Kommissaren die politische Brisanz des Falles bewusst. Was geschah damals wirklich und welche Rolle spielte der Entführer dabei? Nach und nach offenbart sich der unglaubliche Lebenslauf des Kidnappers. Aber je deutlicher die Spuren aus der Vergangenheit zum Vorschein kommen, desto verwirrender wird der Fall.
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Seitenzahl: 583
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Stefan Bouxsein
Kriminalroman
Der Autor
Stefan Bouxsein wurde 1969 in Frankfurt/Main geboren. Studium der Verfahrenstechnik und des Wirtschaftsingenieurwesens an der FH Frankfurt. Seit 2006 verlegt er seine Bücher im eigenen Traumwelt Verlag.
Bisher erschienen von Stefan Bouxsein:
Krimi-Reihe mit Siebels und Till:
Das falsche Paradies, 2006
Die verlorene Vergangenheit, 2007
Die böse Begierde, 2008
Die kalte Braut, 2010
Das tödliche Spiel, 2011
Die vergessene Schuld, 2013
Die tödlichen Gedanken, 2014
Die Kronzeugin, 2015
Projekt GALILEI, 2018
Seelensplitterkind, 2021
Der böse Clown (Kurzkrimi), 2014
Außerdem:
Kurz & Blutig (Vier Kurzkrimis), 2015
Humor: Idioten-Reihe mit Hans Bremer:
Der nackte Idiot, 2014
Hotel subKult und die BDSM-Idioten, 2016
Erotischer Roman von Suann Bonnard:
Die schamlose Studentin, 2017
Mein perfekter Liebhaber, 2019
Erfahren Sie mehr über meine Bücher auf:
www.stefan-bouxsein.de
© 2021 by Traumwelt Verlag
Stefan Bouxsein
Johanna-Kirchner-Str. 20 · 60488 Frankfurt/Main
www.traumwelt-verlag.de · [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung und Titelbild:
Nuilani – Design und Kommunikation, Ralf Heller
www.nuilani.de · [email protected]
Titelbild: Fotolia
Lektorat: Stefanie Reimann
ISBN 978-3-939362-07-4
4. Auflage, 2021
Erinnerungen, Mai 1975
Zunächst hörte ich den Hahnenschrei. Einmal, zweimal, dann wartete ich auf den dritten Schrei, doch der blieb aus. Stattdessen drangen andere Geräusche an mein Ohr. Vögel zwitscherten um die Wette, Federvieh gackerte aufgeregt, eine Tür wurde zugeschlagen. Regungslos lag ich da und horchte angestrengt nach den Geräuschen, die von draußen an mein Ohr drangen. Jemand schien Schweine zu füttern, das Gegrunze wurde immer lauter. Die Geräusche, die die Tiere verursachten, kamen mir merkwürdig vertraut vor. Fast so, als würde ich mich in familiärer Umgebung befinden. Auch der Geruch, der durch das halb geöffnete Fenster eindrang, kam mir wohlbekannt vor. Der Geruch von frischem Heu. Wie hatte ich das immer genossen, das stundenlange Herumtoben im Heu. Aber das war lange her. Damals, auf dem Bauernhof meiner Großeltern, im Süden Frankreichs. Als Kind hatte ich dort meinen Sommer verbracht. Die Melodie des französischen Liedes, das meine Oma mir immer vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte, wurde in meiner Erinnerung lebendig. Immer tiefer wanderte mein Geist in jene Tage glücklicher Kindheit zurück.
Ich sah wieder Philippe und Claire vor mir. Wir saßen oben in unserem Baumhaus und beobachteten Großvater bei der Arbeit. Meine Mutter rief, wir sollten herunterkommen, uns die Hände waschen und zu Tisch kommen. Sie rief es in Deutsch, worüber ich mich ärgerte. Philippe und Claire konnten sie doch nicht verstehen. Ich antwortete ihr trotzig auf Französisch. Fließend und akzentfrei. Großvater schien das zu gefallen, denn er rief meiner Mutter zu, dass das französische Blut in meinen Adern dicker wäre als das deutsche. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie zwei verschiedene Sorten Blut in meinem Körper zirkulierten. Das dicke französische und das dünne deutsche Blut. Als ich abends mit Philippe am See saß, wollte ich es genau wissen. Mit meinem Schweizer Taschenmesser, das mir Großvater im Sommer zuvor zum Abschied geschenkt hatte, ritzte ich in meine Fingerkuppe. Neugierig betrachtete ich das Blut, das tröpfchenweise aus meinem Finger herausquoll. Aber es schien doch nur eine Sorte Blut zu sein. Ich versuchte es an einem Finger der anderen Hand. Weder ich noch Philippe konnten einen Unterschied feststellen. Es tropfte nur eine Sorte Blut aus meinen Fingern. Ich fragte mich, ob es die französische oder die deutsche Sorte sei. Philippe wusste es auch nicht. Ich ritzte dann auch seinen Finger auf. Gemeinsam begutachteten wir neugierig den Blutstropfen auf seiner Fingerspitze. Ich hielt meine Fingerspitze zum Vergleich daneben. Wir kamen zu dem Schluss, dass Großvater sich mit den zwei verschiedenen Sorten Blut geirrt haben musste.
Plötzlich breiteten sich andere Bilder in meinem Kopf aus. Statt der zwei kleinen, mit Blutstropfen bedeckten Jungenfinger, nistete sich das Bild eines blutverschmierten Hinterkopfes in meinem Gedächtnis ein. Mit einem Mal begann ich heftig zu atmen. Ich bekam Angst, Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich wollte meine Augen endlich öffnen, doch dazu fehlte mir die Kraft. Immer deutlicher drang das Bild von fließendem Blut in meinen Kopf ein. Mein Herz fing an zu rasen, ich erkannte nur noch vereinzelte Bilder, Bilder ohne Zusammenhang, schreckliche Bilder. Meine Hände waren blutverschmiert. Ich sah zwei Sorten von Blut, die sich miteinander vermischten. Ich wollte die Bilder aus meinem Kopf verbannen. Kalter Schweiß drang mir aus allen Poren, ich zitterte am ganzen Leib. Tief in meinem Inneren vernahm ich gequälte Schreie. Ich wollte das fließende Blut stoppen, doch es floss immer weiter. Machtlos schaute ich auf meine blutverschmierten Hände, dann wurde es dunkel um mich herum. Ich fiel wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Samstag, 29. November 2003, 17:20 Uhr
Es war ein nasskalter, trüber Nachmittag, die ersten weihnachtlichen Melodien hielten bereits überall Einzug. Im Supermarkt herrschte ein heilloses Gedränge zu den festlichen Klängen von Oh du fröhliche Weihnachtszeit, die dezent leise aus den unsichtbaren Lautsprechern ertönten. Siebels schob missmutig seinen Einkaufswagen durch die Gänge. Er hatte keine Lust, bei dem Trubel einzukaufen. Er versuchte sich zu erinnern, warum er überhaupt hier war. Er ärgerte sich, weil er wie immer ohne Einkaufsliste zu der denkbar ungünstigsten Zeit zwischen all den einkaufswütigen Menschen völlig planlos die Regale inspizierte. Mittlerweile hatte er wenigstens ein paar Kleinigkeiten in seinem Wagen, aber irgendetwas hatte ihn heute dazu angetrieben in den Supermarkt zu fahren und dieses irgendetwas fehlte definitiv in seinem Einkaufswagen. Sein Blick wanderte durch die Regale. Wenn er es nur sehen würde, dann wüsste er auch wieder, was ihn dazu veranlasst hatte, seinen kostbaren Samstagmittag in dieser unseligen weihnachtlichen Supermarkt-Hektik zu verbringen. Da sich beim Absuchen der Regale einfach kein Aha-Erlebnis einstellen wollte, änderte er seine Taktik. In Gedanken ging er den Inhalt seines Kühlschrankes durch, doch da war alles an seinem Platz. Er öffnete im Geist alle Schränke und Schubladen in der Küche. Mehl, Zucker, Kaffee, all das war noch vorrätig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich beeilen musste, denn heute wollte er sich zusammen mit Sabine ganz gemütlich die Sportschau ansehen. Die Eintracht kämpfte zurzeit um die zwingend notwendigen Punkte gegen den Abstiegskampf. Mit Till hatte er gewettet, dass die Frankfurter Mannschaft heute endlich wieder mal gewinnen würde. Er war mittlerweile bei den Süßigkeiten angelangt, warf sich noch ein paar Tafeln Schokolade zu dem abgepackten Käse, der Marmelade, den aufbackbaren Brötchen und den zwei Flaschen Mineralwasser und betrachtete wehleidig seinen mickrigen Einkauf. Rings um ihn herum waren die Wagen bis oben hin gefüllt. Die Schlangen an den Kassen bewegten sich nur im Schneckentempo vorwärts. Er fragte sich, warum die Leute sich das alles antaten, und stellte sich hinten an. Mittlerweile verschwendete er keinen Gedanken mehr daran, warum er eigentlich hergekommen war. Er starrte auf die Kassiererin, beobachtete sie, wie sie die Waren auf dem Band über den Scanner zog. Es kam ihm vor, als würde er noch Stunden hier anstehen müssen, ohne zu wissen, warum er eigentlich hier stand. Als er endlich das Band erreichte und seine paar Habseligkeiten unter den mitleidigen Blicken einer robusten Mittfünfzigerin, die auf gleicher Höhe in der Nachbarschlange wartete, auf das schwarze Gummiband beförderte, packte er noch fünf Päckchen Zigaretten dazu.
Erleichtert verließ er den Konsumtempel und schob seinen Einkaufswagen zielstrebig zu seinem BMW. Natürlich hatte er einen Einkaufswagen erwischt, dessen Räder klemmten und eierten. Nur mit Müh und Not gelang es ihm beim Abbiegen, den parkenden Jaguar nicht mit seinem lädierten Einkaufswagen zu rammen. Zu allem Überfluss setzte jetzt auch noch ein Nieselregen ein. Genervt öffnete er den Kofferraumdeckel seines Wagens und kaum hatte er seine Einkäufe verstaut, fiel ihm auch wieder ein, warum er überhaupt hergekommen war. Klopapier, er hatte kein eines Blatt Klopapier mehr.
Zwei Stunden später lag er mit seiner Freundin auf dem Sofa. Sabine hatte Chips und Bier und nach dem Anruf von Siebels auch zwei Rollen Klopapier mitgebracht. Sabine Karlson arbeitete als Kriminalbeamtin bei der Sitte. Siebels hatte sie bei einem Mordfall, den er zu bearbeiten hatte, erst als Kollegin und später auch als Frau zu schätzen gelernt. Seit vier Monaten bildeten die beiden nun ein Paar und in letzter Zeit schmiedeten sie immer häufiger gemeinsame Zukunftspläne. In der Sportschau lief gerade das Spiel der Bayern. Sabine, deren Blut zur Hälfte deutsch und zur anderen Hälfte schwedisch war, war ein begeisterter Anhänger des FC Bayern München. Die Münchner blieben aber unter den Erwartungen und Siebels freute sich diebisch über jeden verlorenen Ball eines Münchner Spielers. Seine Freude wurde jäh unterbrochen, als sein Handy klingelte und er die Stimme von Staatsanwalt Jensen vernahm.
»Guten Abend, Herr Siebels. Ich hoffe, Sie amüsieren sich nicht allzu gut. Ihr freies Wochenende ist nämlich ab sofort gestrichen. Es handelt sich um einen heiklen Fall, ich erwarte Sie schnellstmöglich in Königstein.«
»In Königstein? Warum ich? Es gibt doch diensthabende Beamte, was soll das jetzt, Herr Jensen?« Siebels wanderte unter den neugierigen Blicken seiner Freundin im Wohnzimmer umher. Er schaute zu ihr und verdrehte seine Augen, während er mit dem Staatsanwalt diskutierte. Jensen war allgemein als Nervensäge verschrien. Siebels hoffte noch, dass es sich nur um einen kurzfristigen hysterischen Anfall des immer wieselflinken kleinen Staatsanwaltes handeln würde.
»Wie ich bereits sagte, es ist ein sehr heikler Fall, am Telefon kann ich Ihnen nicht mehr dazu sagen. Ich benötige Sie, weil Sie der Beste sind. Und vorerst kein Wort zu niemandem, außer natürlich zu Ihrem Kollegen Herrn Krüger, den bringen Sie gleich mit.« Jensen beschrieb Siebels den Weg und nannte ihm die Adresse. Bevor Siebels noch einmal widersprechen konnte, hatte Jensen die Verbindung schon unterbrochen.
»Ein sehr heikler Fall, weil Sie der Beste sind, Siebels«, äffte Siebels den eifrigen Staatsanwalt zornig nach, während er sich seine Schuhe anzog.
»Ich erzähle dir dann später, wer die Tore für die Frankfurter geschossen hat«, versuchte Sabine ihn zu trösten. Die beiden umarmten sich zum Abschied, der gemeinsame Samstagabend wurde wie so oft durch die Arbeit unterbrochen. Wenn es nicht Steffen Siebels war, der Dienst hatte, dann musste Sabine Karlson bei Razzien im Frankfurter Rotlichtmilieu präsent sein.
Auf dem Weg zu seinem BMW rief Siebels bei Till an. »Einen schönen Gruß von Jensen, unser freies Wochenende ist gestrichen. Warum? Weil wir die Besten sind, Kollege. Es ist nämlich ein heikler Fall, wie der Herr Staatsanwalt sich ausgedrückt hat. Ich bin in einer Viertelstunde bei dir. Und ich will kein Wort über das Spiel der Eintracht hören, das schaue ich mir später im Fernsehen an, bis gleich.«
Erst jetzt fiel Siebels auf, dass der Spruch von Jensen, von wegen die Besten und so, auch etwas tiefgründiger gemeint gewesen sein könnte und nicht bloß ein dumm daher gesagter Spruch war. Siebels und Till waren zwar tatsächlich die Besten, wenn es um die Aufklärungsquote von Mordfällen ging. Aber das früher so überzeugende und selbstsichere Auftreten von Till hatte in letzter Zeit etwas gelitten. Das hing mit dem Fall zusammen, bei dem Siebels Sabine kennen gelernt hatte. Till hatte damals einem Verdächtigen beim Verhör schwer zugesetzt. Er war sich sicher gewesen, den Richtigen verhaftet zu haben, und wollte um jeden Preis ein Geständnis aus dem Verdächtigen herauspressen. Der Mann erhängte sich kurz nach dem Verhör in seiner Zelle, fast zur gleichen Zeit, als Siebels mit Hilfe von Till und Sabine den tatsächlichen Täter stellen konnte. Jensen machte Till später schwere Vorwürfe und Till war nicht mehr der Alte. Geplagt von Selbstzweifeln hatte er oft daran gedacht, den Dienst zu quittieren. Viele lange Gespräche mit Siebels und mit Sabine Karlson hatten ihn mittlerweile wieder Tritt fassen lassen. Wenn ihm Jensen jetzt wieder ausdrücklich sein Vertrauen aussprach, konnte das nur gut für ihn sein. Eigentlich war Jensen gar kein so schlechter Kerl, dachte sich Siebels. Wenn er nur nicht so eine nervige Art an den Tag legen würde.
Die Bauarbeiten im neuen Frankfurter Stadtteil City West waren immer noch in vollem Gange. Die Straßenbahnschienen, die von dem neu entstandenen Stadtteil zu dem nächsten neu entstehenden Stadtteil Rebstockpark führten, waren mittlerweile vollständig verlegt. Till hatte sich in der City West eine Eigentumswohnung gekauft, nachdem er als frisch gebackener Polizeioberkommissar unter den Fittichen von Siebels sein Handwerk bei der Mordkommission erlernt und nebenbei eine kleine Erbschaft mit Hilfe seines Bruders und dem Börsenboom am Neuen Markt vervielfacht hatte. Seine Gold Wing, mit der er im Sommer über den heißen Großstadtasphalt schwebte, stand jetzt in einer angemieteten Garage. Er wartete bereits vor dem Haus, als Siebels um die Ecke bog.
»Wochenende ade, Jensen springt im Karree«, begrüßte er Steffen Siebels, der sich eine Marlboro anzündete.
»Die Adresse, die Jensen mir gegeben hat, ist in Königstein. Keine Ahnung, was er da von uns will.«
»Lassen wir uns überraschen, wie geht’s Sabine?«
»Die liegt jetzt gemütlich auf der Couch, trinkt mein Bier und guckt sich die Eintracht an. Und denk dran, ich will nichts hören. Wenn wir Glück haben, sind wir in zwei bis drei Stunden wieder zurück. Dann will ich ganz ungestört das Sportstudio sehen.«
»Von mir erfährst du nix, auch nicht, wenn wir die ganze Nacht in Königstein verbringen, was ich befürchte, wenn Jensen uns persönlich das Wochenende vermiest.«
»Mach mir bloß Mut. Wahrscheinlich erwartet uns eine prominente Leiche und Jensen hat wieder panische Angst vor einem Presserummel.«
Königstein war das Pflaster der Reichen. Etliche Villen, bewohnt von der Elite der Frankfurter Bankenszene, von namhaften Chirurgen oder von alteingesessenen Unternehmern, schmückten das Bild des kleinen, aber feinen Ortes im Taunus, nur ein paar Autominuten von Frankfurt entfernt. Siebels kannte sich hier nicht sonderlich gut aus. Als er noch mit seiner Exfrau glücklich verheiratet gewesen war, hatten sie mit der kleinen Tochter oft einen Wochenendausflug in den Taunus unternommen. Damals waren sie regelmäßig durch Königstein gefahren, aber sie hatten nie die Hauptstraße verlassen, hatten sich nie um die Villen und deren Einwohner in Königstein gekümmert. Als Siebels das Ortsschild von Königstein passierte, entdeckte er ein älteres Paar, das seinen Dackel ausführte. Langsam steuerte Siebels auf die Leute zu.
»Frag die beiden da doch mal, wie wir fahren müssen.«
Till kurbelte das Seitenfenster herunter und fragte nach der Adresse, die Jensen genannt hatte. Die beiden Spaziergänger schauten neugierig in den Wagen. Der Mann schien skeptisch zu sein, als er die Gesichter von Siebels und Till erblickte.
»Das ist die Adresse von Herrn Tetzloff. Sind Sie sicher, dass Sie da hin wollen?«
»Ganz sicher«, entgegnete Till mit einem freundlichen Lächeln.
Der Mann drehte sich zu seiner Frau, er schien unsicher zu sein, ob er den beiden Fremden den Weg beschreiben sollte. Seine Frau übernahm nun das Wort, sie beugte sich zum Fenster und fing mit gestikulierenden Handbewegungen an, den Weg zu beschreiben. Die beiden Beamten bedankten sich höflich, das Ehepaar folgte wieder dem an der Leine nach vorn drängenden Dackel. Die Beschreibung der älteren Dame erwies sich als sehr präzise, zehn Minuten später stand der BMW in einer ruhigen, dunklen Straße vor einem hohen Eisentor. Mit Efeu bewachsene Mauern umrahmten das Grundstück, dessen Einfahrt von einem mit aufwändigen Verzierungen geschmückten Eisentor verschlossen war. Jensen hatte nur die Adresse genannt, keinen Namen. Die Hausnummer war künstlerisch in das Tor eingearbeitet. Nr. 5. Kein Name, dafür waren geschmiedete Initialen in die andere Seite des Tores eingearbeitet.
»S. T.«, brummte Siebels vor sich hin.
»Ja, Siebels und Till. Vielleicht will Jensen uns ja nur unsere neue Dienstwohnung zeigen. Gleich drückt unser Butler auf den Knopf, damit sich das Tor öffnet.«
Kaum hatte Till den Satz ausgesprochen, da öffnete sich tatsächlich das schwere Tor. Siebels schaute ungläubig zu seinem Kollegen. Der zeigte ihm die Videokamera, die unmerklich am oberen Ende des rechten Torpfostens angebracht und in der Dunkelheit kaum auszumachen war. Siebels legte den ersten Gang ein, neugierig ließ er den BMW auf das Grundstück rollen, das von außen nicht einsehbar war. Sie fuhren durch ein kleines Waldstück, vielleicht fünfzig Meter weit. Dahinter erstreckte sich eine Parkanlage. Die asphaltierte Straße, die zu einer altertümlichen Villa führte, war jetzt mit kleinen Laternen beleuchtet. Till pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Das erinnert mich an die alten Filme von Edgar Wallace. Langsam verdichtet sich der Nebel, aber Inspector Till Krüger ist der Mann nicht entgangen, der sich heimlich in das Schloss geschlichen hat ... der Ruf einer Eule durchbricht die Stille der Nacht, dann ein unheimlicher Schrei. Kommt der Inspector zu spät?«
»Halt die Klappe, du Spinner. Das einzige Unheimliche, das uns hier erwartet, ist ein kleiner wieselflinker Staatsanwalt, der uns unser Wochenende einfach nicht gönnen will.«
Sie hatten die Villa nun erreicht, eine kreisförmige Auffahrt führte zum Haupteingang, vor dem bereits der Mercedes von Jensen parkte. Gleich daneben stand ein Aston Martin. Ein Stück weiter parkte ein dunkelblauer, verbeulter Passat.
»Das ist die Kiste von Charly Hofmeier. Wir sind also nicht die einzigen Deppen, die Samstagnacht von Edgar Jensen Wallace in das unheimliche Schloss gerufen werden.« Charly Hofmeier war ein Kollege von der Spurensicherung, der sich als EDV-Spezialist im Präsidium und weit darüber hinaus einen Namen gemacht hatte.
Siebels nahm noch einen tiefen Lungenzug, schnippte seine Kippe auf die Einfahrt und ging dann zielstrebig auf den Eingang zu. Till folgte ihm stillschweigend. Mindestens zwei Videokameras hatte Till ausfindig gemacht, von denen sie ins Visier genommen wurden. Die beiden schlenderten die fünf steinernen Stufen hoch. Oben öffnete sich die schwere Holztür und Jensen erschien im Türspalt.
»Na, meine Herren, das wurde ja auch langsam Zeit. Jetzt kommen Sie schon, die Sache ist Ernst und die Zeit drängt.«
Erinnerungen, Mai 1975
Zwei Tage und zwei Nächte schlief ich traumlos durch. Als ich wieder zu mir kam, gelang es mir nur mühsam, meine Augen zu öffnen. Ich erwachte in einem kleinen Zimmer, durch das Fenster konnte ich den Sonnenuntergang beobachten. Es war still, die Geräusche der Tiere waren verstummt. Einige Zeit lag ich völlig regungslos in dem fremden Bett. Ich überlegte, was passiert war, wo ich mich befand, wie lange ich geschlafen hatte. Draußen wurde es allmählich finster. Wie ein Blitz schlug mir ein grauenhafter Schmerz durch den Kopf, als ich mich im Bett aufrichten wollte. Dabei knarrte das Bett auf der Holzdiele. In der Stille kam mir dieses Geräusch wie ein donnernder Lärm vor. Ich fasste mir an den Kopf. Irgendjemand musste mir einen dicken Verband um den Kopf gewickelt haben. Dann hörte ich Schritte. Schwere Schritte, die eine Holztreppe heraufkamen. Die Tür zu meinem Zimmer wurde langsam geöffnet. Ein stämmiger Mann erschien im Türrahmen. Unsere Blicke trafen sich, argwöhnisch betrachtete er mich eine Weile. Schließlich lächelte er freundlich und kam auf mich zu. Auch ich versuchte zu lächeln. Er setzte sich zu mir auf die Bettkante und sprach mich auf Französisch an. Er sagte, dass ich fünf Tage lang bewusstlos gewesen sei. Ein Arzt wäre hier gewesen und hätte mich untersucht. Zwei Rippen hätte ich mir gebrochen, wegen einer schweren Gehirnerschütterung bräuchte ich noch viel Ruhe und sollte mich so wenig wie möglich bewegen. Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte noch so viele Fragen, nur bruchstückhaft konnte ich mich erinnern. Wieder tauchten die Bilder von frischem Blut in meinem Kopf auf. Aber ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um mein Blut handelte. Ich versuchte, die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Irgendetwas Schreckliches war passiert. Verwirrt erkundigte ich mich bei dem Mann an meinem Bett, wo ich denn sei. Ich fragte ihn auf Französisch. Es war gut, wieder in dieser schönen Sprache sprechen zu können, das hatte ich lange nicht mehr getan. Er antwortete mir mit einem tiefen, aber angenehmen Bass. Ich wäre auf einem Bauernhof. Auf seinem Bauernhof. Fürsorglich gab er mir ein Glas Wasser zu trinken. Erst in diesem Moment bemerkte ich, wie durstig ich war. Gierig leerte ich das Glas in einem Zug. Ohne zu zögern, schenkte er mir nach. Dann deutete er mir an, dass ich mich wieder ausruhen solle, und drückte mich sanft ins Kissen. Ich fühlte mich nicht in der Lage, ihm zu widersprechen. Ich war erschöpft und ausgelaugt. Bevor er das Zimmer wieder verließ, fragte ich ihn noch nach seinem Namen. Claude, verriet er mir und ließ mich dann wieder allein.
Samstag, 29. November 2003, 20:40 Uhr
Die beiden trotteten hinter Jensen her und machten große Augen. Glänzend weißer Marmor umgab sie, als sie durch die weitläufige Vorhalle im Eingangsbereich der Villa schritten. Palmen und Orchideen erzeugten eine exotische Atmosphäre. In der Mitte des ovalen Eingangsbereiches tröpfelten leise und beruhigend zwei Wasserstrahlen aus den Mündern zweier Engel, die einen kleinen Brunnen speisten. Hätte Siebels nicht gewusst, dass er sich in der kalten Jahreszeit in Königstein befinden würde, dann hätte er sich irgendwo in Südamerika vermutet. Kein Gedanke mehr an Edgar Wallace, an dichten Nebel und kalte Füße. Jensen war bereits eine der beiden Treppen hochgeeilt, die links und rechts in die obere Etage führten. Ungeduldig schaute er zu seinen Beamten hinunter, die aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen. Schließlich beugten sie sich dem flehenden und ungeduldigen Blick des Staatsanwaltes und folgten ihm in die obere Etage. Von hier aus verliefen drei Flure in die Tiefen des üppig ausgestatteten Gebäudes. Eine Ritterrüstung bewachte den Flur, den Jensen in eiligem Schritt entlangging. Es schien fast so, als wäre er hier zuhause. Gemälde links und rechts an den Wänden, beleuchtete Glasvitrinen stellten Porzellan und alle möglichen Sammlerstücke zur Schau. Indianischer Schmuck, Elfenbein und Jade, Gold und Silber glänzten hinter Glas. Jensen verschwand in einem der Zimmer, in einigem Abstand zwei sprachlose Polizisten hinterher. Fast etwas schüchtern betraten sie nun den Raum, in dem Jensen verschwunden war. Etwas erleichtert stellten sie fest, dass noch ein alter Bekannter anwesend war. Charly Hofmeier kniete in der Mitte des Raumes und hantierte mit allerhand elektronischen Geräten. Er schien sie nicht bemerkt zu haben, der dicke Perserteppich verschluckte jeden Schritt. Am Ende des Raumes stand ein Unbekannter. Unbeweglich stand er am Fenster, mit dem Rücken zum Zimmer.
»Es kann losgehen, meine Leute sind jetzt vollzählig«, unterbrach Jensen die Stille und unweigerlich brach eine gewisse Hektik aus. Der Mann am Fenster drehte sich ruckartig herum, musterte eindringlich die neuen Gesichter und zog dabei nervös an seiner Zigarette. Gleichzeitig ließ Charly von seinem Spielzeug ab und begrüßte seine Kollegen. Charly, der IT-Spezialist im Frankfurter Polizeipräsidium, war immer auf dem neuesten Stand der Dinge und ohne seine Hilfe waren viele Fälle gar nicht mehr zu klären. Sämtliche Abteilungen suchten seine Hilfe. Charly war immer da, Charly fand immer eine Lösung. Er knackte jedes Passwort, holte Dateien ins Leben zurück, die schon gelöscht und spurlos verschwunden waren. Charly war ein Genie, früher oft als verdeckter Ermittler eingesetzt, bis ihm ein Schuss ins Knie seine Bewegungsfähigkeit genommen hatte. Man hatte ihm dann eine Umschulung angeboten. Ein EDV-Seminar sollte er besuchen, das wäre die Zukunft. Charly entdeckte schnell seine Liebe zu den Geheimnissen der elektronischen Datenverarbeitung. Aus der Liebe wurde eine Sucht, Tag und Nacht verbrachte er vor dem Bildschirm. In der freien Wirtschaft hätte er mittlerweile ein Vielfaches von dem verdienen können, was sein Beamtensalär hergab. Aber Charly war auch ein Bulle geblieben. Ein Passwort zu knacken, nur um es zu knacken oder um ein Verbrechen aufzuklären, war ein großer Unterschied. Und Charly war in der Welt der Verbrechensaufklärung groß geworden, hier fühlte er sich zuhause.
Der Mann am Fenster hatte mittlerweile auf einem Chippendale-Sessel Platz genommen. Sein Gesicht kam Siebels bekannt vor, ein ausdrucksstarkes, markantes Gesicht. Schwarzes volles Haar verlieh ihm ein südländisches Flair. Sein anthrazitfarbener Anzug saß wie angegossen, darunter schien sich ein durchtrainierter Körper zu befinden. Breite Schultern, flacher Bauch, schmale Taille, eine Körpergröße von mindestens ein Meter fünfundachtzig. Graue Augen hinter einer randlosen Brille musterten weiterhin die Fremden, die, warum auch immer, in seiner Domäne aufgetaucht waren. Nachdem nun alle saßen und immer noch kein Wort gefallen war, außer der herzlichen Begrüßung zwischen Charly, Siebels und Till, ergriff Jensen wieder das Wort.
»Meine Herren, wie ich bereits sagte, handelt es sich um einen sehr heiklen Fall. Wir befinden uns hier übrigens bei Herrn Sebastian Tetzloff.«
Sebastian Tetzloff, jetzt klingelte es bei Siebels. Tetzloff war Unternehmer, einer der erfolgreichsten und einflussreichsten in Deutschland. Und einer der Reichsten. Sein Name stand oft in der Zeitung, er gab zu sämtlichen politischen Entscheidungen seinen Senf ab und die Journalisten verbreiteten seine Meinung euphorisch im ganzen Land und darüber hinaus. Sebastian Tetzloff war in der Wirtschaft eine Lichtgestalt wie Franz Beckenbauer im Fußball. Was er in die Hand nahm, war zu Erfolg verdammt. Siebels überkam ein mulmiges Gefühl. Wenn Jensen sie mehr oder weniger inkognito hierher bestellt hatte, dann war wirklich etwas Heikles passiert. Till schaute fragend in die Runde, er schien mit dem Namen Tetzloff nicht allzu viel in Verbindung zu bringen. Jensen half ihm auf die Sprünge.
»Wie Sie ja sicherlich wissen, ist Herr Tetzloff eine bedeutende Persönlichkeit im öffentlichen Leben. Ihm gehören mehrere Unternehmen, Tausende von Arbeitnehmern im In- und Ausland verdienen bei Herrn Tetzloff ihre Brötchen. Herr Tetzloff ist ein weltweit anerkannter und geschätzter Manager, sein Rat wird nicht nur von deutschen Politikern gern eingeholt, auch in London, Paris und Tokio ist er ein gern gesehener Gast.« Jensen unterbrach sich für einen Moment, wartete, ob Tetzloff seiner Lobeshymne noch etwas zuzufügen hatte. Doch Tetzloff schwieg, starrte auf seine Füße und schien im Geist weit weg zu sein.
»Selbst im Weißen Haus in Washington ist Herr Tetzloff das ein oder andere Mal um seinen Rat gefragt worden, da verrate ich doch nicht zu viel, Herr Tetzloff ?«
Tetzloff schaute nun endlich zu dem schnell sprechenden Jensen. »Kommen Sie bitte zum Punkt, Herr Staatsanwalt. Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt.« Es schien ihm Mühe zu bereiten, seinen Zorn auf den plappernden Staatsanwalt zu unterdrücken. Siebels konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Natürlich, Herr Tetzloff. Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte meinen Beamten nur den Ernst der Lage klarmachen.«
»Dann machen Sie das jetzt bitte.«
Jensen wurde erst rot, dann weiß im Gesicht. Schließlich wollte er mit seinen Ausführungen neu beginnen, stotterte aber zunächst. Er griff zu dem Whiskyglas, das auf dem Tisch stand, nahm einen Schluck, hüstelte verräterisch gekünstelt und machte einen neuen Anfang, der aber von Tetzloff sofort wieder unterbrochen wurde.
»Entschuldigung, darf ich Ihnen auch etwas anbieten? Einen Whisky oder einen Kaffee vielleicht?«
Siebels und Till waren sich einig, nur ein Glas Wasser.
Jensen war heilfroh über die kleine Pause und sortierte sich neu. »Wie Sie vielleicht aus der Presse vor etwa zwei Jahren erfahren haben, ist Herr Tetzloff verheiratet.«
Siebels erinnerte sich. Die Zeitungen hatten die Tetzloffsche Hochzeit zum gesellschaftlichen Ereignis schlechthin hochgejubelt. Seine Frau Simone war der Öffentlichkeit bereits als Fotomodell bekannt gewesen. Eine Schönheit ohnegleichen, doch sie war bereits Ende zwanzig und hatte den Höhepunkt ihrer Karriere schon hinter sich gehabt, als sie dem zwanzig Jahre älteren Multimillionär Tetzloff das Ja-Wort gegeben hatte.
»Frau Tetzloff ist heute Vormittag zu einem Einkaufsbummel ins Main-Taunus-Zentrum gefahren«, fuhr Jensen fort. »Dort telefonierte sie mit ihrem Mann und die beiden verabredeten sich für 13:30 Uhr in einem chinesischen Restaurant in Kronberg. Als Frau Tetzloff eine Stunde nach dem verabredeten Termin immer noch nicht aufgetaucht war und auch auf Anrufe auf ihr Handy nicht reagierte, schickte Herr Tetzloff seinen Chauffeur ins Main-Taunus-Zentrum. Herr Bogner, so heißt der Chauffeur, fand nach einigem Suchen den Wagen von Frau Tetzloff auf dem Parkplatz. Einen dunkelgrünen Jaguar. An der Windschutzscheibe steckte ein Briefumschlag hinter dem Scheibenwischer, adressiert an Herrn Tetzloff. Herr Tetzloff fand dann schließlich diese Nachricht in dem Umschlag vor.« Jensen überreichte Siebels ein Stück Papier, eine halbe DIN-A-4 Seite.
Darauf stand nur ein Wort. ENTFÜHRT.Die Buchstaben waren in Blockschrift mit einem dünnen Filzschreiber geschrieben worden. Siebels reichte den Zettel an Till weiter.
»Wurden der Umschlag und das Papier spurentechnisch untersucht?«
»Das habe ich gemacht. Mit Hilfe einer jungen Laborantin, mehr oder weniger inoffiziell«, schaltete sich Charly in das Gespräch ein. Charly war der Spurensicherung zugeordnet. »Nichts, was uns weiterbringen würde. Keine Fingerabdrücke, das Papier ist handelsüblich, der Filzschreiber auch. Davon gehen tagtäglich große Mengen über die Ladentheken.«
»Warum war die Untersuchung inoffiziell?«, wollte Siebels wissen.
Jensen hüstelte wieder. »Herr Tetzloff ist mit dem Polizeipräsidenten befreundet und hat ihn sofort angerufen und ihm die Sachlage geschildert. Wie Sie wissen, hat die Polizei einiges Aufsehen erregt bei dem letzten Entführungsfall in Frankfurt. Der Polizeipräsident will jetzt von Anfang an jedweden Fehler vermeiden. Und da es bisher außer diesem Zettel überhaupt keine Informationen gibt, wollen wir zunächst sehr behutsam vorgehen. So hat sich der Präsident ausgedrückt. Das heißt vor allem, dass die Presse so lange wie möglich außen vor bleibt. Also keine offiziellen Ermittlungen, kein Polizeifunk in dieser Sache. Nur Sie drei, der Präsident und ich sind eingeweiht. Jedenfalls so lange, bis wir mehr über die Umstände erfahren.«
Tetzloff wandte sich an Siebels. »Herr Jensen hat mir versichert, dass Sie und ihr Kollege die besten Männer sind, die die Kriminalpolizei aufzubieten hat. Ich nehme an, dass Sie einige Fragen an mich haben, wollen wir anfangen?«
»Darf ich rauchen?«
Tetzloff drückte gerade seine Zigarette im Aschenbecher aus und schob ihn Siebels hin.
Nachdenklich blies der dann den Rauch aus seiner Lunge. »Wann genau haben Sie mit Ihrer Frau telefoniert?«
»Das war gegen 11:30 Uhr.«
»Könnte es sein, dass ihre Frau zu diesem Zeitpunkt schon in den Händen des oder der Entführer war? Klang ihre Stimme normal, hörten Sie Hintergrundgeräusche?«
Tetzloff streckte seine Beine aus, kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nein, sie hat sich ganz normal angehört, sie befand sich gerade in einer Lebensmittelabteilung. Es gab Hintergrundgeräusche, Durchsagen von Sonderangeboten, Hackfleisch und Bananen, soweit ich verstehen konnte.«
»Sie sind sehr wohlhabend, Sie sind eine bekannte Persönlichkeit, haben Sie Maßnahmen zu Ihrem persönlichen Schutz und dem Ihrer Frau getroffen?«
»Wir haben keine Bodyguards, wenn Sie das meinen. Das Haus und das Grundstück sind mit den modernsten Alarmanlagen ausgestattet. Mein Chauffeur ist in gewisser Weise auch eine Art Bodyguard, ehemaliges Mitglied beim Bundesgrenzschutz, sehr zuverlässig. Er hat einen Waffenschein und kann mit Waffen auch umgehen. Aber er hat in meinen Diensten nie davon Gebrauch machen müssen.«
»Gab es in letzter Zeit irgendwelche Hinweise, dass Sie oder Ihre Frau beobachtet werden? Ist Ihnen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen? Leute in der Nähe des Hauses, die Sie vorher noch nie gesehen haben? Telefonanrufe, bei denen sich niemand gemeldet hat?«
»Nein, nichts dergleichen. Auch meine Frau hat keinerlei Andeutungen in diese Richtung gemacht.«
»Sie haben auch keinen Verdacht? Oder Feinde, denen Sie eine Entführung zutrauen würden?«
»Nicht im privaten Bereich. Da gibt es vielleicht Feinde, Neider, Besserwisser, welche, die einmal von sich behaupteten, Freunde zu sein, aber doch keine waren. Aber eine Entführung? Das glaube ich nicht.«
»Und im geschäftlichen Bereich?«
»Ich bin in vielen Bereichen geschäftlich tätig. Eine Entführung ist im Geschäftsleben vielleicht in Südamerika eine Option, nicht aber in Mitteleuropa. Allerdings habe ich doch einen Verdacht, wenn auch nur einen sehr vagen. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich in den letzten Jahren die Firma Business-Soft zum Weltmarktführer für betriebswirtschaftliche Software geführt. Seit einigen Monaten expandieren wir auch verstärkt nach Osteuropa. In Ungarn gibt es allerdings ein sehr gutes Konkurrenzunternehmen. Bei weitem nicht so erfolgreich wie Business-Soft, aber sie haben ein sehr gutes und erfolgversprechendes Produkt-Portfolio. Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung dieser Produkte benötigte das Unternehmen Cash. Die Banken gaben nicht genug, da Business-Soft bereits Weltmarktführer war und seine Fühler nach Osteuropa ausstreckte. Aber schließlich fand das Unternehmen einen zahlungskräftigen Investor. Eine Gruppe Rumänen. Ehemalige hochrangige Offiziere unter der Ägide Ceaucescus, denen es gelungen war, rechtzeitig abzutauchen und einige Millionen Dollar beiseitezuschaffen. Diese Leute haben viel Geld verloren, weil Business-Soft dabei ist, den osteuropäischen Markt zu dominieren. Und diesen Leuten würde ich auch die Entführung meiner Frau zutrauen. Aber das sind nur Spekulationen, es gibt keinerlei Hinweise.«
Das Telefon klingelte. Wie auf Kommando blickten die fünf Männer gebannt darauf. Charly reagierte als Erster. Mit einem Schritt war er bei dem Telefon und den elektrischen Geräten, die er daran angeschlossen hatte. Er drückte ein paar Knöpfe, dann nickte er Tetzloff zu. Der nahm den Hörer ab und meldete sich mit ruhiger Stimme. Jensen fing an, nervös in seinem Sessel hin und her zu rutschen. Tetzloff hob die Hand, gab Entwarnung.
»Hören Sie, Herr Dr. Schubert, ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten. Nein, tut mir leid, ich muss das Gespräch beenden. Ja, ich verlasse mich auf Sie, auf Wiederhören.« Tetzloff legte den Hörer wieder auf, das Warten ging weiter.
Siebels nahm das Gespräch wieder auf. »Wenn diese rumänischen Investoren dahinterstecken, was sollten die sich davon versprechen, Ihre Frau zu entführen?«
Tetzloff zuckte mit den Schultern. »Einschüchterung. Du wilderst in fremdem Revier, also verpiss dich, sonst passieren schlimme Dinge. Das wollen sie damit vielleicht zum Ausdruck bringen. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die ich habe. Vielleicht will aber auch irgendeine Drecksau mal auf die Schnelle ein oder zwei Millionen mitnehmen. Das ist doch wohl am wahrscheinlichsten, oder?«
»Im Normalfall ja. Aber für gewöhnlich lassen solche Leute nicht lange mit einer Lösegeldforderung auf sich warten. Für die zählt jede Stunde. Wenn Sie sonst keine Hinweise für uns haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Früher oder später werden sie sich melden.«
Erinnerungen, Juni 1975
Meine Kopfschmerzen ließen von Tag zu Tag nach. Claude schaute jeden Abend zu mir herein. Wir wechselten immer ein paar Worte, sprachen aber nie darüber, wo ich herkam, wer ich war oder was passiert war. Ich war ihm dankbar dafür, denn meine Erinnerung war nicht wieder zurückgekehrt. Tagsüber kümmerte sich die Frau von Claude um mich. Monique brachte mir morgens Frühstück. In den ersten Tagen sprach sie kein Wort mit mir. Immer wenn ich ein Gespräch anfangen wollte, legte sie einen Finger auf die Lippen. Nicht sprechen. Aber sie behandelte mich gut, wechselte regelmäßig meinen Kopfverband, wusch mich und brachte mir frischen Saft. Eine Woche lang ging das so, dann fühlte ich mich stark genug, um das Bett zu verlassen. Meine ersten Schritte in dem kleinen Zimmer waren noch sehr wackelig, die Kopfschmerzen kamen plötzlich mit Wucht zurück. Doch so schnell, wie sie kamen, verzogen sie sich auch wieder. Ich ging zum Fenster, öffnete es, sog die frische Landluft ein und wähnte mich wieder unter den Lebenden. Wenn da nicht die fehlende Erinnerung gewesen wäre. Die blutigen Bilder beherrschten plötzlich wieder meinen Kopf. Mir wurde schlecht, ich musste kotzen. Monique kam ins Zimmer, brachte mich wieder ins Bett und holte einen Eimer Wasser und einen Schrubber. Beschämt entschuldigte ich mich für die Sauerei, die ich angerichtet hatte. Ich solle mir keine Gedanken machen, ich wäre auf dem Weg der Besserung, bekam ich zur Antwort. Es war das erste Mal, dass sie mit mir sprach. Erschöpft schlief ich wieder ein. Am Abend ging es mir dann deutlich besser. Ich fühlte mich wie ein Neugeborener, der in diesem Zimmer das Licht der Welt erblickt hatte. Nur war ich kein Neugeborener, sondern ein Wiedergeborener. Einer, der bereits ein Leben hinter sich hatte. In dieses Leben konnte ich nicht mehr zurück, das war mir schlagartig klar geworden. Ich hatte keine Erinnerung mehr an dieses Leben. Alles, was mir blieb, waren diese furchtbaren Bilder, die mich ständig heimsuchten. Mein neues Leben begann auf einem Bauernhof. Auch mein altes Leben hatte auf einem Bauernhof begonnen. Auf einem französischen Bauernhof. Mein neues Leben sollte also auf einem belgischen Bauernhof beginnen. Claude und Monique waren meine neuen Eltern, sie schenkten mir mein zweites Leben. Ein zweites Leben, belastet mit blutigen Bildern aus einem anderen Leben.
Samstag, 29. November 2003, 00:20 Uhr
Der Abend in der Villa Tetzloff wurde lang und länger, doch es blieb still. Noch zweimal hatte das Telefon geklingelt, hatte den Anwesenden einen Adrenalinstoß versetzt, aber es waren nur Geschäftspartner von Tetzloff gewesen. Einer wollte ihn für den Sonntag zu einer Runde Golf gewinnen, ein anderer seine Einladung zu einer rauschenden Silvesterparty loswerden. Weit nach Mitternacht entschloss Siebels sich, die Nacht in der Villa zu verbringen. Till ließ sich nicht davon abbringen, es ihm gleichzutun. Als auch Charly erklärte, bleiben zu wollen, hielt es Jensen für seine Pflicht, die Nacht mit seinen Männern gemeinsam zu verbringen. Tetzloff quartierte Siebels und Till in ein luxuriös eingerichtetes Gästezimmer ein. Charly war nicht ganz wohl, er befürchtete, mit Jensen gemeinsam in einem Doppelbett schlafen zu müssen. Aber Tetzloff verfügte noch über zwei kleinere Gästezimmer, auch Jensen war eine gewisse Erleichterung deutlich anzumerken.
Till lag bereits auf der einen Hälfte des französischen Doppelbettes mit eingebautem Radio und integrierter Minibar. Sein Blick schweifte durch das Zimmer. Gemälde hingen an den Wänden, die Decke war mit Stuck verziert, ein antiker Sekretär stand vor dem Fenster. Der flauschige Teppich, rosarot, verlieh dem Zimmer eine angenehm warme Atmosphäre. Die Möbel aus dunklem Holz wirkten elegant, nicht plump oder aufdringlich. Die ganze Einrichtung und Gestaltung des Zimmers war in seinen Farben und Formen aufeinander abgestimmt, glaubte Till zu erkennen. Er fragte sich, wer vor ihm schon alles in diesem Zimmer übernachtet hatte. Seine Gedanken wurden von Siebels unterbrochen, der aus dem angrenzenden Badezimmer kam.
»Jetzt kannst du mir doch erzählen, wie die Eintracht gespielt hat.«
»Kein Wort kommt über meine Lippen, ich halte meine Versprechen.« Till zog sich die Decke über den Kopf, tat so, als schliefe er jetzt.
»Blödmann.« Siebels ging zu dem Sekretär, dort stand ein Telefon. Er rief Sabine an. Das Gespräch war nur sehr kurz, Sabine war vor dem Fernseher eingeschlafen, war kaum ansprechbar. Das Resultat der Eintracht, viel mehr gab das Gespräch nicht mehr her.
»Was hältst du von Tetzloff und der Entführung?« Till war wieder unter seiner Decke hervorgekrochen, saß aufrecht im Bett und schaute Siebels zu, wie der sich auszog. Sabine schien ihm gutzutun. Der kleine Bauchansatz war weg, er sah trainiert aus. Vielleicht lag es auch an den regelmäßigen Mahlzeiten, wenig Fleisch und viel Gemüse, Sabine war sehr gesundheitsbewusst.
»Ich weiß noch nicht so recht, was da auf uns zu kommt. Lass uns erst mal die Nacht drüber schlafen und warten, was morgen passiert.«
»Wenn man bedenkt, dass seine Frau vielleicht in den Händen von zu allem bereiten Rumänen ist, wirkt er sehr gefasst, meinst du nicht?«
»Er ist ein Manager, ein Topmanager. Er ist es gewöhnt, Probleme zu lösen. Der analysiert ganz klar die Situation und überlegt sich, welche Optionen er hat. Ich bin jedenfalls gespannt, wie er reagiert, wenn eine Lösegeldforderung kommt.«
»Meinst du, er wird sich weigern, ein Lösegeld zu zahlen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht zahlt er, ohne mit der Wimper zu zucken, vielleicht will er verhandeln oder Zeit gewinnen, vielleicht ist er froh, wenn er seine Frau wieder los ist. Ich bin müde, mach das Licht aus.«
Samstag, 29. November 2003, 17:15 Uhr
Sie kam langsam zu sich. Ihr war übel, ihre Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Sie fühlte sich schwach und müde. Sie atmete ein paarmal tief durch. Das flaue Gefühl im Magen ging vorüber. Sie öffnete die Augen, blinzelte ein paar Mal, schlug dann die Augen ganz auf. Sie wollte sich bewegen, sich aufrichten, sie spürte kaltes Metall an ihren Handgelenken, dann auch an ihren Fußgelenken. Sie hob ihren Kopf an, blickte sich um. Sie lag auf einem Bett, Hände und Füße waren mit Handschellen an dem Bettgestell festgekettet. In dem Zimmer stand sonst nur noch ein Kleiderschrank, das Fenster war vergittert. Sie sah eine Baumkrone durch die Gitterstäbe, sie musste sich also im ersten oder zweiten Stockwerk befinden. Draußen war es ruhig. Die Wände waren weiß gestrichen, ihr gegenüber war eine Videokamera installiert.
Ihr fiel wieder ein, was geschehen war. Sie war dabei gewesen, ihre Einkäufe im Kofferraum zu verstauen, als neben ihrem Jaguar ein amerikanischer Van mit abgedunkelten Scheiben gehalten hatte. Sie war in Eile gewesen, denn sie wollte nicht zu spät zu der Verabredung mit ihrem Mann kommen. Als sie die Fahrertür des Jaguars geöffnet hatte, hatte sie von hinten einen mächtigen Druck gespürt, dann diesen Gestank in ihrer Nase. Sie hatte schreien wollen, konnte aber nicht, dann war es dunkel geworden.
Sonntag, 30. November 2003, 8:00 Uhr
Leise klopfte es an die Zimmertür. Siebels stand bereits am offenen Fenster, die feuchte Novemberkälte überzog seinen nackten Oberkörper mit einer Gänsehaut. Er zog kräftig an seiner Zigarette. Unter der Decke quälte sich Till aus dem Schlaf. Bogner, der Chauffeur, öffnete die Tür einen Spalt und wünschte den beiden einen guten Morgen. Herr Tetzloff würde sie in der Küche zum Frühstück erwarten, frische Handtücher gäbe es im Badezimmer. Zwanzig Minuten später irrten die beiden frisch Geduschten durch die Villa, auf der Suche nach der Küche. Die feine Nase von Siebels folgte dem frischen Duft von Kaffee, Till versuchte so viel wie möglich von den übrigen Zimmern des Hauses aufzuschnappen. Die meisten Türen waren verschlossen, das Haus musste mindestens acht bis zehn Zimmer haben. Zielsicher schlenderte Siebels die Treppe herunter, die Engel spuckten immer noch mit einer Engelsgeduld das Wasser in den Brunnen, der Geruch des Kaffees wurde immer aufdringlicher. Die Tür zur Küche befand sich unter dem linken Treppenabsatz, es war eine riesige Küche und Jensen mittendrin. Mit einem Glas Orangensaft in der Hand ging er hin und her, überlegte laut, was nun zu tun sei, und hielt erschrocken inne. Er stand genau vor Siebels, hatte ihn gar nicht bemerkt, erst als er fast gegen ihn stieß, nahm er ihn zur Kenntnis.
»Na, da sind Sie ja endlich, Zeit für eine Lagebesprechung, meine Herren.«
»Guten Morgen, Herr Staatsanwalt«, stoppten Siebels und Till den eifrigen kleinen Mann.
Tetzloff, im schwarzen Jogginganzug, schenkte den beiden Kaffee ein. Charly vertilgte bereits sein drittes Käsebrot, Siebels gönnte sich seine nächste Zigarette zum Kaffee.
»Ist heute Nacht noch etwas passiert?«, fragte Till in die Runde.
»Nein, gar nichts. Es tut mir leid, dass Sie sich mehr oder weniger umsonst die Nacht in meinem Haus um die Ohren geschlagen haben. Es fällt mir schwer, einfach nur abzuwarten. Können wir nicht irgendetwas tun?«
»Wo ist denn der Wagen Ihrer Frau jetzt?«
»Er steht in der Garage, Herr Bogner hat ihn herfahren lassen.«
»Charly, wurde der Wagen untersucht? Auf Fingerabdrücke?«
»Nein, noch nicht, wann denn auch? Wir haben gestern noch in Windeseile den Zettel mit der Nachricht im Labor untersucht und dann habe ich hier die ganze Elektronik am Telefon installiert. Mehr war noch nicht drin.«
»Okay, dann erklärst du Herrn Tetzloff noch, was zu tun ist, wenn das Telefon klingelt, und dann kümmere dich erst mal um den Wagen.«
»Ich bin bereits vertraut mit dem Gerät«, warf Tetzloff ein.
»Außer Herrn Bogner weiß niemand, wo genau der Wagen Ihrer Frau gestanden hat, oder?«
»Ich weiß es nur von seinen Erzählungen.«
»Gut, gleich morgen früh werden mein Kollege und ich ins Main-Taunus-Zentrum fahren. Es wäre gut zu wissen, in welchen Geschäften sich Ihre Frau aufgehalten hat. Wir brauchen ein aktuelles Foto von ihr. Das werden wir allen Angestellten in den Geschäften vorzeigen. Wir müssen wissen, wer sie wann zuletzt gesehen hat. Und Herr Bogner soll uns zeigen, wo der Jaguar geparkt war, am besten heute noch. Vielleicht haben wir Glück, und der Wagen stand im Blickfeld einer Überwachungskamera.«
Till hatte rege zugehört, wie Siebels die nächsten Schritte vorbereitete. Er versuchte, sich die letzten Stunden und Minuten von Frau Tetzloff im Main-Taunus-Zentrum vorzustellen. Er wusste, wie Frau Tetzloff aussah, hatte sie auf vielen Fotos in Zeitschriften gesehen. Das machte es ihm einfacher. Er sah sie, wie sie Lebensmittel in ihren Einkaufswagen packte, sie war konzentriert auf das, was sie benötigte. Wahrscheinlich holte sie ihre Sachen in einem Feinkostladen. Sie betrachtete sich die Ware genau, bevor sie sie im Einkaufswagen deponierte. Und jede ihrer Bewegungen, jeder Schritt wurde genauestens überwacht. Jemand folgte ihr. Vielleicht eine Frau? Bei den Menschenmassen, die sich samstags im Main-Taunus-Zentrum aufhielten, wäre ihr das nicht aufgefallen. Frau Tetzloff telefonierte auf ihrem Handy, jemand stand in unmittelbarer Nähe. Kein Wort war der fremden Person entgangen. Frau Tetzloff musste sich beeilen, ihr Mann erwartete sie in einem chinesischen Restaurant in Kronberg. Sie ging zur Kasse, nichtsahnend, dass sie jede Sekunde beobachtet wurde. Ihre Einkäufe verstaute sie in zwei Plastiktüten, auf dem Weg zum Parkplatz machte sie noch einen Abstecher in die Buchhandlung. Während sie in den Seiten einiger Bücher stöberte, fiel ihr die Person gar nicht auf, die genau neben ihr stand und auch ganz interessiert in einem Buch blätterte. Ihr fiel auch nicht auf, dass diese Person aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sie das Buch an der Kasse bezahlte. Simone Tetzloff war nun auf dem Weg zu ihrem Jaguar, dicht gefolgt von jemandem, der eben noch neben ihr in der Buchhandlung gestanden hatte. Es strömten immer neue Besucher ins Einkaufszentrum. Es ging dort zu wie auf einem Ameisenhaufen. Wie die Geier umkreisten die Neuankömmlinge in ihren Autos die großflächigen Parkplätze, gierig nach fünf oder sechs Quadratmetern Asphalt, nicht zu weit weg von den Pforten des Zentrums. Frau Tetzloff war bei ihrem Jaguar angelangt. Unweigerlich musste einer der asphaltsuchenden Geier sie ins Visier genommen haben, seine Ansprüche auf den freiwerdenden Parkplatz angemeldet haben. Aber was hatte die Person gemacht, die ihr gefolgt war? Es müssen mehrere gewesen sein. Sie müssen in unmittelbarer Nähe des Jaguars auf sie gewartet haben. Es muss blitzschnell gegangen sein. So schnell, dass keiner der Parkplatzgeier etwas mitbekommen hat. Sie kam gar nicht bis zu dem Jaguar, sonst wäre es unmöglich gewesen, sie unbemerkt fortzuschaffen. Oder hatte jemand etwas bemerkt? Gab es Zeugen? Hatte jemand beobachtet, wie eine junge Frau mitten auf einem belebten Parkplatz entführt wurde? Oder kannte sie die Entführer und war freiwillig mitgegangen? Eine entscheidende Frage drängte sich ihm auf, während er den großen Parkplatz vor sich sah und die verschiedenen Möglichkeiten im Kopf durchging.
»Eine Frage hätte ich auch, Herr Tetzloff. Die Einkäufe Ihrer Frau, sind die im Jaguar?«
Kaum hatte Till die Frage ausgesprochen, da wurde auch Siebels klar, welche Gedankengänge sich im Kopf von Till abgespielt hatten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tetzloff. »Bogner muss das wissen. Er führt gerade die Hunde aus, muss aber jeden Moment wieder da sein.«
»Die Einkäufe, warum sind wir da nicht gleich draufgekommen. Das ist natürlich eine wichtige Frage, wenn wir den Tathergang rekonstruieren wollen. Gut gedacht, Herr Krüger, weiter so!« Jensen klopfte dem sichtlich stolzen Till dermaßen euphorisch auf die Schulter, dass der seinen Kaffee über den immer noch Käsebrot kauenden Charly schüttete.
In dem Moment kam Bogner in die Küche, in der Hand hielt er die Post. Tetzloff, Siebels und Jensen fragten ihn überstürzt, in der Hoffnung, es gehe nun endlich weiter, nach den Einkäufen. Tetzloff fragte nach den Tüten, Jensen, ob er im Kofferraum nachgesehen hätte, und Siebels vollendete die Kakophonie mit seiner Frage, wo die Einkäufe geblieben wären. Bogner konnte dem Durcheinander nicht folgen. Er hielt verwirrt einen Briefumschlag in der Hand, hielt den Brief Tetzloff entgegen, nicht imstande, einen Sinn in der plötzlichen Fragerei zu erkennen.
»Die Einkäufe meiner Frau«, fing Tetzloff noch einmal an, »sind die noch im Jaguar? Oder war da gar nichts? Oder haben Sie sich nicht darum gekümmert?«
»Vorne war nichts, im Kofferraum habe ich nicht nachgesehen. Hier der Brief, Herr Tetzloff. Er war im Briefkasten, ich glaube, das ist jetzt wichtiger.«
Tetzloff schaute endlich auf den Briefumschlag, den Bogner ihm noch immer mit ausgestreckter Hand entgegenhielt. Er erkannte den dünnen schwarzen Filzschreiber, mit dem der Umschlag beschriftet war. An Herrn Tetzloff persönlich, stand dort in Druckbuchstaben geschrieben. Tetzloff nahm den Umschlag entgegen, es wurde ganz still in der Küche. Tetzloff betrachtete sich den Umschlag, unschlüssig, ob er ihn Jensen überreichen oder besser selbst öffnen sollte.
»Warten Sie, ich hole Latex-Handschuhe«, nahm Charly ihm die Entscheidung ab. Zwei Minuten später streifte sich Tetzloff die Handschuhe über und öffnete den Umschlag. Er zog wieder einen Zettel daraus hervor, diesmal stand mehr darauf.
Erinnerungen, Juni 1975
Unter der Pflege von Monique erholte ich mich zusehends. Nach der zweiten Woche konnte ich endlich auf den Kopfverband verzichten, eine stabile Blutkruste juckte auf meinem Hinterkopf. Körperlich fühlte ich mich von Tag zu Tag besser. Ich war in der Lage, kleine Spaziergänge zu unternehmen, die täglich länger wurden. Aber nachts wachte ich regelmäßig schweißgebadet und geplagt von Albträumen auf. Claude und Monique sorgten sich um mich, sagten aber nichts und stellten auch keine Fragen. Stattdessen pflegten sie mich fürsorglich weiter. Claude schuftete den ganzen Tag auf seinem Hof. Als ich wieder bei Kräften war, machte ich mich nützlich. Der Spargel musste gestochen werden, ich machte mich eifrig ans Werk, froh darüber, endlich meinen Träumen entfliehen zu können. Wir arbeiteten zehn Stunden am Tag, holten das Heu ein und strichen die Zäune. Claude baute auch eine neue Scheune. Ich hämmerte, bis ich jeden Knochen einzeln spürte. Das Arbeiten tat mir gut, auf diese Weise gelang es mir, die blutigen Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Aber nachts, wenn ich schlief, kamen sie mit Wucht zurück. Nacht für Nacht sah ich das Blut, wie es aus ihrem Kopf spritzte. Ich schrie, wollte das Blut stoppen, doch es spritzte nur so um mich.
In der folgenden Zeit stürzte ich mich noch intensiver in die Arbeit. Bald stand die Scheune und Claude war glücklich. Er hatte erst im nächsten Jahr mit der Fertigstellung gerechnet. Abends saßen wir zu dritt in der Stube, müde und ausgehungert. Monique war eine fabelhafte Köchin. Zweieinhalb Monate lebte ich bereits bei ihnen, war braun gebrannt und mit Muskeln bepackt. Meine Kopfwunde war vollständig verheilt, auch die Rippen spürte ich nicht mehr. Doch in den Nächten kamen die Dämonen, ihnen konnte ich nicht entfliehen. Sie entführten mich, weg von dem idyllischen Bauernhof, direkt hinein in die Hölle. Sie fraßen mich von innen auf. So sehr mein Körper auch äußerlich gediehen war, in der Sonne bei der Arbeit auf dem Feld am Tag, so sehr war er von innen zerbrochen. Ich hing fest zwischen meinen zwei Leben. Meine Seele konnte den Dämonen nicht entkommen. Sie zerrissen mich, schnürten mir die Kehle zu, rührten und rumorten in meinem Innersten. Hinterließen Hass und Zorn, Bitterkeit und Wehmut in mir, unablässig waren sie am Werken.
Sie ließen nicht zu, dass ich in meinem zweiten Leben glücklich wurde. Claude beobachtete mich mit Sorge. Es schien, als ob er die Dämonen sehen konnte, die tief in mir drinnen wüteten. Er hörte sie ja auch jede Nacht, wenn ich mich schreiend in meinem Bett umher wälzte, gequält von den blutigen Bildern, die Nacht für Nacht bunter und deutlicher wurden. Immer dicker, immer rötlicher wurde das Blut. Die Hölle umarmte mich und ließ mich nicht mehr los.
Samstag, 29. November 2003, 21:55 Uhr