PROJEKT GALILEI - Stefan Bouxsein - E-Book

PROJEKT GALILEI E-Book

Bouxsein Stefan

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Beschreibung

Kommissarin Lena Leisig ermittelt in ihrem ersten Fall. In der Suite eines Frankfurter Hotels wurde die Leiche einer übel zugerichteten Frau gefunden. Sie hieß Naila und stammte aus Jordanien. Am Tatort erfährt die Kommissarin, dass die Suite von dem LKA-Kommissar Till Krüger observiert wurde. Das LKA war einem Waffenhändler auf den Fersen. Privatdetektiv Steffen Siebels erhält einen seltsamen Auftrag. Er soll einen vermeintlichen Mitarbeiter des LKA identifizieren und ausfindig machen. Seine Auftraggeberin heißt Samira. Sie stammt ebenfalls aus Jordanien und war die beste Freundin von Naila. Die beiden arbeiteten für einen exklusiven Escort-Service und wurden von hochrangigen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft gebucht. Aber dieser Job war für die beiden nur die eine Seite der Medaille. Projekt GALILEI dürfte es eigentlich nicht geben. Aber durch den Mord an Naila und den Auftrag für Siebels, bringen die Ermittler es nach und nach zum Vorschein und decken einen hochbrisanten Spionagefall auf. Doch dabei überschlagen sich die Ereignisse und die Ermittler finden sich plötzlich im Mittelpunkt einer internationalen Krise wieder.

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Stefan Bouxsein

Projekt GALILEI

Kriminalroman

Der Autor

Stefan Bouxsein wurde 1969 in Frankfurt/Main geboren. Studium der Verfahrenstechnik und des Wirtschaftsingenieurwesens an der FH Frankfurt. Seit 2006 verlegt er seine Bücher im eigenen Traumwelt Verlag.

Bisher erschienen von Stefan Bouxsein:

Krimi-Reihe mit Siebels und Till:

Das falsche Paradies, 2006

Die verlorene Vergangenheit, 2007

Die böse Begierde, 2008

Die kalte Braut, 2010

Das tödliche Spiel, 2011

Die vergessene Schuld, 2013

Die tödlichen Gedanken, 2014

Die Kronzeugin, 2015

Projekt GALILEI, 2018

Der böse Clown (Kurzkrimi), 2014

Humor: Idioten-Reihe mit Hans Bremer:

Der nackte Idiot, 2014

Hotel subKult und die BDSM-Idioten, 2016

Erotikroman von Susann Bonnard:

Die schamlose Studentin, 2017

Mein perfekter Liebhaber, 2019

Erfahren Sie mehr über den Autor und zu seinen Büchern auf:

www.stefan-bouxsein.de

© 2018 by Traumwelt Verlag

Stefan Bouxsein

Johanna-Kirchner-Str. 20 · 60488 Frankfurt/Main

www.traumwelt-verlag.de · [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat:

Stefanie Reimann

Umschlaggestaltung:

Nuilani – Design und Kommunikation, Ralf Heller

www.nuilani.de · [email protected]

Titelbild:

fotolia

ISBN 978-3-939362-39-5

1

Hauptkommissarin Lena Leisig nickte den anwesenden Kollegen von der Spurensicherung zu. Ihr Blick schweifte durch die luxuriöse Hotelsuite und blieb auf dem Boden vor dem Doppelbett haften. Dort lag das Opfer, zusammengekrümmt und übel zugerichtet. Die Kommissarin ging in die Hocke und betrachtete sich die junge Frau aus der Nähe. Aufgeplatzte Lippen, ein verletztes Auge, ein ausgerissenes Haarbüschel lag über ihrer nackten Brust. Hämatome an Armen und Beinen und Würgemale am Hals. Der Anblick schnürte der Kommissarin für einen Moment die Luft ab. Das Opfer trug nur Strapse und einen String. Die restlichen Kleidungsstücke waren in der Suite zerstreut, lagen teilweise zerrissen auf dem Boden herum. Eine Bluse, ein kurzer Rock, ein BH, ein Blazer. Neben jedem Kleidungsstück war von der Spurensicherung ein kleines Schild mit einer Nummer aufgestellt worden.

Lena Leisig nahm die anderen Leute, die am Tatort noch ihre Arbeit verrichteten, gar nicht wahr. Sie wollte sich einen ersten Eindruck von der Tat und dem Tatort verschaffen, bevor sie sich mit den Kollegen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizinerin austauschte. Sie öffnete die Tür zu einem begehbaren Kleiderschrank. Darin hingen ausschließlich Anzüge, Hemden und Krawatten. In der Suite wohnte eindeutig ein Mann.

Es war der erste Fall für die frischgebackene Hauptkommissarin und ihr Einstieg im neuen Job bei der Frankfurter Mordkommission. Sie war erst 28 Jahre alt. Jetzt sah sie, worauf sie sich dabei eingelassen hatte. Einen brutalen Mord, dessen Aufklärung nicht sehr schwer sein dürfte. Sie musste eigentlich nur in Erfahrung bringen, wer diese Suite bewohnte.

Die Tote war eine wunderschöne Frau gewesen. Lena schätzte sie auf Anfang bis Mitte zwanzig. Auf den ersten Blick handelte es sich bei dem Opfer um eine Frau aus dem arabischen Raum. Vielleicht war sie auch Perserin. So genau konnte Lena die Ethnien nicht auseinanderhalten. Schon gar nicht bei einer Toten. Sie befand sich im Hotel Jumeirah, das zu einer Kette mit Sitz in Dubai gehörte. Das Fünf-Sterne-Hotel in der Frankfurter Innenstadt war das erste Haus der international tätigen Hotelkette, das auf deutschem Boden eröffnet hatte. Lena Leisig warf einen flüchtigen Blick aus der großen Fensterfront. Die Panoramasicht auf die Frankfurter Innenstadt und dem daraus aufragenden Hochhaus der Europäischen Zentralbank am Mainufer war atemberaubend und stellte einen krassen Kontrast zu dem Anblick des Opfers in der Suite dar. Die Kommissarin hatte freie Sicht bis ins benachbarte Offenbach. Aber sie war nicht hier, um sich die Stadt anzuschauen. Ihr Blick wanderte zurück zu der Toten und der Frau, die den Leichnam kurz vor ihrem Eintreffen noch untersucht hatte.

»Sie sind Frau Leisig?«, erkundigte sich die Frau.

Lena Leisig nickte noch ein wenig gedankenverloren, nachdem sie sich einen ersten Eindruck vom Tatort verschafft hatte. Sie befanden sich in der großzügig gestalteten Panoramasuite, die aus einem Arbeits- und einem Wohnbereich bestand.

»Ich bin Anna Lehmkuhl, die Gerichtsmedizinerin. Sabine Siebels hat mir schon von Ihnen erzählt. Sabine ist eine gute Freundin von mir.«

Lena Leisig reichte Anna Lehmkuhl die Hand. »Hi. Ja, ich bin Lena Leisig. Sabine hat mir auch schon einiges von Ihnen erzählt. Freut mich, dass wir uns jetzt persönlich kennen lernen.« Lena deutete auf die tote Frau auf dem Fußboden. »Wenn der Anlass leider auch nicht sehr erfreulich ist. Ich nehme an, sie wurde vergewaltigt?«

Anna Lehmkuhl nickte. »Ja, die Spuren sind eindeutig. Sie hat sich heftig gewehrt. Aber der Täter ist äußerst brutal vorgegangen, das sehen Sie ja selbst.«

»Konnten Sie die Todesursache schon feststellen?« Lena ließ ihren Blick über die tote Frau schweifen. Auch im Tod strahlte sie noch einen gewissen Stolz aus, trotz des sichtbaren Martyriums, das sie über sich hat ergehen lassen müssen, und trotz der körperlichen Blöße. Oder vielleicht auch genau deswegen. Weil sie so schön war. Schön und unnahbar. So stellte Lena sich die junge Frau vor, als noch Leben in ihr war.

»Nach der ersten Leichenschau spricht alles für einen Erstickungstod. Sie wurde erwürgt.« Anna Lehmkuhl packte ihre Utensilien zusammen, während sie Lena ihre Erkenntnisse mitteilte.

»Wissen wir schon, wer sie ist?«

»Nein. Außer ihrer Kleidung haben wir keine persönlichen Sachen gefunden. Keine Handtasche, keine Geldbörse, keinen Ausweis.«

Lena inspizierte die auf dem Boden verteilten Kleidungsstücke. »Der Blazer und die Bluse stammen aus einer Luxusboutique«, stellte sie fest. »Die High Heels kosteten bestimmt auch ein kleines Vermögen. Auf wen ist das Zimmer gebucht?«

Anna Lehmkuhl zuckte die Schultern. »Das zu klären, gehört jetzt zu Ihren Aufgaben. Das Hotelpersonal ist jedenfalls ziemlich nervös und auf äußerste Diskretion bedacht.« Das Handy der Gerichtsmedizinerin kündigte einen Anruf an. Anna Lehmkuhl schaute kurz auf das Display und nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Till. Kann ich dich in ein paar Minuten zurückrufen? Ich bin gerade an einem Tatort.« Anna Lehmkuhl zog die Augenbrauen hoch, als sie hörte, was ihr Lebenspartner Till Krüger ihr zu sagen hatte. »Was? Wieso?« Sie nickte verwirrt, während sie ihrem Freund kurz zuhörte. Dann beendete sie das Gespräch und sah Lena Leisig an. »Das war mein Freund. Till Krüger. Er ist Hauptkommissar beim LKA Wiesbaden.«

»Ja, ich weiß. Sabine hat mir schon einige alte Anekdoten erzählt. Till Krüger war ja schließlich mein Vor-Vorgänger und hat mit Sabines Mann bei der Frankfurter Mordkommission Geschichte geschrieben.«

»Das kann man wohl so sagen. Sie können Till jetzt persönlich kennen lernen. Er sitzt in der Suite nebenan und erwartet uns.«

Lena schaute Anna ungläubig an. »Wieso das?«

»Das hat er mir nicht verraten. Kommen Sie, ich bin auch gespannt, was er hier zu suchen hat.«

»Hallo, Anna«, begrüßte Till seine Freundin. »Hallo, Frau Leisig.«

»Hallo, Herr Krüger. Das schaut ja fast so aus, als wäre das hier doch nicht mein Fall.« Till saß vor einem Monitor, auf dem er das Geschehen im Zimmer nebenan beobachtete. Um seinen Hals hing ein Kopfhörer.

»Hast du bei dem Mord etwa zugeschaut?«, fragte Anna fassungslos.

»Natürlich nicht«, beschwichtigte Till kopfschüttelnd. »Sie lag schon tot vor dem Bett, als ich hier Stellung bezogen habe. Ich war es, der die Polizei verständigt hat. Aber offiziell bin ich gar nicht hier. Deswegen ist und bleibt es auch Ihr Fall, Frau Leisig. Ich möchte allerdings zeitnah über Ihre Ermittlungsergebnisse unterrichtet werden.«

»Im Gegenzug wollen Sie mir aber nicht verraten, was Sie hier tun, oder?« Lena Leisig wirkte nicht gerade erfreut darüber, bei ihrem ersten Mordfall gleich mit dem LKA konfrontiert zu sein.

»Die Suite nebenan wurde von Gerold Haferstein gebucht«, zeigte Till sich kooperativ. »Wir beobachten ihn rund um die Uhr. Haferstein ist ein Geschäftsmann mit Hauptbetätigungsfeld internationalem Waffenhandel. Nach unseren Informationen wollte er sich heute Abend in seiner Suite mit Hassani Aziz treffen. Aziz ist Marokkaner und eine zwielichtige Figur. Ihm werden Kontakte zu verschiedenen Terrororganisationen zugeschrieben. Wir haben den begründeten Verdacht, dass er als Kontaktmann mit Gerold Haferstein einen nicht unbedeutenden Waffendeal einfädeln sollte. Deswegen bin ich hier. Wir wollen die Hintermänner von Aziz identifizieren. Die Tote da drüben bringt jetzt natürlich alles durcheinander, und ich habe leider keine Ahnung, warum sie ermordet in Hafersteins Suite liegt. Haferstein kann damit nichts zu tun haben. Den hatten wir den ganzen Tag über auf dem Radar.«

»Na super«, stöhnte Lena Leisig.

»Finden Sie heraus, wer die Dame war«, sagte Till. »Dann rufen Sie mich an. Vielleicht ist der Fall für Sie dann schon beendet.« Till reichte Lena Leisig seine Karte.

»Sie wollen mich doch verarschen«, seufzte Lena Leisig resigniert. »Wenn Gerold Haferstein die Suite gemietet hat, hat er die Frau da drüben auch in ihren jetzigen Zustand befördert. Aber Sie geben ihm ein Alibi, um weiter seine Geschäftstätigkeiten beobachten zu können. Und mich lassen Sie wie ein dummes Kind einen Mordfall bearbeiten, der sowieso nie aufgeklärt wird. Das ist zwar mein erster Tag bei der Mordkommission, aber deswegen lasse ich mich nicht gleich wie einen Azubi behandeln, der mit sinnlosen Ermittlungen abgespeist wird.«

»Da liegen Sie falsch«, beschwichtigte Till sie. »Haferstein kann es nicht gewesen sein. Der saß in einem Meeting bei der Deutschen Bank, als die Frau starb. Wir haben ihn in seiner Suite von hier aus seit seiner Ankunft auf dem Schirm. Wir haben die Suite aber natürlich nicht beobachtet, als er außer Haus war. Wir erwarten ihn aber in Kürze zurück. Deshalb habe ich hier vor ungefähr zwei Stunden Stellung bezogen. Das war eine Stunde früher, als wir ursprünglich geplant hatten. Als ich die Frau auf dem Monitor entdeckt habe, bin ich sofort rüber. Wir haben eine Schlüsselkarte. Sie muss kurz vor meinem Erscheinen gestorben sein. Sie war noch nicht richtig kalt. Da saß Haferstein definitiv noch in seinem Meeting.«

»Vertrauen Sie ihm«, sagte Anna. »Ich kenne ihn schon eine Weile und will ihn bald heiraten.«

»Okay. Sie erwarten Herrn Haferstein also jeden Moment zurück? Ich kann ihn dann ja wohl befragen, oder?«

»Selbstverständlich. Er wird bald kommen. Ich halte hier noch die Stellung und schaue, wie er auf die Situation reagiert. Ob er sein Treffen mit Hassani Aziz heute noch wie geplant abhält, wage ich allerdings zu bezweifeln. Wir haben die Observation nur bis heute Nacht vorgesehen gehabt. Der größte Teil des Teams zieht sich gerade zurück. Mir bleiben nur noch zwei Leute.«

Lena Leisig hatte sich von Anna Lehmkuhl und den Kollegen von der Spurensicherung verabschiedet, nachdem diese ihre Arbeit in der Hotelsuite erledigt hatten. Nun saß sie im Büro des Hoteldirektors. Udo Liermann war Ende dreißig, hatte schwarzes, akkurat geschnittenes Haar und zupfte nervös an seinem Krawattenknoten. »Wer hat eigentlich die Polizei verständigt?«, fragte er. »Ich wurde von dieser Sache völlig überrumpelt und weiß noch gar nicht, wie ich damit umgehen soll.«

»Am besten beantworten Sie jetzt erst mal meine Fragen«, schlug Lena Leisig ihm vor. »Wir bekamen übrigens einen anonymen Hinweis. Mehr kann ich Ihnen dazu im Moment nicht sagen.«

»Einen anonymen Hinweis?« Der Direktor weitete seinen Krawattenknoten noch ein wenig. »Der kann doch nur vom Täter gekommen sein, oder? Aber außer Herrn Haferstein und dem Zimmerpersonal hat gar niemand Zutritt zu der Suite.«

»Und damit kommen wir auch schon zu meinen Fragen«, unterbrach Lena die Gedanken des Direktors. »Kannten Sie die Tote?«

»Nein, ich denke nicht. Ich konnte aber nur einen ganz kurzen Blick auf sie werfen. Ihre Kollegen haben mich ja gar nicht ins Zimmer gelassen. Wegen der Spurensicherung.«

»Die ist jetzt abgeschlossen. Kommen Sie, gehen wir zur Suite und schauen uns das Opfer nochmal an, bevor es zur Gerichtsmedizin gebracht wird.«

Udo Liermann stand mit gefalteten Händen und gesenktem Blick vor dem Bett und schaute widerwillig auf den am Boden liegenden Leichnam. »Schrecklich«, flüsterte er. »Sie ist noch so jung. Wer tut denn so etwas, sie wurde ja schrecklich zugerichtet. Sie muss doch um Hilfe gerufen haben, warum hat sie denn niemand gehört?«

»Schauen Sie sich ihre aufgeplatzten Lippen an«, forderte Lena ihn wenig mitfühlend auf. »Wahrscheinlich wurde ihr der Mund zugehalten, vielleicht war sie auch geknebelt. Haben Sie die Frau nun schon einmal gesehen, als sie noch unter den Lebenden weilte?«

»Nein, ich glaube nicht. Aber hier im Hotel kommen und gehen die Gäste natürlich tagtäglich. Manche bringen Besuch mit aufs Zimmer. Hatte sie denn eine Schlüsselkarte für die Suite bei sich?«

»Wir haben keine gefunden.«

»Das ist aber sehr merkwürdig«, wunderte sich der Direktor.

»Kann es sein, dass Sie die Frau doch schon mal gesehen haben? In der Hotelbar? Oder im Spa-Bereich. Hat sie sich hier vielleicht als Prostituierte verdingt?«

»Wir sind ein erstklassiges Hotel«, protestierte der Direktor umgehend.

»Das würde ja passen. Die Dame war auch erstklassig, das lässt jedenfalls ihre Garderobe vermuten.« Lena Leisig schielte an die Stelle der Gardinenschiene, an der sie die Kamera vermutete, die die Bilder ins Zimmer nebenan übertrug. Aber sie konnte keine ausmachen. Das hatten die Kollegen vom LKA sehr professionell eingerichtet, kam es ihr mit einer Spur von Bewunderung in den Sinn.

»Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass sich unsere Gäste gewisse Damen mit auf die Suite nehmen«, stammelte der Direktor. »Aber wir gehen damit sehr diskret um.«

»Wollen Sie mir etwas Bestimmtes damit sagen?« Lena Leisig schaute den Direktor herausfordernd an. Sie hatte ihre Laufbahn bei der Milieukriminalität begonnen und kannte sich in dem Gewerbe bestens aus.

»Wir zählen zu unseren Gästen natürlich auch viele Geschäftsleute, die sich für ein paar Tage in der Stadt aufhalten. Die reisen oft allein und wollen abends nach ihren Geschäftstreffen noch das eine oder andere kulturelle Event erleben. Einen Besuch in der Oper oder im Theater zum Beispiel. In Begleitung einer netten, jungen, kultivierten Dame ist das natürlich noch um einiges angenehmer.«

»Sie meinen Damen von einem Escort-Service?«

»Wir nennen es Begleit-Service«, versuchte der Direktor die Integrität eines solchen Dienstes herauszustellen.

»Die Tote hat sich hier im Hotel also als Begleitdame für wohlhabende und einsame Geschäftsleute angedient?«

»Das klingt so banal aus Ihrem Mund«, echauffierte sich der Direktor.

»Schauen Sie sich die Tote noch einmal genau an, Herr Liermann. Und dann gehen wir wieder zurück in Ihr Büro. Ich glaube, Sie haben mir noch einiges zu sagen.« Lena Leisig war sich jetzt sicher, dass der Direktor die Frau heute nicht zum ersten Mal gesehen hatte. Sie wollte vor den Augen und Ohren des LKA jetzt aber nicht zu viele Details aus dem Direktor herausholen. Das waren ihre Ermittlungen und dieser Till Krüger konnte sich ja jederzeit an sie wenden, wenn er Informationen haben wollte. Dazu musste er sie aber als gleichberechtigte Partnerin behandeln, sonst würde sie ihn auf Granit beißen lassen.

Als sie die Suite wieder verlassen wollten, trafen sie auf dem Hotelflur auf die Männer von der Pietät, die den Leichnam in die Gerichtsmedizin überführen sollten. Sie wurden von zwei jungen Hotelangestellten begleitet.

»Nehmen Sie den Lift Nummer drei und verlassen Sie das Hotel durch den Lieferanteneingang, Herr Schröder«, ordnete der Direktor an.

»Selbstverständlich, Herr Liermann. Wir haben schon alles Nötige veranlasst, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen«, beeilte sich Schröder seinem Vorgesetzten zu versichern.

Zurück im Büro des Direktors verlangte Lena Leisig eine detaillierte Auskunft über die Aktivitäten der Damen vom Begleit-Service im Hotel.

»Wir arbeiten da mit einem bestimmten Unternehmen zusammen«, windete Udo Liermann sich zähneknirschend und Lena Leisig zückte Bleistift und Notizblock.

»Wie heißt dieses Unternehmen?«

»Das wird wirklich alles sehr diskret gehandhabt«, druckste der Direktor noch herum und tupfte sich Schweißperlen von der Stirn.

»Die Frau wurde ja auch sehr diskret umgebracht«, versuchte Lena Leisig ihrem Gegenüber mit Galgenhumor auf die Sprünge zu helfen.

»Die Damen halten sich nicht im Hotel auf, wenn sie nicht gebucht sind«, erklärte Liermann.

»Und wo kann man die Damen buchen, wenn man bei Ihnen als Gast abgestiegen ist? Erledigen Sie das?«

»Natürlich nicht. Nur bei uns gut bekannten Gästen geben wir auf Anfrage eine entsprechende Telefonnummer weiter. Wie gesagt, wir behandeln das äußerst diskret.«

»Ich ermittele auch sehr diskret«, zwinkerte Lena Leisig ihrem Gesprächspartner zu und wurde im gleichen Moment lautstark. »Aber wenn mich das nicht weiterbringt, pfeife ich auf Diskretion und ich fordere auf der Stelle zwanzig uniformierte Kollegen an, die im Hotel von Tür zu Tür gehen und Ihre Gäste auf absolut indiskrete Art und Weise befragen werden. Alles klar?«

»First Class Escort van Bergen«, flüsterte der Direktor.

»Wie bitte?«

»First Class Escort van Bergen«, rief er nun lauter als nötig. Sein Widerstand war gebrochen.

»Aha. Gibt es auch einen Ansprechpartner?«

»Justine van Bergen. Sie leitet das Unternehmen. Zu ihren Kunden gehören ausschließlich einflussreiche Geschäftsleute, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Sie meinen, dass die Zusammenarbeit mit diesem Begleit-Service ein sehr diskretes, aber wirkungsvolles Instrument zur Kundenbindung für Ihre wohlhabenden Hotelgäste ist.«

»Denken Sie doch, was Sie wollen«, winkte der Direktor ab.

»Wo erreiche ich diese Justine van Bergen?«

Seufzend zog der Direktor eine seiner Schreibtischschubladen auf, holte eine Visitenkarte hervor und reichte sie der Hauptkommissarin. Lena Leisig warf einen kurzen Blick auf die Karte. Es stand nur eine Handynummer darauf. Und die Initialen JvB waren unscheinbar und in kleiner, schnörkeliger Schrift auf der unteren linken Ecke aufgedruckt.

»Wir zwei werden doch noch ein richtig gutes Team«, zeigte Lena sich erfreut. Der Direktor verzog die Mundwinkel. »Hat Herr Haferstein denn diese Telefonnummer von Ihnen ausgehändigt bekommen?«

»Nein. Definitiv nicht. Das letzte Mal haben wir vor ungefähr drei Wochen einem Gast auf Anfrage in dieser Angelegenheit weiterhelfen können.«

»Ach, führen Sie darüber etwa Buch?«

»Wir behalten das im Auge, damit es nicht ausartet. Mit dem Service von JvB hatten wir bisher keine Probleme. Sie bedienen nur einen auserlesenen Kundenkreis, und die Damen erscheinen tatsächlich nur selten in unserem Hause.«

»Jetzt ist es aber leider doch irgendwie ausgeartet«, spöttelte Lena. »Wie wird Herr Haferstein eigentlich empfangen, wenn er wieder ins Hotel zurückkommt?«

»Er wird direkt in mein Büro gebracht. Es sei denn, Sie fangen ihn vorher ab und verhaften ihn.«

»Ich warte hier auf ihn. Momentan betrachten wir ihn noch nicht als Tatverdächtigen, auch wenn der Mord in seiner Suite stattgefunden haben muss. Sorgen Sie doch bitte zwischenzeitlich dafür, dass ich die Videoaufnahmen der letzten 24 Stunden ausgehändigt bekomme.«

»Natürlich, Frau Leisig. Unser Sicherheitschef wird sich sofort darum kümmern.« Liermann griff zum Telefonhörer, tippte eine Kurzwahl ein und gab den Wunsch der Kommissarin an den zuständigen Mitarbeiter weiter.

2

Steffen Siebels saß an seinem Schreibtisch und sortierte Unterlagen, die er für seine Steuererklärung benötigte. Zwei Jahre war er mittlerweile als Privatdetektiv tätig, nachdem er den Dienst bei der Frankfurter Mordkommission quittiert hatte. Die meiste Zeit davon hatte er keine Aufträge gehabt und sich um seinen Sohn Denis gekümmert. Nach den bevorstehenden Sommerferien würde Denis eingeschult werden. Die Jahre flogen nur so dahin, dachte Siebels wehmütig. Seine Tochter aus erster Ehe studierte mittlerweile in Hamburg. Ab und zu telefonierten die beiden miteinander. Mit seiner Ex-Frau hatte er schon seit Jahren kein Wort mehr gesprochen. In zweiter Ehe war er mit Sabine verheiratet. Die beiden hatten sich bei einem Fall kennen gelernt, den er als Hauptkommissar bei der Frankfurter Mordkommission bearbeitet hatte. Es war der erste Fall gewesen, bei dem er gemeinsam mit einem jungen Kollegen ermittelte. Der junge Kollege hieß Till Krüger, und Siebels hatte schnell dessen Potential erkannt. Die beiden entwickelten sich zu einem perfekten Team und lösten einige spektakuläre Fälle bei der Frankfurter Mordkommission. Bis heute waren sie gute Freunde geblieben und auch beruflich kreuzten sich ihre Wege merkwürdigerweise immer wieder, nachdem Till Krüger zum LKA nach Wiesbaden gewechselt war und Steffen Siebels sich als Teilzeit-Privatdetektiv und Vollzeit-Papa vom Polizeidienst verabschiedet hatte. Seine Frau Sabine hatte stattdessen wieder ihren Job bei der Milieukriminalität angenommen. Das ging letztendlich aber nicht gut. Siebels erhielt als Privatdetektiv zwar nur wenige Aufträge, aber die, die er bekam, ließen sich nicht mit seiner neuen Rolle als Vollzeit-Papa vereinbaren. Als dann Sabine in Ausübung ihrer Tätigkeit angeschossen wurde, drängte sie darauf, die Rollenverteilung wieder umzukehren. Siebels stimmte ihr schließlich zu und bewarb sich um seinen alten Job. Den würde er nun nach den Sommerferien wieder antreten. Ein ehemaliger Kollege hatte ihn erst unlängst darüber informiert, dass in seiner alten Abteilung wieder einiges in Bewegung gekommen war. Auf Siebels wartete eine neue, junge Partnerin. Lena Leisig war gerade erst zur Hauptkommissarin ernannt worden und noch ein völlig unbeschriebenes Blatt bei der Mordkommission.

Siebels schob seine Papiere beiseite und nahm noch einmal die Karte in die Hand, die der Briefträger heute Vormittag vorbeigebracht hatte. Die Einladung von Anna Lehmkuhl und Till Krüger zu deren Hochzeit. Siebels freute sich aufrichtig für die beiden, die diesen Tag immer wieder vor sich hergeschoben hatten. Nun war es bald so weit. Noch zwei Wochen.

*

Lena Leisig saß mit Gerold Haferstein im Büro des Hoteldirektors. Den Direktor hatte sie rausgeschickt.

»Worum geht es denn?«, fragte Haferstein etwas unwirsch. Anscheinend hatte ihn noch niemand über die Leiche in seiner Suite aufgeklärt. »Ich hatte einen anstrengenden Tag und möchte in mein Zimmer und mich frisch machen. Mein nächster Termin steht bald an.«

»Sie sind geschäftlich in Frankfurt?« Lena Leisig versuchte sich zunächst ein Bild von diesem Mann zu machen. Er war Mitte fünfzig, schlank und etwa 1,80 m groß. Hatte hellgraue, zurückgekämmte Haare, markante Gesichtszüge und das selbstbewusste Auftreten eines Geschäftsmanns, der viel in der Welt herumkam. Das sah man ihm an. Er machte einen weltläufigen Eindruck.

»Ja, bin ich. Warum interessiert Sie das? Sie sind von der Mordkommission, haben Sie gesagt. Wurde jemand umgebracht, den ich kenne?«

Lena Leisig schob ihm ihr Handy vor die Nase. Damit hatte sie die Tote fotografiert. »Kennen Sie diese Frau?«

Haferstein sah sich das Bild an. Er griff in seine Jackentasche, zog eine Brille hervor, die er sich auf die Nase setzte, und betrachtete erneut das Foto. »Nein, diese Frau kenne ich nicht. Sollte ich?« Er gab seiner Gesprächspartnerin das Handy zurück.

»Ja, Sie sollten. Sie starb nämlich in Ihrer Suite. Sie wurde brutal vergewaltigt und ermordet.«

Haferstein schaute Lena Leisig ungläubig an und schüttelte bedächtig den Kopf. »Sie wurde in meiner Suite umgebracht? Da will mir jemand etwas anhängen. Das ist eine intrigante Falle.«

»Wer könnte Ihnen denn etwas anhängen wollen?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich war den ganzen Tag über in einem Meeting. Vielleicht war es ja auch jemand vom Personal. Haben Sie das überprüft?« Haferstein schaute die Kommissarin herausfordernd an. Er suchte nach einer Erklärung und gleichzeitig wollte er etwas verbergen. Das entging Lena nicht.

»Die Frau gehörte nicht zum Personal. Möglicherweise arbeitete sie für einen Escort-Service. Das klären wir noch.«

Haferstein zuckte fast unmerklich zusammen. »Für einen Escort-Service? Aber wie ist sie dann in meine Suite gelangt?«

Lena bemerkte, wie es im Kopf von Haferstein arbeitete. Er schien sich selbst eine Erklärung zusammenreimen zu wollen, ohne dabei zu viel preisgeben zu müssen. Als wäre er in einem Dilemma gefangen, was er zweifelsohne ja auch war. »Also nochmal fürs Protokoll: Sie kennen die tote Frau nicht, Sie haben sie nie zuvor gesehen und haben sie auch nicht umgebracht. Habe ich das richtig verstanden?«

»Das haben Sie richtig verstanden, Frau …?«

»Leisig, Hauptkommissarin Lena Leisig. Wo haben Sie sich heute aufgehalten?«

»Ich hatte einen geschäftlichen Termin in der Stadt.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Berater und koordiniere geschäftliche Abwicklungen.«

»Das klingt ja sehr interessant. Wo ist Ihr Büro angesiedelt?«

»In Wien.«

»Gut. Dann benötige ich nun noch ein paar Namen und Telefonnummern von Leuten, die bestätigen können, wo Sie sich heute aufgehalten haben.«

»Ich stehe also tatsächlich unter Mordverdacht?« Haferstein schüttelte verärgert den Kopf.

»In Ihrem Hotelzimmer, zu dem außer Ihnen und dem Personal eigentlich niemand Zutritt haben sollte, liegt eine tote Frau, und Sie fragen mich jetzt ernsthaft, ob Sie als Tatverdächtiger gelten?«

Lena konnte förmlich sehen, wie es im Kopf von Haferstein arbeitete. Wenn er zur Tatzeit bei der Deutschen Bank wegen der Finanzierung eines Geschäfts im Waffenhandel einen mehrstündigen Termin wahrgenommen hatte, hatte er nun ein Problem. Bei seinen Gesprächspartnern, die ihm ein Alibi geben konnten, waren Ermittlungen in einem Mordfall ein Unding. Die wahren Hintergründe seiner Geschäftstätigkeiten waren dort wohl auch eher nicht thematisiert worden, vermutete Lena. Haferstein kam mit der Toten in seiner Suite nun also an mehreren Fronten in Bedrängnis.

»Hans-Joachim von Treutlingen«, sagte Haferstein schließlich. »Er kann Ihnen den Termin bestätigen.«

Lena notierte sich den Namen und ließ sich auch eine Handynummer von dem genannten Mann geben.

»Wer ist das?«

»Er ist mein Ansprechpartner bei der Deutschen Bank und war mit mir zwischen 11:00 und 15:00 zusammen.«

»Sonst gibt es niemanden, der das noch bestätigen könnte?«

»Das sollte reichen«, antwortete Haferstein zerknirscht. »Herr von Treutlingen ist ein renommierter Banker.«

Einer, den Haferstein in der Hand hatte, vermutete Lena. »Sie verlassen die Stadt nicht ohne meine Einwilligung«, ermahnte sie Haferstein zum Abschluss dieser ersten Befragung. »Anderenfalls lasse ich Sie international zur Fahndung ausschreiben. Alles klar?«

Haferstein hatte schon Luft geholt, um der jungen Frau eine angemessene Antwort zu geben. Doch er hielt sich zurück und besann sich eines Besseren. »In drei Tagen muss ich aber abreisen«, sagte er in höflichem Ton.

»Wo wollen Sie denn hinreisen?«

»Nach Beirut. Ich habe dort wichtige geschäftliche Angelegenheiten zu klären.«

»Morgen Vormittag will ich Sie um zehn Uhr im Präsidium sprechen.« Lena Leisig gab ihm ihre Karte. Die erste, die sie als Hauptkommissarin bei der Mordkommission vergab. »Ihre Suite ist ein Tatort, Sie werden umziehen müssen. Die Spurensicherung ist zwar abgeschlossen, aber ich werde die Räumlichkeiten vorsichtshalber versiegeln lassen.«

»Ich werde das Hotel wechseln. Hier bleibe ich bestimmt nicht.«

»Das können Sie gerne tun. Aber ich muss wissen, wo ich Sie finden kann.«

Haferstein warf einen Blick auf die ausgehändigte Karte. »Ich rufe Sie an, wenn ich in einem anderen Hotel eingecheckt bin. In Ordnung?«

»Nicht nötig, das können Sie mir mitteilen, wenn Sie morgen pünktlich im Präsidium erscheinen.«

*

Steffen Siebels hatte von seiner Frau Sabine schon einiges über die Neue gehört. Sabine und Lena Leisig hatten sich auch privat miteinander angefreundet, und Sabine war es letztendlich gewesen, die Lena dazu überredet hatte, zur Mordkommission zu wechseln. Das war aber erst passiert, nachdem die Entscheidung gefallen war, dass Siebels zu seiner alten Wirkungsstätte zurückkehren würde. Dass er dort eine neue, junge Kollegin bekommen würde, die mit seiner Frau gut befreundet war, weckte zwiespältige Gefühle in ihm. Sabine hatte ihm zwar versichert, dass sie nicht daran dachte, mit Lena über den beruflichen Alltag ihres Mannes zu sprechen, aber wenn die Mädels erst mal in Plauderlaune waren, blieb davon bestimmt nichts unerwähnt. Jedenfalls nicht das, was Siebels lieber nicht vor seiner Herzallerliebsten ausgeplaudert wissen wollte. Andererseits hatte das Ganze auch schon wieder etwas Familiäres. Das gefiel ihm eigentlich ganz gut. Die Türklingel unterbrach seine Gedankengänge. Er ging nach unten und öffnete die Haustür. Vor ihm stand eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren und kaffeebrauner Haut.

»Sind Sie Herr Siebels? Der Privatdetektiv?«

»Ja, der bin ich. Aber nicht mehr lange. Wenn Sie einen Detektiv engagieren möchten, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich nehme keine Aufträge mehr an.«

Die junge Frau schaute ihn nachdenklich an. »Das ist schade. Sie wurden mir empfohlen. Ich zahle sehr gut. Vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal?«

»Wer hat mich denn empfohlen?« Siebels wurde nun doch neugierig.

»Ein guter Bekannter von uns beiden. Ich musste ihm versprechen, seinen Namen nicht zu nennen.«

»Na ja, wie auch immer, ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.«

»Jeder hat seinen Preis«, antwortete die Frau unbeeindruckt. »Wie hoch ist Ihrer?«

»Darum geht es nicht. Ich kehre in wenigen Wochen zum Polizeidienst zurück und bis dahin will ich mich um meine Familie kümmern.«

»In wenigen Wochen kann viel passieren. Sie könnten meinen Auftrag bis dahin erledigt haben. Ich zahle Ihnen 20.000 Euro im Voraus.«

Siebels wurde hellhörig. Er hatte Sabine zwar hoch und heilig versprochen, dass er sich in keine Abenteuer mehr stürzen würde, aber das klang nach einem lukrativen Job. »Kommen Sie rein und erzählen mir, worum es geht. Vielleicht kann ich Ihnen jemand anderen empfehlen«, versuchte Siebels sich erst mal alle Optionen offen zu halten. Er führte seine Besucherin in sein Büro und war gespannt, was für einen Auftrag sie zu vergeben hatte.

»Mein Name ist Samira. Ich war heute mit meiner Freundin Nayla verabredet. Wir wollten uns in der Lobby im Hotel Jumeirah in der Innenstadt treffen. Aber Nayla kam nicht. Sie ging auch nicht an ihr Handy. Ich wartete noch eine Weile, und als sie immer noch nicht kam, bin ich im Hotel herumgelaufen und habe nach ihr Ausschau gehalten. Zufälligerweise habe ich gesehen, wie ein Sarg durch einen der Hinterausgänge getragen wurde. Ich ahnte Schlimmes. Ich bin den Sargträgern hinterhergelaufen und habe sie gefragt, ob eine junge Frau in dem Sarg liegen würde. Sie ließen mich einen Blick auf sie werfen. Es war tatsächlich meine Freundin Nayla.« Bei den letzten Worten versagte Samira die Stimme. Sie räusperte sich. Siebels besorgte ihr ein Glas Wasser.

»Wann war das?«, wollte Siebels dann wissen.

»Vor ungefähr zwei Stunden.« Samira schaute Siebels aus großen, dunkelbraunen Augen an.

»Vor zwei Stunden? Dann sind Sie aber ziemlich schnell bei mir gelandet.« Siebels kam die ganze Geschichte schon jetzt etwas merkwürdig vor.

Samira nickte bedächtig. »Nayla befand sich bereits seit einiger Zeit in Gefahr. Deswegen habe ich auch ein Auge auf sie geworfen und mich regelmäßig mit ihr verabredet. Wenn es auch nur für ein paar Minuten auf einen Kaffee war. Aber es hat leider nichts genutzt.«

»Was wollen Sie nun von mir? Warum gehen Sie nicht zur Polizei und machen dort eine Aussage?« Siebels hatte sich schon dazu entschlossen, den Fall nicht anzunehmen. Aber er wollte die junge Frau jetzt auch nicht gleich wieder vor die Tür setzen. »Sie und Ihre Freundin Nayla, Sie treffen sich in Hotels mit Männern, nehme ich an.«

»Nicht mit irgendwelchen Männern. Mit reichen Männern. Und mit mächtigen Männern.« Samira blickte Siebels entschlossen in die Augen. »Nayla hatte Kontakt zu einem Mann, dessen richtigen Namen sie nie erfahren hat. Er nannte sich nur Richard und war angeblich für das LKA in Wiesbaden tätig. Er wollte von Nayla Informationen über deren Kunden haben. Er hat ihr gedroht, dass man sie umbringen würde, wenn sie nicht kooperativ wäre. Sie sollen herausfinden, wer dieser Richard wirklich ist. Das ist alles. Ich werde nicht zur Polizei gehen und auf keinen Fall eine Aussage machen. Wenn Sie den Fall annehmen, erwarte ich absolute Diskretion von Ihnen.«

Jetzt benötigte Siebels ein Glas Wasser. »Deswegen sind Sie also zu mir gekommen. Weil Sie wissen, dass ich gute Kontakte zum LKA nach Wiesbaden habe.« Das musste Siebels erst mal verdauen.

»Ja. Und weil Sie ein sehr guter Ermittler sind. Und weil Sie unbestechlich sind. So sagte man mir jedenfalls.«

»Jetzt würde ich aber zu gerne wissen, wer mich Ihnen empfohlen hat«, grübelte Siebels laut vor sich hin.

»Wie gesagt, in meinem Metier ist Diskretion das oberste Gebot. Von mir werden Sie es nicht erfahren. Nehmen Sie meinen Auftrag nun an?«

3

Till fluchte leise vor sich hin, als er am Monitor mit ansah, wie Gerold Haferstein im Zimmer nebenan seine Koffer packte. Während er überlegte, wie er die Überwachung von Haferstein nun fortsetzen sollte, bekam er einen Anruf auf seinem Handy. Das Display zeigte die Nummer von Siebels.

»Schlechter Zeitpunkt für ein kleines Schwätzchen«, sagte Till sofort und wollte seinen Freund gleich wieder abwimmeln.

»Warum? Hast du vielleicht gerade Stress im Hotel Jumeirah?«

Till traute seinen Ohren nicht. Sein Auftrag hier unterlag strengsten Geheimhaltungsvorschriften. »Hat Anna etwa was ausgeplaudert?«

»Nein, mein Anruf hat nichts mit Anna zu tun. Ich interessiere mich für die junge Frau, deren Leiche heute aus dem Hotel getragen wurde.«

»Die wurde zu Anna in die Gerichtsmedizin gebracht. Was willst du, Siebels?«

Siebels atmete schwer aus. »Sag mir nur eins. Aber sag mir bitte die Wahrheit. Habt ihr sie beim LKA als Informantin missbraucht und verbrannt?«

Till musste sich das Gehörte zwei Mal durch den Kopf gehen lassen, um sicher zu sein, dass er sich nicht verhört hatte. »Sag mal, spinnst du oder was? Ich habe sie gefunden, aber noch nie zuvor gesehen. Wie mischst du denn da wieder mit drin rum?«

»Möglicherweise spielt einer von euren Leuten mit falschen Karten«, sagte Siebels nachdenklich.

»Ich glaube das jetzt alles nicht. Siebels, wir sollten uns bald mal treffen.«

»Ja, das sehe ich auch so. Ich melde mich später nochmal bei dir. Bis dann.«

*

Lena Leisig hatte die Telefonnummer angerufen, die auf der Visitenkarte von First Class Escort van Bergen angegeben war. Justine van Bergen war die Geschäftsführerin des Escort-Services. Nach einem kurzen Gespräch hatte sie der Kommissarin die Adresse ihres Büros mitgeteilt. Lena Leisig war vom Hotel direkt zu der Adresse im Frankfurter Westend gefahren. Das Büro lag unscheinbar in der ersten Etage eines denkmalgeschützten Gründerzeitgebäudes am westlichen Ende des Kettenhofweges. Auf dem Klingelschild stand nur JvB. Lena Leisig betätigte den Klingelknopf. Kurz darauf summte es leise, und die Haustür ließ sich öffnen. Lena stieg die Treppen in die erste Etage hoch und wurde dort von einer Frau empfangen, die nicht viel älter sein konnte als die tote Frau in dem Hotelzimmer. Justine van Bergen stellte sich knapp und distanziert vor und bat Lena in ihr Büro. Sie trug einen weißen Hosenanzug von einem etablierten Designer und das blonde, schulterlange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Lena nahm an einem kleinen, runden Besprechungstisch Platz. Justine van Bergen bot ihr nichts an.

Lena öffnete auf ihrem Handy das Foto der Toten und zeigte es Justine van Bergen.

»Hat diese Frau für Sie gearbeitet?«

Justine van Bergen betrachtete sich emotionslos das Bild. »Sie war eine Geschäftspartnerin von mir. Ich vermittele Kontakte auf Provisionsbasis.«

»Ich brauche den Namen der Toten. Und ihre Adresse.«

»Nayla. Nayla Aldahabi. Sie wohnte in der Textorstraße in Sachsenhausen. Sie sieht schlimm aus. Wo ist das passiert?«

»Wir haben sie tot in einer Suite im Hotel Jumeirah gefunden. Es ist noch unklar, wie sie dorthin gelangt ist. Wir haben auch noch keinen Hinweis auf den Täter. Das Hotel gehört zu einer Kette aus Dubai. Stammte Nayla auch von dort?«

»Nein, sie stammte aus Jordanien. Vor zwei Jahren kam sie nach Deutschland. Sie studierte an der Frankfurt School of Finance and Management an der Adickesallee. Das ist eine private Wirtschaftsuniversität.«

»Ja, ich weiß. Das Polizeipräsidium liegt ja gleich nebenan. Wie passt das denn zusammen, Escort-Dame und Studentin einer privaten Wirtschaftsuni?«

»Das passt sehr gut zusammen. Unser Kundenkreis beschränkt sich auf höchste internationale Gesellschaftskreise. Diese Leute geben sich nicht mit irgendeiner jungen, hübschen Frau als Begleitung zufrieden. Die haben außergewöhnliche Ansprüche an das Äußere sowie an den Intellekt und das Benehmen einer Dame, mit der sie einen Teil ihrer knapp bemessenen Freizeit verbringen möchten. Nayla entsprach diesen Anforderungen. Sie sprach perfekt Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch. Mit ihr konnte man sich über Außenhandelsbeziehungen zwischen Staaten genauso gut unterhalten wie über Finanzierungsmöglichkeiten von Start-up-Unternehmen oder über die Opernstücke, bei deren Aufführungen sie ihre Kunden begleitete.«

»Wow«, kam es Lena über die Lippen. »Und außerdem sah sie sehr gut aus und war noch ziemlich jung.«

»Das ist unabdingbar«, entgegnete Justine van Bergen kühl.

»Mit wie vielen Frauen in dieser Kategorie pflegen Sie Geschäftsbeziehungen?«

»Solche Frauen sind natürlich rar gesät. Ich bin noch dabei, mein Unternehmen aufzubauen. Frankfurt ist mein erster Standort. Aber ich will auch in anderen Metropolen der Welt aktiv werden. Momentan arbeite ich mit vier Frauen zusammen. Das heißt, jetzt sind es nur noch drei.«

»Sie scheinen nicht gerade um Ihre Geschäftspartnerin zu trauern«, bemerkte Lena mit spitzem Tonfall. Sie konnte ihr Gegenüber nicht einschätzen, und das störte sie. Wie konnte eine so junge Frau eine so abgebrühte Geschäftsfrau in diesem Metier geworden sein? Lena war diese Welt völlig fremd. Als sie noch in ihrem alten Job tätig war, hatte sie viel mit Prostitution und Zuhälterei zu tun gehabt. Aber das hier war eine ganz andere Liga und ein ganz anderer Menschenschlag.

»Wenn ich um Nayla trauere, werde ich das ganz bestimmt nicht vor Ihnen tun«, bekam Lena unterkühlt zu hören.

Lena ging nicht weiter darauf ein. »Hatte Nayla heute einen Termin mit einem Kunden?«, fragte sie stattdessen.

»Für heute Abend war sie gebucht, ja. Ich muss das jetzt auch noch umdisponieren. Ich hoffe, mein Kunde springt nicht ab.«

»Arbeiten Ihre Geschäftspartnerinnen auch auf eigene Rechnung?«

»Nein. Das ist vertraglich untersagt.«

»Ich benötige eine Namensliste der Kunden von Nayla.«

»Das dachte ich mir. Aber die bekommen Sie nicht. Nicht ohne richterlichen Beschluss.«

»Den kann ich besorgen, kein Problem«, erwiderte Lena gereizt. »Einer Ihrer Kunden ist vielleicht ein Mörder. Haben Sie keine Angst, dass er es bei einer Ihrer anderen Geschäftspartnerinnen wieder tun könnte? Von den Damen brauche ich übrigens auch die Namen.«

»Sarah, Helena und Samira«, gab Justine van Bergen nun bereitwillig Auskunft.

»Kennen die Damen sich untereinander?«

»Mehr oder weniger. Nayla war mit Samira gut befreundet. Sie haben beide jordanische Wurzeln. Samira wurde aber in einem palästinensischen Flüchtlingslager geboren. Sie hat eine äußerst interessante Biographie. Helena ist Russland-Deutsche, und Sarah kommt ursprünglich aus einem Kaff in Schleswig-Holstein.«

»Haben Sie die Frauen alle an der Uni rekrutiert?«

»Das ist ein Ansatzpunkt. Letztendlich sollten geeignete Bewerberinnen von bereits aktiven Geschäftspartnerinnen empfohlen werden. Gleich und gleich gesellt sich gern. Auf diese Weise will ich mein Unternehmen ausbauen. Sind Ihre Fragen nun beantwortet? Ich drucke Ihnen noch die Kontaktdaten von meinen Partnerinnen aus.«

»Das ist nett. Ich besorge mir dann umgehend den richterlichen Beschluss zur Herausgabe Ihrer Kundenkartei.«

»Ich werde meine Anwälte entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen lassen. Meine Kunden sind keine Mörder. Sie sind die Elite der Gesellschaft.«

»Das Eine schließt das Andere nicht aus. Gehört Gerold Haferstein zu Ihren Kunden? In seiner Hotelsuite starb Nayla.« Lena entging das leichte Zucken um die Mundwinkel ihrer Gesprächspartnerin nicht.

»Er ist tatsächlich ein Kunde«, gab Justine van Bergen nach einer kurzen Bedenkpause zu. »Aber er hat sich nie mit Nayla getroffen. Nur mit Sarah. Wie kommt Nayla in seine Suite?«

»Das möchte ich herausfinden. Ihre Unterstützung wäre dabei sehr hilfreich.«

»Ich unterstütze Sie, so gut ich kann, falls Sie das noch nicht bemerkt haben. Aber wenn ich heute meine Kundendaten an die Polizei weitergebe, habe ich morgen keine Kunden mehr. Diese Leute können Sie auch nicht so einfach mal besuchen und befragen. Es sei denn, Sie wollen um die ganze Welt jetten. New York, London, Moskau, Paris, Kopenhagen, Den Haag, Dubai, um nur ein paar der Orte zu nennen, an denen meine Kunden sich gerne aufhalten und eine nette Begleitung wünschen. Meine Partnerinnen fliegen zu jedem Ort der Welt, manchmal nur um zwei oder drei Stunden mit einem Kunden zu verbringen. Dass sich dieser Vorfall ausgerechnet in Frankfurt ereignet hat, hat nichts zu heißen. Außer, dass der Täter kaum in meinem Kundenkreis zu finden ist.«

»Das macht es doch eigentlich recht einfach. Ihre Kunden, die heute nachweislich nicht in Deutschland waren, können wir ausschließen. Und Gerold Haferstein haben wir ja schon identifiziert. Was halten Sie von dieser Vorgehensweise?«

»Ich denke darüber nach. Jetzt muss ich mich aber leider um die Arbeit kümmern.«

Ich auch, dachte Lena. Sie würde sich als Nächstes im Präsidium die Videoaufzeichnungen der Hotelkameras anschauen. Auf der Fahrt zum Präsidium ließ sie sich die Gespräche mit Gerold Haferstein und Justine van Bergen noch einmal durch den Kopf gehen. Beide hatten in Lenas Augen merkwürdig auf den brutalen Mord reagiert. So, als wären sie nicht sonderlich überrascht.

*

Siebels hatte einen neuen Auftrag. Vor ihm lag ein Umschlag mit 20.000 Euro. Ob Sabine das besänftigen würde, wenn er ihr beichtete, sein Versprechen nicht eingehalten zu haben? Eher nicht. Aber das Geld war nicht ausschlaggebend für seinen plötzlichen Sinneswandel gewesen. Es war sein Bauchgefühl. Das sagte ihm, dass Till sich beim LKA in Schwierigkeiten befand. Jedenfalls steckte er mittendrin im Fall der toten Frau im Hotel Jumeirah und hatte anscheinend keine Ahnung, dass der Tod der Frau mit einem seiner Kollegen in Verbindung stehen könnte. Wenn diese Samira mehr darüber wusste als Till, dann lief bei dessen Truppe einiges aus dem Ruder. Till würde Rückendeckung brauchen und Siebels wollte sie ihm geben. Mit anderen Argumenten konnte er Sabine seine Entscheidung jedenfalls nicht erklären. Und sich selbst auch nicht. Siebels konnte sich noch keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Samira wollte ihm keine Auskünfte über Naylas Kunden geben. Außer, dass es sich um sehr einflussreiche Männer verschiedener Nationalitäten handelte. Ihr ging es aber nur um diesen Richard. Ob sie ihn für den Mörder ihrer Freundin hielt, konnte Siebels nicht sagen. Aber ein LKA-Kommissar würde kaum einen Mord begehen. Es sei denn, er stand unter enormem Druck und fürchtete um sein eigenes Leben. Siebels setzte sich an den Computer und suchte im Netz nach Treffern über einen Richard vom LKA in Wiesbaden. Aber seine Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Ein Gespräch mit Till erschien ihm da wesentlich erfolgversprechender. Siebels grübelte darüber nach, warum diese junge Frau wirklich bei ihm aufgekreuzt war. Er wandte sich wieder seinem Rechner zu und suchte im Netz nach Informationen zu seiner Auftraggeberin. Samira Mousa. Auch hier stieß er auf keine Treffer, die er ihr zuordnen konnte. Er versuchte es mit dem Namen des Opfers. Nayla Aldahabi. Er scrollte sich durch die Trefferlisten und verwarf fast alle Ergebnisse. Er wollte das Ganze schon wieder aufgeben, als er doch noch auf der Online-Seite einer englischen Frauenzeitschrift landete. Gebannt schaute er auf das Foto. Das musste sie sein. Nayla Aldahabi in einem atemberaubenden, rückenfreien, enganliegendem Kleid auf einer Wohltätigkeitsgala in London. Ihr Name wurde nur einmal am Rande erwähnt. Sie war die Begleitung eines saudischen Prinzen. Prinz Abdul bin Abdaluya hatte einen sechsstelligen Betrag gespendet, der der Sportförderung von jungen Talenten in verarmten Arbeitervierteln dienen sollte. Die Veranstaltung hatte vor drei Monaten stattgefunden.

Siebels durchsuchte das Netz nun nach dem wohltätigen Prinzen. Auch bei ihm war die Trefferquote äußerst mager. Er erfuhr, dass es in der Dynastie der Saud 5000 bis 7000 Prinzen gab, die alle keine Geldprobleme hatten. Nur die wenigsten davon befanden sich in wichtigen Positionen. Naylas Prinz schien eher einer der Unbedeutenden zu sein. Konnte er ihr Mörder sein? Siebels machte sich eine Notiz. Befand sich der Prinz gerade in Deutschland? In Frankfurt? Wenn ja, war er im Hotel Jumeirah abgestiegen? Wollte dieser Richard von Nayla Informationen über Prinz Abdul bin Abdaluya abgreifen? War der Prinz doch bedeutender, als es den Anschein hatte? Siebels fand im Netz nur Randbemerkungen über das Mitglied der saudischen Dynastie. Mal tauchte er auf einer Konferenz auf, in der es um den Klimawandel ging, mal gab er ein Statement zur politischen Entwicklung im Nahen Osten ab, ohne dabei wirklich etwas Konkretes von sich zu geben. Eine offizielle Funktion schien er dabei nicht zu haben. Wie war er an Nayla geraten? Auch diese Frage notierte Siebels auf seinem Zettel. Dann fuhr er den Computer herunter und bereitete sich mental auf die schwierigste Aufgabe vor, die er zunächst zu bewältigen hatte.

Er musste jetzt mit Sabine reden und ihr gestehen, dass er doch wieder einen Auftrag angenommen hatte. Vielleicht war Sabine ja empfänglicher für diese Botschaft, wenn sie erfuhr, dass ein saudischer Prinz in den Fall verwickelt sein könnte. Auf so was standen Frauen ja. Sabine hatte Sohn Denis schon ins Bett gebracht und war davon überzeugt, dass ihr Ehemann in seinem Arbeitszimmer gerade an seiner Steuererklärung arbeitete.

*

Lena Leisig saß am späten Abend noch an ihrem Schreibtisch im Präsidium. Ihr erster Tag bei der Mordkommission wollte kein Ende nehmen. Noch ein paar Wochen, dann würde Steffen Siebels in den aktiven Dienst zurückkehren und mit ihr ein Team bilden. Bis dahin musste sie sehen, wie sie klar kam. Die Kollegen, die zuvor die Mordfälle bearbeitet hatten, waren genauso von der Bildfläche verschwunden wie Siebels und Till davor. Hauptkommissar Paul Lemgo hatte nur in einem Fall ermittelt. Danach hatte er sich mit einer Frau, die seine Tochter hätte sein können, in die Toskana zurückgezogen. Sein Team hatte sich kurz darauf aufgelöst. Julia Forster war schwanger geworden und hatte sich nach der Geburt dazu entschieden, eine längere Auszeit zu nehmen. Samuel König hatte es nicht überwunden, dass er weder der Vater des Kindes seiner Kollegin noch ihr Lebenspartner wurde und hatte sich nach Bremen versetzen lassen. Hauptsache weg von Frankfurt und seinem Arbeitsplatz, der voller Erinnerungen an eine enttäuschte Liebe war. Lena Leisig und Steffen Siebels waren dazu auserkoren worden, die entstandene Lücke zu füllen. Lena, die frischen Wind mitbringen sollte, und Siebels, der alte Hase, der auf ruhmreiche Tage bei der Mordkommission zurückblicken konnte. Aber Siebels würde erst nach den Sommerferien kommen, und deshalb saß Lena nun allein im Büro und betrachtete sich die Videoaufzeichnungen vom Hotel Jumeirah.