Besuch von Drüben - Bouxsein Stefan - E-Book

Besuch von Drüben E-Book

Bouxsein Stefan

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Beschreibung

Sechs Kurzgeschichten, die einen fantasievollen Blick durch die eigentlich undurchdringliche Mauer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits vermitteln. Geschichten über menschliche Schicksale und der Frage nach dem Warum. Geschichten über Begegnungen und Gespräche zwischen den Welten, die zum Nachdenken anregen. Mal traurig und mal heiter. Mit der Frage: Wie geht es weiter?

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Begegnung mit einem Engel
Die Entscheidung
Die letzten fünf Meter
Die Krankenschwester
Rendezvous mit einem Engel
Traumjob – Teil 1
Traumjob - Teil 2
Traumjob - Teil 3

Stefan Bouxsein

Besuch von Drüben

Kurzgeschichten

über Begegnungen

zwischen dem Diesseits und dem Jenseits

Der Autor

Stefan Bouxsein wurde 1969 in Frankfurt/Main geboren. Studium der Verfahrenstechnik und des Wirtschaftsingenieurwesens an der FH Frankfurt. Seit 2006 verlegt er seine Bücher im eigenen Traumwelt Verlag.

Bisher erschienen von Stefan Bouxsein:

Krimi-Reihe mit Siebels und Till:

Das falsche Paradies, 2006

Die verlorene Vergangenheit, 2007

Die böse Begierde, 2008

Die kalte Braut, 2010

Das tödliche Spiel, 2011

Die vergessene Schuld, 2013

Die tödlichen Gedanken, 2014

Die Kronzeugin, 2015

Projekt GALILEI, 2018

Seelensplitterkind, 2021

Der böse Clown (Kurzkrimi), 2014

Außerdem:

Kurz & Blutig (Vier Kurzkrimis), 2015

Humor: Idioten-Reihe mit Hans Bremer:

Der nackte Idiot, 2014

Hotel subKult und die BDSM-Idioten, 2016

Erotischer Roman von Susann Bonnard:

Die schamlose Studentin, 2017

Mein perfekter Liebhaber, 2019

Erfahren Sie mehr über meine Bücher auf:

www.stefan-bouxsein.de

© 2022 by Traumwelt Verlag

Stefan Bouxsein

Johanna-Kirchner-Str. 20 · 60488 Frankfurt/Main

www.traumwelt-verlag.de · [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Nuilani – Design und Kommunikation, Ralf Heller

www.nuilani.de · [email protected]

Titelbild: Adobe Stock

ISBN 978-3-939362-52-4

1. Auflage, 2022

Begegnung mit einem Engel

Wie jedes Jahr an Heiligabend machte ich mich auch an diesem Abend wieder auf den Weg. Selbst der Besuch meiner Tochter, die mich dieses Jahr erstmals mit ihrer eigenen Familie besuchte, konnte mich nicht davon abhalten. Ganz im Gegenteil. Marie war im Sommer Mutter geworden und kurz darauf hatte sie geheiratet. Mein Schwiegersohn Carsten war Bauingenieur und verdiente gutes Geld. Die junge Familie baute gerade ein Haus, circa 200 km von meiner Wohnung entfernt. Die beiden wollten es nicht bei einem Kind belassen. Zwei oder drei sollten es schon sein. Entsprechend großzügig planten sie auch ihr neues Zuhause. Ich war ganz vernarrt in meine Enkelin Johanna. Aber zwei oder drei von der Sorte zu bespaßen, wäre mir wahrscheinlich doch zu anstrengend. Und so hoffte ich insgeheim, dass die beiden sich mit dem nächsten Kind noch etwas Zeit ließen.

Carsten hatte angeboten, mich auf dem Spaziergang zu begleiten. Doch das lehnte ich ab. Dieser alljährliche kleine Ausflug an Heiligabend hinüber zur Brücke war mein jährliches Ritual. Dabei musste ich allein sein. Mein Schwiegersohn war auch ganz froh darüber, draußen wehte ein kalter Wind und es schneite. Nach dem gemeinsamen Essen, ich hatte eine Gans zubereitet und dazu Rotkohl serviert, waren die jungen Eltern müde geworden und hatten es sich auf der Couch bequem gemacht. Johanna schlief friedlich in ihrem Kinderbettchen, das ich extra für solche Gelegenheiten angeschafft hatte.

Ich zog mir Mütze, Schal und Handschuhe an, schlüpfte in die Stiefel und begab mich auf den Weg. Das Schneetreiben wurde heftiger und ein kalter Wind pfiff über die Felder. Mein Haus lag am Rand einer kleinen Ortschaft, außer mir war keine Menschenseele unterwegs. Gemächlichen Schrittes lief ich den Feldweg entlang zu dem Wäldchen hinüber. Es lagen schon einige Zentimeter Schnee auf dem Boden, die Landschaft erstarrte unter der weißen Pracht. Die Zeit schien stillzustehen. Mir kam es fast so vor, als würde die Schneedecke nicht nur die Felder, Wiesen und Straßen bedecken, sondern auch all die Probleme und Sorgen, die mich zeit meines Lebens geprägt hatten. Ich lächelte zufrieden in mich hinein, stapfte durch den Schnee und war in Gedanken mit wohligen Gefühlen bei der kleinen glücklichen Familie, die ich über die Feiertage in meinem Heim beherbergte. Marie war kurz nach dem Abitur von zuhause ausgezogen, um in einer Stadt weit weg von unserem Dorf ein Medizinstudium zu absolvieren. Nun war aus meiner kleinen Tochter eine Ärztin, Ehefrau und Mutter geworden. Sie war glücklich und hatte noch große Pläne.

Auch ich war als junger Mann einmal glücklich und voller Zukunftspläne gewesen. Ich hatte einen guten Job bei einer Versicherungsgesellschaft und war frisch verliebt, bevor mein Leben in kürzester Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war.

Mein Weg führte mich um das kleine Wäldchen herum bis zur Wolfsschlucht. Die Schlucht war schmal und konnte über eine Fußgängerbrücke überquert werden. Wenn man sich auf der Mitte der Brücke befand, ging es fast fünfzig Meter in die Tiefe. Unten lag Felsgeröll in einem ausgetrockneten Flussbett. Ich blieb wie jedes Jahr an diesem symbolträchtigen Abend in der Mitte der Brücke stehen, lehnte mich gegen das Geländer und schaute nach unten in die Dunkelheit.

Als ich vor dreißig Jahren das erste Mal hier stand, war ich fest entschlossen gewesen. Einige Monate zuvor hatte ich zunächst völlig überraschend meinen Job bei der Versicherung verloren. Ich war nicht der Einzige, der einem Sparprogramm zum Opfer fiel, doch für mich war es nur der Anfang einer Serie von Schicksalsschlägen gewesen. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich noch guter Dinge und von mir und meinen Qualitäten völlig überzeugt. Das Leben bestand aus Herausforderungen, denen ich mich stellte. Ich bewarb mich bei mehreren Unternehmen um eine neue Anstellung und wurde zu einigen Vorstellungsgesprächen eingeladen. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis ich mich wieder in Lohn und Brot befand. Natürlich zu einem höheren Lohn als zuvor, da gab es für mich gar keine Zweifel. Die beschlichen mich erst, als nach und nach die Absagen eintrafen. Mein Selbstwertgefühl bekam seine ersten leichten Schrammen. Aber so schnell ließ ich mich nicht unterkriegen. Ich verfügte immerhin über einige Ersparnisse, mit denen ich eine längere Durststrecke überbrücken konnte. Vor allem sah ich es als Kapital an, dass ich für mich arbeiten lassen wollte. So funktionierte schließlich der Kapitalismus. Als gelernter Versicherungskaufmann kannte ich mich in diesen Dingen aus. Ich investierte in Wertpapiere. Zunächst in Aktien, kurz darauf auch in Optionsscheine. Tatsächlich vermehrte sich mein angelegtes Kapital und ich wurde risikofreudiger. Mein kleiner Reichtum wuchs an, obwohl ich keine Arbeit hatte. Die Arbeitssuche avancierte zur Nebensache, stattdessen suchte ich nach immer lukrativeren Anlagemöglichkeiten und fand sie natürlich auch.

Meine Beziehung mit Karin lief derweil sehr harmonisch und ich machte mir ernsthaft Gedanken darüber, bei welcher Gelegenheit ich ihr einen Heiratsantrag unterbreiten sollte. Karin arbeitete als Krankenschwester, wir kannten uns schon drei Jahre und seit einem Jahr wohnten wir zusammen. Während ich über das Heiraten nachdachte, schien Karin aber ganz andere Zukunftspläne zu schmieden. Jedenfalls war sie eines Tages mit Hab und Gut aus unserer Wohnung verschwunden. Zurückgeblieben war nur ein handgeschriebener Zettel, den ich auf dem Küchentisch vorfand. Sie teilte mir mit, wie sehr sie unsere gemeinsame Zeit genossen hatte, sich nun aber von mir zu trennen gedachte und wünschte mir für die Zukunft alles Gute. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, fand überhaupt keine Erklärung für diese neue Wendung in meinem Leben und stellte fest, dass Karin meine verzweifelten Anrufe ignorierte. Ich hatte keine Ahnung, wo sie abgeblieben war, ob sie mit einem anderen durchgebrannt war oder ob ich sonst irgendwas verpasst hatte.

Diese Mischung aus Schmach und Ungewissheit ließ mich des Öfteren zur Flasche greifen.

Der kalte Wind pfiff mir ins Gesicht, während ich auf der Brücke stand und mir wie jedes Jahr an Heiligabend jene Tage meines Lebens durch den Kopf gehen ließ. Diese Frau, die mir damals bei meinem ersten schweren Gang zu dieser Brücke begegnete, sah ich aber nie wieder. Seit dreißig Jahren komme ich nun an diesen Ort zurück, immer um die gleiche Zeit, immer an Heiligabend, immer in der Hoffnung, sie noch einmal zu treffen. Der innige Wunsch, noch einmal mit ihr zu sprechen, war in all der Zeit nicht vergangen. Zu gerne hätte ich ihr davon berichtet, wie meine Tochter Marie herangewachsen war, wie sie sich zu einer jungen Frau entwickelt hat, wie sie ihr Studium gemeistert hatte und Ärztin geworden war. Dass sie nun mit Mann und Kind bei mir zu Besuch war und ich heute Abend als glücklicher Großvater auf dieser Brücke stand. Aber ich blieb auch heute wieder allein auf der Brücke stehen. Ich nahm mir vor, dass dies heute mein letzter Gang an Heiligabend zu diesem Ort gewesen sein sollte. Vielleicht gab es diese Frau gar nicht. Vielleicht war sie nur ein Produkt meiner Fantasie. Ich hatte damals an jenem Abend getrunken. Hatte mir Mut angetrunken. Oder meine Verzweiflung mit Wodka weggespült.

»Springen Sie nicht«, hatte sie gesagt. Ich weiß gar nicht, wo sie so plötzlich hergekommen war. Als ich ihre Stimme hörte, stand sie direkt hinter mir.

»Warum denn nicht?«, fragte ich, ohne mich nach ihr umzudrehen. Vielleicht lallte ich auch. Dann hob ich behäbig das erste Bein auf das Geländer. Ich konnte es kaum erwarten, dieses klägliche Leben endlich hinter mir zu lassen und im freien Fall meinen letzten Atemzug zu tun.

»Sie haben noch Aufgaben vor sich. Die müssen Sie erst erledigen«, hörte ich sie hinter meinem Rücken in aller Seelenruhe sagen.

In meinen Ohren klang das wie blanker Hohn. In weißer Voraussicht hatte ich mir diese einsame Stelle ausgesucht, wo sich an Heiligabend mit Sicherheit keine Menschenseele aufhalten würde, um mich aus diesem Leben zu verabschieden. Und dann tauchte dort aus dem Nichts diese Frau auf und erzählte mir etwas von Aufgaben, die ich noch zu erledigen hätte. Meine einzige noch verbliebene Aufgabe bestand aber darin, von dieser Brücke zu springen.

Nachdem Karin mich verlassen hatte, war neben dem Alkohol noch die Gier zu meinem ständigen Begleiter geworden. Eine Zeitlang ging das auch gut, meine Investitionen erwiesen sich als erfolgreich. Mein Vermögen wuchs, allerdings galt das auch meiner Risikofreude. Mit vernebelten Sinnen, heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das nur an dem Alkoholkonsum lag, nahm ich sogar Kredite auf, um das Maximum an Rendite aus hochriskanten Finanzgeschäften zu kassieren. Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen passierte dann das Unvermeidliche, dass ich mir bis dahin gar nicht vorzustellen vermochte. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich meine Finanzeinlagen verflüchtigt, waren einer Marktbereinigung zum Opfer gefallen oder als zierlicher Goldfisch zwischen die Kiemen eines hungrigen Hais gelangt. Wie auch immer ich es nennen wollte, meine Einlagen existierten nicht mehr. Ein paar mickrige Cents waren übriggeblieben und standen plötzlich einem horrenden Schuldenberg gegenüber. Der nächste Hai umkreiste mich mit furchteinflößenden Zähnen. Ein humorloser Kredithai mit russischen Wurzeln drohte mir mit roher Gewalt, sollte ich das gewährte Darlehen nicht in kürzester Zeit mit dem vereinbarten Wucherzins zurückzahlen. Diesen unangenehmen Zeitgenossen hatte ich bei einem der Bordellbesuche kennen gelernt, die ich gelegentlich unternahm, seitdem ich wieder unfreiwilliger Single war. Ein Ausweg aus dem Dilemma war weit und breit nicht in Sicht gewesen, mit Ausnahme dieser Brücke.

Jetzt stand ich dreißig Jahre später wieder an dieser Stelle und wundere mich seither, wer diese merkwürdige Frau gewesen war, dir mir etwas von Aufgaben erzählte, die ich noch zu erledigen hätte. Bis heute habe ich keinen Menschen in dieses seltsame Zusammentreffen eingeweiht. Bis heute weiß auch niemand, in welch hoffnungsloser Situation ich mich damals befand. Nicht einmal meine Tochter, die ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte.

»Irgendwann werden Sie wieder hier stehen und froh darüber sein, dass Sie nicht gesprungen sind«, ließ die Frau mich mit überzeugter und fürsorglicher Stimme wissen. Wie verdammt recht sie damit doch hatte. Und wie verdammt gerne ich ihr das ins Gesicht sagen würde. Der Klang ihrer Stimme ließ mich damals innehalten. Ihre Worte ergaben überhaupt keinen Sinn, aber auf eine unerklärliche Weise kehrte wieder ein Hauch Lebensmut in mich zurück. Ich stieg von dem Geländer und drehte mich zu ihr. Sie lächelte mich an. Etwas unbeholfen erwiderte ich ihr Lächeln. Sie war etwa in dem Alter, in dem ich heute bin. Wahrscheinlich lebte sie schon lange nicht mehr und ich hoffte all die Jahre vergebens auf ein Wiedersehen.