Die verschwiegenen Jahre - Cathy Gohlke - E-Book

Die verschwiegenen Jahre E-Book

Cathy Gohlke

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Beschreibung

Ihr ganzes Leben lang sehnt sich Hannah Sterling nach einer engen Beziehung zu ihrer distanzierten Mutter Liselotte. Als diese stirbt, hinterlässt sie Briefe, die Hannah stutzig machen. Wer war ihre Mutter wirklich? Auf zwei Zeitebenen entfalten sich die Ereignisse der Vergangenheit. Zutiefst erschüttert muss Hannah schließlich entscheiden, wie sie mit der dunklen Geschichte ihrer Familie umgeht und wie dieses Erbe ihre Zukunft prägen wird. Ein zutiefst bewegender Roman über das Loslösen von Schuld und die befreiende Kunst des Vergebens.

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicherBücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Das vorliegende Buch ist ein historischer Roman, der natürlich auch vor einergewissen historischen Kulisse spielt. Die auftretenden Personen entstammenjedoch der Fantasie des Autors, und jedwede Ähnlichkeit mit lebendenoder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

ISBN 978-3-7751-7597-5 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6147-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2023SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English in the U.S.A. under the title:Secrets She Kept by Cathy GohlkeCopyright © 2015 by Cathy GohlkeGerman edition by SCM Verlagsgruppe GmbH with permission of Tyndale HousePublishers, a division of Tyndale House Ministries. All rights reserved.

Die Bibelverse sind folgenden Ausgaben entnommen:Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, StuttgartNeues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.Übersetzung: Renate HübschLektorat: Heide MüllerUmschlaggestaltung: Stephan Schulze, StuttgartTitelbild: Komposition: Taschenuhr - unsplash und Frau - Elisabeth Ansley / ArcangelSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für Daniel,

meinen geliebten Sohn und Geschichtsforscher an meiner Seite.Wie schön, die Welt mit deinen Augen zu sehen.Meine ganze Liebe gehört dir … immer.

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Stimmen zum Buch

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Kapitel zweiundvierzig

Kapitel dreiundvierzig

Nachwort

Dank

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CATHY GOHLKES Romane stecken voller inspirierender Botschaften und viele von ihnen haben Preise gewonnen. Wenn sie nicht auf Reisen ist, um für ihre Bücher zu recherchieren, verbringt sie gerne Zeit mit ihrer Familie in den USA: ihrem Mann, ihren erwachsenen Kindern, Enkelkindern und ihrem Hund Reilly.

www.cathygohlke.com

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

Wovon sie niezu sprechen wagte …

Ihr ganzes Leben lang sehnt sich Hannah Sterling nach einer engen Beziehung zu ihrer distanzierten Mutter. Als diese stirbt, hinterlässt sie Briefe, die Hannah stutzig machen. Wer war ihre Mutter wirklich?

Auf zwei Zeitebenen entfalten sich die Ereignisse der Vergangenheit. Zutiefst erschüttert muss Hannah schließlich entscheiden, wie sie mit der dunklen Geschichte ihrer Familie umgeht und wie dieses Erbe ihre Zukunft prägen wird.

Ein bewegender Roman über das Loslösen von Schuld und die befreiende Kraft des Vergebens.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

»Dieses Buch ist ein Pageturner in ganz großem Stil. Cathy Gohlke ist eine Meisterin ihres Fachs.«

FRANCINE RIVERS, Bestsellerautorin

»Cathy Gohlke verwebt die zeitlosen Themen Vergebung und Erlösung vor dem Hintergrund des Holocaust miteinander. Sie zeichnet ein Bild des Glaubens, das tief bewegt und reich an Hoffnung ist. Ich war noch lange nach der letzten Seite atemlos.«

KRISTY CAMBRON, Bestsellerautorin

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel eins

HANNAH STERLINGNOVEMBER 1972

Eine Vorladung zum Rektor hatte auf mich mit siebenundzwanzig Jahren immer noch die gleiche Wirkung wie mit sieben oder siebzehn. Riesige Basstrommeln dröhnten in meinem Inneren. Klirrende Becken ließen mein Herz rasen – alles so laut und außer Takt wie bei den Proben unserer Highschool-Band für die Weihnachtsparade.

Ich hatte gerade meine Tasche mit den Aufsätzen gepackt, die ich über das Thanksgiving-Wochenende bei Tante Lavinia korrigieren wollte, und war schon fast im Aufbruch begriffen, als der knisternde Lautsprecher verkündete, ich solle mich im Büro des Schulleiters melden.

Die Busse fuhren vom Schulparkplatz ab, die Wanduhr zeigte schon nach vier, und die Schulsekretärin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Endlich öffnete sich die Tür des Schulleiters. Heraus schritt die grimmig dreinblickende Mutter von Trudi Whitmeyer, der Zehntklässlerin, die ich zuletzt mit meiner aufbrausenden Art und ein paar sarkastischen Bemerkungen abgekanzelt hatte und bei der mir das besonders leidtat. Mrs Whitmeyer rauschte an mir vorbei, ohne meinem Versuch eines Lächelns Beachtung zu schenken. Ich schluckte schwer.

»Miss Sterling, kommen Sie herein.« Ich kam mir ganz klein vor, als ich an dem eins neunzig großen, breitschultrigen Mr Stone vorbei durch die Tür trat. »Nehmen Sie Platz.«

Erwachsene Frauen sollten sich nicht von Schulleitern einschüchtern lassen … Erwachsene Frauen sollten sich nicht von Schulleitern einschüchtern lassen … Erwachsene Frauen sollten …

»Sie haben gerade Mrs Whitmeyer gesehen.«

»Ja. Mr Stone, ich möchte mich entschuldigen …«

»Trudi ist nicht die Erste.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante, einen Meter von mir entfernt, die Arme verschränkt. »Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Sie haben mir versichert, Sie würden es in den Griff bekommen. So geht es nicht, Hannah.«

Wenigstens nennt er mich noch Hannah. »Es tut mir leid, Mr Stone. Ich weiß, ich hätte Trudi nicht so anfahren sollen …«

»Und Susan Perry oder Mark Granger auch nicht – alles Schüler aus dem College-Förderprogramm, die bisher noch nie wegen mangelnder Disziplin aufgefallen sind. Und das allein in dieser Woche – heute ist erst Mittwoch.«

»Ich weiß«, räumte ich ein.

»Wenn es einmal passiert wäre, würde ich sagen, vergessen wir’s. Aber dieses Bloßstellen ist bei Ihnen zu einer hässlichen Angewohnheit geworden, die nicht gut für die Schüler ist – weder für die Betroffenen noch für die, die es mitansehen müssen. Ich weiß nicht, was da los ist, aber das muss aufhören.«

Ich biss mir auf die Lippe. Ich werde wie meine Mutter – und das ist das Letzte, was mir auf Gottes schöner Erde passieren soll. »Es tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es.«

»Ich bezweifle, dass Sie dieses Versprechen halten können.«

»Doch, das kann ich. I…«

»Hannah, Schluss damit.« Er ging um den Schreibtisch herum und setzte sich, dann lehnte er sich zurück, offenbar in Gedanken. »Letztes Jahr wurden Sie zur innovativsten Lehrerin von Forsyth County gewählt.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Das … das hat mir sehr viel bedeutet – wirklich.« Ich hatte den Kindern und den Eltern mein Herz geöffnet, und sie hatten es erwidert. Damals hatte ich mich gewollt und geschätzt gefühlt.

»Ich weiß«, sagte er nun freundlicher. »Es hat uns allen viel bedeutet. Aber Sie müssen doch sehen, dass sich inzwischen etwas verändert hat.«

»Ich werde es in den Griff kriegen«, versprach ich, bemüht, Selbstvertrauen zu demonstrieren, das ich nicht hatte. »Bis Montag …«

»Nicht bis Montag. Lassen Sie sich etwas Zeit.«

»Ich brauche keine Zeit. Ich will keine Zeit.« Die Trommeln in meinem Magen begannen wieder zu dröhnen.

»Ihre Mutter ist erst kürzlich verstorben, und Sie haben bereits einen Tag danach wieder vor der Klasse gestanden.«

»Die Beerdigung war erst am Wochenende. Ich brauchte nicht …«

»Jeder braucht Zeit, wenn er seine Mutter verliert.«

Wie kann ich eine Mutter verlieren, die ich nie hatte? »Wir hatten kein enges Verhältnis.« Wie oft musste ich das noch erklären?

»Sie haben das noch nicht verkraftet.«

»Ich möchte nicht …«

»Hannah, gehen Sie nach Hause und nehmen Sie sich Zeit, um wieder zu sich selbst zu finden«, fiel er mir ins Wort. »Trauern Sie. Trauer ist nichts, wofür Sie sich schämen müssten. Es dauert, bis Sie den Verlust verarbeitet haben und wieder nach vorne schauen können. Das Leben geht weiter – aber anders als zuvor.«

Ich trauere nicht, weil sie gestorben ist. Wenn ich überhaupt etwas betrauere, dann das, was nie war – was jetzt nicht mehr zu ändern ist, was sich auch nicht geändert hätte, wenn ihr noch fünfzig Jahre geblieben wären.

»Ich werde für eine längerfristige Vertretung sorgen.«

»Eine längerfristige … Nein, bitte, Mr Stone, bis Montag geht es schon wieder.«

»Nein. Nehmen Sie sich eine Auszeit bis Anfang nächsten Jahres. Dann melden Sie sich bei mir und wir reden noch einmal darüber.«

»Bis Anfang des Jahres?« Die Becken schepperten und fielen zu Boden, drei Sekunden, bevor ich zunehmend verzweifelt widersprach: »Ich brauche keinen Monat …«

»Ich weiß nicht, was Sie brauchen, Hannah, aber finden Sie es heraus. Und wenn Sie so weit sind – wenn Sie Hannah Sterling wiedergefunden haben, die begabte Lehrerin, die letztes Jahr hier unterrichtet hat –, dann werden wir froh sein, Sie wieder hier zu haben.«

Es war schon weit nach Mitternacht, als Tante Lavinia den Teekessel zum dritten Mal aufsetzte und mir ihre in dunklem Orange und erdbraun gehaltene Lieblingsdecke um die Schultern legte. »Vielleicht hat er recht. Vielleicht brauchst du wirklich eine Auszeit. Das heißt aber nicht, dass du sie hier nehmen musst, Liebes. Ein Tapetenwechsel – eine Reise, ein neuer Blick auf die Dinge –würde dir bestimmt guttun.«

»Ein neuer Blick auf die Dinge.« Ich zog die Decke enger um mich und kämpfte gegen meine wachsende Gereiztheit an. »Wie kann ich etwas Neues sehen, wenn ich meine Vergangenheit nicht durchschauen kann?«

»Da gibt es nichts zu durchschauen. Deine Mutter ist tot. Sie hat dein – und Joes – Leben zu einem Trauerspiel gemacht. Seit du laufen konntest, hast du dich bemüht, ihr zu gefallen, aber es war nie genug. Lass sie gehen, Hannah, und geh du deinen Weg weiter. Lass nicht zu, dass ihre Dämonen dein Leben zerstören.«

»Daddy hat immer gesagt, es war der Krieg. Irgendetwas ist ihr und ihrer Familie in diesem Krieg passiert. Aber er hat mir nie gesagt, was.«

»Wer weiß, ob er es überhaupt wusste.«

»Er hat sie in Deutschland geheiratet. Er muss etwas gewusst haben.«

Tante Lavinias Miene verhärtete sich, wie immer, wenn sie über Mama sprach.

»Du warst seine Lieblingsschwester«, sagte ich vorwurfsvoll. »Wenn er es jemandem erzählt hätte, dann …«

»Es mag dich überraschen, meine Liebe, aber er hat mir auch nicht alles anvertraut. Ich bezweifle, dass er selbst alles über die Vergangenheit deiner Mutter wusste. Mir hat sie jedenfalls nichts erzählt.« Sie goss das kochende Wasser über frische Teebeutel. »Ward Beecham versucht immer noch, mit dir Kontakt aufzunehmen. Du hättest ihn nicht zurückgerufen, sagt er. Er muss das Testament verlesen, weißt du.«

»Du lenkst vom Thema ab.«

Sie hob die Brauen.

»Ich weiß. Ich rufe ihn schon noch an. Nach der Beerdigung konnte ich einfach nicht hierbleiben. Und ich weiß ohnehin schon, was drinsteht. Es gibt nichts außer dem Haus und dem Grundstück.«

»Trotzdem musst du hin zu ihm. Er ist verpflichtet, die Dinge abzuschließen. Vorher kannst du das Haus auch nicht verkaufen.«

»Nächste Woche.«

»Warum deine Mutter ihn und nicht Red Skylar genommen hat, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Reds Familie gehört seit Urzeiten nach Spring Mountain.«

»Sie hat wohl bewusst mit der Tradition gebrochen. Oder sie wollte keinen Anwalt, der so erpicht darauf ist, die Angelegenheiten seiner Mandanten auszuposaunen.«

Tante Lavinia ignorierte mich. »Habe ich dir schon erzählt, dass Ernest Ford sich bereit erklärt hat, das Haus auf mehreren Plattformen anzubieten? Er sagt, er könnte es vielleicht sogar verkaufen, ohne dass du noch was dran machst. Aber ausräumen wirst du es müssen. Ich habe mit Clyde darüber gesprochen. Er hat gerade keine Arbeit. Wenn du ihm den Hausrat überlässt, damit er ihn verkaufen kann, würde das die Kosten für seine Arbeitszeit abdecken. Viel Wertvolles gibt es dort nicht.«

»Ich will sowieso nichts.«

Sie schob mir das Milchkännchen herüber. »Soll ich es mit Clyde absprechen? Das ist der schnellste Weg.«

»Mach das.« Wir erschraken beide, als mir der Löffel aus der Hand fiel und mit einem Klirren auf der Untertasse landete.

»Wir können es ihm morgen beim Abendessen sagen. Er hat keine Familie, also habe ich ihn und Norma eingeladen. Es macht dir doch nichts aus, oder?«

»Natürlich nicht, solange sie mich nicht fragen, wie es mir seit Mamas Tod geht oder wie es mit meiner Arbeit läuft oder irgendwas Persönliches.« Tante Lavinia lud an Feiertagen regelmäßig ihre beste Freundin Norma Mosely und die Hälfte der alleinstehenden Mitglieder ihrer Kirchengemeinde zum Essen ein. Bis morgen würden es mindestens noch sieben Leute mehr sein. Daran konnte ich nichts ändern, aber es musste mir auch nicht gefallen.

Tante Lavinia ging nicht auf meinen Sarkasmus ein. »Ich glaube, Clyde ist ein bisschen in dich verliebt.«

»Das hast du mir schon erzählt, als ich zehn war.«

»Es stimmt immer noch. Viel Ermutigung bräuchte es nicht von deiner Seite, um dieses Feuer anzufachen.«

Ich verdrehte die Augen. »Bitte, Tante Lavinia.«

Tante Lavinia riss mir die Teetasse aus den Fingern. »Du gehst jetzt besser ins Bett. Ich möchte mein gutes Porzellan gern heil behalten, und um halb sechs habe ich ein Date mit einem Truthahn.«

Ich hatte den Aufziehwecker in einer Kommodenschublade zwischen der Bettwäsche versteckt, damit ich ihn nicht ticken hörte, aber damit war er auch völlig nutzlos. Doch der Duft des mit Rosmarin gefüllten Truthahns im Ofen und der in Zimt und Nelken köchelnden Cranberrys und Äpfel stieg die Treppe herauf, kitzelte meine Nase unter einem Berg von Decken und zog meine Füße auf den Bettvorleger. Ich hätte schon vor zwei Stunden unten sein und helfen sollen.

Die hintere Verandatür schlug zu, die Küchentür öffnete sich, und ein »Huhu!« schallte durchs Haus. Norma, mit drei Pasteten und einer Obstterrine. Tante Lavinia wird mich nicht vermissen.

Trotzdem frisierte und schminkte ich mich im Eiltempo, schloss den Reißverschluss meines grauen Lieblingswollrocks, zog einen rosafarbenen Strickpullover über und legte die Perlenkette an, die Daddy mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte – das einzige Erinnerungsstück, das ich behalten hatte. Tante Lavinia war der Meinung, dass man sich für das Thanksgiving-Dinner gut anziehen sollte. Das war eines der Dinge, über die ich als Kind immer gestöhnt hatte, die ich aber insgeheim zu schätzen wusste. Es machte den Tag zu etwas Besonderem.

Früher spionierte ich auch zu gern meiner Tante nach, wenn sie mich bei sich übernachten ließ. Immer, wenn zu Hause dicke Luft herrschte, es zu laut oder zu still wurde, bot mir Tante Lavinia Zuflucht. Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als ich entdeckte, dass ich durch die grob ausgeschnittene runde Öffnung im Fußboden spähen konnte, durch die das schwarze Ofenrohr zum Dach führte. Es heizte das Schlafzimmer im Obergeschoss gerade genug, um die Eiszapfen in Schach zu halten. Wenn ich den richtigen Winkel traf, konnte ich Tante Lavinia bei der Arbeit in der Küche beobachten und mehr als nur meinen Teil an Klatsch und Tratsch mitbekommen.

Mit siebenundzwanzig aber war ich zum Lauschen eindeutig zu alt. Ich wollte mich gerade zurückziehen, als Norma unten zischte: »Warum sagst du es ihr nicht? Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.« Augenblicklich spitzte ich die Ohren. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und blinzelte, bis ich Tante Lavinia sah, die abwinkte und versuchte, ihre Freundin zum Schweigen zu bringen. Aber Norma protestierte: »Sie hört mich doch nicht, schließlich ist sie noch nicht einmal aufgestanden. Ich sage ja nur …«

»Ich weiß, was du sagst, aber es würde ihr nur noch mehr Kummer machen. Sie hat das kalte Herz dieser Frau ein Leben lang zu spüren bekommen. Egal, wie schlimm es zwischen Joe und Lieselotte war, er hat seine Familie gut versorgt und war ein guter Vater; ich werde ihn jetzt nicht bloßstellen.«

»Er ist seit elf Jahren tot. Du kannst ihn gar nicht bloßstellen – du kannst ihm nur die gebührende Anerkennung zollen. Ich kenne keinen anderen Mann, der so etwas für diese Frau getan hätte.«

»Es würde Hannah das Herz brechen. Ich werde es nicht tun.«

»Was ist, wenn sie etwas findet, was sie stutzig macht? Es muss doch etwas aus Lieselottes Vergangenheit geben.« Norma faltete ein Geschirrtuch auf und nahm einen Topf aus dem Abtropfbecken. »Das könnte ein ganz neues Fass aufmachen, und wenn sie herausfindet, dass du es wusstest und ihr nichts gesagt hast …«

»Clyde Dillard wird das Haus ausräumen und alles verbrennen, was er nicht verkaufen kann. Und dann ist Schluss mit der ganzen Geschichte.«

»Sie sieht die Dinge nicht mal selbst durch? Interessiert es sie denn gar nicht?« Norma schnaubte. »Ich weiß nicht. Das erscheint mir zu riskant. Sie braucht doch nur zwei und zwei zusammenzuzählen.«

Dreizehn Personen drängten sich um Tante Lavinias Tisch, der für acht Personen gedacht war. Trotz des fröhlichen Geplänkels rührte ich ihr üppiges Thanksgiving-Menü kaum an. Norma stichelte, ob es mir wohl den Appetit verschlagen habe. Ich warf ihr nur einen mürrischen Blick zu und biss mir auf die Zunge. Sie errötete und wandte sich ab. Ich wollte nicht zugeben, dass ich gelauscht hatte, konnte aber auch nicht so tun, als ob das, was sie gesagt hatten, mir gleichgültig wäre.

Nach dem Essen schnitt Tante Lavinia die Kürbiskuchen, ich portionierte die Apfel-Hackfleisch-Pastete. Clyde holte zwei Packungen Vanilleeis aus dem Gefrierschrank und Norma trug Tabletts ins Esszimmer.

»So viel habe ich seit dem letzten Thanksgiving an Ihrem Tisch nicht mehr gegessen, Mrs Mayfield.« Clyde häufte Vanilleeis auf die zu groß geratenen Kuchenstücke. »Ich danke Ihnen sehr für das köstliche Menü.«

»Wir sind froh, dass wir Sie haben, Clyde. Sie und Ihre helfende Hand, nicht zuletzt beim Eisverteilen.«

»Ja, Ma’am. Und gleich morgen früh mache ich mich dran, das Haus auszuräumen. Ich weiß, Sie wollen es noch vor Weihnachten inserieren.« Er blickte mich an, das Gesicht so rot wie das Preiselbeer-Chutney.

»Wunderbar.« Tante Lavinia klopfte ihm auf die Schulter. »Je früher, desto besser.«

»Was das angeht …« Ich wischte meine von der Pastete klebrigen Finger an einem Geschirrtuch ab. »Warten wir mit dem Ausräumen lieber noch ein bisschen. Ich möchte mir das erst noch einmal überlegen.«

Tante Lavinia erstarrte. Aus den Augenwinkeln sah ich Normas Seitenblick, als sie das leere Kuchentablett abstellte.

»Aber, Liebes, das haben wir doch gestern Abend geklärt. Clyde hat gerade eine Zeit lang frei. Und stell dir vor, wenn du das Haus vor Ende des Jahres verkaufen könntest, hättest du das ganze Geld und könntest damit tun, was du willst. Es gibt keinen Grund zu warten.« Tante Lavinia klang ein wenig zu fröhlich.

»Du meinst, falls die Schule mich nicht weiter beschäftigt?«

»So habe ich das nicht gemeint. Natürlich werden sie dich wieder nehmen. Sie sind froh, dich zu haben. Aber, Hannah, Schatz, du willst das alte Haus doch nicht. Es ist das Beste, wenn du es aufgibst.«

»Das Beste für wen? Für dich? Für mich? Für meine toten Eltern?«

Tante Lavinia stieg die Röte ins Gesicht und sie warf Clyde, der unsicher zwischen uns beiden hin und her blickte, ein nervöses Lächeln zu.

Meine Tante hatte das nicht verdient, so gut, wie sie mein ganzes Leben lang zu mir gewesen war. Aber ich konnte mich nicht von dem Gedanken befreien, dass sie etwas über Mama und Daddy wusste und es mir nicht gesagt hatte – etwas, das sogar Norma wusste und für wichtig hielt. Wenn es irgendetwas in meinem Elternhaus gab, das mir helfen konnte, mich mit meiner toten Mutter zu versöhnen oder sie zumindest zu verstehen und dann meinen Weg weiterzugehen, dann wäre das jede Peinlichkeit wert.

Ich nahm Normas zweites Tablett und machte mich auf den Weg ins Esszimmer. »Es ist mir lieber, das Haus erst einmal allein durchzusehen, Clyde. Ich lasse Sie dann bald wissen, was ich mit dem Hausrat machen will – aber nicht schon morgen.«

Als die Gäste gegangen und wir mit dem Abwasch fertig waren, verstaute Tante Lavinia den sauberen Truthahnbräter fürs nächste Jahr hinten in der Speisekammer. Dann stellte sie mich zur Rede. »Ich verstehe dich nicht. Du wolltest mit diesem alten Haus nichts mehr zu tun haben. Nach der Highschool konntest du es kaum erwarten, auszuziehen, und im letzten Sommer bist du nur widerwillig zurückgekommen, um deine Mutter zu pflegen. Hast du das vergessen?«

»Direkt nachdem sie gestorben war – dort oben in ihrem Zimmer –, da wollte ich von dem Haus nichts mehr wissen.« Ich breitete das vierte nasse Geschirrtuch zum Trocknen auf dem Ständer aus. »Ich konnte nicht mehr zurück. Aber jetzt, bevor ich es für immer aufgebe, denke ich, dass ich Dinge durchsehen sollte – Dinge, die Mama mich nie sehen ließ. Wer weiß, was ich finde.«

»In diesem alten Haus herumzukramen, wird dich nur unglücklich machen.«

Konnte Tante Lavinia nicht verstehen, dass ich Mama brauchte – auch wenn sie mich nicht gebraucht, vielleicht nicht einmal gewollt hatte? »Du klingst wie die Großmutter in deiner Lieblingsserie.«

»Ich hatte alles organisiert – worum du mich gebeten hattest, wenn ich dich daran erinnern darf. Du …«

»Ich brauche noch ein bisschen Zeit, Tante Lavinia. Meine Karriere als Lehrerin ist vorbei, wenn ich nicht die Kurve kriege. Und ich kann meine Zukunft nicht gestalten, wenn ich die Sache mit Mama nicht ein für alle Mal kläre. Von zu Hause wegzugehen, das hat nichts gelöst. Dass ich letzten Sommer zurückkam, um sie zu pflegen, hat unsere jahrelange Misere nicht aus der Welt geschafft. Sie hat die ganze Zeit über kaum mit mir gesprochen, nur irgendwelches zusammenhangloses Zeug gemurmelt, das ihr durch den Kopf ging. Alles total verworren, es klang, als würde sie mit jemandem kämpfen, und manchmal hat sie geflüstert und gefleht, dass etwas nicht passieren möge. Einmal schrie sie, und ich hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte. Es ergab absolut keinen Sinn, zumindest passte es nicht zu dem, was ich bisher über sie wusste. Aber das war es ja. Ich habe sie nie gekannt, nicht wirklich gekannt. Ihre Sachen durchzusehen ist das Einzige, was ich noch nicht versucht habe. Ich werde vorerst in dem Haus wohnen – allein.«

»Bitte tu dir das nicht an. Lass Gott diese Tür schließen.«

»Gott hat die Tür nie geöffnet, Tante Lavinia. Ich wüsste nicht, welchen Grund er hätte, sie zu schließen.«

»Lass es gut sein, Hannah. Du willst doch nicht Dinge ausgraben, die dich verletzen könnten.«

»Was denn, glaubst du neuerdings an Geister?«

»Es gibt solche und solche Geister.« Sie schaute mich über den Rand ihrer Brille hinweg an.

»Was soll das heißen?«

»Es soll heißen: Lass die Vergangenheit ruhen. Was du nicht weißt, kann dich nicht in seinen Bann ziehen.«

»Dann sag es mir. Worüber hast du heute Morgen mit Norma geredet – ›nur zwei und zwei zusammenzählen‹ oder was auch immer?«

Tante Lavinia wurde blass und erstarrte im selben Moment. »Lauschst du immer noch an Schlüssellöchern?«, witzelte sie. »Ich hätte gedacht, da wärst du rausgewachsen.«

Ich sah sie durchdringend an, bis sie den Blick abwandte.

Tante Lavinia band ihre schmutzige Küchenschürze ab und warf sie in die Waschmaschine, dann stemmte sie die Fäuste in die Hüften. »Ich gebe zu, dass ich nicht immer so nett zu deiner Mutter war, wie ich es hätte sein können – oder sollen. Aber sie hat dich und deinen Daddy von Anfang an nicht gut behandelt. Joe würde dir sagen, dass du keine schlafenden Hunde wecken und dich lieber um dein eigenes Leben kümmern sollst. Selbst Lieselotte hätte das gewollt.«

»Was habt ihr gemeint mit ›zwei und zwei zusammenzählen‹?«

Aber Tante Lavinia schloss einfach die Augen, hob abwehrend die Hände und ging zur Tür.

»Warum sind sie überhaupt hierher auf den Berg gezogen?«

Sie hielt inne, schüttelte den Kopf, als hätte ich eine lästige Frage gestellt, drehte sich aber doch zu mir um. »Du weißt ja, Henry und ich sind hierhergezogen, weil seine Familie hier lebte. Was du wahrscheinlich nicht weißt, ist, dass er sich in Oklahoma zum Militär gemeldet hatte, weil er dort aufs College gehen wollte. Deshalb landeten er und Joe in derselben Einheit, als der Krieg begann. Henry und ich haben uns durch Joe kennengelernt – aber das weißt du ja. Als Joe aus Deutschland zurückkam, gab es für ihn einfach keinen Grund mehr, in Oklahoma zu bleiben.«

»Aber deine ganze Familie war dort – und die von Daddy. Ich habe nie verstanden, warum Mama und Daddy euch hierher gefolgt sind.«

Tante Lavinia wollte mir nicht in die Augen sehen. »Joe und ich sind immer gut miteinander ausgekommen – wir standen uns so nah, wie es unter Geschwistern nur möglich ist. Und ich glaube, er dachte, dass deine Mutter hier eher akzeptiert werden würde als da draußen, wo so viele Familien einen Sohn oder Bruder verloren haben.«

»Warum hätte man Mama in Oklahoma nicht akzeptieren sollen?«

Tante Lavinia seufzte erneut, dieses Mal verärgert. »Der Krieg hat die Einstellung der Menschen zu Ausländern und den Umgang mit ihnen verändert. Der Krieg hat alles verändert.«

»Ich weiß von den amerikanischen Internierungslagern während des Krieges. Aber der Krieg war schon vorbei, als sie hierherkam, und sie war ja keine Deutsche oder Japanerin. Sie war Österreicherin. Die waren Opfer des Krieges – Menschen, für deren Befreiung wir gekämpft haben.«

»Das hat sie gesagt.«

»Was? Meinst du, Mama war keine Österreicherin? Komm schon, Tante Lavinia. Sie hätte keinen Grund gehabt, in dieser Hinsicht zu lügen. Und österreichisch klang sie allemal.«

Aber Tante Lavinia hatte sich wieder umgedreht und steuerte den Flur entlang auf ihren Lieblingssessel am Kamin zu.

»Hier geht es nicht um mich.« Sie zog ihre Schuhe aus, rieb sich die Fußrücken und hob die Füße auf den Fußschemel. »Es war eine andere Zeit, und du bist zu jung, um das zu verstehen.« Sie massierte ihre Schläfen, als wolle sie einen Schmerz lindern, der sich dort festgesetzt hatte. »Schlafende Hunde soll man nicht wecken, Hannah. Mehr will ich dazu nicht sagen.«

»Aber was ist, wenn ich etwas finde, was mir Aufschluss darüber gibt, wer meine Mutter war – ich meine, wer sie wirklich war?«

»Ich glaube nicht, dass irgendetwas oder irgendjemand diese Frau erklären könnte.«

»Niemand wird so verschlossen geboren, Tante Lavinia. Ich muss wissen, ob das einfach ihr Wesen war, so abweisend zu sein, oder ob ihr etwas zugestoßen ist … oder ob es an mir lag.« Dieses Geständnis kostete mich alles, obwohl ich mich abwandte und mit der Sofadecke herumhantierte, damit Tante Lavinia mein Gesicht nicht sehen konnte.

»Du kannst nichts dafür, Liebes.« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist, wenn du herausfindest, dass es an etwas lag, was sie getan hat? Etwas, was sie nicht wiedergutmachen konnte – und du genauso wenig? Im Krieg sind viele schlimme Dinge passiert. Man weiß es einfach nicht. Außerdem war sie ein Mensch, der sich selbst nicht lieben konnte. Wie sollte sie da einen anderen Menschen lieben?«

Ich ließ mich aufs Sofa fallen, schwang meine Beine hoch und streckte mich aus. »Sie hat Daddy nie geliebt, das steht fest. Und ich fand das einfach furchtbar – für beide. Ich glaube, ein Teil von ihm wollte sie lieben, aber es gelang ihm nicht so richtig. Zu mir konnte er sanft sein, zu ihr war er furchtbar hart. Aber sie muss ja irgendwann mal etwas für ihn empfunden haben. Sie haben geheiratet. Sie haben mich bekommen.« Ich konnte die Hoffnung nicht aus meiner Stimme verbannen und meinen Blick nicht von Tante Lavinias Gesicht lösen, nur für den Fall, dass sie etwas wusste, irgendetwas.

Aber sie schloss die Augen und wandte sich ab. »Ich glaube nicht, dass deine Mutter jemals irgendeinen anderen Menschen geliebt hat.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel zwei

LIESELOTTE SOMMERNOVEMBER 1938

Ich hatte Lukas Kirchmann schon mein ganzes Leben lang geliebt – seit ich atmen, oder spätestens seit ich mit den Wimpern klimpern konnte. Lukas war der Freund meines älteren Bruders – beide waren zwei Jahre älter als ich. Aber Lukas war anders als Rudi. Er nahm sich die Zeit, mit mir zu reden, er lächelte mich an, er fragte mich, wie meine Puppen hießen, wenn ich mit meinem Puppengeschirr den Kaffeetisch für sie deckte, und er sagte, seine Mutter und seine Schwester gingen auch gern mal zu einem Kaffeekränzchen.

Als ich alt genug war, um in die Schule zu gehen, ignorierte Rudi Muttis Anweisung, an meiner Seite zu bleiben, und musste unbedingt vorauslaufen. Aber Lukas ließ es sich nicht nehmen, einen Schritt zurückzufallen und mich und seine Schwester Marta im Blick zu behalten. Mit zwei größeren Jungs als Schutzpatrouille wagte es niemand, uns zu ärgern oder zu belästigen. In all den Jahren erlebte ich nie, dass Lukas vor irgendjemandem Angst gezeigt hätte. Bis zur Kristallnacht, der Nacht der zerbrochenen Scheiben.

Ich war gerade dreizehn geworden und spielte schon längst nicht mehr mit Puppen. Mein Vater hatte mich ermahnt, an diesem Abend zu Hause zu bleiben und die Tür verschlossen zu halten, egal, was ich durchs Fenster hören oder sehen würde. Er und Rudi – Rudi voller Stolz in seiner Hitlerjugenduniform – würden spät heimkommen. Unsere Haushälterin war schon längst nach Hause gegangen, und Mutti lag natürlich oben und schlief tief und fest, nachdem sie Laudanum-Tropfen gegen ihre Schmerzen genommen hatte.

Ich hatte meine Hausaufgaben erledigt und das Geschirr gespült. Es war schon halb elf, als ich das tropfnasse Geschirrtuch zum Trocknen aufhängte. Noch immer kein Zeichen von Rudi und von Vater. Erst als ich in den Hof trat, um den Müll hinauszubringen, nahm ich in einiger Entfernung einen leichten Holzfeuergeruch und einen blassen Lichtschein wahr, der sich gegen den Himmel abzeichnete. Niemand wagte es, während der derzeitigen Rationierung Gestrüpp oder Holz öffentlich zu verbrennen, und schon gar nicht nachts und in Berlin – aber vielleicht brannte ja ein Haus. Ich folgte meiner Nase hinaus auf die Straße, bis sich eine raue Hand über meinen Mund legte und ein starker Arm mich zurück in die Dunkelheit zog. Ich setzte mich nach Kräften zur Wehr – kratzte, trat, kniff und biss –, aber er zerrte mich ins Gebüsch.

»Lieselotte! Lieselotte, ich bin’s, Lukas!«, zischte er mir ins Ohr. »Hör auf, mich zu beißen, um Himmels willen!«

»Lukas!« Er lockerte seinen Griff und ich riss mich los. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Was machst du hier?«

»Ist Rudi zu Hause? Oder dein Vater?«

»Nein. Lukas, was …?«

»Lass uns kurz mit reinkommen, ja? Nur einen kleinen Moment.«

»Wen ›uns‹?« Und dann sah ich im Dunkel eine andere Gestalt, die zusammengekauert neben der Hintertür hockte, die direkt in die Küche führte.

»Bitte«, bat Lukas. In diesem Moment spürte ich seine Angst – etwas, das an Lukas Kirchmann so fremd war, dass ich sofort die Tür aufstieß und ihn ins Haus zog. Die andere Gestalt folgte ihm auf dem Fuß. »Schließ ab.« Lukas hatte mir noch nie etwas befohlen, aber ich drehte den Schlüssel um, ohne nachzudenken. Er löschte das Licht in der Küche und spähte durch den Vorhang nach draußen. »Dein Vater ist nicht hier?«, wiederholte er, als ob er mir nicht glaubte.

»Nein. Es wird spät heute, hat er gesagt. Dein Arm blutet ja – und du hast auch Blut im Gesicht! Was ist passiert?«

»Nichts. Es ist nichts.«

Der andere Mann, der vielleicht doppelt so alt sein mochte wie Lukas, stöhnte und nickte in dem fahlen Licht, das von der Straße hereinfiel. Er hielt sich einen Arm, der offensichtlich schmerzte.

»Herr Weiß?« Ich erkannte den Metzger vom Markt drei Straßen weiter. Dem jüdischen Markt, wo ich nichts mehr kaufen durfte – dabei hatten wir dort eingekauft, seit ich denken konnte; der Markt lag so nahe und es hatte dort immer die besten Fleischstücke gegeben – zumindest behauptete Mutti das. Vater aber meinte, gute arische Mädchen kauften nicht bei Juden – weder Fleisch noch sonst etwas. Das hatte der Führer doch schon lange klipp und klar gesagt.

Herr Weiß nickte unglücklich.

»Lieselotte, hast du ein bisschen Stoff? Etwas, woraus ich eine Armschlinge für Herrn Weiß machen kann?«

»Setz dich, Lukas. Du blutest mir ja den ganzen Raum voll! Ich hole erst mal einen Waschlappen.«

»Kümmere dich nicht um mich.« Aber er setzte sich, und als er nach meinem Arm griff, durchströmte mich ein ganz warmes Gefühl, so erschrocken ich über seine ramponierte Erscheinung war. »Hilf uns.«

»Ich tu alles, was du willst«, beteuerte ich.

»Ich muss Herrn Weiß und seine Familie hier wegbringen.«

»Seine Familie? Wo …«

»Das spielt keine Rolle. Kannst du uns helfen? Kannst du uns helfen, ohne dass dein Vater oder Rudi etwas davon erfahren?«

Er will, dass ich etwas im Geheimen tue, etwas Gefährliches – und er will mich, nicht Rudi. Ich wusste nicht genau, was Lukas brauchte oder was er vorhatte, aber ich wusste: Juden zu helfen, war verboten. Ich riskierte, den Zorn meines Vaters auf mich zu ziehen. Und Rudis Zorn ebenfalls. Und von den Nachbarn angezeigt zu werden. Es war beängstigend – und aufregend zugleich. »Was brauchst du? Was kann ich tun?«

»Wir brauchen Verbandszeug, Mäntel, ein paar Lebensmittel. Und wir brauchen einen Ort, an dem Herr Weiß und seine Familie sich bis morgen Abend verstecken können.«

»Morgen Abend?« Verbandszeug, Essen und sogar Mäntel waren eine Sache. Aber sie verstecken … Wo könnte ich sie verstecken? Und wagte ich das?

»Bis dahin finden wir Leute, die sie aus Berlin herausbringen können.«

Mein Herz raste. War ich damit nicht überfordert?

Aber Lukas trat ganz nah zu mir, so nah, dass ich seinen Atem in meinem Gesicht spüren konnte, und flüsterte: »Die Braunhemden haben sein Geschäft zertrümmert. Fleisch und alles andere auf die Straße geworfen. Sie haben die Synagoge in Brand gesetzt und dazu noch eine ganze Reihe jüdischer Häuser. Niemand versucht, die Brände zu löschen, solange die Flammen nicht auf arische Häuser übergreifen könnten. Höchstwahrscheinlich werden alle jüdischen Läden hier im Viertel abbrennen, auch das Haus der Weißens. Sie haben seinen Sohn bewusstlos geschlagen und verhaftet, weil er versucht hat, seine Eltern zu schützen. Herr Weiß und seine Frau müssen ihre Töchter hier wegbringen, bevor … bevor noch Schlimmeres passiert. Hilf ihnen. Bitte. Hilf mir, ihnen zu helfen.«

Wie konnte ich Nein sagen? Aber nicht hier im Haus – hier ist es nicht sicher. »Der Gartenschuppen im Hof. Da geht zurzeit niemand hin. Im Keller direkt darunter ist genügend Platz für alle, du weißt schon, da, wo du und Rudi euren Klubraum hattet, als ich klein war – und wo ihr mich nicht hineingelassen habt.« Selbst in einem solchen Moment erinnerte ich mich daran, wie sehr mich das damals gewurmt hatte.

Er küsste mich auf die Wange. »Du bist ein Engel, Lieselotte! Ich bringe sie hin. Der Schlüssel – ich brauche den Schlüssel!«

Ich nahm ihn vom Haken an der Hintertür. »Ich streiche euch ein paar Brote.«

»Und wir brauchen Stoff – etwas, woraus wir eine Schlinge machen können.«

»Ja, ich hole gleich welchen.«

»Und Mäntel oder Decken – alles, was du …«

»Ja, ja. Ihr geht jetzt besser. Vater und Rudi können jeden Augenblick zurückkommen. Ich bringe euch die Sachen.«

»Vielen Dank, Fräulein Sommer.« Herr Weiß nahm meine Hand, dann schien ihm das wohl zu vertraulich zu sein, denn er trat zurück und verbeugte sich zweimal kurz. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Das ist doch selbstverständlich, Herr Weiß. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer so etwas Furchtbares tut.« Aber der reservierte Blick von Herrn Weiß und der Schmerz in Lukas’ Augen sagten mir, dass ich es eigentlich wissen sollte, und tatsächlich hatte ich eine düstere Ahnung.

Sie huschten zur Tür hinaus und verschwanden in der Nacht. Während ich Brot und Käse aus der Speisekammer holte, fiel mir die Truhe mit Wolldecken oben auf dem Dachboden über Muttis Zimmer ein. Ich lief als Erstes hinauf und zog drei der schwersten Decken heraus, außerdem zwei Mäntel, aus denen Rudi und ich herausgewachsen waren. An die Töchter von Herrn Weiß konnte ich mich nicht erinnern, wusste nicht, wie alt oder wie groß sie waren, aber mehr als das konnte ich nicht tragen.

»Lieselotte«, kam Muttis schwache Stimme, als ich an ihrem Zimmer vorbeiging. Ich erstarrte vor der Tür, und mir wurde plötzlich klar, dass ich sie mit meinem Gepolter auf dem Boden wohl geweckt hatte.

»Ich bin gleich bei dir, Mutti. Nur eine Minute.«

»Lieselotte«, rief sie nun drängender. »Lieselotte, du kommst sofort!«

So kräftig hatte ihre Stimme seit Wochen nicht geklungen; das konnte aber auch bedeuten, dass die Schmerzen wieder da waren. Ich ließ Mäntel und Decken fallen und betrat den schwach erleuchteten Raum. »Was ist denn, Mutti? Brauchst du mehr Laudanum? Es ist noch zu früh dafür.«

»Mein Mantel.« Sie wies mit der Hand auf den Kleiderschrank. »Nimm meinen Mantel.«

»Wir gehen nicht raus. Es ist mitten in der Nacht. Du musst geträumt haben.«

Ihre Stimme war nun wieder schwach, wie alles andere an ihr, und ich wusste, dass das Sprechen sie anstrengte. »Ich habe sie gehört … Herrn Weiß. Nimm meinen Mantel für Frau Weiß, meinen dicken Pelz. Der wird sie warm halten.«

»Nein. Das ist dein bestes Stück. Den wirst du brauchen.« Ich zog ihr die Bettdecke über die Schultern, entsetzt, dass sie uns gehört hatte, voller Angst, was sie wohl dachte, wenn sie Bescheid wusste. Was würde sie Vater erzählen – er würde das niemals gutheißen – und was würde es für Lukas bedeuten?

»Ich werde ihn nicht mehr brauchen. Ich gehe nicht mehr raus. Frau Weiß war immer so freundlich und nett zu mir. Und Herr Weiß hat großzügig abgewogen, wenn ich dort eingekauft habe …« Mutti rang nach Luft und krümmte sich, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

Rasch rückte ich das kleine Kissen in ihrem Rücken zurecht, sodass es ihr mehr Halt gab. Es war so wenig, was ich tun konnte, und es half so wenig. »Ich glaube nicht, dass Vater das gutheißen wird. Ich habe Angst …«

Von der Straße war ein Klirren zu hören, gefolgt von Gegröle und dem unregelmäßigen Dröhnen einer schlecht geschlagenen Trommel.

»Nimm ihn. Mach schnell.« Mutti schloss die Augen.

Unsicher stand ich an ihrem Bett. Aber die Zeit lief uns davon. Ich öffnete den Kleiderschrank, griff nach Muttis dickem braunen Pelz und sog ihren Duft aus Tagen ein, in denen sie noch die Treppe hinunter und aus dem Haus gehen konnte. Ich wusste, dass sie recht hatte – sie würde ihn nicht mehr tragen; diese Tage waren vorbei. Aber darüber durfte ich jetzt nicht nachdenken.

Eilig griff ich im Flur nach dem Stapel Decken, holte noch ein Laken und eine Nähschere aus dem Wäscheregal, klemmte mir alles unter den Arm und lief damit die Treppe hinunter. Vorsichtig schlich ich mich aus der Hintertür, bevor meine Nerven mich im Stich lassen würden.

Alarmierende Fetzen von Geschrei und betrunkenem Gelächter drangen von der Straße her herüber. Rauch hing in der Luft und etwas Stechendes, das ich nicht identifizieren und nicht vom Geruch von brennendem Holz unterscheiden konnte.

Ein verstohlenes Klopfen an der Schuppentür, und Lukas nahm meine Ladung entgegen. Zum Dank drückte er meine Hand und ich lief zurück in die Küche. Ich hatte gerade den Laib Brot durchgeschnitten, als Vater und Rudi gut gelaunt in die Küche gestürmt kamen. Rudi erzählte irgendeine Heldentat und Vater lachte zu laut in herzlicher Zustimmung. Mir drehte sich schier der Magen um.

»Lieselotte, warum bist du um diese Zeit noch auf?« Vaters Tonfall änderte sich abrupt. »Und warum ist die Tür nicht abgesperrt? Warst du draußen?«

»Nein«, log ich. Das hatte ich Vater gegenüber noch nie getan. »Aber ihr wart beide so spät dran. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Der Lärm von der Straße hat unserer kleinen Lieselotte wohl Angst gemacht, was?«, stichelte Rudi. »Du musst dich daran gewöhnen. Das ist erst der Anfang!« Er ging auf die Zehenspitzen, streckte die Arme über meinen Kopf aus und drohte mir wie irgendein Ungeheuer.

»Lass das, Rudi«, mahnte Vater. »Du machst Brote, Lieselotte – um diese Zeit?«

»Ich dachte, ihr hättet Hunger.« Die erneute Lüge kam mir schon leichter über die Lippen. »Das ist nett von dir«, nickte Vater anerkennend und legte Mantel und Schal ab. »War heut Abend recht kalt draußen.«

»Ich hab einen Bärenhunger!« Rudi riss sich den Mantel vom Leib und warf seine Mütze auf den Tisch. »Mach mir zwei! Ist noch Kaffee da?«

»Ja, ein bisschen Ersatzkaffee. Den kann ich aufwärmen.« Ich drehte mich zum Herd um und betete, dass mein Gesicht mich nicht verraten würde. Aber Rudi war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um etwas zu bemerken, und Vater hatte ebenfalls andere Dinge im Kopf.

»Wie geht es deiner Mutter? Ist sie aufgewacht, während wir unterwegs waren?«

»Ich glaube nicht. Sie schläft jetzt. Das Laudanum …«

»Ja, das ist gut. Sie brauchte nicht zu hören, was heute Nacht vorgefallen ist.«

»Mutti würde das nicht verstehen.« Rudi klang so lässig.

»Was habt ihr denn gemacht, was Mutti nicht verstehen würde?« Es war eine gewagte Frage, aber ich wollte hören, dass sie getrunken oder Karten gespielt oder sonst etwas gemacht hätten, jedenfalls keine kleinen Jungen verprügelt und Synagogen angezündet. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass Lukas Kirchmann ein Lügner wäre.

»Es ist die Vergeltung für den Mord durch diesen bolschewistischen Juden in Frankreich. Hast du kein Radio gehört? Du musst auf dem Laufenden bleiben. Schließlich bist du kein Baby mehr.«

»Rudi, es reicht jetzt! Sprich leiser. Weck deine Mutter nicht auf. Sie braucht ihren Schlaf.« Vater angelte sich eine Brotscheibe von meinem Brett. »Bring den Kaffee, wenn er fertig ist. Ich sehe noch mal nach Mutti, dann gehe ich ins Bett.« Er hielt inne. »Ah, ich habe ein Geschenk für dich, Töchterchen.« Er zog ein Buch aus seinem Mantel und reichte es mir. »Pass gut darauf auf.«

»A Christmas Carol, die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens? Und auch noch auf Englisch! Vater, wo hast du denn so etwas gefunden?«

»Eine Erstausgabe, also geh bitte schonend damit um.«

»Ja, ja, das werde ich. Danke schön.« Es war nicht die Art meines Vaters, mir Geschenke zu machen. Und dann noch dieses Buch – mein Lieblingsbuch!

Er war schon aus der Tür, als Rudi mir augenzwinkernd zuflüsterte: »Wo das herkommt, gibt es noch mehr. Vater wollte nur nicht, dass Mutti von heute Abend erfährt. Sie macht sich Sorgen wegen der ›wachsenden Militanz‹ der Hitlerjugend und liegt ihm damit in den Ohren. Das versteht sie nicht. Der Führer hat Pläne, von denen wir nicht einmal zu träumen wagen – ich sag’s dir, Lieselotte! Er wird uns schon bald zu den Waffen rufen. Die Welt wird sehen, aus welchem Holz das neue Deutschland geschnitzt ist. Und ich bin dabei!«

»Das ist doch bloß angeberisches Jungsgehabe. Dir geht es nur um Rudern und Sport und Camping und …«

»Nicht mehr, kleine Schwester – nicht nach diesem Abend. Die Hitlerjugend von heute ist die Armee von morgen.«

»Was hast du heute Abend gemacht? Du hast mir immer noch nicht geantwortet.«

»Arme kleine Lieselotte.« Er strich mir über die Wange, ungewohnt freundlich – oder war es sarkastisch? »Deine Welt wird sich verändern, und du weißt es nicht einmal. Du warst zu viel zu Hause bei Mutti mit ihren altmodischen Ansichten. Beim Jungmädelbund hast du öfter gefehlt, als dass du dort warst. Nächstes Jahr musst du in den Bund Deutscher Mädels eintreten. Da gibt’s keine Entschuldigung, auch nicht, wenn Mutti noch lebt.«

»Sag so etwas nicht!«

Er schüttelte den Kopf. »Es wäre eine Gnade für sie, wenn sie nicht mehr leben würde. Sie verschlingt unsere Finanzen, und ihr Leben ist nicht mehr produktiv. Das musst du einsehen. Du musst deinen Platz im neuen Deutschland einnehmen. Weil Mutti im Sterben liegt, ist sie entschuldigt. Aber du bist es nicht. Deine Nachlässigkeit lässt mich und Vater schlecht dastehen. Der Führer sagt …«

»Du redest wirres Zeug, Rudi, und ich höre mir das nicht länger an. Geh ins Bett.« Ich wickelte den Rest des Brotes in ein Seihtuch, als wollte ich es in die Speisekammer zurückbringen. Sobald ich ihn und Vater schnarchen hörte, würde ich Herrn Weiß das Essen in den Schuppen bringen.

Rudi schnappte sich zwei Brotscheiben vom Brett und ging zur Treppe. »Mach dich nicht über mich lustig. Das ist ein gefährlicher Zeitvertreib. Du willst doch nicht, dass ich dich anzeige, oder?« Er drehte sich um und hob in gespielter Überraschung die Brauen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es Spaß oder Ernst war. »Wenn du das nächste Mal etwas tust, was Vater verboten hat, putzt du dir besser die Schuhe ab.«

Er zeigte auf den Schlamm auf meinen Socken und Schulschuhen. »Ich weiß nicht, was du getrieben hast, und es ist mir auch egal. Ich habe jetzt mein eigenes Leben, ohne die Gängelei von Mutti und Vater, warum also nicht auch du? Zeit, dass du erwachsen wirst, kleine Schwester.«

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Kapitel drei

HANNAH STERLINGNOVEMBER – DEZEMBER 1972

Alte Häuser knarren am Tag; nachts stöhnen sie, als ob ihre Knochen brechen und sich voneinander lösen. In meinem alten Zimmer zu schlafen fühlte sich genauso unheimlich an wie damals, als ich noch ein Kind war. Die Schatten der Bäume vor meinem Fenster mit ihren bedrohlich ausgestreckten Armen tanzten immer noch auf der Tapete gegenüber meinem Bett. Es gab immer noch eine Eulenfamilie – Generationen von Eulen –, die sich nach Mitternacht gegenseitig riefen und meine schwachen Schlummerversuche störten. Und der sicherste Ort war immer noch vergraben unter meinem Berg von Patchwork-Decken, die mich von den Füßen bis über den Scheitel einhüllten.

Um zwei Uhr nachts gab ich auf und zog eine Jeans und einen meiner alten Pullover aus Highschool-Zeiten an, die immer noch in meinem Schrank hingen.

Glücklicherweise war der Elektriker am Vortag gekommen, um den Strom wieder anzuschließen, sodass ich das Haus von oben bis unten mit Licht durchfluten konnte. Es wirkte gar nicht so unheimlich, sondern nur alt, ein wenig heruntergekommen und bedurfte dringend der Pflege – doch darum würde sich jemand anders kümmern müssen. Das Telefon konnte erst Mitte der Woche wieder angeschlossen werden. Aber jemand anderen als Tante Lavinia würde ich ohnehin nicht anrufen, und ein wenig Abstand von ihr war gar nicht schlecht.

Ein guter, starker Tee würde mich zwar sicherlich wach halten, aber vielleicht auch klarer denken lassen. Mama hatte Tee immer verschmäht. Sie mochte ihren Kaffee, stark und süß mit Sahne, als könne sie nicht genug davon bekommen, als würde man ihn ihr wegnehmen, wenn sie ihre Tasse nicht mit beiden Händen festhielt. Vielleicht mochte ich deshalb Tee – ohne alles –, einfach aus Trotz, um anders zu sein.

Der Teekessel pfiff. Ich goss dampfendes Wasser in die Kanne und rührte die Blätter um. Teeblätter waren meine einsame Rückkehr zur Natur – für neumodische Teebeutel hatte ich nichts übrig. Echte Blätter drehten die Zeit zurück. Ich zog meinen Pullover enger um mich und legte beide Hände um die Tasse. So viele Dinge, die ich tat, so vieles in meinem Leben war eine Antwort – oder eher eine Reaktion – auf meine Mutter. Das ist verrückt. Das muss aufhören.

Eine Liste. Wenn ich ein neues Projekt für meinen Unterricht vorbereitete, erstellte ich immer als Allererstes eine Liste. Ich riss ein Blatt Papier aus meiner Schulmappe und kritzelte obendrauf: Mama verstehen. Nach vorne schauen. Die beiden Pole meines Ziels. Alles andere lag dazwischen.

Der erste Schritt war, das Haus von oben bis unten zu durchforsten und nach Hinweisen zu suchen. Ich hatte keine Ahnung, welcher Art. Mama und Daddy waren schließlich beide tot.

Aber was wäre, wenn Mama ein Tagebuch geführt hätte? Oder Daddy? Schwer vorstellbar, aber ich notierte: Suche nach Tagebüchern, Familienfotos. Ich listete alle Räume auf, entschlossen, objektiv zu bleiben: Küche – das war am einfachsten zu bewältigen. Nachdem ich den Sommer über dort gekocht hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass es nichts gab, was ich nicht schon gesehen hatte, aber ich würde jeden Schrank und jede Keksdose auseinandernehmen. Dabei würde ich sehen, ob es Dinge gab, die ich behalten wollte. Um alles andere konnte sich Clyde kümmern.

Die meisten Töpfe und Küchenutensilien von Mama stammten von Flohmärkten und Basaren. Sie hatte nichts davon gehalten, Geld für sich selbst auszugeben, und fairerweise muss man sagen, es war auch nicht viel zum Ausgeben da gewesen. Coupons ausschneiden, Bindfaden und Gummibänder sparen und Alufolie zwei- oder auch dreimal verwenden, das war ein Lebensstil. Ich würde das alles in den Müll werfen, wenn auch mit schlechtem Gewissen.

Als Nächstes würde ich das Badezimmer in Angriff nehmen, dann das Wohnzimmer. Im Keller und auf dem Dachboden gab es nicht viel. Soweit ich wusste, war Mama dort seit Jahren nicht mehr gewesen, aber ich setzte beides auf die Liste. Mein altes Mädchenzimmer war mir so vertraut wie meine Westentasche. Ich brauchte nur die Kisten mit den Highschool-Sachen durchzugehen und zu sehen, ob ich wirklich etwas behalten wollte. Mamas und Daddys Schlafzimmer würde ich mir als Letztes vornehmen. Es weckte zu viele Erinnerungen an den vergangenen Sommer und Mamas Sterben. Nur nicht emotional werden, das würde mich nur ablenken.

Ich legte den Schalter an Mamas altem elektrischen Radio um, das auf dem Küchentisch stand. »Morning has broken« schmetterte Cat Stevens, dann kamen The Main Ingredient, und ich sang mit ihnen um die Wette »Everybody Plays the Fool«. Die Zeile »But there’s no guarantee that the one you love is gonna love you« passte einfach zu gut. Nein, es gab keine Garantie auf Gegenliebe von dem Menschen, den man liebte. Es musste nicht einmal ein Mann oder ein Freund sein – als ob ich jemals an diesen Punkt kommen würde. Angeblich sei die Liebe zu sich selbst Voraussetzung dafür, jemand anderen lieben zu können. Da mochte tatsächlich etwas Wahres dran sein. Und was war mit der Liebe Gottes zu mir? Daran glaubte ich, aber wo waren die Arme, die mich hielten? Wie konnte ich mich selbst lieben, wenn meine eigene Mutter mich nicht hatte lieben können? Wie konnte ich Tante Lavinias Behauptung glauben, Mamas Verhalten habe nichts mit mir zu tun gehabt? Wie konnte es anders sein? Keiner der beiden Songtexte half mir wirklich.

Mittags um halb zwölf war ich mit der Küche fertig. Ich hatte ein paar alte Holzlöffel gefunden, die Daddy in dem Sommer, als er das Schnitzen entdeckte, aus dem Holz eines umgestürzten Ahorns hergestellt hatte. Er dachte damals, das könnte ein netter Nebenverdienst werden. Aber Mama hatte über das Geschenk nur die Stirn gerunzelt und die Löffel in die Schublade mit dem Sammelsurium gesteckt. Er schnitzte danach nie wieder etwas. In Gedanken ging ich die Hitparade des Jahres durch und fragte mich, ob es auch Texte für verschmähte Liebe gab. Ich warf die Holzlöffel auf die Arbeitsplatte zu meinem Stapel mit Dingen, die ich behalten wollte. Jetzt fehlte mir noch ein passendes Lied dazu.

Mama war keine, die wie Tante Lavinia Geld in Kanistern oder Einmachgläsern hinten in Regalen versteckte. Anders als viele Eltern hatte Mama während der Wirtschaftskrise zwar Alufolie und Gummibänder aufgehoben, aber nie Geld für schlechte Zeiten gehortet. Sie hatte ein einfaches Leben geführt, als sei alles Wesentliche in ihr und nicht außerhalb, auch wenn sie nie gezeigt hatte, was genau das war. Einerseits war sie hart und sparsam gewesen, andererseits aber auch großzügig, fast schon im Übermaß, was für mich überhaupt nicht zusammenpasste. Denn großzügige Menschen sind bekanntlich glücklich. Für Mama aber galt das nicht.

Ich holte eine Dose Thunfisch aus der Speisekammer und schnitt ein paar Scheiben von dem Vollkornbrot ab, das ich beim Lebensmittelladen im Ort gekauft hatte. Dieses Brot – dieser Laden – erinnerte mich an einen Tag vor vielen Jahren … Ich kann nicht älter als fünf oder sechs gewesen sein. Mama, Tante Lavinia und ich waren in den Laden gegangen, um unsere wöchentlichen Einkäufe zu erledigen, die für Mama in der Regel aus einem kleinen Sack Mehl, Salz, einem halben Pfund Zucker, einer Papiertüte mit Grundnahrungsmitteln und anderthalb Pfund rotem Fleisch bestanden. Das verteilte sie über die Woche als Ergänzung zu dem Schweine- und Hühnerfleisch aus Daddys eigener Schlachtung und den Fischen, die er gelegentlich aus dem Bach hinter dem Haus angelte. Alles Übrige bauten wir selbst im Garten an.

Ein Landstreicher kam zur Tür herein und fragte den Verkäufer, ob er Arbeit für ihn hätte – vielleicht draußen fegen und den Müll ausleeren, Kisten auspacken, was auch immer zu tun sei –, und ihm dafür etwas zu essen geben würde. Oder ob der Verkäufer vielleicht sonst jemanden kenne, der einen Handlanger gebrauchen und ihm im Gegenzug einen Schlafplatz und Verpflegung bieten könne. Aber der Mann hatte eine seltsame Art zu reden – ein wenig wie Mama.

Der Verkäufer wies ihn sofort barsch zurück und sagte, solche Leute bräuchten sie nicht. Tante Lavinia flüsterte, niemand würde einen Fremden in seiner Scheune schlafen lassen. Man wisse ja nicht, wo er gewesen sei oder was er getrieben habe, geschweige denn, woher er komme, so schmutzig, wie er sei. Seine verblichene braune Anzugsjacke war am Ärmel zerrissen, als wäre er in einen Kampf verwickelt gewesen, und an einem Schuh hatte sich die Spitze von der Sohle gelöst.

Kaum war der Landstreicher draußen, rief der Lebensmittelhändler den Sheriff. Der war schon da, als wir den Laden verließen, und verjagte den Mann wegen Herumlungerns von der Bank an der Bushaltestelle.

Mama stand stocksteif da und starrte dem Sheriff hinterher. Ich konnte nicht sagen, ob sie wütend oder verängstigt war oder ob sie guthieß, was sie gesehen hatte. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Aber sie nahm mich an der Hand, führte mich zurück in den Laden, drückte mir unsere Einkäufe in die Arme und ließ Tante Lavinia draußen stehen.

Dann nahm sie einen Laib Weißbrot aus dem Regal – etwas, was wir sonst nie dort kauften –, dazu zwei Flaschen Limonade. Außerdem bat sie den Händler, ein halbes Pfund Mortadella in dicke Scheiben zu schneiden und ein Viertelpfund amerikanischen Käse in noch dickere Scheiben – ein wahres Festmahl an Köstlichkeiten. Sie legte Geld hin, das Daddy ihr niemals erlaubt hätte, dafür auszugeben, und zog mich mitsamt diesem großzügigen Einkauf wieder nach draußen. Ohne Tante Lavinia zu beachten, die ungeduldig in der späten Septembersonne gewartet hatte, schaute Mama nach rechts und links und rannte dem Landstreicher hinterher, ich atemlos an ihren Fersen.

Meine Visionen von einem Picknick am See oben in den Bergen verflüchtigten sich, als Mama den Mann einholte und ihm energisch die Hand auf die Schulter legte. Instinktiv wusste ich, dass keine wohlerzogene Südstaatenfrau so etwas tun und jede Frau in der Stadt sich darüber aufregen würde (was etliche auch taten). Als der Landstreicher sich fast ängstlich umdrehte, drückte sie ihm die Tüte mit den Lebensmitteln in die Hand, nahm die Hälfte der Äpfel aus unserer Tasche und steckte sie noch dazu. Sie ergriff die Arme des Mannes und schaute ihm dabei mit bebendem Kinn in die Augen, als ob sie ihm einen stummen Segen erteilen wollte.

Der ausgemergelte, erschöpfte Mann sah so traurig und erschrocken aus, dass ich dachte, er würde umfallen. Er warf nicht einmal einen Blick in die Tüte, aber seine Augen wurden riesengroß, bis ihm schließlich Tränen über die Wangen liefen.

Eine kleine Ewigkeit starrte er Mama an, als ob er sich ihr Gesicht einprägen wollte, dann sah er zu mir herunter. Lächelnd beugte er sich zu mir herab, strich mir übers Haar, bis ich mich wegdrehen wollte. Aber er hob mein Kinn mit einem Finger an und sein Daumen strich sanft über meine Wange. Weder er noch Mama sagten ein einziges Wort, was ich seltsam fand, selbst für sie. Schließlich schauderte sie, drehte sich auf dem Absatz um und ging zielstrebig nach Hause. Ich erinnere mich, dass ich mich noch einmal zu Tante Lavinia umwandte. Würde sie es womöglich Daddy sagen und er sich fürchterlich aufregen, dass Mama so viel Geld für einen Fremden ausgegeben hatte? Aber Tante Lavinia stand nur einen Moment lang mit offenem Mund da, dann drehte sie sich um und ging in die andere Richtung davon.

Ich hatte Mühe, mit Mamas Tempo Schritt zu halten. Auf halbem Weg schien sie die Kraft zu verlassen und sie wirkte plötzlich müde. Zu Hause ging sie direkt in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und weinte zwei Stunden lang. Es war das einzige Mal, dass ich sie jemals hatte weinen hören. Bei Daddys Beerdigung, gut zehn Jahre später, vergoss sie keine einzige Träne, aber um einen Landstreicher, den sie nicht kannte, weinte sie zwei Stunden lang herzzerreißend.

Ich hatte schon lange nicht mehr an diesen Tag gedacht. Was da geschehen war, erschien mir so ganz untypisch für Mama und zugleich doch charakteristisch für sie. Wer warst du, Mama? Wie konntest du einen völlig Fremden besser behandeln als mich oder Daddy, und so tun, als sei das ganz natürlich?

Tante Lavinias Worte über Mamas ausländische Herkunft hatten mich zum ersten Mal seit Jahren veranlasst, über Mamas Akzent nachzudenken. Einmal hatte mich eine Gruppe gemeiner Jungs in der Grundschule auf dem Spielplatz geärgert und gerufen: »Deine Mama ist nichts weiter als eine Nazispionin! Haut am besten schleunigst ab nach Krautland!«

Daddy hatte gesagt, ich solle mich nicht um die Lügen und das dumme Gerede der Kinder aus den Bergen kümmern. Dank seiner tröstenden Worte konnte ich damals weiter mit erhobenem Kopf zur Schule gehen, obwohl ich innerlich tief getroffen war.

Aber jetzt fragte ich mich: War Mamas Akzent der Grund, warum sie sich so stark – so merkwürdig – mit dem Landstreicher verbunden fühlte? Oder war es das Rätsel eines tief sitzenden Gefühls, das sogar ihr selbst fremd war? Lag es an ihrem Akzent, dass die anderen Frauen in der Kirche und der Nachbarschaft Abstand hielten, oder eher an ihrer distanzierten Art?

Drei weitere Tage verbrachte ich damit, das Haus vom Dachboden bis zum Keller zu durchstöbern, Schränke, Kommoden und Schubladen auf den Kopf zu stellen und sogar nach versteckten Hohlräumen und losen Dielen zu klopfen, so töricht das auch sein mochte. Ich sortierte nach Spenden und Müll und packte die wenigen Dinge ein, die ich behalten wollte. Das fühlte sich wie ein Fortschritt an, besser, als alles Clyde zu überlassen.

Am Freitag hatte ich das Haus und alles, was sich darin befand, gründlich satt. Ich hatte es aufgegeben, nach Tagebüchern und geheimnisvollen Familienfotoalben zu suchen. Es gab einfach keine. Das einzige Zimmer, das noch übrig war, war Mamas und Daddys Schlafzimmer.

Die Durchsicht von Mamas persönlichen Gegenständen war ein Pilgerweg einer Hassliebe. Ich fand die Bibel, die ich in der zweiten Klasse in der Sonntagsschule bekommen hatte, ganz unten in ihrem Nachtschränkchen. Mama hatte mit meiner Bibel gelernt, Englisch zu lesen. Aber immer, wenn sie sich dabei von mir beobachtet fühlte, klappte sie sie zu und schob sie weg, als ob ich es nicht sehen sollte. Das hatte ich nie verstanden.

In jeder Schublade duftete es nach ihren selbst genähten Fliedersäckchen, die mir abwechselnd Bauchschmerzen bereiteten und mein Herz mit einer Sehnsucht erfüllten, die ich wohl nie würde stillen können. Strähnen ihres verblassten goldenen Haars in ihrer Haarbürste zu finden ließ mich die Hände auf den Magen pressen. Ich warf die Bürste in den Müll.

Nichts lag irgendwo einfach nur herum. Fünf Kleider hingen im Schrank – eins für die Kirche, eins zum Einkaufen, drei für zu Hause. Sie besaß ein Paar schwarze Pumps für den Sonntag, die neben einem polierten Paar brauner Schnürschuhe mit abgetragenen Absätzen für jeden Tag standen. Wenn andere Mütter offene Sandalen und Lackschuhe trugen, hatte meine Mutter sich dem Diktat der Mode entzogen und weiterhin die schlichtesten Kleider und »vernünftige Schuhe« getragen, als ob sie nichts Besseres verdient hätte, als ob es zu ihrem Martyrium beigetragen hätte, sich wie eine Mittellose zu kleiden. Und doch wusste ich, dass ein Teil von ihr auf Frauen herabgeschaut hatte, die sich gerne in Schale warfen; in ihren Augen hatten sie wohl den Sinn des Lebens völlig verfehlt.

In einem letzten Versuch zog ich die Kommode von der Wand und suchte die Rückseite ab. Auch hinter dem ovalen Spiegel auf dem Schminktisch … nichts.

Ich lag auf ihrem Bett, ihrem Sterbebett, und wartete sehr, sehr lange, um zu sehen, ob ich etwas spürte, irgendetwas, ob ich ein Zeichen bekommen würde. Bitte … bitte, Gott. Hilf mir zu verstehen. Nichts … nichts … nichts. Es war dieses Nichts, das sich anfühlte wie Ersticken, als würde allmählich die ganze Luft aus dem Raum gesaugt. Wer warst du, Mama? Hast du überhaupt etwas für mich empfunden? Schließlich weinte ich eine ganze Weile, bis ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Ich erwachte erst, als das Telefon klingelte.

Mein erster Anruf mit dem neu angeschlossenen Telefon. Es musste Tante Lavinia sein. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, jetzt mit ihr zu sprechen.

Das Klingeln hörte für dreißig Sekunden auf und fing danach wieder an. Stöhnend schleppte ich mich aus dem Bett. Sie würde ja doch nicht aufgeben, bis ich abnahm.

»Hallo?«

»Miss Sterling? Hannah Sterling?«

»Am Apparat.« Ein Kloß stieg mir in die Kehle. Nein, bitte lass nicht zu, dass Tante Lavinia etwas zugestoßen ist. Lieber Gott, es tut mir leid, dass ich so gemein zu ihr war! Bitte …

»Miss Sterling, hier ist Ward Beecham, der Anwalt Ihrer Mutter. Erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid zu ihrem Tod auszusprechen. Es tut mir leid, dass ich das nicht schon früher getan habe.«

Mir blieb fast das Herz stehen. Danke, Gott!