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Adelaide hätte nie gedacht, drei Freundinnen in ihrer neuen Heimat in Kanada zu finden, die wie Schwestern für sie sind. Sie versprechen sich, für immer zusammenzuhalten – doch dann hebt der Erste Weltkrieg ihre Welt aus den Angeln und der deutsch-amerikanische Mann, den Adelaide und Dorothy lieben, wird unbegründet verdächtigt. Eine schreckliche Explosion reißt die Schwesternschaft schließlich unwiderruflich auseinander. Jahre später erhält Rosaline einen Anruf von Dorothy, der Erinnerungen wachruft, die sie vergessen wollte. Erinnerungen an einen Mann, den sie einst liebte, an eine Schwesternschaft, die sie im Stich ließ, und an den Tag, an dem sie aufhörte Adelaide zu sein. Ein Roman über den Wert von echten Freundschaften – und wie Vergebung und Ehrlichkeit diese retten können.
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Seitenzahl: 571
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Cathy Gohlke
In Zeiten der Freundschaft
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,
die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,
die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,
Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7646-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6210-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Aachen
Das vorliegende Buch ist ein historischer Roman, der natürlich auch vor einer
gewissen historischen Kulisse spielt. Die auftretenden Personen entstammen
jedoch der Fantasie der Autorin, und jedwede Ähnlichkeit mit lebenden
oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© der deutschen Ausgabe 2024
SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Originally published in English in the U.S.A. under the title: Ladies of the Lake
by Cathy Gohlke, Copyright © 2023 by Cathy Gohlke
German edition © 2023 by SCM Verlagsgruppe GmbH with permission of Tyndale
House Publishers. All rights reserved.
Cover design: Jacqueline L. Nuñez
Titelbilder: Cover photographs are the property of their respective copyright holders, and all
rights are reserved. Women © Elisabeth Ansley, Joanna Czogala/Trevillion Images; lake
© Josh Hawley/Getty Images; grass © Pakhnyushchy/Shutterstock; wispy clouds © kzww/
Shutterstock; sunset © Roman Sigaev/Shutterstock.
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der
SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.
Weiter wurden verwendet:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT17)
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit
freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis - Brunnen Basel. (HFA)
Übersetzung: Heide Müller
Lektorat: Jessica Wollbach
Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart
Titelbild: Frauen © Elisabeth Ansley, Joanna Czogala/Trevillion Images; Himmel, See, Gras
© 3S-Grafik; Gras © C.Schulz/unsplash
Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen
Für
Gloria Delk, Kathy Chamberlin, Randi Eaton,
Terri Gillespie und Carrie Turansky,
die eine meine geliebte leibliche Schwester,
die anderen meine Herzensschwestern,
in Liebe und Dankbarkeit
Über die Autorin
Über das Buch
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Kapitel fünfunddreißig
Kapitel sechsunddreißig
Kapitel siebenunddreißig
Kapitel achtunddreißig
Kapitel neununddreißig
Kapitel vierzig
Kapitel einundvierzig
Kapitel zweiundvierzig
Kapitel dreiundvierzig
Kapitel vierundvierzig
Kapitel fünfundvierzig
Kapitel sechsundvierzig
Kapitel siebenundvierzig
Kapitel achtundvierzig
Kapitel neunundvierzig
Kapitel fünfzig
Kapitel einundfünfzig
Epilog
Nachwort
In Dankbarkeit
Rechtenachweise
Leseempfehlungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
CATHY GOHLKE schreibt Romane voller inspirierender Botschaften. Viele von ihnen haben Preise gewonnen. Wenn sie nicht auf Reisen ist, um für ihre Bücher zu recherchieren, verbringt sie gerne Zeit mit ihrer Familie. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren erwachsenen Kindern, Enkelkindern und ihrem Hund Reilly in den USA.
www.cathygohlke.com
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die bleibende Kraftlebenslanger Freundschaft
Adelaide hätte nie gedacht, drei Freundinnen in ihrer neuen Heimat in Kanada zu finden, die wie Schwestern für sie sind. Doch dann hebt der Erste Weltkrieg ihre Welt aus den Angeln und der deutsch-amerikanische Mann, den Adelaide und Dorothy lieben, wird unbegründet verdächtigt. Eine schreckliche Explosion reißt die Schwesternschaft schließlich unwiderruflich auseinander. Jahre später erhält Rosaline einen Anruf von Dorothy, der Erinnerungen wachruft, die sie vergessen wollte. Erinnerungen an einen Mann, den sie einst liebte, an eine Schwesternschaft, die sie im Stich ließ, und an den Tag, an dem sie aufhörte Adelaide zu sein.
Ein Roman über den Wert von echten Freundschaften – und wie Vergebung und Ehrlichkeit diese retten können.
»Dieser Roman hat mich tief berührt und daran erinnert,
wie wertvoll meine eigenen Freundinnen sind.«
LYNN AUSTIN, Bestsellerautorin
»Jede Seite war bis zum überraschenden Ende hin
ein reiner Genuss.«
MELANIE DOBSON, preisgekrönte Autorin
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Wir – Susannah Eudora Calhoun, Ruth Mason Hennessey, Dorothy Marie Belding und Adelaide Rose MacNeill –, im Folgenden die Ladys von Lakeside genannt, schwören heute, am 9. Juli im Jahr des Herrn 1910, dem Tag unseres Abschlusses am Mädcheninternat Lakeside, feierlich das Folgende: immer zueinander zu stehen, miteinander durch dick und dünn zu gehen, einen regen Briefkontakt zu pflegen, wo immer unsere Wege in dieser Welt uns hinführen mögen, und als Schwestern einander zu helfen, wann immer sich eine von uns in Not befindet. Wir geloben, jedes zweite Jahr hier unter diesem Pavillon zusammenzukommen, soweit es in unserer Macht steht, um unsere schwesterlichen Bande zu erneuern und zu feiern. Nur der Tod soll uns von diesem Gelöbnis befreien.
Unterzeichnet und mit Blut besiegelt,Susannah Eudora CalhounRuth Mason HennesseyDorothy Marie BeldingAdelaide Rose MacNeillFarmington, Connecticut, den 9. Juli 1910
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
MAI 1935
Es war mir nicht schwergefallen, die edel aussehende Einladungskarte zur Abschlussfeier des Mädcheninternats Lakeside im Juli zu ignorieren. Schwieriger war es schon, die beharrlichen Briefe meiner geliebten Bernadette unbeachtet zu lassen, die mich flehentlich bat, beim »wichtigsten Ereignis ihres Lebens« nicht zu fehlen. Doch mit einem Anruf aus den Vereinigten Staaten hätte ich niemals gerechnet, als Portia mich hinunter in den Flur ans Telefon rief.
»Mrs Murray?«
Ich erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung sofort. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Siebzehn Jahre und fast 1300 Kilometer waren wie weggewischt. Schnell zog ich ein Spitzentaschentuch heraus und wickelte es um die Sprechmuschel, um meine Stimme zu verfälschen. Ein Teil von mir war sogar stolz darauf, in einem solchen Moment an so etwas zu denken.
»Mrs Murray, sind Sie dran?«
»Ja.«
»Guten Morgen. Hier spricht Mrs Meyer – Direktorin Dorothy Meyer vom Mädcheninternat Lakeside in Conneticut.« Mrs Meyer. Dorothy. Dot – meine Dot. Mir fehlten die Worte.
»Ich – ich rufe wegen Ihrer Tochter Bernadette an.«
Und dann ging mir mit einem Mal auf: Wenn die Schulleiterin aus dem Ausland anrief, dann musste es überaus wichtig sein. »Geht es Bernadette gut?«
»Ja, ja, keine Sorge. Ich will Sie auch gar nicht beunruhigen. Bernadette hat mich nur gebeten, Sie persönlich zu unserer Abschlussfeier einzuladen. Ihre Tochter hat sich in den letzten fünf Jahren sehr angestrengt und möchte an diesem denkwürdigen Tag unbedingt ihre Mutter dabeihaben.«
»Nein, Mrs –« Ich brachte ihren Namen nicht über die Lippen.
»Meyer.« Sie hielt inne, als hätte ich ihn vergessen. »Mrs Murray, es steht mir natürlich nicht zu, mich einzumischen oder Sie zu drängen, aber Bernadette hat geäußert, dass Sie vielleicht aus Angst nicht in die Öffentlichkeit treten möchten.«
»Das steht Ihnen tatsächlich nicht zu.« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.
Einen Augenblick herrschte Stille.
»Mrs Murray, Bernadette trägt ihre eigenen Narben, und doch hat sie sich sehr bemüht, ihre Schüchternheit zu überwinden und in der Schule erfolgreich zu sein. Sie ist schnell aus ihrem Schneckenhaus herausgekommen und hat enge Freundschaften geschlossen. Ihre Freundinnen sehen ihre Narben gar nicht mehr. Sie lieben ihren Charakter, ihre Lebendigkeit und ihre Fürsorglichkeit. Sie lieben sie. Wie wir alle. Bernadette soll sogar die Abschiedsrede halten. Seien Sie versichert, dass wir Sie als Mutter eines wunderbaren Mädchens willkommen heißen. Auf eine solche Tochter können Sie stolz sein.«
Es freute mich, dass Bernadette so erfolgreich und beliebt war. Genau aus diesem Grund hatte ich sie dort hingeschickt. Das hatte ich mir für sie gewünscht, denn ich selbst hatte es ihr nie geben können. Dots Stimme klang noch genauso wie vor vielen Jahren. Wenn sie nur wüsste … aber sie durfte es niemals erfahren.
»Grüßen Sie Bernadette herzlich von mir, Mrs – auf Wiederhören.« Während Dot noch sprach, ließ ich mit zitternden Händen den Hörer sinken und schaffte es erst im zweiten Anlauf, ihn auf die Gabel zu balancieren. Ich nahm mein Taschentuch und begann, die Ecken zu kneten.
»Geht es Bernadette gut?« Portia, meine langjährige Haushälterin – eigentlich mehr Freundin als Hausmädchen –, war auf dem Treppenabsatz stehen geblieben und hatte zugehört.
Ich schluckte, schob die Vergangenheit beiseite und rief mich zurück in die Gegenwart, auch wenn ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. »Ja, alles in Ordnung.«
»Die Frau möchte, dass du zur Abschlussfeier kommst, stimmt’s? Deshalb hat sie angerufen?«
»Ich gehe aber nicht hin.«
»Du bist es Bernadette schuldig.«
Portia war zwar meine Freundin – meine einzige –, aber sie drängte mich zu sehr, und in solchen Momenten wollte ich sie am liebsten in ihre Schranken weisen. Auch wenn sie über Standesgrenzen genauso die Nase rümpfte wie ich.
Ich ging in die Bibliothek, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Sie folgte mir. »Du hast sie auf diese Schule geschickt, damit sie lernt, aus sich herauszugehen und in ein Leben hineinzuwachsen, das ihr in diesen Gefängnismauern hier verwehrt war. Jetzt hat sie es geschafft, und darauf solltest du stolz sein.«
»Ich war schon immer stolz auf Bernadette. Und unser Zuhause ist kein Gefängnis.«
»Du kannst ja einen Schleier tragen, wenn du Bedenken hast.«
»Lass es einfach, Portia. Das geht dich nichts an.«
»Es geht mich nichts an, nachdem ich mich all die Jahre um euch gekümmert habe? Du bist schon fast wie diese Miss Haversham aus dem Dickens-Roman, den du mir kürzlich vorgelesen hast; du wirst noch bis an dein Lebensende …«
»Portia, bitte. Und außerdem heißt sie Havisham.«
Portia sagte nichts mehr. Ich hatte sie gekränkt und es tat mir sofort leid. Nach einer langen Weile ging sie zurück in die Küche und murmelte vor sich hin: »Du solltest ein bisschen was von dem Mumm zeigen, den du immer predigst – und ein bisschen Respekt könnte auch nicht schaden.« Noch als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, vernahm ich ihr unverständliches Grummeln, hörte Töpfe auf den Herd knallen und Geschirr mit lautem Klirren im Spülbecken landen.
In der Bibliothek schloss ich die Tür, lehnte mich mit dem Rücken dagegen und presste die Lippen aufeinander. Wenn ich die Erinnerungen nur auch so leicht aussperren könnte.
Ich zog die Vorhänge zur Seite und öffnete alle Fenster weit, um die Sonne einzulassen.
In Halifax war endlich der Frühling eingezogen. Der verlockende Duft von Flieder, vermischt mit dem der ersten Rosen, Wicken, Maiglöckchen und Pfingstrosen strömte durch die offenen Fenster herein. Es war immer noch kühl genug, um abends nach Sonnenuntergang den Ofen zu schüren, aber tagsüber wollte ich Frühlingsluft riechen.
Ich legte mir eine weitere Strickjacke um die Schultern, setzte mich an meinen Schreibtisch und rückte den Stapel mit den Seiten meines Manuskripts gerade, das ich überarbeiten wollte. Es gab viel zu tun an diesem Tag, und ich würde mich von Dorothys Anruf nicht von der Arbeit abhalten lassen.
Mir stockte der Atem.
Dorothy. Dot. Dottie. Meine beste Freundin. Früher. Vor langer Zeit. Was würdest du sagen, wenn du wüsstest, dass die Frau am anderen Ende der Leitung tatsächlich ich war, nicht Rosaline Murray? Dass Bernadette in Wirklichkeit … Nein. Ich würde diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Aber die Erinnerung an Dot, und mit ihr an Ruth und Susannah, die Ladys von Lakeside, an meine Jahre am Mädcheninternat Lakeside … und so vieles mehr … ich wollte mich nicht daran erinnern. Aber wie könnte ich es vergessen?
HERBST 1905
Niemals wäre ich auf ein Internat gegangen, niemals hätte ich die Mädchen kennengelernt, wenn der Sturm nicht gewesen wäre – der verheerende Sturm, der völlig unvermittelt zwischen dem Festland und der Prinz-Edward-Insel losbrach.
Es hätte nur ein Tagesausflug nach Halifax zum Einkaufen werden sollen. Meine Eltern hatten eigentlich vor der Nacht zurück sein wollen. Wind, Regen und Dunkelheit kamen – meine Eltern aber kamen nicht. Genauso wie sie Tag für Tag im Leben eins gewesen waren, gingen sie gemeinsam in den Tod.
Ich war elf Jahre alt und am Tag des Sturms in der Schule. So nannten wir ihn. Es gab ein Leben vor dem Tag des Sturms und ein Leben danach. Mit 22 anderen Kindern besuchte ich eine Dorfschule, in der alle Klassen in zwei Klassenzimmern untergebracht waren. Unsere Lehrerin schickte uns nach Hause, als der Himmel sich verdunkelte. Im Rückblick finde ich das unverantwortlich. Wir hätten im Schulhaus bleiben und den Sturm gemeinsam durchstehen sollen. Aber die Lehrerin war noch jung und in meinen Augen nicht so hell im Kopf.
Als ich völlig durchnässt zu Hause ankam, schürte ich ein Feuer, machte mir ein spärliches Abendessen und schrieb noch ein wenig Tagebuch, bevor ich ins Bett ging. Der Sturm tobte bis zur Morgendämmerung. In meinen elf, beinahe zwölf Lebensjahren hatte ich auf der Insel schon so manches Unwetter erlebt. Normalerweise hätte ich keine Angst gehabt. Ich hätte geglaubt, dass die Fähre meiner Eltern wegen des Sturms bestimmt im Hafen von Halifax festsaß und am nächsten Morgen eintreffen würde. Aber irgendwie spürte ich im Dunkel der Nacht, dass es diesmal anders war; dass meine Eltern niemals zurückkommen würden und ich am nächsten Morgen tatsächlich ein Waisenkind wäre. Und ich fragte mich: Was soll ich dann nur tun?
Nach und nach wurden Leichen am Ufer der Prinz-Edward-Insel angeschwemmt – zuerst vereinzelt, dann oft zwei oder drei auf einmal. Ich hörte, dass ein ortsansässiger Fischer meine Eltern schon identifiziert hatte, noch bevor ich zum Hafen kam. Wer der Fischer war, habe ich nie erfahren. Ich erinnere mich, dass ich zwei Tage nach dem Sturm am Strand einen der hochhackigen roten Schuhe meiner Mutter fand. Sie war so stolz darauf gewesen, solche Schuhe zu besitzen. Der zweite blieb verschwunden.
Die Beisetzungen der Opfer zogen sich die ganze Woche über hin. Mein Halbbruder Lemuel kam aus Halifax, um der Beerdigung beizuwohnen, den Nachlass unserer Eltern zu regeln und das Haus zu verkaufen. Er war Vaters Sohn aus erster Ehe – Vaters Frau war bei der Geburt des zweiten Kindes verstorben.
Der Schock, das Verpacken von Mutters und Vaters Büchern und der Verkauf und Abtransport von Mutters Harmonium gab mir beinahe den Rest – ich war noch nicht einmal fähig, Tagebuch zu schreiben, obwohl das mein abendliches Ritual war, seit ich schreiben konnte. Nach außen hin ließ ich mir wenig anmerken. Ich wollte nicht weinen vor meinem Halbbruder, den ich kaum kannte, der schon lange ausgezogen und dreizehn Jahre älter war als ich.
Im Rückblick kommt es mir naiv vor, zu denken, ich könnte weiter auf der Insel leben. Ich hatte geglaubt, Lemuel würde mir erlauben, zu meiner besten Freundin, Eliza Billings, und ihrer Familie zu ziehen. Wir waren von klein auf unzertrennlich gewesen: in der Kirche, in der Schule, bei gemeinsamen Urlauben am Strand. Zu Elizas und meinem Erstaunen boten ihre Eltern es nicht einmal an und Lemuel spöttelte über meine Vorstellung von Wohltätigkeit.
Da begriff ich: Er wollte, dass ich die Insel verließ, die Insel mit ihren zerklüfteten Hügeln und Tälern, den rauen Winden und weitläufigen Wäldern, mit ihren Millionen von Wildblumen im Sommer, ihrer felsigen Steilküste aus rotem Sandstein. Wie sollte ich ohne all das leben können, ohne die frische Meeresbrise am Morgen? Es war ein Teil meines Lebens, ein Teil von mir.
Die Vorstellung, Lemuel könnte wollen, dass ich mit ihm, seiner Frau und seinem kleinen Sohn in Halifax lebte, ließ mich erschaudern. Ich hasste die Stadt und war seiner Frau bisher erst zweimal begegnet – aber er hatte ganz andere Pläne für mich.
»Du gehst ab nächste Woche ins Mädcheninternat Lakeside in Connecticut. Es ist eine gute Mädchenschule mit einem ausgezeichneten Ruf. Dort solltest du gut zurechtkommen.«
»Ich soll weg von der Prinz-Edward-Insel?« Als ich diese Worte laut aussprach, stieg plötzlich ein dicker Kloß in meiner Kehle auf, größer und rauer als jeder Stein an der Küste.
»Na ja, hierbleiben kannst du ja schlecht. Wir haben schließlich keine Verwandten mehr auf der Insel.«
»Was ist mit den MacNeills, die das Postamt betreiben? Sind die nicht entfernt mit uns verwandt?«
»Die sind zu alt«, widersprach er, »und außerdem sind sie nicht Vaters MacNeills. Sie haben keinerlei Verpflichtung.«
»Aber …«
»Ein kleiner Koffer, Adelaide. Mehr brauchst du nicht. Die Kleiderordnung ist streng. Wenn es dort eine Schuluniform gibt, sorge ich bei der Schulleitung dafür, dass du sie bekommst. Du reist morgen früh ab.«
»Morgen früh? Ich soll alle meine Sachen zurücklassen?« Mein Zuhause verlassen – den Ort, wo mein Körper, mein Herz und meine Seele wohnen?
Er ließ den Blick über die Puppen auf meinem Regal schweifen, über die Bücherstapel neben meinem Bett, die Körbe voller Steine und Kiefernzapfen in meinem Zimmer – und schüttelte dann angewidert den Kopf.
»Ich muss mich zumindest verabschieden von …«
»Niemand erwartet das von einem Mädchen in deinem Alter nach einem solchen Ereignis. Ich muss beruflich zurück nach Halifax, und je früher du in der Schule einsteigst, desto besser; desto weniger Stoff versäumst du. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass du vielleicht eine Klasse wiederholen musst, um mit den anderen mithalten zu können. Die Prinz-Edward-Insel hat in Sachen Bildung nicht viel zu bieten.« Hätte er geschnaubt, hätte es nicht spöttischer klingen können.
Alle erwarten ein Wort zum Abschied und ein Dankeschön für das, was sie für mich getan haben, was sie für mich waren, und ich muss sie bitten, ja anflehen, mir im fernen Connecticut zu schreiben. Selbst einem Mädchen in meinem Alter war all das schmerzlich bewusst.
Aber natürlich sagte ich das nicht. Ich ging in mein Zimmer an diesem letzten Abend im alten Haus; dem Haus, in dem ich geboren wurde, wo meine Eltern mich noch vor wenigen Wochen an sich gedrückt, mich geküsst und mir versichert hatten, wie sehr sie mich liebten. Leise schloss ich meine Tür, lehnte mich dagegen und brach in Tränen aus.
In diesem zarten Alter ahnte ich noch nicht, dass das Mädcheninternat Lakeside meine Rettung sein würde – vor Lemuel und seiner Kaltherzigkeit; davor, als Pflegekind im staatlichen System zu landen und von Familie zu Familie, von Ort zu Ort geschoben zu werden. Ich ahnte noch nicht, dass ich dort ein Zuhause und eine Familie finden und sie eines Tages jäh wieder verlieren sollte.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
SEPTEMBER 1905
Am nächsten Tag, meinem zwölften Geburtstag, bestiegen wir die Fähre nach Halifax. Lemuel erwähnte meinen Ehrentag nicht einmal. Ich fragte mich, ob er nicht wusste, wann ich Geburtstag hatte, oder ob er ihm einfach egal war. Gedankenverloren sah ich zur Küste hinüber, bis die roten Felsen sich in der Ferne verloren und der rot-weiße Leuchtturm in einem Meer von Tränen verschwamm. Auch anderen trieb der Wind an diesem Tag salzige Tränen in die Augen, sodass ich mir keine Sorgen machte, was Lemuel von mir denken mochte.
In Halifax zerrte ich meinen Koffer an Land, zum Tragen war er zu schwer. Ich hatte meine wenigen in Leder gebundenen Schätze so dicht wie möglich gepackt – Die gesammelten Gedichte von Robert Burns und Romane aus der Feder lieb gewordener Freunde, die ich natürlich nie persönlich kennengelernt hatte: Charles Dickens, Louisa May Alcott, Robert Louis Stevenson. Daneben die Tagebücher, die mir mein Vater über die Jahre geschenkt hatte, und ein paar Kleidungsstücke. So vieles hatte ich zurücklassen müssen.
Ich fragte mich, ob ein neues Mädchen dort leben und in dem weichen Steppbett in meinem vertrauten alten Zimmer schlafen würde. Ob sie wohl meine Kiefernzapfen und Steine, meine Federsammlung von Haubentauchern, Nachtschwalben und Eichelhähern entdecken würde? Ob sie das alles zu schätzen wüsste? Oder würde ihre Mutter es gleich in den Abfall werfen?
Gemeinsam schleppten wir meinen Koffer vom Fähranleger zum Schifffahrtsbüro – Lemuel fasste an einem, ich am anderen Ende an. Er lief so schnell, dass ich kaum mit ihm Schritt halten konnte.
Während mein Bruder hineinging, um die Formalitäten zu erledigen, wartete ich draußen. Ich hielt mein Gesicht mit geschlossenen Augen zur Sonne gewandt, in der Hoffnung, dass ihre warmen Strahlen meine Erstarrung lösen und die letzten Tränen im Keim ersticken würden.
Nach einer halben Stunde stürmte ein äußerst übellauniger Lemuel heraus, packte meinen Koffer am Henkel, hievte ihn sich auf die Schulter und rief mir im Laufen nach: »Komm, Adelaide. Zur vollen Stunde läuft ein Schiff aus. Wenn wir uns beeilen, kriegst du es noch.«
Ein Schiff? Jetzt schon? Ich hatte meine Schwägerin oder meinen Neffen noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Eigentlich hätte ich mindestens über Nacht bei ihnen bleiben sollen. Ich hechtete Lemuel hinterher. Schnelles Laufen war ich gewohnt, er aber flog förmlich.
Wir erreichten den Landungssteg, kurz bevor er hochgezogen wurde. Lemuel trug meinen Koffer an Deck, zeigte dem Beamten meine Fahrkarte, ließ meinen Koffer fallen und drehte sich zu mir um, ohne mir in die Augen zu sehen. »Das klappt schon. Von Boston aus nimmst du einen Zug nach Hartford. Dort wird jemand von der Schule auf dich warten. Dein Zugticket brauchst du am Bahnhof nur abzuholen. Ich schicke ein Telegramm und lasse es auf meinen Namen ausstellen.«
Mir schwirrte der Kopf. Es ging alles so schnell. »Wie komme ich denn vom Schiff zum Bahnhof?«
»Nimm einfach eine Droschke, meine Güte!«
Als sei ich schon mein ganzes Leben lang gereist – als hätte ich auch nur die leiseste Ahnung, wovon er sprach. Er muss meine Panik gespürt haben, denn er griff in seine Brusttasche und zog einen Umschlag heraus. »Damit solltest du auskommen, bis ich ein Taschengeldkonto für dich eingerichtet habe.« Noch immer mied er meinen Blick. Der Schiffsbedienstete räusperte sich laut.
»Jetzt geh schon. Du hältst ja alle Welt auf.«
»Lemuel!« Bei all seiner Unfreundlichkeit war er auf der Welt alles, was mir von meiner Familie geblieben war.
»Adelaide.« Endlich sah er mich an. »Das wird schon. Ich … ich schreibe dir.« Er brachte den Satz kaum heraus. Ich fragte mich, ob er tatsächlich Wort halten oder mich sofort vergessen würde, sobald er mich los war. Und dann war er weg.
»Hier lang, Miss.« Ein übertrieben fröhlicher Schiffsjunge schleppte meinen Koffer. Ein Seil wurde über die Gangway gehängt. Ich weiß nicht, was draußen passierte, ob Lemuel wartete, um mir zum Abschied zu winken, um zu sehen, wie das Schiff den Hafen verließ – und ich Nova Scotia, vielleicht für immer. Ich folgte dem Schiffsjungen hinunter in einen finsteren Gang und musste blinzeln, um meine Augen an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Schiffsjunge öffnete die Tür zur Kabine, verstaute meinen Koffer am Fußende einer der schmalen Kojen und wartete einen Moment mit aufgehaltener Hand. Ich verstand nicht, warum. Nachdem ich ihn einige Augenblicke angestarrt hatte, zog er ein Gesicht, als hätte ich auch ihn irgendwie enttäuscht. Dann schloss er die Tür und ließ mich allein.
Lemuel hatte mir ein Ticket in der zweiten Klasse gebucht. Die Kajüte hatte zwei Kojen, eine davon war anscheinend schon belegt.
Ich setzte mich auf die Bettkante und meine Kehle war trocken, ich sehnte mich nach einem Schluck Wasser oder Tee. Vielleicht steckten mir auch einfach meine zurückgehaltenen Tränen wie ein Kloß im Hals.
Wie gerne hätte ich die vertrauten Arme um mich gespürt, die jetzt auf der Insel, auf dem kleinen Friedhof vor der hölzernen Kirche ruhten. Irgendwann legte ich mich hin, zog die Knie an und wickelte meinen Mantel fest um mich.
Als ich die Augen aufschlug, sah eine ältere Frau mit streng hochgestecktem Dutt, aus dem einige graue Strähnen heraushingen, stirnrunzelnd auf mich herab.
Ich schreckte hoch und wusste nicht genau, ob ich träumte.
»Oh!«, keuchte sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken, Liebes. Ich bin Mrs Simmons, Mildred Simmons. Offenbar teilen wir uns diese Kajüte. Und wer bist du?«
Ich rappelte mich hoch und befeuchtete meine Lippen. »Adelaide. Adelaide MacNeill.«
»Was für ein hübscher Name für ein reizendes Mädchen!« Sie sah so aus, als würde sie es wirklich so meinen. »Gerade war der letzte Aufruf zum Abendessen für die zweite Klasse. Ich mache mich gleich auf den Weg in den Speisesaal. Möchtest du mitkommen? Ich war mir nicht sicher, ob du nicht lieber schlafen willst, aber bis zum Frühstück gibt es dann nichts mehr.«
Ich hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Und auch da hatte ich nur mühsam eine Tasse Tee und eine halbe Scheibe trockenen Toast hinuntergebracht. Mein knurrender Magen sagte mir, dass ich vielleicht doch etwas essen könnte. »Ja, danke.« Verschlafen hob ich die Füße aus der Koje und schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bestimmt sah ich schlimm aus, ganz zerknittert und zerzaust. »Muss ich mich zum Essen umziehen? Ist das ein großes Schiff? Mutter hatte mir einmal gesagt, dass sich die Leute auf großen Schiffen zum Abendessen umziehen.«
Mrs Simmons lächelte. »Umziehen müssen wir uns nicht, aber eine Bürste könnte nicht schaden.«
Ich blinzelte die Tränen weg, mit denen ich seit dem Tag des Sturms andauernd kämpfte, und kramte in meinem Koffer. Dann zog ich die Haarbänder aus meinen Zöpfen und versuchte, mein Haar zu entwirren.
»Darf ich?«, bot Mrs Simmons mir an und hielt die Hand nach meiner Bürste auf. Ich schniefte, reichte sie ihr und drehte ihr den Rücken zu, damit sie besser bürsten konnte. Es war bestimmt gar nicht so leicht, denn ich war fast so groß wie sie.
»Deine Eltern müssen dich für eine sehr verantwortungsvolle junge Dame halten, wenn sie dich allein auf die Reise schicken.« Sie bürstete ganz vorsichtig.
Mich schauderte und ich versuchte, mich zusammenzunehmen. Wenn sie doch nur nicht so etwas sagen würde!
»Aber Kind, du zitterst ja. Geht es dir gut?«
»Ja. Schon.«
Als sie fertig war, flocht sie mir hinten in der Mitte einen Zopf. »So. Jetzt ist es schon besser. Wollen wir?« Sie ging voraus. Noch nie war ich so dankbar gewesen, dass jemand die Dinge in die Hand nahm. Mrs Simmons führte mich durch ein Labyrinth von Gängen, hinauf auf eines der Decks und durch weitere Türen in einen Speisesaal. Ich hatte noch nie einen so großen Raum mit so vielen gedeckten Tischen gesehen. »Hier ist der Tisch für unsere Kajüte. Schau, da sind noch zwei Plätze nebeneinander frei. Wie schön.«
Ich achtete auf Anzeichen von Sarkasmus oder Verachtung in ihrer Stimme, wie ich sie bei Lemuel herausgehört hatte, aber ich hörte nichts dergleichen. Zum Glück stellte sie mir während der Mahlzeit nur belanglose Fragen wie Spürst du, wie das Schiff schaukelt? Schmeckt dir die Suppe? War die Pastete nicht lecker? Die anderen Leute an unserem Tisch interessierten sich nicht für uns, was mir ganz recht war.
Nach dem Abendessen schlenderten wir in der wohltuenden Kühle der Nacht über das Deck und ließen uns die Seeluft um die Ohren blasen. Ein willkommenes Geschenk. Mrs Simmons drängte mich nicht, auch wenn ihr sicher kalt war.
Wir machten uns zum Schlafengehen fertig, darauf bedacht, einander genügend Privatsphäre zu lassen. Als wir das Licht gelöscht hatten, flüsterte sie nach einer Weile aus ihrer Koje auf der anderen Seite: »Würdest du gerne reden, Liebes?«
Ihre mitfühlende Stimme öffnete bei mir alle Schleusen. Unter ersticktem Schluchzen erzählte ich ihr von dem heftigen Sturm, von meinen Eltern, die in den aufgewühlten Wellen über Bord gespült worden waren, von der Bergung ihrer Leichen, von Mutters einsamem rotem Schuh, von ihrem Begräbnis, vom Kommen Lemuels und dem Verkauf unseres Hauses. Ich erzählte ihr von unserem übereilten Aufbruch nach Halifax, der mir nicht einmal die Zeit gelassen hatte, mich von meinen Freunden zu verabschieden oder noch einmal zum Grab meiner Eltern oder einem meiner Lieblingsorte zu gehen: zum Wäldchen in der Schlucht oder zur Klippe, die wachend über dem Ufer stand. Jetzt war ich auf dem Weg in die Staaten, zu einer Schule, in der ich niemanden kannte, und Lemuel hatte mir versichert, dass ich als Mädchen von der Insel mit anderen Kindern sowieso nicht würde mithalten können.
Mrs Simmons hörte mir aufmerksam zu, schniefte nur ab und an und rief oder flüsterte ein mitfühlendes »Oh«, um meinen Erzählfluss nicht zu unterbrechen. Ich redete, bis ich völlig erschöpft war, bis meine Tränen versiegt waren, das Zittern aufgehört hatte und ich ganz still dalag. Erst dann begann Mrs Simmons, laut zu beten.
»Unser lieber Gott und Vater, mit gebrochenem Herzen kommen wir heute Nacht zu dir in unserer Trauer über den furchtbaren Verlust von Adelaides geliebten Eltern. Wir trauern um die starken Arme, die sie nun nicht mehr um sich spüren kann, um das Zuhause, das sie so sehr geliebt hat – wo sie geboren wurde, sich geborgen fühlte und in dem sie zu einer jungen Frau heranwachsen wollte.
Herr, sie ist jetzt auf einer Reise ins Ungewisse. Sei du bei ihr, Vater. Lasse sie deine Liebe und Fürsorge erfahren. Stelle andere Menschen in ihr Leben, die ihr helfen. Erinnere sie jeden Tag greifbar daran, dass sie auf ihrer Lebensreise nicht allein ist. Halte du sie, führe sie, beschütze sie, Vater, und schenke ihr die Gewissheit, dass sie deine geliebte Tochter ist.
Danke, dass du gut für uns sorgst und uns für unsere Reise in dieser Kajüte zusammengeführt hast, Herr. Nur du konntest uns ein solches Geschenk machen. Segne Adelaide, lasse sie heute Nacht gut schlafen und morgen früh aufwachen mit der Zuversicht und dem Frieden, die nur du geben kannst.
Danke, Vater, dass du mich mit diesem reizenden Mädchen zusammengebracht hast. Im Namen Jesus Christus, unseres Herrn, Amen.«
»Amen«, flüsterte ich so leise, dass ich hoffte, Gott würde es überhaupt hören.
»Gute Nacht, Liebes.«
»Gute Nacht, Mrs Simmons.«
Wider Erwarten schlief ich tatsächlich tief und fest und konnte mich auch nicht erinnern, geträumt zu haben.
Als wir in Boston anlegten, war Mrs Simmons fest entschlossen, mich sicher in den Zug nach Hartford zu setzen. Ich hatte auch nicht vor, ihr das auszureden.
Sie hielt Wort und wartete, bis ich mein Ticket am Schalter abgeholt hatte. Dann erklärte sie mir ausführlich, was ich auf meiner Reise wissen musste, und zog sogar einen Bogen Briefpapier aus ihrer Reisetasche, auf dem sie alles aufschrieb. Dafür war ich ihr sehr dankbar, denn so unerfahren, wie ich war, würde ich sicherlich das meiste wieder vergessen. Bevor wir uns verabschiedeten, schrieb sie mir noch ihre Adresse unten auf den Briefbogen.
»Wenn du dich dann eingelebt hast, musst du mir schreiben und mir alles über deine neue Schule erzählen. Ich möchte wissen, was deine Lieblingsfächer sind und wie deine neuen Freundinnen heißen. Du wirst bestimmt nicht lange einsam sein. Jedes Mädchen wird sich mit dir anfreunden wollen, Adelaide, und du findest ganz sicher eine oder zwei richtig nette Freudinnen, wenn du deine Augen und dein Herz offen hältst und den anderen Mädchen dein freundliches Lächeln schenkst. Denk immer daran.«
Genau wie Mrs Simmons hätte ich mir meine Großmutter oder meinen Schutzengel vorgestellt … Ach, wäre sie doch meine Großmutter gewesen!
Ich lehnte mich aus dem Fenster und winkte ihr nach, bis der Zug um eine Kurve fuhr und ich sie nicht mehr sah. Es fühlte sich seltsam an, ganz alleine in dem Abteil zu sitzen, also schaute ich eine Weile aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, dann betrachtete ich das Papier, das ich in der Hand hielt.
Mit der Liste, die Mrs Simmons mir aufgeschrieben hatte, fühlte ich mich nicht mehr ganz so hilflos und allein. Ich lehnte mich zurück, seufzte und schloss die Augen. Mutters Gesicht tauchte vor mir auf, dann das meines Vaters. Ich sah Mutters leuchtende Augen und ihr Lächeln mit den Grübchen in ihren Wangen. Vater runzelte besorgt die Stirn, sein dunkles Haar zeigte schon Spuren von Grau. Wie gerne hätte ich die Hand nach ihnen ausgestreckt. Wenn ich die Augen öffnen würde, wären sie nicht mehr da, also hielt ich sie geschlossen und muss wohl irgendwann eingeschlafen sein.
Ein Pfiff riss mich aus dem Schlaf, als der Zug mit einem Ruck zum Stehen kam. Neue Reisende stiegen ein und ein Mann setzte sich mir gegenüber. Ich wandte mich demonstrativ ab und sah aus dem Fenster. Hoffentlich würde er kein Gespräch anfangen.
Ich konzentrierte mich darauf, mir das Mädcheninternat Lakeside vorzustellen. Ob es wirklich an einem See lag? Ein See war zwar nicht mit dem Meer zu vergleichen, aber Mrs Simmons hatte gesagt, dass auch Seen einen gewissen Zauber innehaben könnten. Zauber. Früher hatte ich an Magie geglaubt, an Feen und Zwerge aus vergangener Zeit, aber der Tod meiner Eltern hatte mir den Glauben an solche Dinge ausgetrieben. Ich fragte mich, ob ich in der Schule tatsächlich eine Freundin finden würde, wie Mrs Simmons es erwartete – nicht irgendeine Freundin, sondern eine beste Freundin. Oh, wie ich mir das wünschte.
Der Zug fuhr in den Bahnhof von Hartford ein und bremste zweimal so ruckartig, dass mein Mantel aus der Gepäckablage fiel. Der Mann, der mir gegenübersaß, fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel. »Der gehört dir, oder?« Er lächelte.
»Danke, Sir.« Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und sammelte verlegen meine Sachen zusammen.
Die Türen des Abteils öffneten sich und wir stiegen einer nach dem anderen aus.
Lemuel hatte gesagt, jemand von der Schule würde mich am Bahnhof abholen, aber ich hatte keine Ahnung, wer das sein könnte, wie derjenige aussah oder wo ich warten sollte. Die Unsicherheit ergriff mich erneut. Aber ich weigerte mich zu weinen und dachte an Mrs Simmons’ Rat. »Stell dich aufrecht hin, hol tief Luft, sprich ein Gebet und überlege, welche Möglichkeiten du hast.«
Sie hatte gesagt, ich solle nach einem Mann in Bahnhofsuniform Ausschau halten, ihm meinen Gepäckschein zeigen und ihn bitten, meinen Koffer in den Warteraum der Damen zu bringen. Sicher würde derjenige, der mich abholen wollte, dort nach mir suchen. Endlich fand ich einen Angestellten. Er lüftete seinen Hut und nahm mir den Gepäckschein ab. Ich folgte einer Gruppe von Frauen, die so zielstrebig unterwegs waren, als wüssten sie genau, wohin sie wollten. Tatsächlich betraten sie einen Wartesaal für Damen.
Ich fand einen Platz ganz außen auf einer Bank. Wenige Minuten später stellte ein Kofferträger mir meinen Koffer vor die Füße. Eine halbe Stunde verging, dann eine Stunde. Es dämmerte schon und ich fragte mich allmählich, was ich tun würde, wenn der Wartesaal oder gar der ganze Bahnhof geschlossen würde und ich allein auf dem Bahnsteig zurückbliebe.
Wenige Augenblicke später flog die Tür auf und ein Mädchen, nicht viel älter als ich, stürmte herein – ein Mädchen mit flammend rotem, zerzaustem Haar, funkelnden grünen Augen und Sommersprossen auf der Nase. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter im Raum schweifen. Ich setzte mich aufrecht hin. Als sich unsere Blicke trafen, grinste sie fast so wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland und kam direkt auf mich zu. »MacNeill? Adelaide MacNeill?«
»Ja, das bin ich.« Erleichtert stand ich auf.
Sie ergriff meine Hand und schüttelte sie kräftig. »Dorothy Belding. Nenn mich Dot. Willkommen in Lakeside – oder erst einmal in Hartford. Ich bin deine Klassenpatin – zumindest bis morgen, bis du deine offizielle Klassenpatin bekommst.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
»Hast du nicht mehr dabei?« Sie warf einen Blick auf meinen Koffer.
Ich schüttelte den Kopf, so perplex, dass ich keinen Ton herausbrachte.
»Du reist mit leichtem Gepäck? Gut so. Young Clem kommt kaum vom Fleck, wenn der Wagen schwer beladen ist. So sollten wir es gut schaffen.« Sie packte meinen Koffer an einem Ende und zog bei seinem Gewicht erstaunt die Brauen hoch. »Also komm. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch bis zum Abendessen. Es gibt heute Rindergulasch. Mrs Potts Brötchen sind so fluffig wie das Federkissen deiner Oma!«
Ich nahm den Koffer am anderen Ende und lief ihr hinterher. Traurig dachte ich daran, dass ich nie wirklich eine Großmutter gehabt hatte, außer damals in Schottland. Und es ging mir auf, dass ich jetzt wohl jedem Mädchen, dem ich begegnete, erzählen musste, wie meine Eltern umgekommen waren. Schaudernd stolperte ich weiter. Dorothy redete wie ein Wasserfall, während sie lief.
Ich konnte ihr leicht den Bahnsteig entlang und um das Gebäude herum folgen – ihrem völlig ungewohnten Akzent allerdings nicht. Ich war mir nicht sicher, ob ich jedes Wort verstand und wusste, was es bedeutete. Vermutlich hätte ich mehr verstanden, wenn sie Französisch oder Irisch geredet hätte, obwohl Vater die alte Sprache auch zu Hause kaum mehr gesprochen hatte. Vater, oh Vater, wo bist du jetzt, wo ich dich so sehr brauche?
Aber ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Dot zählte »eins, zwei, drei«, und gemeinsam hievten wir meinen Koffer auf die Ladefläche einer mit Waren beladenen Kutsche. Der Fahrer sprang vom Kutschbock herunter, lüftete seinen Hut und begrüßte mich: »Guten Tag, Miss. Willkommen in Lakeside. Ich bin Jeremiah Potts. Das hättet ihr mal besser mich machen lassen sollen, der sieht schwer aus.«
»Überhaupt nicht!«, versicherte Dorothy und ersparte mir damit eine Antwort. Aber Mr Potts hatte ein so freundliches Gesicht und eine höfliche, ländliche Art, die mich an manche Fischer zu Hause erinnerte.
Er reichte mir seine große Hand und ich folgte Dot auf den Wagen. Sie war zuerst hinaufgeklettert und hatte für uns beide auf einer umgedrehten Holzkiste Platz gemacht, die, mit einer Flickendecke präpariert, gegen den Kutschbock gelehnt war.
Kaum, dass ich mich hingesetzt hatte, stampfte das Pferd von einem Schnauben begleitet vorwärts und der Wagen setzte sich knarrend in Bewegung. Young Clem. Was für ein seltsamer Name für ein altes Pferd! Er war haselnussbraun, mit einer krummen, cremefarbenen Blesse auf der Stirn und schwarzen Nüstern. Seine Stirnlocke war cremefarben, genau wie die Mähne. Er machte einen gutmütigen, gemächlichen Eindruck.
Dot plauderte unermüdlich. Irgendwann versiegte ihr Redefluss und wir fuhren einige Zeit schweigend. Dann sagte sie: »Miss Weston hat mir erzählt, dass deine Eltern in einem Sturm umgekommen sind.«
Mir blieb die Luft weg.
»Das tut mir sehr leid. Wie schrecklich.«
Ich nickte, unfähig zu reden.
»Wie geht es dir?«
Was denkst du wohl? Aber ich verkniff es mir; sagte ihr nicht, was für ein gedankenloses, neugieriges Mädchen sie doch war. Schließlich antwortete ich mit einem Spruch, den ich auf der Insel gelernt hatte: »Es ging mir schon mal besser, aber der Preis ist hoch.«
Es war ein Stückchen Heimat, das Fremde aus dem Konzept brachte und ihre Fragen abwürgte. Ich spürte, wie Dot mich fast eine Minute lang schweigend anstarrte, bevor ich sie ansah.
Ihre Augen waren voll Mitgefühl. Sie stellte keine Fragen mehr, sondern lehnte sich einfach zurück gegen den Kutschbock. Schließlich sagte sie, den Blick auf den hinter uns liegenden Weg gerichtet: »Adelaide MacNeill, ich glaube, wir werden beste Freundinnen.«
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SEPTEMBER 1905
Nach dem Abendessen stellte Dot mich der Schulleiterin, Miss Weston, vor. Ich fand sie ausgesprochen nett, doch Dot warnte mich davor, mich von ihrem charmanten Lächeln täuschen zu lassen. »Sie kann ein absoluter Drache sein, wenn sie will. Solange du dich an die Regeln hältst, wirst du gut mit ihr auskommen, aber wehe, du fällst aus dem Rahmen, dann ist nicht mit ihr zu spaßen.«
So richtig vorstellen konnte ich mir das nicht und rückblickend kann ich nur sagen: Selbst ein schlechter Tag bei Miss Weston war nichts im Vergleich zu einem besonders guten bei meiner Klassenpatin.
Mildred Hammond sollte ich am nächsten Tag kennenlernen. Seltsam, wie ein solcher Albtraum auf zwei Beinen mit Vornamen genauso heißen konnte wie meine liebe Mrs Simmons.
In der ersten Schulwoche bekam jede neue Schülerin ein Mädchen zugewiesen, das schon mindestens zwei Jahre in Lakeside war. Aufgabe der Klassenpatinnen war es, die Neuankömmlinge willkommen zu heißen, sie den anderen vorzustellen, ihnen das Gebäude und die Freizeitangebote zu zeigen und das Einleben im Internat zu erleichtern – besonders denen, die zum ersten Mal von zu Hause fort waren. So sinnvoll sich das anhören mochte, in Wirklichkeit entpuppten sich ein paar der Klassenpatinnen, einschließlich Mildred, als wahre Tyrannen, die die Neuen nur halbherzig herumführten und anschließend als eine Mischung aus Hofdamen und Sklavinnen missbrauchten.
»Trag meine Bücher ins Klassenzimmer, Adelaide … Bring meine Schmutzwäsche in die Wäscherei – du findest schon den Weg; frag einfach irgendjemanden … Mach vor dem Frühstück mein Bett … Lass mir deinen Nachtisch übrig – du möchtest ja nicht dick werden.« Die Liste der Gemeinheiten wurde bis zum Ende der ersten Woche immer länger, dann galten die Neuen als eingelebt und integriert.
»Angeblich ist es gut für unsere Seelen«, sagte Ruth, ein Mädchen aus dem zweiten Jahrgang, mitfühlend, als ich völlig durchnässt und noch immer schlotternd vor Angst in den Schlafsaal kam, nachdem ich Mildreds Bücher im Dunkeln bei Blitz und Donner von der Bücherei in ihr Zimmer geschleppt hatte.
»Das einzige Gute für unsere Seelen ist, dass wir irgendwann auch Klassenpatinnen sind und den ganzen Spaß an den nächsten Neuankömmlingen auslassen können«, flachste Susannah, die wie ich zwölf Jahre alt war und die eine weiche und geschwollene Aussprache hatte – ein Akzent, der in North oder South Carolina gesprochen wird, wie ich bald erfuhr.
»Sie hätte dich bei dem Sturm nicht rausschicken dürfen«, schimpfte Dot. »Schließlich lag es für sie sowieso auf dem Weg. Es war reine Schikane. Sie wusste doch, dass deine –« Dot unterbrach ihren Satz, als sie meinen warnenden Blick bemerkte, und sah weg. Die anderen Mädchen liefen rot an und blickten verlegen auf ihre Bettwäsche oder ihre Hände. Ich begriff, dass Dot oder jemand anderes ihnen von meinen Eltern erzählt haben musste.
Verärgert und beschämt, dass sie hinter meinem Rücken über mich geredet hatten und Dinge wussten, die sie nichts angingen, wandte ich mich ab, um meinen tropfenden Mantel abzuschütteln und meine durchgeweichten Schuhe auszuziehen. Dot hatte recht; der Sturm hatte mir Angst gemacht und mich daran erinnert, wie furchtbar es für Mutter und Vater gewesen sein musste, in jener Nacht vom Wasser verschluckt zu werden. Wenigstens hatte im Regen niemand mein Schreien und meine Tränen bemerkt. Innerhalb der Schulmauern oder bei Tageslicht draußen hatte meine Trauer keinen Platz. Ich fand nicht einmal Zeit und Ruhe, mir den Kummer von der Seele zu schreiben. Dabei brauchte ich doch so dringend Raum zum Trauern.
Hinter dem Raumteiler zog ich mit zitternden Händen meine nassen Sachen aus und schlüpfte in mein Nachthemd.
»Addie?«, fragte Dot leise. »Gib mir deinen Mantel und deine Schuhe. Ich lege sie ans Feuer, dann sind sie morgen früh trocken und schön warm.«
Es war eine versöhnliche Geste, aber in meinem Schmerz wollte ich Dot am liebsten zurückweisen. Wem konnte ich trauen? Mildred, die in der ersten Woche auf mich hätte achtgeben sollen, war mit mir umgesprungen wie mit einer Bediensteten, hatte mich hinaus in den Sturm geschickt und mit einem hämischen Grinsen die Tür hinter mir zugeschlagen.
»Addie, bitte.«
Dot hatte mir gleich am zweiten Tag einen Spitznamen gegeben. Es hatte mir nichts ausgemacht, denn ihre Beweggründe schienen gutmütig zu sein. Gutmütig war sie immer noch, und ich brauchte, weiß der Himmel, dringend eine Freundin! Doch nun hatte sie mein dunkelstes, traurigstes Geheimnis ausgeplaudert. Vielleicht hatten aber auch Lehrkräfte oder die Schulleiterin es weitergesagt, in der wohlmeinenden Absicht, mir Kummer zu ersparen. Widerwillig reichte ich Dot um den Raumteiler herum meinen triefenden Mantel.
»Und deine Schuhe und Strümpfe.«
Dot war dabei gewesen, als ich meinen Koffer ausgepackt hatte, und wusste, dass ich nur ein Paar Strümpfe hatte. Ich konnte es nicht riskieren, ohne ein Paar dazustehen, bevor ich nicht die Gelegenheit hatte, welche zu kaufen. Im Mädcheninternat barfuß herumzulaufen, kam nicht infrage, nicht wie auf der Prinz-Edward-Insel.
»Danke«, flüsterte ich und gab sie ihr.
»Bitte.« Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie lächelte.
Als ich mein Nachthemd zugeknöpft hatte, ins Bett geklettert war und die Decke bis zum Kinn hochgezogen hatte, ging das Geplauder im Schlafsaal weiter. Ruth bemühte sich, mich ins Gespräch einzubeziehen – Klatsch und Tratsch über die Lehrkräfte und einige der älteren Mädchen.
Ich mochte Ruth. Sie stammte aus einem Ort nördlich von Halifax, also aus der gleichen Gegend wie ich, auch wenn sie meinen Halbbruder und seine Familie nicht kannte und nie einen Fuß auf die Prinz-Edward-Insel gesetzt hatte. Ruth erschien mir unkompliziert. Sie war hübsch, hatte ein paar vereinzelte Sommersprossen und hatte immer eine aufrechte Haltung, selbst wenn sie auf dem Bett oder am Tisch saß. Sie ließ sich von niemandem etwas gefallen, behandelte aber auch die anderen mit Respekt.
Susannah war die Größte von uns allen und hatte als Erste weibliche Rundungen. Mit ihren glänzenden goldenen Locken und ihren funkelnden blauen Augen war sie für mich der Inbegriff einer amerikanischen Südstaatenschönheit. Ihre cremefarbene Pfirsichhaut erinnerte mich an eine Porzellanpuppe. Sie war sehr darauf bedacht, sich vor der Sonne zu schützen, selbst auf dem Weg zum Unterricht. Doch wenn sie wollte, konnte sie mit ihrer scharfen Zunge und ihrem Südstaatendialekt so viel Gift verspritzen »wie daheim die Mokassinotter«, wie sie zu sagen pflegte. Zum Glück fiel ich ihr nie zum Opfer.
Die Mädchen waren nett, und vor allem Dot schien sich wirklich für mich zu interessieren.
Susannah legte sich aufs Bett. »Du solltest es dieser fiesen Mildred heimzahlen.«
Dot war gleich Feuer und Flamme und setzte sich ein Stück auf. »Wir alle sollten es ihr heimzahlen. Dich hat sie letztes Jahr auch wie ein Stück Dreck behandelt. Sie ist so ein Fiesling – ein ganz gemeiner.«
»Ich hätte nichts gegen eine kleine Heimzahlung«, bekräftigte Susannah mit einem verschmitzten Lächeln.
»Handelt euch meinetwegen keinen Ärger ein«, entgegnete ich beschwichtigend, aber ihre Rückendeckung tat mir gut. Es fühlte sich gut an, nicht ausgeschlossen zu sein, zumindest nicht als Einzige.
»Seid bloß vorsichtig«, warnte Ruth. »Egal, was ihr tut, lasst euch nur nicht erwischen. Sie darf auf keinen Fall herausfinden, wer dahintersteckt. Dann kriegt ihr noch zehnmal mehr Ärger.«
»Ruth hat recht«, warf Dot ein. »Wir müssen es genau durchdenken und sorgfältig planen.«
»Ich nehme es mal mit in meine Träume.« Susannah gähnte. »Die besten Ideen kommen mir immer im Schlaf.«
Ich lächelte, drehte mich auf die Seite und wartete darauf, dass jemand das Licht löschte. Morgen würde ich Mrs Simmons schreiben und ihr erzählen, dass ich von Freundinnen umgeben war – oder zumindest von Mädchen, die eines Tages meine Freundinnen werden könnten.
Am nächsten Morgen strahlte die Sonne über das gesamte Schulgelände. Es war der letzte Tag meiner ersten Woche und der letzte Morgen, an dem ich Mildreds Bett machen musste. Susannah stachelte mich an, ihr Salz aufs Laken zu streuen oder das Fußende mit Tannennadeln auszustopfen. Sie war sogar in der Früh losgezogen, um welche zu sammeln.
Aber Ruth war dagegen. »Sie wird gleich wissen, dass du es warst, und wird sich rächen. Mildred Hammonds Rache ist schlimmer als alles, was sie dir bisher angetan hat.«
»Woher willst du das denn wissen?«, fragte Susannah herausfordernd. »Dir hat sie noch nie was angetan.«
»Das ist aber ihre Art – so viel weiß ich. Es gibt eben Menschen und Unmenschen.«
»Ich finde, Ruth hat recht.« Dot runzelte die Stirn. »Es ist zu riskant.«
Sie debattierten, als sei ich gar nicht da, und ich mischte mich nicht ein. Ich wollte einfach nur den letzten Vormittag überstehen. Noch bevor die Frühstücksglocke läutete, lief ich zu dem Gebäude hinüber, in dem Mildred ihr Zimmer hatte, und klopfte an ihre Tür. Ältere Mädchen schliefen nicht mehr in Schlafsälen, sondern hatten jede ihr eigenes Zimmer.
»Du bist zu spät!«, schimpfte Mildred. »Du hättest mich rechtzeitig wecken sollen!«
»Ich dachte, das Zimmermädchen hätte dich geweckt, wie sonst auch.« Die anderen Mädchen auf ihrem Stockwerk waren alle schon weg.
»Unverschämtheit! Ich hab den anderen gesagt, dass ich nicht vom Zimmermädchen geweckt werden will, weil ich ja wusste, dass du kommst. Ich habe erwartet, dass du dein Versprechen hältst.«
»Ich hab gar nichts versprochen. Du hast es befohlen.«
»Du kleines …« Fast hätte sie mich geohrfeigt. »Ach du Schreck, wir haben keine Zeit mehr. Jetzt kommen wir beide zu spät!« Sie streckte mir den Arm entgegen. »Mach mir mal die Knöpfe zu!«
Gehorsam knöpfte ich die langen Manschetten ihrer Bluse zu, hätte aber gute Lust gehabt, die mittleren drei Knöpfe auszulassen.
»Und jetzt flechte meinen Zopf fertig, solange ich mich fertig anziehe.«
Ich ging hinter ihr her und flocht ihr Haar, während sie ihre Socken und Schuhe zusammensuchte. Ruth hatte recht. Ich musste vorsichtig sein. Mildred war sauer und ich hatte keinen Zweifel an ihrer Boshaftigkeit. Aber auch Susannah und Dot hatten recht. Mildred musste lernen, dass sie jüngere Mädchen nicht schikanieren durfte.
Sie warf mir förmlich ihre Bücher zu und erwartete, dass ich sie ihr hinterhertrug, was ich zähneknirschend tat. Ich wollte schließlich auch nicht das Frühstück verpassen. Was war ich froh, dass es mein letzter Tag mit ihr war!
Wir hatten gerade den Speisesaal betreten, als Mildred mich am Arm packte. »Morgen kommst du gefälligst pünktlich. Und dass du mir ja dein Brötchen aufhebst – samstags gibt es süße –, und zwar ohne Bissspuren! Verstanden?«
»Heute ist mein letzter Tag mit dir.« Ich riss mich los, aber sie zog mich zurück und grub ihre Fingernägel in meinen Arm.
»Du lässt bis Weihnachten jeden Samstag dein Frühstücksbrötchen für mich übrig. Ist das klar, kleines Fräulein?« Sie funkelte mich von oben herab an – ich schätze, sie war 30 Zentimeter größer als ich –, sodass mir der Schreck in die Glieder fuhr.
»Mildred? Adelaide? Gibt es ein Problem?« Miss Weston stand am anderen Ende des Tisches.
Sofort ließ Mildred meinen Arm los, zwickte mich aber von hinten. »Nein, Ma’am. Ich habe Adelaide nur gerade erklärt, dass sie von jetzt an absolut pünktlich aufstehen muss. Sie kann nicht erwarten, dass ich sie wecke, vor allem ab heute nicht mehr.«
Meine Augen müssen drei Nummern größer geworden sein.
»Das ist allerdings richtig.« Miss Weston runzelte die Stirn. »Hier gibt es keine Sonderbehandlung, Adelaide, ganz egal, was du von zu Hause vielleicht gewohnt bist. Pünktlichkeit ist überaus wichtig. Ich hätte nicht gedacht, dass du in einer gesunden Umgebung wie eurer Insel zur Nachlässigkeit erzogen worden bist. Wenn doch, dann müssen wir das ändern.« Sie hielt inne und wartete.
Ein paar Mädchen am Tisch begannen, verhalten zu kichern. Manche der älteren Mädchen rümpften die Nase. Eine flüsterte: »Was kannst du schon von einer aus Kanada erwarten?«
»Antworte Miss Weston, Adelaide«, forderte Mildred mich lächelnd auf und bohrte dabei ihre Finger von hinten in meinen Arm.
»Ja, Ma’am. Ich verstehe. Es kommt nicht wieder vor.« Ich biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, was Miss Weston noch mehr die Stirn runzeln ließ. Ich muss ziemlich grimmig ausgesehen haben.
Sie zog die Brauen zusammen, hob den Kopf, nickte und wandte sich ab. Weitere Mädchen glucksten.
»Leg meine Bücher schon mal dort drüben auf den Tisch. Nach dem Frühstück kannst du sie dann in mein Klassenzimmer bringen.« Mildred sprach in ruhigem Ton, mit einem herablassenden Lächeln, als sei sie meine ältere Schwester.
Tränen der Wut und der Demütigung stiegen mir in die Augen, aber ich kämpfte gegen sie an. Ich wandte mich ab und rieb mir den Arm, doch Mildred sagte, laut genug, sodass der Rest des Tisches es hören konnte: »Kein Grund zu weinen, Kleine. Morgen machst du's bestimmt besser.«
Beschämt setzte ich mich auf meinen Platz am anderen Ende des Tisches. Ich wollte nicht für eine schlecht erzogene »Kleine« gehalten werden. Das war ein Schlag ins Gesicht, nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern. Meine toten Eltern. Mutter. Vater. Der Kloß in meinem Hals wuchs, als ich merkte, wie einige Mädchen mich anstarrten, manche mitleidig, andere verächtlich.
Beinahe wäre ich vor allen anderen in Tränen ausgebrochen, hätte mir Dot nicht unter dem Tisch einen kleinen Tritt ans Schienbein verpasst. Ich warf ihr einen scharfen Blick zu. Sie aber schielte mit den Augen, zog die Mundwinkel hoch und lächelte – was einfach urkomisch aussah. Ich musste mir das Lachen verkneifen, und sie zwinkerte mir zu.
Ruth murmelte: »Gut gemacht, Addie.« Susannah sah mit zusammengekniffenen Augen zu Mildred hinüber.
Ich hielt einen Moment den Atem an, als ich begriff: Bei all dem Tragischen und Traurigen in meinem Leben – ich war nicht allein. Ich hatte Freundinnen. Dot, Ruth, Susannah. Sie scharten sich um mich wie die Schwestern, die ich nie gehabt hatte, wie die Engel, die mit flammenden Schwertern den Garten Eden bewachten. Vielleicht konnte auch ich lernen, ein flammendes Schwert zu schwingen.
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SEPTEMBER 1905
Am Samstagmorgen ging ich zwar nicht zu Mildred, ließ jedoch mein süßes Brötchen für sie übrig – ganz ohne Bissspuren.
Später meinte Dot, sie hätte nur allzu gerne das Gesicht der miesen Mildred gesehen, als sie beim Hineinbeißen merkte, dass Salz anstatt Zucker draufgestreut war.
»Probiere es nächste Woche mal mit Kieselsteinen«, schlug Susannah ganz beiläufig vor, während sie beim Domino gegen Dot den letzten, entscheidenden Stein setzte. »Das ist besser für die Zähne.«
Da am Samstagnachmittag schulfrei war, schlenderten wir vier nach dem Mittagessen untergehakt zu dem malerischen Pavillon am See hinunter, der zum Schulgelände gehörte.
»Das ist der beste Ort überhaupt«, erklärte Susannah und strich über die kunstvoll gestaltete Holzschnitzerei über uns.
»Ist das schön hier! Aber wenn es der beste Ort ist, warum haben ihn Mildred und ihre Freundinnen dann noch nicht in Beschlag genommen?«
»Das hatten sie tatsächlich.« Ruth hob die Brauen. »Aber die älteren Mädchen dürfen am Samstagnachmittag in die Stadt gehen, in ein Café oder zum Einkaufen.«
»Und wenn sie zurück sind, verziehen sie sich irgendwo auf ein Zimmer oder auf den Dachboden und tratschen den ganzen Abend.« Dot rümpfte die Nase.
»Vor Miss Weston sollten sie sich dann lieber nicht mehr blicken lassen. Wir dürfen uns nämlich nicht schminken, aber wenn sie in die Stadt gehen, tun sie es trotzdem, werfen sich in Schale und frisieren sich aufwendig die Haare.« Susannah stemmte eine Hand in die Hüfte, trat einen Schritt vor und äffte Mildred nach: »Ihr Kinder dürft noch nicht allein weggehen. Ihr müsst auf dem Schulgelände bleiben oder werdet harten Strafen entgegensehen.«
»Dann ist das jetzt unser Ort«, sagte ich staunend in einem mutigen Moment.
»Wir sollten uns einen Namen geben.« Dot zog hoch konzentriert die Brauen zusammen.
»Wie bei Tennyson«, bemerkte Ruth und blickte zum Himmel auf.
»Heute ist Samstagnachmittag!« Susannah rollte die Augen. »Die Gedichte von Tennyson sind das Letzte, woran ich jetzt denken will!«
»Sie meint wohl das Gedicht, das wir gerade im Unterricht lesen«, sagte ich inspiriert. Ruth lächelte, sah dabei aber keine von uns an. »Sind wir nicht …«
»Die Lady von Shalott«, brachte ich ihren Satz zu Ende.
Ruth stieg auf die Bank, die den inneren Rand des Pavillons säumte, streckte einen Arm zum See hinaus und zitierte in einem hochdramatischen Tonfall:
»… im Mondlicht lauscht der Schnitter, müdvom Garbenschichten, lauscht dem Lied, das in der Luft liegt, flüstert, sieht:›Die Lady von Shalott‹.
Was für ein Fluch mag das wohl sein?Sie weiß es nicht, webt schönen Schein,auf Sorgen lässt sie sich nicht ein, …«
»… ›Die Lady von Shalott‹!«, beendeten wir das Zitat unisono.
»Wir alle sind Ladys von Shalott!« Susannah setzte ihr typisches Grübchen-Lächeln auf und machte einen tiefen Knicks.
»Aber sie starb, kaum, dass sie in die Welt hinausgeschaut hatte«, bemerkte Dot nicht allzu begeistert.
»Weil Lancelot sie betört hatte – der alte Schürzenjäger!« Susannah grinste.
»Achtet auf eure Ausdrucksweise, Ladys!«, mahnte Ruth.
»Na ja, ich sag nur, wie es bei ihr war, also dürfen wir uns … auf keinen Fall von attraktiven Männern betören lassen.«
»Niemals!«, bekräftigte Dot.
»Natürlich nicht«, pflichtete ich ihnen bei.
»Also, ich weiß nicht …«, überlegte Susannah.
»Wir aber« – Ruth machte eine ausladende Armbewegung zum See hinunter – »werden eines Tages hinausgehen und die Welt erobern, allen miesen Mildreds und Feuer speienden Drachen, die dort lauern, zum Trotz. Wir sind die Ladys von Lakeside.«
Ein Schauer der Begeisterung lief mir über die Arme.
Ruth sprang von der Bank. Sie streckte den rechten Arm aus, wir alle taten es ihr nach, legten die Hände übereinander und schworen feierlich: »Die Ladys von Lakeside!«
»Alle für eine und eine für alle«, rief Dot.
»Das ist doch aus Die drei Musketiere«, warf Susannah ein.
»Es passt zu uns«, erwiderte Ruth. »Wir, die Ladys von Lakeside, werden immer füreinander einstehen, ganz gleich, was kommen mag – Schwestern auf ewig.«
»Die Ladys von Lakeside – Schwestern auf ewig.« Inbrünstig wiederholten wir unseren Eid, ohne zu ahnen, dass eine von uns ihn irgendwann mit Füßen treten würde.
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MAI 1935
Dorothy Meyer klopfte mit dem Bleistiftende auf die Haushaltsbücher. Irgendetwas stimmte nicht, aber es hatte nichts zu tun mit den Spalten voller Zahlen in dem Buch, das aufgeschlagen vor ihr lag.
Warum sollte sich eine Mutter weigern, an der Abschlussfeier ihrer Tochter teilzunehmen, noch dazu, wenn diese Tochter die Abschiedsrede halten wird? Bernadette hat mir versichert, dass die Narben ihrer Mutter nicht allzu schlimm sind, dass sie in der Öffentlichkeit einen Schleier trägt und dass sie zu Hause ganz und gar nicht gehemmt ist, sondern sehr frei und voller Lebensfreude. Trotzdem hat die Frau am Telefon einfach aufgelegt.
Dorothy Belding Meyer – seit fünf Jahren Direktorin des Mädcheninternats Lakeside – war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. Noch nie hatte sie ein Auslandsgespräch getätigt, um jemanden persönlich zur Abschlussfeier einzuladen. Sie hatte keine Ahnung, was der Anruf gekostet haben mochte und wie sie eine solche Sonderbehandlung rechtfertigen sollte. Mr Shockley, der Schatzmeister des Verwaltungsrats, würde entsetzt sein, wenn er die Telefonrechnung sah, und Mrs Mildred Shockley, seine Frau, erst recht – vor allem jetzt, wo die Schule in finanziellen Schwierigkeiten steckte.
Rosaline Murray hatte bereits eine liebevoll auf Prägekarton gestaltete Einladung erhalten. Dass sie diese ausschlug, war völlig unverständlich, nachdem ihre Tochter Lakeside fünf Jahre lang besucht hatte.
Manche Eltern reisten sogar aus Europa an, um bei der Abschlussfeier ihrer Töchter dabei zu sein. Würdenträger und ihre Ehefrauen brannten darauf, eingeladen zu werden, selbst wenn ihre eigenen Töchter längst erwachsen waren. Was glaubt sie, wer sie ist?
Diese Frage trieb Dorothy schon seit zwei Tagen um. Sie grübelte immer noch darüber, als es an ihrer Bürotür klopfte.
»Herein.« Dorothy richtete sich auf, wie es sich für eine Schulleiterin gehörte.
»Mrs Meyer? Dürfen wir hereinkommen?« Bernadette Murray und Josephine, ihre beste Freundin, spähten durch den Türspalt.
»Natürlich, kommt nur, meine Damen.« Dorothy graute es vor dem Gespräch.
»Ich habe mich nur gefragt, ob Sie etwas von meiner Mutter gehört haben.« Die Art, wie Bernadette ihre Finger verschränkte, zeigte Dot, dass es für das Mädchen weit mehr als nur eine belanglose Frage war.
»Vielleicht sollten wir lieber unter vier Augen darüber sprechen, Bernadette.« Dot hob die Brauen und bedeutete Josephine damit, sich zurückzuziehen.
»Josephine darf alles hören, was Sie mir zu sagen haben. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.« Bernadette ergriff die Hand ihrer Freundin.
»Ich bin als moralische Unterstützung mitgekommen, Mrs Meyer.«
Dorothy nickte. Sie wusste, dass Bernadette es nötig haben würde. »Also gut, meine Damen, setzt euch.«
Wie soll ich ihr das nur sagen? Ihr klarmachen, dass ihre Mutter mich gar nicht richtig hat zu Wort kommen lassen?
»Leider verlief das Telefongespräch nicht so positiv. Vielleicht lag es an der schlechten Verbindung, aber …«
»Könnten Sie es nicht noch einmal probieren?« Bernadette hob hoffnungsvoll ihre hellbraunen Augen.
»Was ich damit sagen will: Deine Mutter hat abgelehnt. Sie wird nicht kommen.«
Josephines missbilligendes Stirnrunzeln und ihre Fürsorge für ihre Freundin, die die Lippen fest aufeinanderpresste, rührten Dorothy an. Auch sie hatte in dem Alter solche Freundinnen gehabt und war dankbar dafür. Sie war froh, dass Bernadette, der sichtlich die Tränen in die Augen stiegen, eine so treue Freundin zur Seite stand. Möge es immer so bleiben.
Der Gedanke ließ Dorothy zusammenzucken. Sie wusste, dass sie in jenen längst vergangenen Tagen selbst keine so treue Freundin gewesen war. Vielleicht bedeutete es ihr jetzt deshalb so viel, Bernadette und all den anderen Mädchen in ihren Freundschaften zu helfen. Vielleicht konnte sie damit ihr eigenes Versagen ein Stück weit wiedergutmachen … wenn das überhaupt möglich war. Nach außen hin war Dorothy eine sehr kompetente und erfolgreiche Frau, aber als Freundin hatte sie versagt – das wusste sie.
»Ich dachte, wenn Sie mit ihr sprechen, würde sie bestimmt …« Bernadette beendete den Satz nicht. »Ich verstehe einfach nicht, warum sie nicht kommt. Sie reist doch sonst auch, zumindest manchmal … nicht oft.«
Dorothy hätte alles darum gegeben, das Mädchen zu trösten und ihre flehenden Augen wieder strahlen zu sehen, aber was sollte sie sagen? Sie verstand Rosaline Murray auch nicht. Sie war der Frau noch nie persönlich begegnet und hatte auch nur dieses eine Mal mit ihr telefoniert. »Ich weiß nicht, warum, Bernadette, aber sie hat bestimmt ihre Gründe. Vielleicht wird sie es dir eines Tages erklären. Bis dahin weißt du, dass wir alle hier sind, um mit dir zu feiern und deine Abschlussrede zu hören. Du hast dich so sehr angestrengt und kannst wirklich stolz auf dich sein.«
Aber Bernadette sah nicht stolz aus. Sie lächelte – wohl Dorothy zuliebe –, sichtlich den Tränen nahe. Dorothy presste die Lippen aufeinander. Sie hätte Rosaline Murray am liebsten geschüttelt. Ach, wenn doch irgendjemand sie aufrütteln und zur Vernunft bringen könnte! Aber wer? Und wie?
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