Das Medaillon - Cathy Gohlke - E-Book

Das Medaillon E-Book

Cathy Gohlke

5,0

Beschreibung

Warschau 1939. Die Stadt liegt in Trümmern. Rosa and Itzhak hätten nie damit gerechnet, dass jemals irgendetwas ihre kleine Familie entzweien könnte. Aber die junge Mutter muss sich bald mit der furchtbaren Realität abfinden: Um das Leben ihrer Tochter zu retten, trifft sie die schwerste Entscheidung ihres Lebens und schickt sie fort. All ihre Hoffnung, sie nach dem Krieg wiederzufinden, hängt an der Medaillonhälfte, die sie ihr um den Hals legt. Eine bewegende Geschichte, inspiriert von Polens dunkelsten Tagen.

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicherBücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Das vorliegende Buch ist ein historischer Roman, der natürlich auch vor einer gewissen historischen Kulisse spielt. Die auftretenden Personen entstammen jedoch der Fantasie der Autorin und jedwede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© der deutschen Ausgabe 2022SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English in the U.S.A. under the title:The Medallion by Cathy GohlkeCopyright © 2019 by Cathy GohlkeGerman edition by SCM Verlagsgruppe GmbH with permission of Tyndale House Publishers, a division of Tyndale House Ministries. All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel, revidiert 2017 © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Übersetzung: Renate HübschLektorat: Heide MüllerUmschlaggestaltung: Sybille Koschera, StuttgartTitelbild: Foto Mädchen: © Rebecca Nelson/Arcangel Images; Foto Medaillon: by Thom King, © Tyndale House Publishers, Inc.; Illustration Davidstern: by corpis delicti from the Noun Project; all rights reserved.Illustration Absatzzeichen: unbekanntAutorenfoto: © SCM Verlagsgruppe GmbH/Tyndale House Publishers, Inc.Satz: Satz & Medien Wieser, AachenDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckGedruckt in DeutschlandISBN 978-3-7751-6154-1Bestell-Nr. 396.154Bestell-Nr. 956.096.154

FÜR SOPHIA CHARLOTTE

Dein Name bedeutet Weisheit, Weiblichkeit und Freiheit.Er passt so gut zu dir, denn all dies ist in dir vereint,mein strahlender Sonnenschein, meine geliebte Enkelin. Du bist immer in meinem Herzen.

Inhalt

Über die Autorin

Prolog

Teil 1

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Kapitel zweiundvierzig

Kapitel dreiundvierzig

Teil 2

Kapitel vierundvierzig

Kapitel fünfundvierzig

Kapitel sechsundvierzig

Kapitel siebenundvierzig

Kapitel achtundvierzig

Kapitel neunundvierzig

Kapitel fünfzig

Kapitel einundfünfzig

Kapitel zweiundfünfzig

Kapitel dreiundfünfzig

Kapitel vierundfünfzig

Kapitel fünfundfünfzig

Kapitel sechsundfünfzig

Kapitel siebenundfünfzig

Nachwort

Dank

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CATHY GOHLKES Romane stecken voller inspirierender Botschaften und viele von ihnen haben Preise gewonnen. Wenn sie nicht auf Reisen ist, um für ihre Bücher zu recherchieren, verbringt sie gerne Zeit mit ihrer Familie. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren erwachsenen Kindern, Enkelkindern und ihrem Hund Reilly in den USA.

www.cathygohlke.com

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

17. August 1938Warschau, Polen

Leise schluchzt die Geige und hüllt die Festgäste im sommerlichen Garten in ihre melancholischen Klänge – eine sanfte Klage über den Abschied der Braut – den Abschied von der Jugend und von ihrem Vaterhaus.

In gespannter Vorfreude lässt Itzhak von der Küchentreppe aus seinen Blick über die Hochzeitsgesellschaft schweifen und wartet auf seine Braut. Jetzt öffnet sich die Tür hinter ihm und er dreht sich um. Überwältigt von ihrer Schönheit schnappt er nach Luft und flüstert: »Hörst du, meine Rosa, wie die Geige für uns singt?«

Rosa schmiegt sich an ihn. Obwohl der Schleier ihr Gesicht verhüllt, kann er gleichsam spüren, wie sie lächelt. »Itzhak, mein Liebster, ich höre nur mein Herz klopfen.«

Nur für diesen einen vertrauten Moment hebt er ihren Schleier und enthüllt ihr wunderschönes Gesicht. Er möchte am liebsten mit dem Finger über ihre samtweiche Wange streichen und ihre Lippen mit seinen berühren; doch er tritt nur einen Schritt zurück und zwinkert ihr kurz zu, bevor er die zarte Spitze wieder herunterlässt.

»Ich hab’s gesehen, Itzhak! Bring mich nicht zum Lachen.«

»Ich kann nicht anders. Du bist es wirklich, meine wunderschöne Rosa! Und dein Papa, der weiß, dass ich nicht gut genug für dich bin«, er bemüht sich zu flüstern, »nicht einmal er hat versucht, mich auszutricksen wie der alte Laban.«

»Schhhh, still jetzt. Sag so etwas nicht. Achtung, Itzhak! Deine Mutter kommt.«

In hoffnungsfroher Erwartung drückt Itzhak ihr die Hand, dann geht er voraus zu seinen Eltern. Eingehakt zwischen seinem Vater und seiner Mutter schreitet er zur Chuppa. Itzhaks Eltern neigen sich unter den Fransen der Gebetsschals der Großväter und treten an seine rechte Seite.

Die Geige singt noch immer, aber Itzhak hört nur noch mit halbem Ohr auf die Klänge. Immerzu muss er sich zu seiner Rosa umdrehen, die sich jetzt bei ihren Eltern unterhakt. Er weiß, er sollte das nicht tun. Es raubt ihm schier den Atem, als sie näher kommt.

Sie treten unter die Chuppa. Als neu vereinte Familie stehen sie unter den Gebetsschals der beiden Familien, seine Eltern zu seiner Rechten, Rosas Eltern zu ihrer Linken. Rosa hebt den Saum ihres Rocks vom Boden und beginnt die Zeremonie. Nur für Itzhaks Ohren vernehmbar flüstert sie: »Siebenmal umkreise ich dich, mein großes und stattliches Jericho. Lächeln darfst du dabei, aber untersteh dich zu lachen. Hör auf den Kantor.«

Itzhak zwingt sich, ernst zu bleiben. Wenn ich lache, lache ich vor Freude. Du hast all meine Festungsanlagen niedergerissen, jede Mauer und jede Barriere vor meinem Herzen, längst schon vor diesem Tag, meine Rosa. Ich bin eine eroberte Stadt, die sich deiner Liebe ergibt. Als Rosa ihre letzte Runde beendet hat, reicht er ihr seine Hand.

Gemeinsam wenden sie sich dem Rabbi zu, der ihnen auf Hebräisch vorspricht. »Ani l’dodi v’dod li.«

Itzhak wiederholt die Worte für Rosa. »Ich gehöre meiner Geliebten, und sie gehört mir.«

Sie antwortet: »Ich gehöre meinem Geliebten, und er gehört mir.«

Der Rabbi fordert ihn auf: »Itzhak, sprich zu deiner Braut die Worte, die du ausgewählt hast.«

»Mit den Worten König Salomos: ›Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!‹«

»Und nun du, Rosa«, sagt der Rabbi. »Sprich zu Itzhak die Worte unserer Mutter Ruth.«

Klar und ruhig, wie die tieferen, getragenen Klänge der Geige, kommt Rosas Gelübde. »›Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.‹«

Itzhak hält ihrem Blick für einen Moment stand, seine Kehle ist zu voll, um zu sprechen, dann erinnert er sich, was er als Nächstes tun muss. Er nimmt den Ring, den sein Vater ihm reicht, und steckt ihn ihr an den Finger. »Diesen schlichten Ring gebe ich dir, meiner Frau, als ein ewiges Symbol. Und ich gebe dir dieses Medaillon, für dich und für die Kinder unserer Kinder – die beste und größte Hoffnung, die mein Herz und meine Hand haben.«

Er legt ihr die Hand in den Rücken und dreht seine frisch angetraute Frau sanft und fest, wie er es beim Tanz tun würde. Dann legt er ihr die feingliedrige goldene Kette um den Hals.

Sie dreht sich wieder zu ihm um und sieht ihn an; behutsam nimmt sie das Medaillon in die Hand und betrachtet andächtig die aufwendige, zarte Filigranarbeit. »Der Baum des Lebens, Itzhak! Ich schwöre dir, mein Mann, ich werde es immer tragen.«

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Teil 1

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Kapitel eins

Warschau, PolenSeptember 1939

Der Kronleuchter der Bibliothekskuppel stürzte von der Decke und zerbarst in eine Million Kristallsplitter, als er auf den Boden fiel – den Boden, der drei Tage zuvor auf Hochglanz poliert worden war. Sophie Kumiega tauchte unter den Lesetisch, als die Bombe einschlug, und schützte, so gut sie konnte, ihren Stapel Erstausgaben und das Baby in ihrem Bauch. Eine zweite Bombe erschütterte das Mauerwerk und zertrümmerte das bodentiefe Fenster, trotz der vielen schraffiert aufgebrachten Klebestreifen. Marmorbüsten gingen in Stücke. Große Putzbrocken krachten auf den Boden. Aus den Regalen schlugen beißende Flammen.

»Raus! Alle sofort das Gebäude verlassen!«, rief Stefan Gadomski, der leitende Bibliothekar.

»Bringen wir zuerst diese Bücher in Sicherheit«, widersprach sein Assistent und schob einen Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zum anderen Ende des Raumes.

»Wenn wir sie woanders lagern, fällt dort wahrscheinlich die nächste Bombe!«, brüllte Herr Gadomski.

»Dann bringen wir sie in den Keller«, rief sein Assistent.

Sophie konnte nicht mehr. Sie hatte hart gearbeitet, um ihre Stelle in der Warschauer Bibliothek zu bekommen – ein Glücksfall für eine Engländerin und ein noch größerer Glücksfall für eine Frau. Aber sie wollte für ihr Baby nichts riskieren – das Baby, für das sie und Janek gebetet, gespart und auf das sie seit ihrer Hochzeit Tag für Tag zugelebt hatten. Gerade jetzt befand sich Janek in seinem polnischen Kampfflugzeug mitten im Bombenhagel in einem Katz-und-Maus-Spiel mit der Luftwaffe. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, ihr ungeborenes Kind zu retten.

Sie ließ die Erstausgaben in die dafür vorgesehene Kiste fallen und hatte es fast bis zur Tür geschafft, als der Bibliotheksassistent ihr hinterherdonnerte: »Frau Kumiega, kommen Sie zurück! Wenn wir unsere Bibliothek verlieren, verlieren wir alles!« Aber Sophie drehte sich nicht um, aus Angst, sie könnte ihr Ziel aufgeben, so absurd es auch wäre, nur einen Augenblick zu zögern. Sie hatte sich immer der Autorität gebeugt, aber damit war nun Schluss. Zwei Kinder waren in zwei Jahren in ihrem Leib gestorben. Dieses Kind musste leben.

Einen Moment lang verharrte Sophie im Schatten der Bibliothekstür, unsicher, wohin sie sich wenden, in welche Richtung sie fliehen sollte. Mit jedem Tag verwandelten sich weitere Teile Warschaus in ein Kriegsgebiet. Unerbittlich fielen Bomben auf neue Ziele oder zerstörten bereits getroffene vollends. Tief fliegende Heinkels bombardierten Männer, Frauen, Kinder; ohne Gnade, ohne Unterschied.

Schließlich hastete Sophie zwischen den Gebäuden hindurch, verbarg sich, wann immer es ging, unter Vordächern und Markisen und versteckte sich so gut und so lange wie möglich unter Treppenabsätzen. Ob sie wohl sicher war, wenn sie nicht gesehen werden konnte? Was könnte schlimmer sein? Unter einem vertrauten Dach erdrückt oder auf der Straße von deutschen Fliegern abgeschossen zu werden? Häuserblock für Häuserblock kämpfte sie sich mal schleichend, mal rennend durch die in Trümmern liegende Stadt, betete für die Sicherheit ihres Mannes, betete für ihr Baby und betete, dass ihr Wohnhaus nicht zerstört worden war. Sie hatte gerade ihre Straße erreicht und ihre Wohnung im nächsten Wohnblock schon erblickt, als ein scharfes Pfeifen von hoch oben kam. Plötzlich Stille, dann zuckte ein gleißend heller Blitz aus weißem Licht und Feuer und riss einen bodenlosen Abgrund vor ihr auf.

»Sophia! Liebes Mädchen, du musst aufwachen. Bitte, bitte, wach auf.«

Janek, liebster Janek. Durch den dichten Nebel und das ständige Dröhnen in ihren Ohren hörte Sophie ihn kaum. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihre Lider waren zu schwer.

»Sie kommt zu sich.« Eine andere Stimme – sicher Frau Lisowski, ihre Nachbarin von der anderen Seite des Flurs.

»Gott sei Dank! Wir dachten schon, wir hätten dich verloren. Ich dachte …«

Durch zusammengekniffene Augen versuchte Sophie, etwas zu sehen, das Gesicht ihres Mannes zu erkennen, aber es war nicht da.

»Du lebst. Das ist alles, was zählt.« Es war ihr Nachbar und väterlicher Freund, der alte Herr Bukowski.

Ihr Herz stolperte. »Janek? Blute ich etwa? Blute ich?« Vor Schreck fuhr sie hoch.

»Nein, nein, meine Liebe, leg dich wieder hin – nur an der Stirn und an den Knien.«

»Ich gehe und hole Verbände. Sie dürfen nicht aufstehen, noch nicht.« Das war wieder Frau Lisowski.

»Dein Janek ist noch in der Luft und kämpft für uns.« Sie hörte den Stolz in Herrn Bukowskis Stimme.

Sophie strich sich die Haare aus der Stirn; als sie die Finger zurückzog, waren sie klebrig und rot. »Eine Explosion. Ich erinnere mich an eine Explosion.«

»Die ganze Straße liegt in Trümmern.«

»Und unsere Wohnung?«

»Die Fassade ist eingestürzt. Alles ist offen – wie bei einer Puppenstube«, schilderte Frau Lisowski.

Sophie versuchte sich daran zu erinnern, ob sie an diesem Morgen abgespült hatte. Was Frau Lisowski wohl von ihr denken würde, wenn alle Welt das schmutzige Geschirr auf ihrem Tisch sehen könnte?

»Bleib hier, bleib ruhig«, wies Herr Bukowski sie an. »Ich werde Hilfe holen und retten, was ich kann. Dann komme ich wieder.«

»Geh nicht weg. Verlass mich nicht, Janek.« In Gedanken griff sie nach seinem Mantel, aber ihre Arme gehorchten ihr nicht.

»Dein Janek wird zurück sein, ehe du es dich versiehst. Ich bin bald wieder da. Ehrenwort.«

»Bringen Sie mir …«

»Ja, ich bringe, was ich kann. Was immer noch da ist, übergebe ich dir persönlich.«

Als Sophie die Augen öffnete, lag sie auf einer Pritsche in einem Raum, in dem es nach Rauch und verbranntem Metall, verkohltem Papier und Holz und angesengtem Haar roch. Das einzige Licht kam von einer abgeschirmten Laterne auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Raums. Asche klebte ihr zwischen den Zähnen, auf der Zunge und verfilzte die Haare, die ihr ins Gesicht fielen. Das Grollen von Explosionen hörte sie nur abgedämpft, als komme es von weiter weg. Eine dunkle Gestalt kauerte auf einem Stuhl neben ihrer Pritsche. Sie war zu schmächtig, zu zusammengesunken, zu rund, um Janek zu sein.

»Herr Bukowski?«, flüsterte sie.

Die Gestalt regte sich und richtete sich auf, dass Sophie die Nackenwirbel knacken hörte. »Ah, du bist wach, Sophia Kumiega.«

»Herr Gadomski?« Mit ihrem Chef aus der Bücherei hatte sie nicht gerechnet, aber der Mann war ja auch der Patenonkel ihres Janek.

»Ja, ich bin es. Schön, dich im Land der Lebendigen zu sehen. Du hast drei Tage lang geschlafen.«

»Was machen Sie hier? Wo bin ich?«

»Du bist in einem Lagerraum im Keller der Bibliothek – der sicherste Ort, den ich im Moment finden konnte. Obwohl wir hier wahrscheinlich unter all dem Wissen der Jahrhunderte begraben werden, wenn die Bombardierung anhält. Aber das ist immer noch besser als unter den Trümmern des Fleischmarktes. Glaube ich zumindest.«

»Aber, Herr Bukowski – ich kann mich nur noch erinnern, dass Herr Bukowski …«

»Im Radio haben sie was von einhundert Toten gesagt. Du wirst die Stadt nicht wiedererkennen. Der Zoo ist ein Trümmerhaufen. Zebras, Löwen, Tiger, Wallabys – alle wilden Tiere Afrikas, Australiens, der ganzen Welt sollen entkommen sein. Für Fußgänger ein Albtraum, für Jäger ein Fest.«

»Was? Sie haben den Zoo bombardiert?« Das ergab keinen Sinn.

Herr Gadomski zuckte mit den Schultern, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Das ist so sinnlos! Jan muss es das Herz gebrochen haben – der Zoo ist sein Lebenswerk – und wie muss es erst Antonia gehen!«

»Ich kenne den Zoodirektor und seine Frau. Janek und ich gehen so gern …« Aber sie hatte schon seit Beginn der Bombardierung nichts mehr von Janek gehört. Ihre Augen mussten ihr Flehen gezeigt haben.

»Wir haben nur gehört, dass sie kämpfen, zurückgerufen werden, sich neu formieren und tun, was sie können. Janek ist ein guter Mann, ein hervorragender Pilot. Darauf musst du vertrauen, meine Liebe.«

Sophie schluckte, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wusste, dass Herr Gadomski sich auch um ihn sorgte. Er liebte ihren Janek fast wie einen Sohn. Sie wollte ihm vertrauen.

»Bürgermeister Starzyński appelliert an die Warschauer, Schützengräben auszuheben – überall hängen Schilder, die uns auffordern, uns zu bewaffnen, die Weichsel zu überqueren und eine Verteidigungslinie zu bilden. Schaufeln und Schützengräben gegen deutsche Panzer«, schimpfte er. »Trotzdem muss ich gehen und mithelfen.«

»Hier? Jetzt?«

»Noch nicht, aber sie kommen, rollen langsam quer durch Polen an, und vor ihnen strömen Hunderte – Tausende – von Flüchtlingen in die Stadt. Ironischerweise glauben sie, unter deutschen Bombern seien sie sicherer als auf dem Lande. Obwohl es in weiten Teilen Warschaus nicht einmal mehr fließendes Wasser gibt, vielerorts auch keinen Strom.« Er schüttelte den Kopf. »Alles versinkt im Chaos, aber noch ist nicht alles verloren …, nicht, solange Władysław Szpilman noch Chopin für Radio Polen spielt.«

»Und Herr Bukowski?«

Herr Gadomski wandte den Blick ab. »Frankreich und England haben Deutschland den Krieg erklärt. Zwischen Explosionen und den Trümmern eingestürzter Gebäude jubeln unsere Bürger auf den Straßen – sie haben sogar den französischen Militärattaché vor der Botschaft in die Luft geworfen und dabei die Marseillaise gesungen. Weißt du, wie schlecht die Polen auf Französisch singen? Gott im Himmel sei Dank, jetzt sind wir wenigstens nicht mehr allein. Aber wir müssen Geduld haben. Der Sieg kommt nicht über Nacht.«

»Herr Gadomski – wo ist Herr Bukowski?«

Ein langer Moment des Schweigens. »Er hat seinen Sohn gebeten, dich in die Bibliothek zu bringen, als du ohnmächtig geworden warst. Er dachte wohl, du könntest dort zwischen den Regalen Zuflucht finden. Anscheinend gibt es euer Wohnhaus nicht mehr. Es tut mir leid.«

»Janek …« Jedes Bild, jedes Buch, jede Erinnerung an Janek und ihr gemeinsames Leben war in dieser Wohnung.

»Dein Freund hat das für dich geschickt. Darin ist ein Foto von Janek.« Herr Gadomski zeigte auf zwei Taschen. »Nachdem er dich zurückgeschickt hatte, rettete er alles, was er konnte, für alle auf eurem Stockwerk, bevor …«

»Bevor was?«

Herr Gadomski befeuchtete seine Lippen und zögerte erneut.

»Wo ist Herr Bukowski?«, beharrte Sophie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass dein Freund getroffen wurde, von einem Flugzeug beschossen, als er zum letzten Mal die Wohnung verließ. Sein Sohn war bei ihm und fing ihn auf, als er fiel. Sein Vater habe nicht lange leiden müssen, sagt er. Er hat diese Sachen gestern für dich mitgebracht.«

»Nein … nein!« Sophie blieb beinahe das Herz stehen. Das war nicht möglich! Herr Bukowski, ihr Freund, ihr einziger wirklicher Freund neben Janek, seit sie nach Polen gekommen war.

»Er sagt, die letzten Worte seines Vaters hätten dir gegolten: ›Sag Sophia, sie soll kämpfen und den Glauben bewahren.‹ Und irgendwas mit: ›Denk an das Schilfmeer.‹«

Das Schilfmeer … wie Adonai einen Weg bahnen wird, wo kein Weg ist … Daran hatte er sie immer erinnert, wenn sie versucht war zu verzweifeln.

Die Anspannung und die Sorge, die Angst, die Sophie verdrängt hatte, seit Janek in den Kampf gezogen war, seit die ersten Bomben auf das fassungslose Warschau gefallen waren, zerrissen ihr schier das Herz. Das Schluchzen kam erst in keuchenden Atemzügen, dann in überwältigenden Wogen, die tief aus ihrem Inneren hervorbrachen, wie sie es nur vom Verlust ihrer Babys kannte – ein elementares, nacktes Wehklagen.

Herr Gadomski verließ still den Raum, während der Sturm tobte.

Als Sophie wieder aufwachte, brannte die Laterne noch immer und warf bizarre Schatten an die Wand. Auf dem Boden neben ihrer Pritsche lagen ein kleiner Laib Brot und etwas Käse, daneben stand ein Becher Wasser. Der Geruch von versengten Kleidern und Haaren hing immer noch in der Luft, aber nun war es merkwürdig still. Sophie hörte nur ihren eigenen Atem … langsam, fließend.

Und dann erinnerte sie sich. Herr Bukowski. Stumme Tränen traten ihr in die Augen, rannen über ihre verrußten Wangen und tropften ihren Hals hinunter. Sie wischte sie weg und setzte sich auf. Das Schlucken schmerzte. War er getroffen worden, als er ihre Schätze rettete? Kein Besitz der Welt war das wert.

Sophie hätte weder Tag noch Uhrzeit sagen können. Sie musste sich in einem Innenraum befinden – es gab keine Fenster. Kein Wunder, dass das Bombardement weit weg geklungen hatte. Jetzt hörte sie keine Bomben mehr. Was immer das auch bedeuten mochte, es war eine Erleichterung.

Ein krampfartiges Ziehen in ihrem Leib ließ sie wacher werden. Sie strich über ihren gerundeten Bauch und atmete erleichtert auf.

Sie musste aufstehen, musste auf die Toilette, musste etwas essen. Aber als sie die Decke zurückschob, war ihre Pritsche voller Blut.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel zwei

Vilnius, Litauen

»Bist du verrückt? Sag ihr, dass sie verrückt ist. Sag es ihr, Itzhak! Deine Frau ist verrückt.«

»Mama, sie ist nicht verrückt, sie trauert. Ihr Vater wurde getötet und sie will zu ihrer Mutter. Ist das so schwer zu begreifen? Ich bin ein Mann, und sogar ich verstehe es.« Itzhak stopfte sein bestes Hemd in den Koffer und schlug den Deckel zu.

»Es ist purer Leichtsinn, sich in so einer Zeit nach Warschau aufzumachen. Sie ist aufgewühlt, deine Rosa, labil. Sie ist …«

»Sie ist meine Frau, Mama, und ich wäre dir dankbar, wenn du nicht schlecht von ihr sprechen würdest.« Itzhak konnte den Krieg, der zwischen den beiden Frauen tobte, nicht verstehen. Boten Hitler und seine Verbündeten seiner Mutter nicht genug Grund zur Sorge? Warum musste in seinem Haus Zwietracht herrschen?

»Aber jetzt zu reisen – das ist meschugge! Es ist zu gefährlich. Überall Deutsche! Bleibt hier, bleibt in Vilnius bis zum Frühjahr, dann könnt ihr weitersehen. Vielleicht ist es bis dahin vorbei.«

»Bis zum Frühjahr wird es nicht vorbei sein, und wie könnte es in Warschau schlimmer sein als hier? Erst die Deutschen, jetzt die Russen weniger als einen Tag entfernt – wir werden wieder besetzt werden, und wenn du glaubst, dass die Russen kommen, um uns zu retten, dann bist du me…« Er hielt inne, bevor er das Undenkbare aussprach. »Wir sind Juden, wo immer wir hingehen.«

»Schon jetzt sind die Straßen blockiert; es wimmelt nur so von Soldaten. In Warschau wird es noch schlimmer sein, ich hab’s dir gesagt!«

»Vielleicht«, seufzte Itzhak. »Vielleicht geht morgen die Welt unter, aber vorher muss Rosa zu ihrer Mutter. Sie hat ihren Pape verloren. Ich hätte schon früher mit ihr aufbrechen sollen. Und mehr will ich nicht hören. Sie möchte reisen, und ich werde sie hinbringen. Bei Tagesanbruch machen wir uns auf den Weg.«

»Es tut mir leid, Itzhak«, flüsterte Rosa, als er in dieser Nacht die Arme um sie legte. Durch das offene Fenster fiel das Mondlicht auf ihre Arme, Schultern und Wangen. »Es tut mir leid, dass ich dich deiner Familie wegnehmen muss, aber ich kann nicht bleiben, jetzt wo Matka ganz allein ist.«

»Rosa, hör auf, dich zu entschuldigen. Es gibt nichts zu bedauern, außer dass wir nicht früher aufgebrochen sind, dass ich dich nicht rechtzeitig zu deinem Papa gebracht habe, bevor … bevor das alles passiert ist. Ich hätte nie auf Mama hören dürfen. Du bist meine Familie. Wir sind unsere Familie.«

»Wir konnten nicht früher reisen. Ich war … wir dachten …« Aber sie konnte nicht weiterreden.

Er drückte sie an seine Brust und küsste ihr Haar.

»Deine Mutter gibt mir die Schuld. Sie gibt mir die Schuld, weil ich dir keinen Sohn geboren habe.«

»Sie will einen Enkel, der den Familiennamen weiterführt, der so aussieht wie ich und mit dem sie erhobenen Hauptes vor Ponia Dziedzic dastehen kann, die fünf Enkel hat. Sie wird alle beschuldigen, bis sie bekommt, was sie will. Es ist nicht deine Schuld. Dinge passieren oder passieren nicht. Wir wissen nicht, warum. Wir müssen es auch nicht wissen. Wir dürfen uns nur nicht unterkriegen lassen.«

»Ob wir wohl jemals eine richtige Familie sein werden?« Zwei Tränen liefen ihr über die Wangen – Tränen, die ihr zu vertraut und zu ständigen Begleitern geworden waren.

Itzhak wischte sie weg, strich ihr eine Haarsträhne aus den Augen und zeichnete die feine Kette von ihrem sanft geschwungenen Hals bis zu ihrer Brust nach. Behutsam betastete er das filigrane Medaillon, das er ihr an ihrem Hochzeitstag angelegt hatte – das Symbol des Lebens, wie es in Eden sein sollte, der Ganzheit und der ewigen Heimat, der Beziehung zu Adonai. »Wir werden das sein, wozu Adonai uns bestimmt hat, all das, wozu er uns bestimmt hat.« Seine Lippen fanden ihre und er küsste sie tief und innig. »Du bist das einzige Zuhause, das ich jemals brauchen werde, meine Rosa.«

Die zerbombten Straßen Warschaus waren mit Flüchtlingen überschwemmt – so viele, dass Itzhak befürchtete, seine zarte, zierliche Rosa könnte von den Handkarren und den Pferdewagen, die vom Land herbeiströmten, zertrampelt werden. Er zog sie auf den Bordstein, kurz bevor ihr eine Ziege in die Seite stieß, die jemand an einem Strick führte.

»Wo meint der denn, in der Stadt eine Ziege unterbringen zu können?« Rosa schüttelte den Kopf. »Die vielen Menschen – wo sollen sie bleiben? Wer kann sie aufnehmen?« Itzhak beantwortete ihre Fragen nicht. Selbst jetzt, nach Tagen, an denen sie sich versteckt, und Nächten, in denen sie sich durch zerbombte Städte, über Felder und durch Wälder gekämpft hatten, schien seine Rosa das Ausmaß der deutschen Invasion nicht zu begreifen. Wer wusste schon, was die Russen aus dem Osten mitbrachten? Überall rannten die Menschen um ihr Leben und nahmen alles mit, was irgendwie von Wert war – um davon zu leben oder es zu verkaufen, um all das zu überleben, was kommen würde. »Es ist nicht mehr weit … nur diese Straße hinunter und an der nächsten Kreuzung rechts, glaube ich.«

»Du hast ein gutes Gedächtnis, Itzhak. Oh, ich bete, dass unser Haus noch steht. Es wäre schrecklich für Matka, Tata und ihr Haus im selben Monat zu verlieren.«

Dies war auch Itzhaks Gebet. Ja, es wäre schlimm für ihre Mutter, das Haus zu verlieren, aber es wäre auch ein harter Schlag für Rosa. Und wo würden sie dann bleiben? Wie würden sie ihre Mutter finden? Er hatte wenig Hoffnung. Eine Straße nach der anderen hatte unter dem Blitzkrieg der Deutschen gelitten. Und doch, in der Mitte eines zerstörten Häuserblocks standen hier und da ein, zwei, manchmal drei Häuser, die bis auf ein paar zerbrochene Fensterscheiben nahezu unversehrt geblieben waren.

»Da!«, rief Rosa und deutete auf ein Gebäude. »Da ist es! Oh, ich danke dir, Adonai, dass du unser Haus verschont hast!«

Itzhak brauchte Rosa nicht mehr mitzuziehen. In ihrem Eifer, die Türschwelle ihrer Mutter zu erreichen, zerrte sie ihn vorwärts. Sie schien nicht zu bemerken, dass der Vorgarten mit Unkraut überwuchert war, aber Itzhak entging es nicht.

»Matka! Matka! Ich bin es, deine Rosa! Ich komme nach Hause! Komm, mach uns auf!« Rosa hämmerte an die verschlossene Tür, aber es kam niemand. »Sie hat noch nie die Tür abgeschlossen – noch nie.«

Niemals in deiner Erinnerung, meine Liebste. »Ich sehe an der Hintertür nach. Warte hier mit unserem Koffer.« Itzhak sprang von der Vortreppe und verschwand um die Ecke des massiven Steinhauses, bevor Rosa etwas einwenden konnte. Er hatte seine Schwiegermutter nur ein paar Mal gesehen, bevor er und Rosa geheiratet hatten. Ihren Vater kannte er besser, denn er hatte bei dem älteren Mann eine Wohnung gemietet, während er in Warschau seine Ausbildung zum Elektriker absolvierte. Marya Chlebek war eine großzügige und anspruchsvolle Frau, eine liebevolle und anhängliche Mutter, für stark aber hielt er sie nicht. Seit Frau Dobonowicz, eine Nachbarin, Rosa geschrieben hatte, dass ihr Vater in den ersten Tagen der Bombardierung getötet worden war, hatte Itzhak um die Mutter seiner Frau gefürchtet, seine Ängste Rosa gegenüber aber lieber nicht geäußert.

Die Hintertür, die zur Küche führte, war verschlossen, innen waren die Vorhänge zugezogen. Obwohl die Dämmerung bereits hereingebrochen war, schien kein Licht. Itzhak griff unter die staubige Matte, dann unter die Geranie in einem Topf mit Riss, die jetzt trocken und verdorrt neben der Tür stand. Seine eigene Mutter hatte an ähnlichen Stellen Schlüssel versteckt. Nichts. Er fuhr mit ausgestreckten Fingern über den Türsturz und ertastete schließlich einen verrosteten Generalschlüssel. Wie lange mochte er dort wohl schon liegen? Vielleicht seit der Zeit, als Rosas Vater das Haus gebaut und seine Frau über die Schwelle getragen hatte.

Itzhak holte tief Luft und schloss die Tür auf. Die Küche war dunkel und kühl, aber sauber. Immer, wenn er zu Besuch gekommen war, hatte es nach Hühnersuppe, warmem Schwarzbrot mit Powidła śliwkowe – polnischer Pflaumenbutter – und sogar nach Zimtkugeln geduftet, so süß, dass ihm als Litauer jedes Mal das Wasser im Mund zusammengelaufen war. Was Itzhak nun am meisten auffiel, war dieses Nichts, und das beunruhigte ihn am meisten.

»Matka! Matka? Bist du da? Wir sind es, Itzhak und Rosa, wir kommen zu dir nach Hause!«, rief er, während er von Zimmer zu Zimmer eilte. Er würde Rosa nicht lange auf der Türschwelle warten lassen, aber erst einmal musste er Gewissheit haben. Er wollte seine Rosa vorbereiten und sich um sie kümmern können, was auch immer sie vorfinden würden.

Das Erdgeschoss war leer. Er war auf der Treppe in den ersten Stock, als Rosa erneut an die Tür klopfte. »Matka! Bitte! Mach doch auf!«, rief sie, den Tränen nahe.

Itzhak nahm zwei Stufen auf einmal, schloss die Haustür auf und zog Rosa in seine Arme.

»Wo ist sie? Warum hat sie nicht geantwortet?« Er hörte die Panik in der Stimme seiner Frau.

»Vielleicht ist sie einkaufen gegangen. Vielleicht besucht sie eine Nachbarin oder …« Er hielt inne, weil er nicht sagen wollte, das Grab deines Tata.

»Ja, du hast recht. Das kann sein.« Mit betont langsamen Atemzügen versuchte sie sich offenbar zur Ruhe zu zwingen. Sie wand sich aus seinen Armen, trat in die Stube und sah sich mit prüfendem Blick um. »Alles wie immer. Genauso wie immer.« Die Erleichterung in Rosas Stimme beruhigte Itzhaks Herz.

Sie fuhr mit den Fingern über den großen ovalen Tisch in der Mitte des Raumes – das Familienerbstück. Hier hatten sie ihre Hochzeitstorte angeschnitten, die ihre Mutter gebacken und kunstvoll verziert hatte. Doch Rosas Gesicht verzog sich, als sie ihre Finger ansah und sie Itzhak fast anklagend entgegenhielt. »Staub. Meine Matka würde niemals zulassen, dass sich Staub absetzt.«

Itzhak wusste, dass sie recht hatte. »Ich habe oben noch nicht nachgesehen. Warte hier, dann werde ich …«

Bevor er noch ausreden konnte, schob sich Rosa an ihm vorbei und stürmte die Treppe hinauf. »Matka!«

Itzhak folgte ihr. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, Rosas wegen. Wenn ihrer Mutter etwas zugestoßen war – das würde Rosa nie mehr loslassen.

Im Flur über der Treppe befanden sich drei Räume – ein kleines Bad mit Toilette, das Rosas Vater gebaut hatte, als sie klein war, Rosas Mädchenzimmer und das Schlafzimmer ihrer Eltern. Alle Türen waren geschlossen; durch keinen Türspalt fiel ein Lichtschein. Rosa zögerte lange genug an der Schlafzimmertür ihrer Eltern, dass Itzhak sie einholen konnte. Er umfasste ihre Hand, als sie die Klinke drückte, und legte ihr die andere Hand sanft an den Rücken.

Der Raum war dunkel, die Vorhänge fest zugezogen. Entgegen der Gewohnheit musste das Fenster verschlossen sein, denn kein Lüftchen regte sich. Kein einziger Laut.

»Matka?« Rosas Stimme klang zaghaft, wie die eines kleinen Mädchens. »Matka, bist du da?«

Itzhak zog die schweren Vorhänge zurück. Dämmerlicht drang durch die leichte Gardine.

Rosa keuchte, als sie die Gestalt ihrer Mutter vor sich auf dem Bett liegen sah.

Bitte, Adonai, lass sie nicht …

»Sie atmet!«, hauchte Rosa. »Oh, Itzhak! Kaum noch, aber sie atmet.«

Itzhak zog die Gardine zur Seite und öffnete das Fenster. Frische Luft wehte in den Raum. Er schaltete die Nachttischlampe ein, aber nichts geschah. Auch die Lampe auf der Kommode ließ sich nicht einschalten. »Kein Strom.«

»Matka! Matka!« Rosa schüttelte ihre Mutter am Arm.

»Ich hole ihr Wasser.« Itzhak rannte die Treppe hinunter in die Küche und suchte nach einem Glas. Als er gerade den Wasserhahn an der Spüle aufdrehen wollte, ging ihm auf, dass es wohl auch kein fließendes Wasser geben würde. Er schlug mit der Handfläche gegen den Tresen. Und dann erinnerte er sich. Sein Schwiegervater hatte vor Jahren eine Pumpe im Garten installiert, wie Rosa ihm erzählt hatte, um die Blumen seiner Frau, das Gemüse und die Früchte, die er gerne anbaute, zu bewässern.

Itzhak kramte im Schrank, bis er einen Krug fand, und lief damit in den Garten. Wie lange die Pumpe schon nicht mehr benutzt worden war, wusste er nicht. Wenn überhaupt, würde erst einmal schmutziges Wasser kommen – vom Nichtgebrauch und wahrscheinlich von den Bombenangriffen im September. Es dauerte eine Weile, bis die Pumpe ansprang, aber schließlich sprudelte das schlammige Wasser ungehindert. Er ließ es laufen, in der Hoffnung, Rost und Schmutz herauszuspülen, obwohl es schon zu dunkel war, um etwas zu sehen.

Als er mit Krug und Geschirrtuch in der Hand ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte Rosa bereits eine Kerze angezündet. Sie hatte sich aufs Bett gesetzt, den Rücken ans Kopfteil gelehnt, wiegte den Kopf ihrer Mutter in ihrem Schoß und sang ihr etwas vor. Behutsam strich sie ihr das Haar aus der Stirn.

Itzhak goss Wasser in eine Teetasse, die auf dem Nachttisch stand. Dann tauchte er das Handtuch in die Kanne, wrang es aus und reichte es Rosa.

Er hatte erwartet, dass seine Frau vor seinen Augen zusammenbrechen würde, aber das geschah nicht. Sanft wusch sie ihrer Mutter Gesicht und Nacken. Sie rollte das Handtuch zusammen und legte es ihr auf die Stirn. Dabei redete sie leise auf sie ein wie auf ein kleines Kind. »Ich bin da, Matka. Deine Rosa ist zu Hause. Ich liebe dich, meine Matka. Komm zurück zu mir. Bitte, bitte komm zurück zu mir.«

Im Kerzenlicht sah Itzhak ihre Tränen glitzern, aber ihre Stimme blieb ruhig. Kaum sichtbar hob und senkte sich der Brustkorb ihrer Mutter. Ihre Augen blieben geschlossen. Doch endlich sah er, wie sie schluckte und einen tieferen Atemzug tat.

Rosa hob den Kopf ihrer Mutter ein wenig an und flüsterte: »Halt ihr den Becher an die Lippen. Lass sie trinken.«

Itzhak folgte Rosas Anweisung. Marya verzog das Gesicht und wandte sich ab, aber Rosa ließ nicht locker. »Du musst trinken, Matka. Nur ein bisschen, mehr verlange ich nicht, aber du musst trinken. So … ja, so … sehr gut. Gleich gibt es noch mehr, aber das ist gut, sehr gut.«

Rosa sang, leise und tief, ein Schlaflied, das Itzhak noch nie gehört hatte.

»Oh, schlaf, mein Schatz.Wenn du einen Stern vom Himmel willst,schenke ich dir einen.«

Hat sie dir das als Kind vorgesungen? Itzhak wusste es nicht, aber er war erstaunt, wie leicht seiner Frau dieser Rollentausch zwischen Mutter und Tochter anscheinend fiel.

Maryas Brustkorb hob sich, was auf einen tieferen Atem hindeutete, aber sie wandte stöhnend den Kopf ab. Rosa strich ihr über die Wange, beugte sich hinunter, um ihre Stirn zu küssen, und summte immer wieder dieselbe Melodie. »Ich liebe dich, Matka …, wie ich dich liebe! Ich brauche dich, meine liebste Matka.« Wieder und wieder flüsterte Rosa die Worte in den Raum. Wieder und wieder setzte Itzhak auf Anweisung seiner Frau die Tasse an die Lippen der Mutter. Das schwache Licht, das durch das Fenster drang, verblasste. Die Dunkelheit verdichtete sich zur schwarzen Nacht.

Endlich, vielleicht eine Stunde, vielleicht eine Ewigkeit später, waren Maryas Atemzüge langsam, tief und gleichmäßig. Fürs Erste beruhigt rutschte Rosa vorsichtig vom Bett, legte den Kopf ihrer Mutter behutsam auf das Kissen und schob ihr die Decke unters Kinn. »Schlaf jetzt, Matka. Das hast du gut gemacht. Bald geht es aufwärts.«

Sie gab Itzhak ein Zeichen, die Kerze aus dem Zimmer in den Flur zu tragen. Leise zog sie die Tür zu. Als sie sich ihm zuwandte, sah er an ihr die ersten Anzeichen von Müdigkeit und Resignation, seit sie ihre Mutter gefunden hatte. Er zog sie mit seinem freien Arm an seine Brust, strich ihr liebevoll übers Haar und ließ sie weinen.

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Kapitel drei

Sophie half Terri, die letzten Handtücher und die Bettwäsche zu falten, die im Fluss von Hand gewaschen und auf der Leine vor dem Haus der Gadomskis getrocknet worden waren. In weiten Teilen Warschaus gab es immer noch keinen Strom und der Wasserdruck war gering. Handpumpen auf der Straße waren für viele Menschen in der Stadt die einzige Wasserquelle. Bei der Wäsche und beim Kochen zu helfen, war das Mindeste, was Sophie tun konnte, seit Herr Gadomski und seine Tochter sie vor über anderthalb Monaten aufgenommen hatten – noch länger hatte sie nichts mehr von Janek gehört. Es war nun auch schon einige Wochen her, seit sie ihr Baby verloren hatte. Vor allem dieser Verlust lastete schwer auf Sophies Herzen.

»Es gibt ein neues Dekret.« Terri – Tereza –, die ein knappes Jahr älter war als Sophie – schüttelte das letzte Handtuch aus. »Kein Glenn Miller mehr. Keine Radios mehr – wir sollen sie abgeben. Was wir natürlich nicht tun werden.«

»Gibt es eine Strafe?« Eigentlich war es Sophie ziemlich egal. Sich um solche Sachen zu kümmern, kostete sie zu viel Energie. Sie gab sich interessiert, obwohl sie wusste, dass sie Terri, die ihre neue und einzige Vertraute geworden war, nicht täuschen konnte. Seit dem Bombenanschlag war Sophie nicht mehr an ihre Arbeitsstelle in der Bibliothek zurückgekehrt. Herr Gadomski hatte darauf bestanden, dass sie zu Hause blieb, um sich zu erholen und ihm Zeit zu geben, sich mit den Deutschen zu verständigen. Die Bibliotheken waren sofort geschlossen worden. Herr Gadomski hoffte, über die Wiedereröffnung ihres Gebäudes verhandeln zu können, hatte aber bisher keine Fortschritte erzielt.

Terri schnaubte. »Es gibt eine Strafe dafür, dass du durch das falsche Nasenloch atmest. Auf den Besitz eines Radios steht Gefängnis. Auf den Besitz eines Funksenders die Todesstrafe.«

Sophie erschauderte. Anfang des Monats war für alle eine Ausgangssperre von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen verhängt worden. Wer dagegen verstieß, wurde erschossen. Aber die Gadomskis schienen auf einer anderen Ebene zu leben, sie gingen Risiken ein und ignorierten Gesetze, die ihnen nicht gefielen. Sie waren weder furchtlos noch leichtsinnig, aber manchmal taten sie so, als ob die neuen Gesetze für sie nicht gelten würden.

»Die Angst ist ein unschöner Feind. Lass sie einen Fuß in die Tür kriegen, und sie wird dein Leben kontrollieren.« Herr Gadomski hatte das mehr als einmal gesagt. Seine Tochter wiederholte es oft, wie ein Glaubensbekenntnis.

»Trotzdem«, fuhr Terri fort, »geht es uns nicht so schlecht wie anderen.«

Als jüdischen Bürgern – das meint sie. Sophie wusste, dass sie recht hatte. Schon seit dem ersten Tag der deutschen Besatzung wurde die jüdische Bevölkerung angegriffen. Alle jüdischen Geschäfte waren sofort an deutsche »Treuhänder« übertragen worden. Diese Treuhänder durften keine jüdischen Angestellten behalten – nicht einmal die ursprünglichen Eigentümer. Vermieter wurden enteignet und durften ihre eigenen Gebäude nicht mehr verwalten. Rentenansprüche wurden entzogen. Nur diejenigen, die eine rein »arische« Abstammung nachweisen konnten, erhielten neue Geschäftslizenzen.

Polnische Jugendliche klatschten sich gegenseitig Beifall, wenn sie alten Männern auf der Straße ein Bein stellten oder einer älteren jüdischen Frau den benötigten Stock stahlen. Jüdische Straßenhändler wurden in aller Öffentlichkeit ausgeraubt. Die Wehrmachtssoldaten, die in den Straßen Warschaus patrouillierten, waren keine Hilfe. Sie verhinderten nicht nur, dass jemand den Verfolgten zu Hilfe kam, sie bedienten sich ebenso freizügig an den Waren der jüdischen Händler, schreckten nicht davor zurück, Orthodoxen ihre Bärte und Schläfenlocken abzuschneiden, demütigten alte Frauen und zwangen junge Mädchen in Hinterhöfe. Niemand hielt sie auf und nur wenige wagten, ihren Protest laut zu äußern. Diejenigen, die mutig genug dazu waren, wurden brutal mit Knüppeln bedroht, in Arbeitslager deportiert oder auf der Straße erschossen.

Sophie kannte Polen als ein Land der alten Welt, in dem gute Manieren und höfliches Benehmen noch etwas zählten. Sie hatte Janek damit aufgezogen, dass Warschau das Land der »Fingerküsse und Begrüßungsblumensträuße« sei. Aber das war nur ein Scherz, denn eigentlich liebte sie diese kultivierte, romantische Art Polens. Jetzt, wo Wehrmachtssoldaten und SS durch die Straßen patrouillierten und die Kreuzungen kontrollierten, würde sie sich nicht mehr sicher fühlen, wenn sie allein zur Bibliothek und zurück gehen würde, selbst wenn deren Türen geöffnet gewesen wären. Herr Gadomski bestand darauf, sowohl Sophie als auch seine Tochter zu begleiten, wenn sie das Haus verließen. Vielleicht war er überfürsorglich, aber im tiefsten Herzen war Sophie dankbar dafür.

An diesem Abend brachte Herr Gadomski einen Mann, dessen Namen er nicht nannte, zum Essen mit. Das Gericht, das Sophie und Terri zubereiteten, war Sophies bestes Gołąbki-Rezept – mit Fleisch gefüllte Kohlköpfe in Soße, wenn auch die Fleischportionen im Vergleich zu Vorkriegsstandards mager waren.

Nach dem etwas gezwungenen Tischgespräch beendete Herr Gadomski das Essen großzügig mit einem genussvollen Glas Wein. Als Sophie aufstand, um das Geschirr abzuräumen, nahm er ihre Hand. »Bitte, setz dich, Sophia. Das Geschirr kann warten. Unser Gast hat seine Kamera mitgebracht. Ich möchte, dass er ein Foto von dir macht.«

»Ein Foto von mir?« Sophie konnte sich nicht vorstellen, wozu.

»Ein Foto von dir und eins von Tereza. Ich möchte, dass ihr beide neue Personalausweise bekommt. Dazu bitte ich euch, jede Spur von Make-up zu entfernen und vielleicht ein paar Schatten unter die Augen zu legen. Tut, was ihr könnt, damit eure Frisur und überhaupt euer ganzes Äußeres möglichst unscheinbar wirkt. Aber so, dass ihr es auch beibehalten könnt.«

»Wir sollen plötzlich hässlich werden? Warum?«, wollte Terri wissen.

Die beiden Männer warfen sich einen kurzen Blick zu, bevor Herr Gadomski sagte: »Die Deutschen durchforsten Akten, in denen Namen und Adressen von Spezialisten aus dem akademischen und medizinischen Bereich aufgeführt sind. Und sie suchen nach Familien von polnischen Offizieren und Kampfpiloten.«

Sophie spürte, wie es ihr das Herz zusammenschnürte. Die Deutschen waren schnell, effizient und grausam, und sie hatten das Gleiche auch schon mit den Juden und den Intellektuellen in Deutschland gemacht. Aber dass es in Polen so schnell gehen würde, hätte Sophie niemals gedacht. War die Besatzung noch nicht genug?

»Wir können nur vermuten, was sie vorhaben. Druckmittel. Manipulation. Gefängnis. Sie machen den Weg frei für ihren ›Lebensraum‹ und wollen keine Opposition – keine Führer in einer Nation, die sie beherrschen. Zweifellos beabsichtigen sie, Polen zu einem Sklavenstaat zu machen. Das verheißt nichts Gutes für Akademiker, und dass du Engländerin bist, wird dir nicht helfen, Sophia. Ihr braucht beide neue Personalausweise, neue Namen, neue Adressen und neue Berufe.«

»Ich soll nicht mehr in der Bibliothek arbeiten?« Sophie konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun.

»Ist das nicht verfrüht?«, wandte Terri ein. »Und ich bin weder die Frau eines Piloten noch Akademikerin. Auch mit dem Militär habe ich nichts zu tun.«

»Verfrüht?« Herr Gadomski schloss für einen Moment die Augen. »Ich bete, dass es noch nicht zu spät ist, meine Tochter. Allein deine Ausbildung zeichnet dich aus. Sobald wir die Fotos haben, werde ich die vorhandenen Bibliotheksakten bearbeiten. Unser Gast hat Zugang zu den öffentlichen Gesundheitsakten und Geburtsurkunden. Pater Nowak wird die Taufregister ändern. Ihr werdet die Namen von zwei Frauen annehmen, die bei den Bombenangriffen ums Leben kamen – Todesfälle, die der gute Pater nicht gemeldet hat. Er hat das auch für andere schon getan.

Außerdem habe ich Wohnungen für euch beide gefunden – auf demselben Stockwerk, in einem Haus in der Nähe des jüdischen Viertels. Wenigstens könnt ihr zusammen sein. Zwei sind besser als einer allein.«

»Aber was ist mit dir, Papa? Du wirst doch sicher mit uns umziehen!« Terris Stimme wurde eindringlich.

Sophies Herz schlug für ihre Freundin. Terri liebte ihren Vater und wollte nicht von ihm getrennt werden. Aber sie ahnte seine Antwort.

»Ich bin zu gut bekannt, Terri. Und du weißt, dass es noch andere Gründe gibt.«

»Du meinst, dass Mutter Jüdin war. Du schickst mich weg, weil ich Halbjüdin bin?«

Sophie zuckte selbst zusammen angesichts des plötzlichen Schmerzes, den Terris Worte bei ihrem Vater auslösten und der in seinen Augen zu lesen war. Sie hatte sich vorher noch nie überlegt, was es für ihre neue Freundin bedeuten könnte, jüdischer Abstammung zu sein.

»Du weißt es besser«, entgegnete er.

Terri wandte ihr Gesicht von ihm ab. »Du willst also nicht, dass ich bleibe.«

Ihr Gast starrte auf seinen leeren Teller, rührte sich aber nicht, rutschte nicht unruhig auf seinem Platz herum, wie Sophie es gern getan hätte.

Herr Gadomski griff nach der Hand seiner Tochter, aber sie zog sie weg. »Wenn sie die Akten durchforsten, werden sie feststellen, dass deine Mutter Jüdin war, ja. Dass sie bei der Geburt gestorben ist, spielt keine Rolle. Sie wissen dann, dass du Halbjüdin bist. Was sie damit anstellen werden, macht mir mehr Angst als alles andere. Ich habe Angst um dich, meine Tochter – Jüdin und Tochter eines Akademikers, eine schöne, intelligente Frau mit einer hervorragenden Ausbildung. Du bist ein so helles Licht, dass ich dich in diesem Haus nicht verstecken kann. Wenn wir sie davon überzeugen, dass du seit dem Bombenangriff vermisst wirst, und wenn Pater Nowak eine Sterbeurkunde für dich ausstellt, dann kannst du ein neues Leben als Polin mit arischer Abstammung beginnen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht, um dich zu schützen.«

Sophies ganzes Mitgefühl galt den beiden, aber sie machte sich auch Sorgen um sich selbst. Der Gedanke, nicht mehr in der Bibliothek zu arbeiten und das Zuhause von Herrn Gadomski – ihr letztes Sicherheitsnetz – zu verlassen, erfüllte sie fast ebenso mit Panik wie die Vorstellung, ihren Namen zu ändern. Ihre größte Befürchtung aber sprach sie laut aus: »Wie soll Janek mich dann noch finden können?«

Die beiden Männer tauschten einen weiteren Blick aus. Diesmal ergriff der Gast das Wort. »Sie haben gehört, dass unser Militär nach der Kapitulation den Befehl zum Rückzug erhalten hat. Sie haben nicht kapituliert. So viele wie möglich haben sich auf den Weg nach Rumänien gemacht, um sich neu zu formieren und einen neuen Angriff zu planen.«

»Aber hat Rumänien sich nicht zur Neutralität bekannt?«

Herr Gadomski seufzte. »Ja, und aus diesem Grund verweigern die Rumänen jetzt ihre Hilfe – aus Angst vor deutschen Vergeltungsmaßnahmen, vor einer Besetzung. Unsere Soldaten und unsere Piloten werden größtenteils in Lagerhäusern festgehalten, ohne Hoffnung auf militärische Unterstützung.«

»Festgehalten? Als Gefangene?« Sophie stockte der Atem.

»Wir versorgen sie so gut wie möglich mit Lebensmitteln und Kleidung, aber die Grenzen sind geschlossen. Jeder Grenzübergang wird von Deutschen kontrolliert. Es ist sehr schwierig, Informationen zu bekommen – geschweige denn Lebensmittel, Geld oder Vorräte.«

»Woher wissen Sie das?«

Beide Männer zögerten. Schließlich sagte der Gast: »Wir haben Kontakte in Rumänien. Je nachdem, wo sie sich befinden, ernähren sich viele von Gefängnisrationen. Wenn sich die Lage nicht schnell ändert, müssen wir sie – müssen sie sich in ein Land absetzen, das ihnen helfen wird, ein Land, das mit den Alliierten gegen Deutschland verbündet ist.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Ich glaube nicht, dass Ihr Janek in nächster Zeit zurück sein wird.«

Der Kloß, der Sophie im Hals steckte, wurde immer größer. Sie stellte sich Janek vor – ihren lächelnden, liebevollen, tapferen Janek –, eingesperrt in einem Lagerhaus, kalt, hungrig. Aber wenn er wenigstens noch lebte … »Wissen Sie etwas über Janek? Ist er … ich meine, irgendetwas?«

Jetzt sah Herr Gadomski ihr direkt in die Augen. »Sobald ich etwas über deinen Mann weiß, werde ich es dir sagen.«

»Selbst wenn …«

»Egal, was es ist. Ich verspreche es dir.«

Sophie brauchte dieses Versprechen, aber gleichzeitig versetzte sie der Gedanke, dass es eingelöst werden könnte, in Furcht und Schrecken.

»Wenn er zurückkehrt, müssen wir dafür sorgen, dass unser tapferer Pilot seine schöne englische Frau wohlbehalten nach Hause bringen kann, auch wenn das bedeutet, dass er diesen Krieg als ein deutlich häuslicherer Pole verbringen muss.«

Sophie konnte das Lächeln von Herr Gadomski nicht erwidern. Janek könnte nach Hause kommen – und nichts wünschte sie sich mehr, dafür betete sie. Aber er würde nicht zu der strahlenden Frau zurückkehren, die er verlassen hatte. Er würde zu einer Frau zurückkehren, die unfruchtbar war.

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Kapitel vier

Itzhak eilte von der Arbeit nach Hause. Auf dem ganzen Weg betete er, dass er die Ausgangssperre einhalten, ein wenig Ruhe mit seiner Frau haben und seine Schwiegermutter nicht aus ihrem Spätnachmittagsschlaf reißen würde.

Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft Marya in den letzten Wochen nach der Uhrzeit gefragt hatte, danach, wann ihr Mann nach Hause kommen würde, was es zum Abendessen gab, wer die Frau in der Küche war, wie er hieß, und dann das ganze Ritual wieder von vorn.

Er sehnte sich nach seiner Rosa, die ihrer Mutter nicht von der Seite wich und sie jeden Tag dazu brachte, aus dem Bett zu steigen, die Treppe hinunter, in die Küche und in den Garten zu gehen. Es machte ihn traurig, die müden Falten um den Mund seiner sonst so fröhlichen Frau zu sehen, seit sie ihre Mutter in Nächten selbstmitleidiger Tränen und an Tagen anklagender Wutausbrüche pflegte. Ihr stures Beharren darauf, dass man sie besser hätte sterben lassen, dass sie nichts mehr hatte, wofür es sich zu leben lohnte – und was wisse Rosa schon von der Mühsal des Lebens? –, das war am schlimmsten zu ertragen.

Es war gut, dass sie sich nicht an alles erinnern konnte, was Frau Dobonowicz berichtete. Laut Maryas langjähriger Nachbarin war Rosas Vater, der zwei Mietshäuser besaß, gezwungen worden, diese sofort an die Nazis zu übergeben, noch vor dem allgemeinen Erlass von Ende September, der die jüdischen Vermieter enteignete. Er war hingegangen, um zu protestieren; hatte argumentiert, die Wohnhäuser seien seine einzige Einnahmequelle und er sei sogar bereit, die Einnahmen mit dem zuständigen deutschen Offizier zu teilen.

»Und was hat der Beamte gesagt?«, hatte Rosa mit hochgezogenen Schultern gefragt.

Frau Dobonowicz hatte den Blick abgewandt. »Sie gaben ihm überhaupt keine Antwort, sondern schickten ihn nach Hause. Spät in der Nacht, nach Mitternacht, hielt ein Wagen von der Gestapo vor dem Haus. Sie zerrten ihn aus dem Bett und erschossen ihn am Straßenrand wie einen streunenden Hund, vor den Augen deiner schreienden Mutter. Davon hat sie sich nicht mehr erholt, die arme Frau.« Und Frau Dobonowicz, Katholikin in einem gemischten jüdischen und nicht jüdischen Viertel, hatte sich bekreuzigt.

Es war eine Gnade, dass Itzhak jeden Tag Arbeit finden musste und die Deutschen seine Fähigkeiten als Elektriker brauchten. Denn die Verwüstungen und das Chaos, das sie durch ihre unaufhörlichen Bombardierungen in der Verkabelung der Stadt angerichtet hatten, mussten behoben werden. Eigentlich hasste er es, für sie zu arbeiten, weil sie jüdische Fachkräfte nicht anerkennen wollten und nur notgedrungen einsetzten. Doch die Stunden außer Haus verschafften ihm etwas Ruhe von seiner Schwiegermutter, aber auch ein Ziel und einen Lebensunterhalt, der ausreichte, um Lebensmittel zu kaufen – etwas, was nur wenigen jüdischen Männern vergönnt war. Wenigstens war er nicht gezwungen, Gräben oder Latrinen auszuheben, Leichen auszugraben oder Steine und Bauschutt zu sammeln, wer weiß, wofür. Dafür gab es genügend alte Männer – sogar Rabbiner.

Die meisten der jungen Männer, die man nicht gefangen genommen und in Arbeitslager geschickt hatte, waren auf dem Weg in den Krieg. Wenn das Gerücht stimmte, wenn die polnische Armee und ihre Luftstreitkräfte sich in Rumänien tatsächlich neu formiert hatten und sich darauf vorbereiteten, in die Offensive zu gehen, um die Hunnen aus Polen zu vertreiben, dann konnten sie nicht früh genug kommen. Aber sie kamen nicht, warum auch immer. Auch die Franzosen und Briten kamen nicht, obwohl sie Deutschland den Krieg erklärt und versprochen hatten, Polen im Falle eines deutschen Angriffs zu verteidigen. Wo war die Welt? Warum diese Verzögerung?

Ohne Strom – und der war in jüdischen oder gemischt jüdischen und nicht jüdischen Vierteln noch nicht wiederhergestellt worden – funktionierte Maryas Radio nicht, und nun wurden ohnehin alle Geräte beschlagnahmt. Ohne diese Verbindung zu Ländern außerhalb der besetzten Gebiete waren sie gezwungen, die deutsche Propaganda zu lesen, die in der Presse und über Lautsprecher in den Straßen verbreitet wurde. Aus Vilnius hatten sie lediglich gehört, dass die Russen, die bei ihrer Abreise vor den Toren von Itzhaks Heimatstadt gestanden hatten, dort Verwüstungen angerichtet und die Stadt dann an die Litauer zurückgegeben hatten.

Jetzt verfolgten die Litauer die Juden – sie raubten, schlugen, erschossen und demütigten sie auf der Straße. Jeder will mitmischen und seinen Beitrag leisten, um die »unmenschlichen Juden« zu entmenschlichen. Itzhak betete, dass seine Eltern, seine Schwestern und ihre Familien am Leben waren, dass es ihnen gut ging und sie verschont blieben. Die Postzustellung war zum Erliegen gekommen. Juden waren gezwungen, ihre Post persönlich auf dem Postamt entgegenzunehmen. Welche Post könnte es wert sein, so viel Aufmerksamkeit zu erregen? Was könnte es wert sein, seine Verwandten der deutschen Kontrolle und Zensur auszusetzen? Weder Itzhak noch Rosa hatten einen Brief geschrieben oder erhalten, seit sie Warschau erreicht hatten.

Kurz vor Beginn der Ausgangssperre bürstete Itzhak sich den Straßenstaub von den Schuhen, trat durch die Hintertür und streifte seinen Mantel ab. Der Duft von köchelndem Wurzelgemüse und etwas, was sicher keine echte Hühnerbrühe war, stieg ihm in die Nase. In besseren Zeiten hatte seine Schwiegermutter ihrer Tochter beigebracht, aus allem, was die Speisekammer hergab, etwas Gutes zu zaubern. Die »Steinsuppe« war in ihrem Haus eine wahre Legende. Marya konnte zwar nicht mehr kochen oder sich auch nur erinnern, jemals gekocht zu haben, aber Itzhak war dankbar, dass Rosa diese frühen Lektionen bei ihr erhalten hatte. Sie schien es richtig zu genießen, in Ruhe in ihrer eigenen Küche schalten und walten zu können, wie er es seit dem Tag, an dem sie bei seinen Eltern eingezogen waren, nicht mehr erlebt hatte.

So manches Mal, wenn es Itzhak gelang, sich unbemerkt in die Küche zu stehlen, hatte seine Rosa ein Lied auf den Lippen, während sie in den Töpfen rührte oder das Brot knetete – selbst jetzt, wo die Welt auf dem Kopf stand. Ihre Stimme war wie Musik für seine müde Seele.

Rosa drückte und zog den Schwarzbrotteig. Er war schon fast elastisch. Noch ein paar Minuten, dann ist er fertig zum Abdecken und Gehenlassen. Sie liebte diesen nächsten Schritt beim Brotbacken. Als würde man ein kleines Kind zumSchlafen in seine Wiege legen.

Sie lächelte, als sie das leise Klicken des Riegels hörte, während sie mit dem Rücken zur Tür stand. Er meint, ich höre ihn nicht, geht auf Zehenspitzen und in Strümpfen und hält den Atem an, wenn er sich in den Stuhl am Ofen sinken lässt. Wie durchgefroren muss er sein! Entspann dich dort, mein Schatz, dann singe ich dir ein Schlaflied, während ich dir dein Essen zubereite.

»Lalahlida, lalahlida,Es waren einmal zwei kleine Kätzchen. Lalahlida, zwei kleine Kätzchen,Sie waren beide graubraun.

Oh, schlaf, mein Schatz.Wenn du einen Stern vom Himmel willst,hol ich ihn dir.Alle Kinder, auch die bösen, schlafen schon.Nur du noch nicht.

Lalahlida, lalahlida,Es waren einmal zwei kleine Kätzchen. Lalahlida, zwei kleine Kätzchen,Sie waren beide graubraun.

Oh, schlaf, denn sieh, auch der Mond gähnt schon, er wird bald schlafen gehen. Und wenn der Morgen kommt, wird er sich wirklich schämen,dass er eingeschlafen ist und du nicht.«

Rosa spürte Itzhaks Lächeln, während sie das Brot in die eingefettete Schüssel legte, es mit einem Geschirrtuch abdeckte und es in der Nähe der noch warmen Backröhre gehen ließ. Sie wusste, dass er auf dem Stuhl am Ofen saß und sie mit müden Augen beobachtete, deren Blick nach und nach sanfter und zufriedener wurde. Dennoch tat sie so, als würde sie ihn nicht sehen, als sie Suppe in seine Schüssel schöpfte und eine Scheibe Brot abschnitt.

»Keine Butter heute, mein Schatz«, flüsterte sie. »Tut mir wirklich leid.« Eigentlich hatte es schon, seit sie Vilnius verlassen hatten, kaum mehr Butter gegeben. Wenig Butter, Milch nur für die Kinder, minderwertiges Mehl, nur ab und zu ein Ei – wenn die Nachbarin ihnen gelegentlich im Tauschhandel ein paar Eier von dem Huhn gab, das sie sicherlich aus dem nun verwaisten Stall von Rosas Vater gestohlen hatte.

Rosa erzählte ihrem Mann nicht, dass sie an dem Tag, als Hitler durch Warschau zog, Brot von den Deutschen genommen hatte – das nötige Brot – Brot, das nur zu Propagandazwecken an die Polen verteilt wurde; nur um aus der Kanzel eines Flugzeugs heraus, das über ihnen seine Runden drehte, die »wohltätigen Deutschen und dankbaren Polen« filmen zu können. Sie erzählte ihm nicht, wie sie in ihrer Küche improvisierte und was er tatsächlich vor sich auf dem Teller hatte. Noch nicht. Er tat sein Bestes, um ihr Geld nach Hause zu bringen, damit sie Essen kaufen konnte. Sie tat ihr Bestes, um für jeden Zloty möglichst viel zu bekommen – und dafür vor fast leeren Regalen Schlange zu stehen. Wenn die Franzosen kommen, wenn die Briten kommen,wird es bald besser. Das sagte sie sich immer und immer wieder, bis es zu einem Gebet geworden war. Bitte schick die Franzosen, schick die Briten, schick irgendjemanden – irgendjemanden –, um uns zu retten. Warum kommen sie nicht? Können sie unsere Bitten nicht hören?

Sie sang ihrem Mann jeden Abend vor, dankbar dafür, dass er eine Arbeit hatte, die die Deutschen schätzten, dankbar dafür, dass er durch die Küchentür hereinkam, bevor nach der Sperrstunde die Gewalt einsetzte, dankbar dafür, dass ihr Vater so vorausschauend gewesen war, einen kleinen Brunnen zu graben und eine Handpumpe im Garten aufzustellen. Wir haben zwar keinen Strom, aber wir haben Wasser. Weit mehr als die meisten. Danke, Tata. Danke, Itzhak. Adonai, hilf uns mit allem anderen. Adonai, sei uns gnädig.

Itzhak griff bei ihrem letzten Gang zum Herd nach ihrem Rock und zog sie auf seinen Schoß. Rosa lächelte und seufzte, küsste sein Haar, seine Schläfe, seine Wange. Er hob seinen Mund ihrem entgegen und sie vergaß die Enttäuschung, die Sorgen, ihre Mutter und die Suppe.

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Kapitel fünf

Im November unterzeichnete Sophie mit ihrem neuen Namen den Mietvertrag für die Wohnung: Zofia Marek. Wenigstens hatte sich Pater Nowak für die polnische Version ihres eigenen Vornamens entschieden und die Taufurkunde entsprechend geändert – leichter zu merken und anzusprechen als ein völlig fremder Name. Dasselbe hatte er für Terri – jetzt Tereza Lis – getan. Aber die beiden jungen Frauen hatten einen Pakt geschlossen. Privat würden sie immer Sophie und Terri sein, ein stilles Festhalten an ihren wahren Identitäten.

Die von Herrn Gadomski befürchtete Volkszählung war Ende Oktober durchgeführt worden. Anfang Dezember wurde jedes jüdische Geschäft angewiesen, einen großen Davidstern am Eingang anzubringen. An den Armen jüdischer Männer, Frauen und Kinder über zehn Jahren tauchten weiße Armbinden mit einem zehn Zentimeter großen blauen Davidstern auf. Wer sich diese Armbinden nicht beschaffte und sie trug, wurde inhaftiert.

»Hast du keine Angst, dass sie es herausfinden?«, fragte Sophie ihre Freundin eines Abends.

»Was? Dass ich Jüdin bin?« Terri zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht mit dem Glauben meiner Mutter aufgewachsen. Ich habe keine jüdischen Eigenheiten. Ich spreche kein Jiddisch. Woher sollen sie es wissen?«

»Du hast recht. Sie werden es nie erfahren. Wir kennen ja fast keine Juden.«

Terri holte tief Luft, antwortete aber nicht.

»Wir kennen doch keine Juden«, wiederholte Sophie mit Nachdruck.

»Das stimmt nicht.«

»Ich meine nur, wir haben jetzt ja nichts mehr mit Juden zu tun. Die Bukowskis waren vor dem Krieg meine engsten Freunde, aber ich weiß nicht einmal, was aus ihnen geworden ist.«

»Wenn du es wüsstest, was würdest du dann tun?«

»Wie meinst du das?«

»Würdest du ihnen helfen? Würdest du sie überhaupt noch kennen wollen? Die Lebensmittelrationierung hat begonnen. Wusstest du eigentlich, dass den Juden nur ein Bruchteil dessen zugestanden wird, was die Polen bekommen? Das reicht nicht zum Leben.«

»Das ist ja unmöglich.«

»Genau das bezwecken die Deutschen. Juden können nur dann überleben, wenn sie auf dem Schwarzmarkt zu fünf- bis zehnfachen Vorkriegspreisen einkaufen oder wenn ihnen jemand Lebensmittel schenkt. Sonst müssen sie verhungern.«

»Und Helfen ist illegal.« Der Schrecken der Situation wurde Sophie bewusst, aber sie hielt den Atem an.

»Ja«, sagte Terri, ohne sie anzusehen. »Das ist wahr.«

Sophie wartete, aber sie wusste, was kommen würde – sie wusste es ohne jeden Zweifel. »Das wird dich nicht aufhalten, oder?«

»Nein«, antwortete ihre Freundin leise.

»Warum sagst du mir das? Willst du, dass ich dir helfe? Weißt du, wie gefährlich das ist?«

»Nein, ich will und brauche deine Hilfe nicht.« Terri begegnete Sophies Blick. »Ich sage es dir, weil es gefährlich ist, und ich tue das auf eigenes Risiko. Vielleicht solltest du dich von mir fernhalten … zumindest eine Zeit lang.«

Sophie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte nicht noch eine Freundin verlieren – ihre einzige Freundin. »Bitte, bitte denk darüber nach, Terri. Denk daran, was es für deinen Vater bedeuten würde, wenn dir etwas zustößt.«

Ein trauriges Lächeln ging über Terris Lippen. »Gerade mein Vater würde das verstehen. Er mag versuchen, mich zu beschützen – er hat es versucht –, aber er würde nichts anderes erwarten. Er setzt sich selbst genauso ein. Überleg mal, was er schon für uns getan hat. Und wir sind nicht die Einzigen.«

Diese Erkenntnis traf Sophie wie ein Blitz. Ja, natürlich. Er hatte sie im Keller der Bibliothek versteckt, hatte sie zu sich nach Hause geholt, als sie nirgendwo mehr hinkonnte, hatte ihr und