Die Vertriebenen: Die Prophezeiung von Desenna - Kevin Emerson - E-Book

Die Vertriebenen: Die Prophezeiung von Desenna E-Book

Kevin Emerson

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Beschreibung

Die Menschheit hat nur noch eine Chance ...

Es ist Owen und Lilly gelungen, aus Camp Eden zu fliehen. Doch nun beginnt der gefährlichere Teil ihrer Mission: Sie müssen sich durch die lebensfeindliche Welt schlagen, in der überall Verrat lauert. Schließlich sind sie gezwungen, in der schwarzen Stadt Desenna haltzumachen. Können sie den Menschen hier trauen? Als sie endlich wichtige Hinweise auf das Ziel ihrer Reise finden, droht ein finsteres Geheimnis alles zu zerstören …

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Seitenzahl: 580

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DAS BUCH

Owen und Lilly verfügen über eine geheimnisvolle Gabe: Als direkte Nachfahren der Bewohner des versunkenen Atlantis können sie unter Wasser ohne Sauerstoffzufuhr atmen und sich so mühelos bewegen wie an Land. In einer Welt, in der die Erdoberfläche durch Klimakatastrophen nahezu unbewohnbar geworden ist, liegt in dieser Gabe eine große Chance – für sie und für die Menschheit. Gemeinsam mit dem zwielichtigen Leech sind sie aus Camp Eden geflohen, um zum alten Atlantis zurückzufinden. Denn es gibt Hinweise, dass sie dort eine Technologie finden könnten, die die Umweltzerstörung aufzuhalten vermag. Ihre Reise führt Owen, Leech und Lilly quer durch die Vereinigten Staaten, die zu einer unbewohnbaren Ödnis verkommen sind. Ihr vorläufiges Ziel: die unwirtliche schwarze Stadt Desenna. Doch ihr Todfeind, der vor nichts zurückschreckt, ist ihnen schon auf den Fersen …

DER AUTOR

Kevin Emerson war Lehrer, bevor er mit dem Schreiben begann. Durch seine Schüler kam er auf die Idee, sich Bücher für Jugendliche auszudenken. Heute ist er professioneller Autor. In seiner Freizeit spielt er in einer Band – und unterrichtet, was ihm noch immer sehr viel Spaß macht. Kevin Emerson lebt in Seattle.

LIEFERBARE TITEL

Die Vertriebenen: Flucht aus Camp Eden

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KEVIN

EMERSON

DIE VERTRIEBENEN –

DIE PROPHEZEIUNG

VON DESENNA

ROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHEN

VON CAROLA FISCHER

Copyright © 2013 by Kevin Emerson

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs

von shutterstock/Maksim Toome

und shutterstock/Veronica Louro

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-17744-7V001

www.heyne-fliegt.de

Für Brian, der ein wunderbarer Reisegefährte

für einen Streifzug in einer alten Flugmaschine

über zukünftiges Ödland wäre

EPIGRAPH

Nach dem Beben und der Flut

Nachdem die Herren und ihre Kräfte von der hungrigen Erde verschlungen worden waren

Fand eine Reise statt

Durch die dunkle Ewigkeit, während die Welt heilte

Die Vertriebenen suchten eine neue Heimat

Aber sie waren verloren, so verloren

Und als das Meer sich beruhigte und es still wurde auf dem Land

Und die Sterne es wagen konnten, wieder zu schauen

Stieg die Erinnerung in Schiffen aus blauem Licht herab

Um wieder aufzusteigen

In der Hoffnung, dieses Mal die Höhen der Herren zu erreichen

Ohne deren Grausamkeiten wiederaufleben zu lassen

TEIL I

Ruf: Hört! Lauscht dem Lied!

Antwort: Wohin ist die schöne Musik verschwunden?

Ruf: Sie ist fort mit dem Fluss, fort mit den Bäumen.

Antwort: Sie ist fort und lässt uns auf Knien zurück.

Ruf: Hört! Hört! Was vernehmt ihr da?

Antwort: Den Wind der Veränderung, die Trommel der Angst

Ruf: Lauscht unseren Schritten, lauscht unseren Herzen,

Antwort: Ist das das Ende, oder ist es erst der Anfang?

– TRADITIONELLES WANDERLIED AUS DER ZEIT DER GROSSEN FLUT

Diese Knochen sind alt, älter als du denkst,

Du erinnerst dich an mich,

Als wäre es gestern gewesen,

Aber das ist Jahre her.

– THE TRILOBYTES, »LIED FÜR DEN KRYO«

1

Es dämmerte bereits, als sich unter uns die erste Stadt der Toten ausbreitete: Gambler’s Falls befand sich dort, wo einst South Dakota gewesen war, im westlichen Teil der Mississippi-Wüste. In dieser langen Nacht waren wir schon über andere Städte geflogen. Alle sahen gleich aus: gespenstische, geometrische Schattenbilder im Mondlicht, die Häuser unbeschädigt, die Autos reihten sich ordentlich am Straßenrand auf oder standen in den Einfahrten. Fast hätte man sich die friedlich schlafenden Bewohner vorstellen können, wären da nicht die abgeschaltete Straßenbeleuchtung, die offenen Motorhauben und Benzintanks der Autos gewesen, alles überzogen von einer dicken Sandkruste.

Doch etwas in Gambler’s Fall war anders: die Mauer.

Und die Leichen.

Das Luftschiff senkte sich aus dem leeren blauen Himmel herab. Hinter uns war gerade eine orange und feuerrot leuchtende Sonne aufgegangen, und obwohl der Wind in meinem Gesicht immer noch die feuchte Nachtkälte mit sich trug, spürte ich auf meinem Rücken schon die tödliche Hitze. Lilly schlief zusammengekauert neben mir. Leech saß an der Stirnseite des dreieckigen Gefährts.

Wir waren seit vierzehn Stunden unterwegs, seit wir aus Eden West geflohen waren, und wir brauchten unbedingt einen Ort, wo wir uns vor der Sonne und der Eden Corporation verstecken konnten. Auf der anderen Seite der Stadt hatte ich eine schmale Schlucht entdeckt, die mir dafür geeignet schien.

Als wir tiefer sanken, warf ich einen Blick zurück und spähte nach einem Anzeichen von Pauls Männern, doch wie schon die ganze Nacht über hütete der Horizont sorgsam seine Geheimnisse.

Zuerst hatte ich geglaubt, dass Eden sich sofort an unsere Fersen heften würde, aber nachdem ich mit Leech darüber gesprochen hatte, war mir klar geworden, dass Paul einige Zeit brauchen würde, um ein Suchteam zusammenzustellen. Seine Drohnen mussten wegen der realen Sonne umgebaut werden, er brauchte Kraftstoff und Vorräte. Wahrscheinlich waren er und seine Männer inzwischen bereits auf dem Weg, doch wir hatten einen guten Vorsprung und konnten es uns leisten, uns ein paar Stunden auszuruhen.

»Bist du sicher, dass die Zeit dafür reicht?«, fragte Leech skeptisch, während wir über die Randbezirke der Stadt flogen. »Wir sind schon jetzt so weit ab vom Kurs.«

»Ich muss etwas schlafen«, antwortete ich. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich gar nicht geschlafen, und in den Tagen zuvor waren es nicht mehr als ein paar kurze Stunden gewesen. »Sonst kann ich uns nicht zu deinem Kennpunkt bringen.«

In der vergangenen Nacht war dies zum neuen Streitpunkt zwischen Leech und mir geworden. Er hatte Karten gezeichnet, und ausgehend von den Richtungsangaben, die wir – noch in Eden – auf der Spitze von Mount Asgard in den Berg eingeritzt gefunden hatten, hatte er einen südwestlichen Kurs ausgearbeitet. Leech glaubte, dass dieser Kurs uns zu einer Art Atlantischen Marke führen würde, dem nächsten Halt auf unserem Weg zum Herzen von Terra, jenem Ort, den wir vor Paul erreichen mussten.

Ich vertraute Leech, er war der Navigator. Es war seine Aufgabe, unseren Kurs auszuarbeiten, als Aeronaut hatte ich dafür zu sorgen, dass wir dorthin kamen. Aber anstatt Leechs Angaben zu folgen, war ich immer gen Westen geflogen, in Richtung Yellowstone Hub, wo ich herkam. Die ganze Nacht hindurch hatte Leech darauf hingewiesen, dass wir immer weiter vom Kurs abkamen und dadurch Zeit verloren. Ich fand es besser, zunächst einmal zum Hub zu fliegen, wo mein Dad lebte, und uns dort Vorräte für eine längere Reise zu besorgen.

»Ich versteh schon, du brauchst deinen Schönheitsschlaf«, sagte Leech missmutig, »aber … wow …« Er lehnte sich aus dem Luftschiff. »Schau dir das mal an.«

Ich schaute hinunter und zwischen den Schatten der Gebäude erkannte ich die Mauer. Sie war vielleicht zehn Meter hoch, eine Anhäufung aus aufgestapelten Möbeln, Sandsäcken, Steinen und Betonklötzen, die mit Stacheldraht und Telefonkabel zusammengehalten wurde. Auf dem Rücken der Barriere verlief eine Linie aus spitzen Glasscherben. Die Mauer schlängelte sich durch die Straßen, vorbei an den umgekippten rußigen Auto- und Lasterwracks, Möbel- und Müllhaufen, und manchmal geradewegs durch ein eingestürztes Gebäude.

»Mann, pass doch auf!«, rief Leech.

Der Anblick hatte mich abgelenkt, mein erschöpftes Gehirn arbeitete nur langsam, und nun flogen wir zu tief. Direkt vor uns lief die Mauer auf ihren höchsten Punkt zu. Am Gipfel standen ein schiefer Wachturm und eine mit blauer Plastikplane abgedeckte Holzplattform. Die Plane war vom Wind zerfetzt worden, aber die Aluminiumpfosten waren noch intakt, auch der in der Mitte.

Dort befand sich die Leiche.

Ich trat heftig auf die Pedale am Boden des Gefährts.

Die Quecksilber-Vortex-Turbine, ein schwarzes Dreieck aus glänzendem Stein mit einem wirbelnden blauen Licht in der Mitte, brummte in einer höheren Tonlage. Der Lichtschein wurde heller und als der Antigravitationsantrieb einsetzte, ging mir die Erschütterung durch Mark und Bein. Das Gefährt stieg steil gen Himmel, um ein Haar hätten wir die Leiche gestreift.

Lilly schreckte aus dem Schlaf hoch. »Was ist passiert?« Sie zog sich an meiner Schulter hoch.

»Toter Typ«, antwortete Leech.

Lilly reckte den Hals nach hinten. »Herrgott noch mal«, murmelte sie.

»Ich glaube nicht, dass Gott etwas damit zu tun hatte«, sagte Leech.

Von dem Körper waren fast nur noch die Knochen übrig und einige Streifen verkohlter, ledriger Haut zwischen den Gelenken. Ein paar zerfetzte, braune Kleidungsstücke flatterten im Wind.

»Da sind noch mehr«, sagte Leech. Er zeigte auf einen Haufen brauner Knochen und Kleider neben den Trümmern des Mauersockels. »Sieht aus, als hätten sie versucht reinzukommen.«

»Was, glaubst du, waren sie wohl? Eine Warnung?« Über meine Schulter hinweg blickte Lilly auf das höchste Gebäude der Stadt. Es war aus Ziegelstein gebaut und ungefähr zwölf Stockwerke hoch. Einige restliche Buchstaben an der Seite deuteten darauf hin, das dort eine Bank gewesen war. In der leuchtenden Sonne hoben sich die Umrisse von Skeletten ab, in jedem Fenster eines.

Auch das Dach war von einer dekorativen Umrandung eingefasst, die das Gebäude wie eine Burg aussehen ließ, nur waren diese Miniaturzinnen in Wirklichkeit aufeinandergestapelte Schädel. Zahllose Schädel.

»Ich würde das als Warnung verstehen«, sagte ich.

»Und dort ist wohl das, was sie beschützen wollten.« Leech deutete in die entgegengesetzte Richtung.

Die Mauer verlief in einem krummen Kreis durch die Stadt, und in seiner Mitte, ein wenig außerhalb des Zentrums, stand ein sehr großes Gebäude mit einem riesigen, flachen, sandbedeckten Dach, daneben ein großes, weißes Schild mit blauer Schrift:

WALMART SUPERPLUS GAMBLER’S FALLS

»Ich war öfter in so einem Supermarkt, bevor ich eingefroren wurde«, sagte Leech. »Dort gab es so ziemlich alles. Vollkommen logisch, dass sie den verteidigt haben.«

Ein weiterer toter Körper war an die Fahnenstange vor dem Haupteingang gebunden, und alle Glastüren waren mit Sperrholz verbarrikadiert. Auch diese Leiche wirkte alt und hatte ledrige Haut.

»Was ist hier geschehen?«, fragte Lilly leise, während sie die Straßen unter sich hinweggleiten sah. Die meisten Gebäude und Wohnhäuser waren dem Erdboden gleichgemacht. Ein paar Balken und Mauerreste ragten, ebenso wie die Astgerippe der versengten Bäume, aus dem Sand empor.

Sie hatte die ganze Nacht geschlafen, nur einmal hatte sie sich bewegt und leise vor sich hin gewimmert. Das Einzige, was ich verstehen konnte, war »Anna«. Es hatte so verzweifelt geklungen, dass ich mich sofort in das Geheimlabor unterhalb von Camp Eden zurückversetzt fühlte, wo Lilly ihre beste Freundin gefunden hatte. Annas Körper war aufgeschnitten und für ein grausames wissenschaftliches Experiment genutzt worden, die Suche nach dem Atlantischen Code, den wir in uns trugen. Das Bild von Anna, wie sie da lag, der offene Brustkorb, die Organe, die Schläuche und ihre weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen … ich wurde es einfach nicht mehr los.

»Also«, fügte Lilly hinzu, »wer waren diese Menschen?« Ich erinnerte mich, dass sie sich schon auf dem Floß darüber Gedanken gemacht hatte, als wir noch im Ferienlager waren: Was würden zukünftige Wesen in einigen Tausend Jahren über diese untergegangene Zivilisation des 21. Jahrhunderts, über uns, denken? Auf dem Floß hatten sich Lillys Gedanken nur um einen leeren Swimmingpool in ihrem früheren Garten in Las Vegas gedreht, jetzt ging es um ein Massaker.

Offenbar hatte sie damit nicht gerechnet. Der Anblick war in jedem Fall trostloser und brutaler als alles, was ich früher im Yellowstone Hub gesehen hatte, doch zumindest hatte ich schon ein paar Geschichten über die Vorkommnisse in der Wildnis gehört.

»Wahrscheinlich Widerständler«, meinte Leech. »So hat man sie zumindest während der Großen Flut genannt.«

»Ja«, stimmte ich zu und unterdrückte einen Anflug von Verärgerung. Obwohl wir Eden verlassen hatten und uns nun in meinem Teil der Welt aufhielten, tat Leech immer noch so, als wäre er für alles der Experte. Aber in diesem Fall hatte er recht, also widersprach ich ihm nicht.

Dieser Teil des Kontinents war einmal fruchtbares Land gewesen, aber mitten in der Großen Flut waren sämtliche Gewässer ausgetrocknet. Ein grausamer Streich des Klimawandels. Je mehr sich die Erdatmosphäre erwärmte, desto mehr Wasserdampf konnte sie speichern, und während die Meere anschwollen, trocknete das Land aus.

Die Menschen hatten damals Zeit, ihre Häuser zu verlassen, aber es gab nicht viele Orte, wo sie hingehen konnten. Wenige Glückliche konnten sich einen Platz in Eden West kaufen, für die anderen waren die Aussichten düster. Eine Familie konnte sich zur Küste aufmachen und sich auf einem Tanker einschiffen, der sie in den Bezirk der Belegschaft von Coke-Sahel brachte, oder nach Norden in die Grenzgebiete der Bewohnbaren Zone auswandern, wo es schon schwierig war, ein Visum für die Amerikanisch-Kanadische Föderation zu bekommen, und wo Krankheit und Kriminalität an der Tagesordnung waren.

»Anstatt wegzugehen«, erklärte Leech nun Lilly, »schlossen sie sich zusammen und versuchten, es allein zu schaffen, wie im Hub oder in Dallas Beach. Diese Gruppen bekommen manchmal Unterstützung von der AKF.«

»Trotzdem scheitern die meisten von ihnen«, warf ich ein, »wegen der Seuchen oder ihrer Machtkämpfe, oder weil sie verhungern. Manchmal kommt alles zusammen.«

»Mmm«, sagte Lilly und starrte weiter auf die Ruinenlandschaft unter ihr. Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich an mich. Die Wärme ihrer Berührung ließ die Kälte der Nacht dahinschmelzen.

»Hallo«, sagte ich und warf ihr einen Blick zu. Sie hatte sich in meinen strahlenabweisenden Pullover gekuschelt; ihr langes, dunkles Haar war nach dem Schlaf ganz glatt. Ihre Augen waren so klar und faszinierend wie immer, himmelblau mit perlweißen Schlieren. Helle, geschwungene Linien schlängelten sich ihre mandelfarbene Wange entlang, der Abdruck stammte von der wasserdichten, roten Tasche, die sie als Kopfkissen benutzt hatte. Ich streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger eine s-förmige Linie von ihrem Auge bis zum Kinn nach.

»Lustiger Abdruck«, sagte ich.

Sie lächelte und küsste mich auf die Wange, wobei ihre Nase meine Wangenknochen leicht berührte. Ich spürte ihre Wimpern auf meiner Schläfe. Das Gefühl kannte ich bereits. Obwohl unser erster Kuss nur zwei Tage her war, schien mir alles bestens vertraut, ihre Lippen, ihr Atem, der ein wenig salzig roch – ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wie es vorher gewesen war. Jeder Kuss war wie ein Sturm in meinem Gedächtnis, der alles andere hinwegfegte.

Dann wich sie plötzlich zurück. »Aua«, stöhnte sie. Sie rieb sich am Hals über die schmalen, roten Linien ihrer Kiemen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Die tun richtig weh«, antwortete sie und kratzte sich leicht. »Sie fühlen sich trocken an.«

»Meine fühlten sich auch so an, bevor ich das erste Mal nachts zum See gegangen bin«, sagte ich, »als ob sie Wasser bräuchten.« Von meinen Kiemen war kaum mehr etwas zu sehen. Es war nicht einmal zwei Tage her, dass sie aufgehört hatten zu arbeiten, und jetzt war es schon so, als hätte ich sie nie gehabt. Auch angesichts dieser Veränderung konnte ich mich kaum noch erinnern, wie es vorher gewesen war. War ich wirklich stundenlang im dunklen Lake Eden umhergeschwommen? Hatte ich mich wirklich wohlgefühlt unter dem Druck des Wassers in der Kälte des Sees? War ich im Wasser sogar stärker als an Land gewesen? Jetzt war die Luft mein Zuhause. Statt auf Wasserströme reagierte ich nun auf Windgeschwindigkeiten. Statt um den Druck in verschiedenen Wassertiefen ging es nun um die Spannung der Segel im Wind.

Als Lilly mit dem Finger über die verblassten Linien an meinem Hals fuhr, rief das nur eine schwache Erinnerung in mir wach.

»Ich kann sie kaum noch sehen.« Sie runzelte die Stirn und wandte sich ab.

»Hey«, sagte ich und wollte meinen Arm auf ihre Schulter legen, doch gerade kam eine warme Morgenbrise auf, daher musste ich mit beiden schmerzenden Armen die Segelleinen festhalten. Seit meine Kiemen verschwunden waren, hatte sich etwas zwischen uns verändert. Es lief nicht schlecht, die Verbindung war nur … weg. Ich hatte meine Kiemen verloren, weil ich ein Atlanter war, einer von den Drei. Leech war auch einer, aber Lilly …

Es schien unwahrscheinlich. Ihre Kiemen waren nicht wie die von Leech und meine verschwunden. Als sie gesagt hatte, sie habe die Sirene gesehen, war das eine Lüge gewesen, nur dass Leech die auch nicht gesehen hatte, also bewies das gar nichts.

Mir war immer noch nicht klar, warum ich die Sirene gesehen hatte. Vielleicht war der Schädel unterhalb von Eden meiner gewesen. Vielleicht war das auch der Grund, warum meine Kiemen so schnell gewachsen und wieder verschwunden waren. Die von Leech hatten sich wahrscheinlich zurückgebildet, weil er sich so lange in dem unterirdischen Tempel aufgehalten hatte. Jahrelang war er in der Nähe von meinem Schädel gewesen, wenn er in dem Tempel direkt darüber gearbeitet hatte. Vielleicht würden Lillys Kiemen verschwinden, wenn sie hier in dem Luftschiff war, zusammen mit meinem Schädel …

Vielleicht aber war sie gar keine von uns. Und wenn es so war, was bedeutete das dann für den Rest unserer Reise? Ich hatte schon darüber nachgedacht, dass es einen Moment geben könnte, in dem ich fortgehen könnte und sie nicht, in dem uns unsere unterschiedlichen Schicksale trennen würden. Vielleicht fühlte sie das auch, als ob eine Wolke über uns hängen würde, trotz des gnadenlos blauen Himmels.

»Alles wird gut«, sagte ich. Ich wusste nicht, ob ich ihre schmerzenden Kiemen meinte oder uns beide oder das Unbekannte, das vor uns lag. So oder so hatte ich Angst zu lügen.

Lilly seufzte. »Ja, bestimmt.« Sie rieb sich wieder die Kiemen. Ihr Blick blieb abwesend, als ob sie es auch nicht recht glauben würde.

Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab, und selbst unter dem dicken Sweatshirt, das ich trug, juckte meine Haut. Das Shirt stammte aus Eden West, doch ohne UV-Schutz würde das hier draußen nicht genügen. Wir hatten am Vortag ein paar Stunden in der Nachmittagssonne verbracht, meine Kopfhaut war schon ganz verbrannt und Arme und Beine waren mit besorgniserregenden Pusteln übersät.

»Wollen wir uns in dem Walmart ausruhen?«, fragte Leech und schaute zurück. »Wir könnten schauen, ob wir ein paar Vorräte finden.«

»Dort können wir das Schiff nicht verstecken«, sagte ich. »Ich glaube, in der Schlucht ist es sicherer, und außerdem könnten wir in zehn Stunden im Hub sein. Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten.«

»Gut, aber ich habe jetzt Hunger«, sagte Leech. »Und wieso glaubst du überhaupt, dass dein Dad uns helfen kann?«

»Wen sollen wir sonst um Hilfe bitten?«, erwiderte ich. Sonst bliebe uns nur die Möglichkeit, eine Nomadenschar ausfindig zu machen, doch wir wussten nicht, wo wir suchen sollten. Leech bezeichnete die Nomaden unaufhörlich als Wilde, obwohl Lilly und ich es besser wussten. Bevor wir letzte Nacht in den Schlaf gesunken waren, hatte Lilly noch den Gammalink nach dem Sender der Freien Nomaden abgesucht, doch sie hatte ihn nicht gefunden.

Was meinen Vater betraf, hatte Leech nicht ganz unrecht. Denn ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, wie er auf meine Geschichte reagieren würde:

Hey Dad, hör mal zu. Ich weiß, ich bin erst letzte Woche nach Camp Eden ins Ferienlager gefahren, aber ich bin schon wieder zurück, und so einiges hat sich seitdem … verändert. Nun brauche ich Hilfe, um Vorräte für uns zu beschaffen, ohne dass jemand merkt, dass wir hier sind, denn, oh, habe ich schon erwähnt, dass wir auf der Flucht vor der Eden Corporation sind? Sie sind hinter mir her, weil ich ein genetischer Nachkomme der Atlanter bin und ihnen helfen kann, die ›Brocha de Dioses‹ – entschuldige bitte, den Pinsel der Götter – zu finden. Das ist eine alte Technologie, die den Verlauf des Klimawandels rückgängig machen kann, um, du weißt schon, die Welt zu retten.

Nein, schon klar, die Welt retten klingt großartig! Doch es gibt ein Problem: Wir trauen Paul und den anderen Direktoren mit ihrem Elysion-Projekt nicht mehr, denn sie haben unseren Freunden Schreckliches angetan, ganz zu schweigen davon, dass sie die Suche nach Atlantis und nach uns, den Atlantern, seit über fünfzig Jahren geheim halten. Ich weiß das einfach, o.k.? Wenn sie wirklich nur die Erde und die Bevölkerung retten wollen, warum haben sie dann aus ihrer Suche so ein großes Geheimnis gemacht? Ja, das ist wirklich verdächtig.

Was? Oh, ja richtig, wie sieht denn MEIN Plan genau aus. Wir werden die ›Brocha de Dioses‹ selbst finden und dann entscheiden, was zu tun ist. Auf keinen Fall darf die ›Brocha‹ in die Hände der Eden Corporation gelangen.

Dieses Luftschiff? Das gehört mir. Echt cool, oder? Ja, ich kann es fliegen. Das hat mir Lük, ein toter Junge, beigebracht. Sein Bewusstsein – also genau genommen seine Qi-An Lebenskraft – war in einem Kristallschädel eingeschlossen.

Also … das klingt doch alles wunderbar, oder? Okay, super! Nun brauchen wir Nahrungsmittel, ein Zelt, und noch ein paar andere Dinge. Und dann musst du weitermachen wie bisher und mich in den Sonnenuntergang fortsegeln lassen, ohne zu wissen, wohin meine Reise geht …

So wie bei Mom.

Vielleicht würde ich den letzten Satz weglassen. Aber auch ohne den – wie würde Dad reagieren? In meiner Vorstellung flippte er jedes Mal total aus.

Und selbst wenn er meine Geschichte irgendwie einleuchtend fand – wenn er einverstanden war, dass ich irgendwo ins Nirgendwo flog, während mich die Eden Corporation verfolgte –, was wäre dann? Glaubte ich wirklich, dass mein Dad mit seinen Atemproblemen, dem schon die zwei Treppen von der Höhlenpromenade in unsere Wohnung Mühe machten, der kaum das Helsinki Island Footballteam anfeuern konnte, ohne schlimme Hustenanfälle zu bekommen, es schaffen würde, uns mit Vorräten zu versorgen, ohne zusammenzubrechen?

Unwahrscheinlich.

Von all dem hatte ich Leech nichts gesagt. Ich wollte ihm nicht noch mehr Munition liefern für seine Argumente, am Hub vorbeizufliegen, damit wir uns sofort auf den Weg nach Südwesten machen konnten. Vielleicht war es dumm, zum Hub zu fliegen, doch ich wollte unbedingt dorthin.

Es ging mir nicht nur um die Vorräte, ich hatte Sehnsucht nach meinem Vater. Das überraschte mich. Wir waren uns nicht sehr nahe, und trotzdem, nach den Ereignissen der letzten Nacht war mein Wunsch immer stärker geworden. In der vergangenen Woche war so viel passiert, ich war im See ertrunken, zum Atlanter geworden, dann waren wir geflohen. All das kam mir vor wie ein knallbunter, vollkommen unwahrscheinlicher Traum, sodass ich mich fragte, wie mein Leben im Hub ausgesehen hatte? Es fühlte sich so weit entfernt an und das war fast lächerlich, denn ich konnte mich sehr gut an die stillen Nächte mit Dad auf dem Sofa erinnern, an die einsamen Tage, die ich meist schweigend zwischen meinen wenigen Mitschülern verbrachte, und auch an das dumpfe unterirdische Licht, den Geruch nach Schwefel und Gestein. All das war ein Teil von mir … und dennoch trennte eine breite Kluft mein neues von meinem alten Ich. Und auch wenn dieser neue Owen, der ein Ziel hatte, eine große Verbesserung gegenüber dem darstellte, der ich früher war, fühlte ich mich trotzdem irgendwie unsicher, als ob ich meine alte Realität verlassen hätte und draußen umhertreiben würde, außerhalb von Zeit und Raum.

Ich fuhr mit den Fingern über das Lederarmband, das ich im Ferienlager gefertigt hatte. In krummen Buchstaben stand dort »Dad«. Und dann hatte ich noch etwas ungelenk ein Bild eingeritzt, das ich für das merkwürdige Symbol von Camp Asgard gehalten hatte, doch inzwischen wusste ich, dass es ein atlantisches Symbol war, vielleicht stand es sogar für Atlantis selbst.

Es stand für mein altes und mein neues Ich. Vielleicht wünschte ich mir nur eine konkrete Verbindung zwischen den beiden, so als müsste ich mich versichern, dass ich auch noch der alte Owen war, bevor ich dieser Aeronaut wurde und verrückte Dinge tat. Vor nur einer Woche hätte ich mir das niemals vorstellen können, aber jetzt war es einfach so.

Aus diesem Grund fragte ich Leech: »Du hast doch nicht die Orientierung verloren, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete er.

»Also können wir unseren Kurs korrigieren, wenn wir im Yellowstone Hub waren.«

Leech sah mich merkwürdig an: nicht genervt, eher ernst.

»Sieh mal, ich glaube, wir vergeuden damit wertvolle Zeit.« Er klang beinahe besorgt.

»Also«, warf Lilly ein, »ich bin für Owens Idee. Find dich damit ab.« Sie begann sich am Rücken zu kratzen. »Es wird sehr schnell heiß. Wollen wir dorthin?«

»Ja.« Vor uns tauchte eine kleine Schlucht auf. Sie war schmal und kurvig, die Wände in sämtlichen Braunschattierungen gestreift.

»Sieht gemütlich aus«, murmelte Leech.

»Es liegt gut versteckt«, sagte ich. »Das ist das Entscheidende.«

Am Rand war früher so etwas wie ein Park gewesen. Eine weite Fläche aufgebrochener Asphaltwege, eine Ebene mit Picknicktischen, überdeckt von Sandwehen, aus denen einige Spielplatzgeräte herausragten. Daneben öffnete sich die Schlucht in einer breiten Mündung, als ob dort einmal ein Wasserfall hinuntergerauscht wäre. Darunter lag eine leere Grube, vielleicht war das früher mal ein Teich gewesen, in dem vor langer Zeit Kinder geschwommen waren.

Doch als wir über den Park flogen, sahen wir, dass der ausgetrocknete Teich nun etwas ganz anderes war.

»Oh, Mann!«, sagte Leech.

»Iiiii …« Lilly atmete schwer, sie schien angeekelt.

Die ausgetrocknete Mulde war randvoll mit Leichen.

2

In der Mulde lagen zu viele verkohlte Knochen, um sie zählen zu können, Hunderte von Menschen, alle übereinandergeworfen, der ganze Haufen brannte. In der Erde tiefe Spuren von Lastwagen, die kein Wasser jemals weggewaschen hatte; sie führten zu einem riesigen Truck, der neben der Stadtmauer parkte.

»Eine Seuche, meinst du nicht auch?«, fragte Leech.

»Vielleicht auch Grippe«, sagte ich. »In dicht besiedelten Gegenden war die immer besonders schlimm. Vielleicht auch FP zwei.«

»Was?«, fragte Lilly.

»Flut-Pandemie zwei«, antwortete ich. »Auch Rote Flut genannt. Ein Symptom waren geplatzte Blutäderchen im Gesicht der Erkrankten. Während dieser Pandemie war ich noch klein, und im Hub hatten wir Glück. Es gab nur etwa zehn Fälle, und die haben sie rechtzeitig in Quarantäne gebracht.«

»Rote Flut«, sagte Leech, als ob er das für eine dumme Idee halten würde.

»Was glaubst du denn, was es war?«

Leech starrte mich eine Sekunde lang an, dann zuckte er die Achseln.

»Ist auch egal. Was immer es war, es hat wohl die meisten Bewohner der Stadt umgebracht, aber ich wette, das war nur der Anfang. Es gibt da dieses traumatische Syndrom der Bevölkerung, wenn die Überlebenden einer Pandemie den Realitätssinn verlieren. Vielleicht haben sie deshalb angefangen, Befestigungen aus Schädeln zu bauen und tote Körper an Pfähle zu binden.«

»Ist das irgendwas Besonderes, dass Jungs immer so viel über Seuchen und Tod wissen?«, fragte Lilly.

»Das ist interessant«, sagte ich.

»Finde ich auch«, meinte Leech, und beinahe grinsten wir uns an.

»Die sollten nicht mehr ansteckend sein, nach all den Jahren in der brennenden Sonne«, sagte ich und lenkte das Gefährt über die Leichen. Mir fiel auf, dass dort keine Schädel waren. Die waren alle in der Stadt gebraucht worden.

Lilly sprach leise, während sie nach unten auf das Knäuel von Gliedmaßen blickte. »Warum sollen wir die Welt retten, wenn so etwas passieren kann?«

Ich zuckte die Achseln, sagte aber nichts. Sie hatte nicht ganz unrecht, doch wieder einmal überraschte mich ihr Ton. Im Ferienlager war Lilly von uns allen am meisten erpicht darauf gewesen, etwas zu verändern.

»Wir sollten einfach weiterfliegen«, murmelte Leech. »Mit denen da in der Nähe kann ich mich nicht entspannen.«

»Ich muss schlafen«, sagte ich. »Ich werde so viel Abstand zu denen halten wie möglich.«

Ich lenkte das Luftschiff über die ausgetrockneten Wasserfälle zu der Mündung der schmalen Schlucht. Wir trieben durch schattige Kurven. Das Flussbett war ein heller Sandstreifen, mit einigen Felsbrocken hier und dort. Die Felswände sahen wie von Menschenhand geglättet aus.

»Okay, lasst es uns versuchen«, sagte ich, drückte die Pedale ganz durch und wir landeten sanft auf dem Sand. Ich beobachtete, wie das Licht des Vortex-Motors schwächer wurde. Bei unserer Flucht aus Eden hatten wir schon den Thermalballon verloren. Wenn der Motor ausfiel, würde das Gefährt für uns nutzlos sein.

Ich schloss die Augen und ließ mich in mein Inneres sinken – ein Gefühl, wie wenn man rücklings ins Wasser fällt –, bis die Außenwelt verschwand. Ich spürte das Summen des Kristallschädels in der Nähe, der in Lillys Tasche verstaut war.

Die Umgebung war mir vertraut: ein karger, grauer Strand entlang eines kristallblauen Bergsees, der von steilen, schneebedeckten Bergen umgeben war. Hinter mir lag die Atlantische Stadt in einem Fjord, der, das hatte Paul gesagt, zu Grönland gehörte, eine Stadt, die auch sein letzter Außenposten sein würde. Schmale Turmspitzen streckten sich nach den hohen Wolken. Das flache Dach der großen Hauptpyramide wurde von schwachen, weißen Glühbirnen erleuchtet.

Bist du sicher, dass uns das gelingen wird?, fragte ich Lük, der ganz in der Nähe im Schneidersitz saß und Segelleinen aufspulte. Er war so alt wie ich, sah uralt aus, seltsamerweise wie ich auch, unsere Gene waren miteinander verbunden, und doch durch Hunderte von Generationen getrennt.

Unsere beiden Luftschiffe waren an Pflöcken im Sand festgemacht. Sie trieben im Wasser, ein dumpfes Ploppen erklang, wenn die kleinen Wellen an den hölzernen Rumpf schlugen. Andere Schüler waren nicht zu sehen.

Er begann zu sprechen. Ein einmaliges Aufladen des Quecksilber-Vortex-Motors sollte bei guten Flugbedingungen für mehrere Tausend Kilometer ausreichen. Wenn er nicht läuft, verbraucht er so gut wie keine Energie.

Okay, in Ordnung, sagte ich. Irgendwann müssen wir einen neuen Thermalballon anfertigen.

Lük schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. Ein Schatten lief über sein Gesicht.

Was ist los?, fragte ich.

Er blickte sich um und runzelte die Stirn. Für diese Information müssen wir wieder Verbindung mit dem Schädel aufnehmen. Er sollte … er sollte hier sein, ist er aber nicht.

Oh, alles klar, sagte ich. Er starrte mich immer noch an. Was ist los?, fragte ich noch einmal.

Ich bin nicht ganz sicher, antwortete Lük. Da sind noch andere Informationslücken. Ich glaube, der Schädel hätte uns besser miteinander verschmelzen sollen. Wir sollten noch einmal zusammenkommen.

Einverstanden, wenn ich mich etwas ausgeruht habe, treffen wir uns wieder im Inneren des Schädels.

Ich tauchte wieder an die Oberfläche und nahm meine Füße von den Pedalen. Der Vortex-Motor glühte so schwach wie noch nie, aber er lief und summte leise.

»Alles in Ordnung«, sagte ich und griff nach dem schwarzen Rucksack von Dr. Maria. Lilly holte ihre Tasche hervor, und wir ließen uns nahe der Mauer im sicheren Schatten auf dem weichen, feinen Sand nieder. Als ich auf die Knie fiel, spürte ich, wie alle Kraft aus meinem Körper wich.

Lilly breitete eine Decke aus. Wir setzten uns, und ich holte die letzten beiden Sojariegel und eine Flasche Wasser aus Dr. Marias Rucksack. Wir hatten noch einen Riegel und eine Packung synthetische Veggie Chips, aber sonst kein Wasser mehr.

Ich riss die Verpackung auf und begann die schmutzig braunen Riegel in Stücke zu brechen. »Zwei Drittel für jeden«, sagte ich.

Als ich Leech die zwei Stücke reichte, fiel mir das Jäger-Beute-Spiel im Ferienlager ein, als er mir nicht meine Essensmarken gegeben hatte, woraufhin ich ihn geschubst hatte und ein Kampf ausgebrochen war, den wir aber nicht mehr ausgefochten hatten. Wir starrten uns an, und ich fragte mich, was aus diesem Hassgefühl werden sollte, jetzt, da wir Partner waren. Er zog die Augenbrauen hoch und nahm die zwei Stücke Sojariegel, als ob er das Gleiche wie ich fühlen würde: Vielleicht gingen wir uns auf die Nerven, aber wir waren schon lange nicht mehr dieselben Jungen wie im Ferienlager.

Die wenigen Bissen Riegel machten mich nur noch hungriger. Ich öffnete die Wasserflasche und nahm einen einzigen Schluck, bevor ich sie herumreichte.

»Weißt du«, sagte Leech, während wir aßen, »da anscheinend fast jeder in dieser Stadt plötzlich auf schreckliche Weise gestorben ist, könnten wirklich noch ein paar Vorräte in dem Walmart übrig sein.«

»Wir gehen da nicht hin«, sagte ich. »Wenn du von hier draußen wärst, würdest du die Verhaltensregeln im Fall der Roten Flut kennen. Du wüsstest, dass Mäuse und Kakerlaken die Krankheit übertragen. Und davon gibt es dort bestimmt genug, besonders, wenn da auch alte Nahrungsmittel lagern.«

»Hört euch den Schlaukopf an«, sagte Leech.

»In diesem Fall bin ich wirklich schlauer.«

Leech lachte in sich hinein. »Rote Flut … Tut mir leid, aber ich kann mir das nicht länger anhören.«

»Was weißt du denn schon?«, sagte ich. »Du bist vor, ich weiß nicht, dreißig Jahren eingefroren worden …«

»Siebenundvierzigeinhalb«, unterbrach mich Leech. Er hörte auf zu lachen.

»Genau. Das hier draußen ist meine Welt.«

»Was du von ihr kennst«, sagte Leech. Er schob sich die Riegelstücke in den Mund und stand auf. Dann stapfte er die Schlucht entlang und wirbelte mit den Füßen Sand auf. »Ich übernehme die erste Wache.«

»Ich kenn mich aus!«, brüllte ich ihm hinterher und hasste mich im selben Augenblick für meinen defensiven Tonfall. Ich war ihm mindestens ebenbürtig.

Leech machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie auch immer. Zum Jungenklo geht’s hier entlang.« Er verschwand um eine Ecke, aber wir konnten dennoch hören, wie er sich erleichterte.

»Echt schön«, stöhnte Lilly.

»Ich kann nicht glauben, dass wir den jetzt an der Backe haben«, meinte ich. Ich streckte mich im Sand aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte auf den krummen Felsen und den schmalen Streifen sichtbaren Himmels über uns. Der Sand roch wie frisch gewaschen. Ein kühler Luftzug wehte vorüber. Meine Augenlider wurden schwer, und meine Beine fühlten sich wie Blei an.

Neben mir vernahm ich ein leises Rauschen. Lilly hatte ihr Computerpad hervorgeholt. Sie wischte mit dem Finger vor und zurück, leere Gammalinkfrequenzen zischten und tönten, während sie den freien Sender suchte. Wir hatten Pauls Telefon aus Eden mitgenommen, aber es hatte sich selbst zerstört, als Lilly versucht hatte, es zu benutzen. Das Gleiche hatten wir auch schon bei Aarons Telefon erlebt. Sie hatte es über Bord geworfen.

Lilly bemerkte, dass ich sie beobachtete. »Schlaf du mal.«

»In Ordnung.« Ich hätte noch gern mit ihr geredet, aber die Müdigkeit übermannte mich. Das Rauschen des Computers begleitete mich, während ich mich zurücktreiben ließ: eine lange Reise durch die schwarze Nacht, durch den freien Himmel, zurück unter den künstlichen Himmel von Eden West, vorbei an den Drohnen, hinunter ins Labor zu den Kindern, die wir dort gesehen hatten, tief in das dunkelgrüne Wasser mit der gespenstischen, blauen Sirene und schließlich in schwarzen Schlaf.

Eine Zeit lang.

Owen.

Ich tauchte aus dunklen Tiefen auf, der Ruf der Sirene lockte mich. Ich war zurück in dem See, und ich hatte wieder Kiemen, die sich wie von Zauberhand hin- und herbewegten. Die schimmernde, blaue Gestalt trieb vor mir her.

Wer bist du?, fragte ich sie, wie schon das letzte Mal, als ich sie in der Schädelkammer unterhalb von Eden gesehen hatte.

Und genau wie beim letzten Mal antwortete die Sirene nicht, sie drehte sich nur um und schlängelte sich dann fort ins Dunkel.

Ich versuchte ihr nachzuschwimmen, aber meine Umgebung begann sich zu verändern. Wasser wurde durch Wände ersetzt: die schäbigen Metallpaneele unserer Wohnung im Hub. Plötzlich war ich sehr viel jünger und kauerte mich in Decken gehüllt an die Wand.

»Owen, sie sind da. Willst du mitkommen?« Mom beugte sich über mich, sie hatte den Cowboyhut aufgesetzt. In dieser Nacht erreichte das dreijährige Feuer Yellowstone. Sie hielt mir die Hand hin, aber ich wollte nicht mitgehen, denn eines wusste ich ganz genau: Wenn ich den Brand mit ihr anschaue, würde sie uns verlassen. Und schon stand ich auf, genau wie im wirklichen Leben.

Warum war ich hierher zurückgekommen? Zweimal hatte ich in zwei Tagen die Augen geschlossen und jedes Mal durchlebte ich wieder dieselbe Nacht. Wieder gingen wir nach draußen zu dem Vorsprung auf dem Caldera-Felsen, um die Feuerwolken über unseren Köpfen zu beobachten, die Kriegsschiffen einer siegreichen Armee glichen. Wir sahen das Flammenmeer über den Rand schlagen, und ich versuchte, tapfer zu sein, denn meine Mutter genoss die Show, doch tief drinnen war ich so verängstigt, so verletztlich, dass meine Mutter – hätte sie meine Gefühle gekannt – uns sofort verlassen hätte.

Doch dann fing, im Gegensatz zu der Nacht damals, um mich herum ein Licht an zu leuchten. Plötzlich, am nächsten Morgen, war der Himmel grau und die Welt eine tote Aschebrühe mit schwarzen Baumgerippen. Die Asche war glatt und hob die Linien und Konturen der Welt hervor. Eine abdeckende Plane, um wieder von Neuem zu beginnen. Immer noch fielen graue Flocken vom Himmel, genau wie über der Atlantischen Stadt, wo Lük und ich uns zum ersten Mal getroffen hatten.

Ein scharfer Geruch lag in der Luft, nach verbranntem Holz und Elektrizität. Alles schwamm in der Hitze, hier und da sah man rot glühende Asche. Und …

Jemand schrie. Ein Mädchen. Ich wusste nicht, ob auch dies eine Erinnerung war oder eine neue Traumrealität. Ich wusste nur, dass ich zu ihr musste, schnell, deshalb drehte ich mich um und sprang von dem Vorsprung. Ich schwebte über der verbrannten Landschaft, mit ausgebreiteten Armen glitt ich dahin.

Ich landete auf den Knien in der feinen, noch warmen Asche. Das pudrige Zeug klebte an meinen Armen, meine Hände wurden grau und meine Jeans schmutzig.

In der Nähe zischte und knallte es in einem Baumgerippe, dessen Ascheschlund tiefrot glühte.

Owen.

Ich schaute auf, und da war sie.

Nicht die Sirene.

Ein Mädchen. Es war noch klein und hatte dunkelrotes, schulterlanges Haar und quarzweiße Haut, die durchscheinend war wie – wie der Schädel – und die Farbe von Asche wiederspiegelte. Asche und Haut hatten fast dieselbe Farbe. Mit dem Mädchen stimmte etwas nicht. Vielleicht war es krank.

Wenn es sich verschlimmert, wird sie fortgehen.

Das Mädchen blickte mich mit seinen riesigen, braunen Augen an, der Ausdruck eines gebrochenen Herzens lag darin, die Augen waren so ernst, der Mund so klein. Es trug einen strahlungsabweisenden Pyjama mit lachenden, grünen Fröschen darauf. … Wie alt war die Kleine wohl? Drei? Und wie hieß sie? Es kam mir vor, als wüsste ich das. Als hätte ich irgendwann einmal ihren Namen gekannt. Denn ich sollte ihn kennen. Beinahe konnte ich den leeren Fleck vor mir sehen, wo diese Information gespeichert sein sollte, doch ich konnte mit alldem nichts anfangen. Sie hielt ein Spielzeugkrokodil in der Hand, dessen samtener Schwanz auf den Boden hing und hin und her schwang in dem grauen …

Und sie begann in die Asche einzusinken. Zentimeter für Zentimeter verschwanden ihre Pyjamahosen, als ob man sie auslöschen würde.

Ich muss sie retten. Das wusste ich bestimmt. Ich machte mir Sorgen um sie, ich hatte Angst, aber die Asche fühlte sich wie Morast an, ich konnte mich nicht bewegen … Meine Beine waren plötzlich schwach und nutzlos, als ob mein Traum von der Gnade der Techniker abhing, die böse lachend die Regeln änderten.

Warte! Ich versuchte loszulaufen, aber meine Füße wühlten alles auf, und auch ich versank in der Asche, die nun der Himmel und das Wasser war, und ich ertrank, wie damals im See, noch einmal. Die schwarzen Bäume trieben im trüben Wasser umher, ihre Äste schlangen sich wie kranke Adern durch das Grau, und ich konnte das Mädchen nicht finden …

O-wen.

Ich zappelte herum. Nach oben. Nach unten. Was war das? Wer rief nach mir – die Sirene oder das kleine Mädchen?

Nur dass diese Stimme anders klang. Wieder sah ich eine schimmernde Gestalt, aber es war nicht die Sirene. Es war ein rechteckiges Licht, in dem ein Gesicht zu schwimmen schien.

Plötzlich erwachte mein Verstand, und ich konnte meinen Traum in sein Versteck sperren und Schwerkraft, Zeit und Raum an der Realität festmachen. Asche wurde zu Wasser, wurde zu Luft. Ich spürte den harten Sand auf meiner Wange, die kochend heiße Mittagsluft.

Das Licht kam aus dem Computerpad, das neben der schlafenden Lilly lag.

Ich setzte mich auf und sah das Gesicht auf dem Pad.

»Ah, da seid ihr also.«

Es war Paul.

3

Paul starrte mich wie aus einem Fenster im Sand an. Er trug seine Sonnenbrille, sein Ausdruck war ruhig. Bis auf eine dunkle Prellung an der Kopfseite, wo Lilly ihn mit dem Kristallschädel getroffen hatte, sah er aus wie immer: geheimnisvoll, nur dass er für mich kein Geheimnis mehr war. Ich hatte seine elektrischen Augen gesehen, die bionischen Implantate; daher erinnerte mich seine Reglosigkeit jetzt an einen Androiden, kalt und berechnend.

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