Die Vertriebenen: Heimkehr in die verlorene Stadt - Kevin Emerson - E-Book

Die Vertriebenen: Heimkehr in die verlorene Stadt E-Book

Kevin Emerson

4,5
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie wird Owen sich entscheiden?

Die Zeit wird knapp für Owen und Lily: Die Zerstörung des Planeten steht kurz bevor. Hoffnung gibt es nur, wenn sie rechtzeitig die verlorene Stadt und ihre rettende Technologie erreichen. Eine Technologie, die auf einem uralten Geheimnis beruht. Doch noch einmal setzt ihr Erzfeind alles daran, sie aufzuhalten. Und er stellt Owen vor eine furchtbare Wahl: Die Erde zu retten - oder die Menschen, die er liebt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 396

Bewertungen
4,5 (16 Bewertungen)
10
4
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Nachdem Owen und Lilly die waghalsige Flucht aus der schwarzen Stadt Desenna gelungen ist, setzen die beiden ihre Suche nach dem versunkenen Atlantis fort. Dabei stehen sie unter großem Zeitdruck: Sie werden noch immer von dem nach Unsterblichkeit strebenden Paul verfolgt, und zu allem Überfluss quälen Owen auch die Erinnerungen an seine verschollenen Eltern und seine tote Schwester. Mehr und mehr beginnt Owen an seiner Bestimmung zu zweifeln. Die Einzige, die ihm in dieser schweren Zeit Halt gibt, ist Lilly. Doch was, wenn er auch sie verliert? Was, wenn er sich zwischen dem Schicksal der Welt und ihr entscheiden muss? Während ihrer gemeinsamen Reise begreift Owen allmählich die Hintergründe – und worin seine Aufgabe eigentlich besteht: Der Größenwahn der ehemaligen Meister von Atlantis führte zum Untergang des Reiches und der gesamten Welt, drei Auserwählte versuchten sich bereits vor Urzeiten an derselben Aufgabe, vor der Owen nun steht: Terra, die Verkörperung allen Lebens auf Erden, zu retten. Wie wahrscheinlich aber ist es, dass ihm gelingt, woran all seine Vorgänger scheiterten?

DER AUTOR

Kevin Emerson war Lehrer, bevor er mit dem Schreiben begann. Durch seine Schüler kam er auf die Idee, sich Bücher für Jugendliche auszudenken. Heute ist er professioneller Autor. In seiner Freizeit spielt er in einer Band – und unterrichtet, was ihm noch immer sehr viel Spaß macht. Kevin Emerson lebt in Seattle.

LIEFERBARE TITEL

Die Vertriebenen: Flucht aus Camp Eden

Die Vertriebenen: Die Prophezeiung von Desenna

KEVIN

EMERSON

DIE

VERTRIEBENEN

HEIMKEHR IN DIE VERLORENE STADT

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Carola Fischer

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Far Dawn. The Atlanteans 3 bei HarperCollins, Katherine Tegen Books, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Copyright © 2014 by Kevin Emerson

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany.

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs

von shutterstock/Maksim Toome

und shutterstock/Veronica Louro

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-17745-4V001

www.heyne-fliegt.de

Für Elliott

Vor dem Anfang war ein Ende

Drei sollten sterben

Drei Särge an einem grauen Strand.

Sie sollten im Dienst von Qi-An leben

Dem Gleichgewicht aller Dinge

Drei Wächter der Erinnerung der ersten Menschen

Die sich selbst für die Herren über ganz Terra

hielten

Einfache Kisten, aus Trümmern gebaut.

Die Bretter verzogen, aber noch Farbe dran.

Drei Särge am Ufer eines kobaltblauen Meeres.

Die es übertrieben und verloren gingen

In der sich aufbäumenden Erde in der Flut

Ich habe zwei Tage gebraucht, um die Särge

zu bauen. Habe rostige Nägel mit den Zähnen

rausgezogen, mit einem Stein reingehauen,

der jetzt voller Blutspuren ist.

Ich habe keine Ahnung, warum ich das getan habe.

Ich hätte sie den Wellen übergeben können, wie Leech,

dem Rauch, wie Elissa,

dem Schweigen, wie Anna,

der Zeit, wie meine Eltern,

dem Eis, wie …

Drei die warten werden

Bis die Erinnerung verblasst ist

Und sollte die Zeit wieder kommen …

Aber das wird sie nicht.

Dieses Mal ist es endgültig vorbei.

Dieses Mal kehren sie nicht mehr zurück.

Was verloren ist, ist verloren.

Einst, in einem Tempel unter einer Lüge,

habe ich gesagt, dass ich aufrichtig sein wolle. Ich wollte die Wahrheit sehen.

Ich bin aufrichtig gewesen.

Und doch sitze ich hier, während die Wellen sanft gegen die Särge plätschern.

Noch habe ich sie nicht den Fluten übergeben.

Denn um das zu tun, müsste ich sehen.

Die Wahrheit sehen.

Sehen, was im Inneren ist.

Aber das schaffe ich alleine nicht.

TEIL I

[Gammalinkverbindung wird geladen …

100 % … willkommen beim Sender der Freien Allianz … Zwischenspeicherung … nach dem, was wir von den Überlebenden in Heliad-Sieben wissen, glauben wir, dass es sich um einen Angriff der Eden Corporation gehandelt hat. Sie berichten, dass die Drei aus dem atlantischen Mythos wirklich in Desenna waren; anschließend hat man sie in Richtung Süden fliehen sehen. Allgemein wird angenommen, dass die Eden Corporation den sagenumwobenen Pinsel der Götter für ihr geheimnisvolles Projekt Elysion sucht. Es gibt auch Gerüchte, dass bald schon eine Art Exodus stattfinden wird, dass die Kuppeln versagen und die Einwohner aller Eden-Standorte sich an einen Ort begeben werden, der Eden Zentral heißt. Bisher weiß niemand, wo das sein könnte, aber der Urandiebstahl aus dem Cheyenne-Depot und das Gerücht über die Aufsteigenden Sterne gelten als beunruhigende Anzeichen dafür, dass der Rest der Erde vielleicht in großer Gefahr schwebt. Wir haben versucht, dies der Nördlichen Föderation mitzuteilen, aber bisher schenkt dem dort niemand Beachtung. Deshalb bitten wir euch alle, wachsam zu sein. Solltet ihr noch an einen Gott glauben, dann betet, dass die Drei erfolgreich sein werden.

1

»Und innen drin Jelly Beans!«

»Mmmmh …«

»Und drum herum eine Hülle aus Käseflips …« Lilly hielt mit aller Kraft die Segelleinen fest, als eine Windböe uns zur Seite drängte.

Über uns zogen dicke Wolkentürme auf und verdeckten die Sterne.

»Ja, super! Und dann noch in Schokolade getunkt!« Ich zog fest an meiner Leine, während meine Füße die Pedale auf dem Boden des Gefährts durchdrückten. Die Wirbelwinde änderten fortlaufend ihre Richtung. Ich musste mit ihnen mithalten, sonst würden wir kentern.

»Genau! Und das Ganze heißt …?«

»Ich weiß es! Das ist …« Das Gefährt reagierte nur langsam. Das blaue Licht des Vortex-Motors leuchtete schwach. Wir waren, seit wir aus Desenna geflohen waren, in drei Tagen und Nächten fast zweitausend Kilometer weit geflogen. Für die restliche Strecke bis zu den Anden brauchten wir dringend noch eine Blitz-Ladung. Anfangs hatten wir geglaubt, wir würden diese Aufladung von Heliad-Sieben bekommen, aber in Wahrheit hatte Victoria vorgehabt, uns auf der Reise abzuschießen.

»Hier noch ein Tipp!«, sagte Lilly mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Song hieß: ›Once you get in the mix!‹«

Regen prasselte auf uns nieder, dicke Monsuntropfen trommelten auf die Segel und wurden zu einer wahren Flut.

»Ich komm nicht drauf!«, rief ich durch den peitschenden Regen. »Ich bin nicht sicher, ob ich schon mal einen probiert habe. Das klingt wirklich ekelhaft!«

Blitze schossen durch die trüben Wolken. Jetzt waren wir ganz nah. Bestimmt würde uns bald ein Blitzschlag gefunden haben. Die große Gefahr bestand darin, dass uns drei – oder auch zehn – Blitzschläge zur selben Zeit in tausend Stücke sprengen würden. Ich flog enge Achterkurven, um bald einem Blitz als Ziel zu dienen.

Lilly schob sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sweatshirt, Trägertop, Jeans, sie war vollkommmen durchnässt. »Das waren sie! Man hat sich das Zeug in den Mund gestopft, und es schmeckte wie Kaugummi.«

»Das ist ja noch ekelhafter!«

Dieses Spiel hatten wir die ganze Reise über gespielt.

Seit wir in Desenna gewesen waren, wussten Lilly und ich, dass wir ungefähr zur selben Zeit aufgewachsen waren, und seitdem stellten wir uns begeistert Quizfragen zu Süßigkeiten und Fernsehshows. All das lag zwar im Nebel unserer Zeit als Kryos, aber das machte das Spiel umso spannender, und es lenkte unsere Gedanken von dem ab, was wir gesehen hatten, und auch von dem, worauf wir nun zusteuerten. Es gab so viel, worüber wir uns an einem einzigen Tag wundern und Sorgen machen konnten. Lilly erinnerte sich an sehr viel mehr als ich, wahrscheinlich weil ihre Erinnerungen nicht wie meine manipuliert worden waren …

Elissa, Mom, Kryo, Carey …

Ich schüttelte den Kopf, um die Welle schmerzhafter Gedanken zu vertreiben. Tief im Dunkeln und im Feuer lagen so viele davon verborgen …

Elissa: meine verlorene Schwester, wie sie sich aus ihrer Kryo-Röhre erhob.

Francine: die nicht meine Mutter war, sondern eine Technikerin aus Pauls Labor; sie manipulierte meine Gedanken und verbarg die Tatsache vor mir, dass ich fünfundzwanzig Jahre lang im Kälteschlaf gelegen hatte.

Carey: der aus Beweggründen erschossen wurde, die wir immer noch nicht nachvollziehen konnten; der sein Leben auf dem Balkon eines versunkenen Hotels aushauchte, und den Lilly und ich den Wellen übergaben. Carey, der mein Feind gewesen war, dann so etwas wie ein Freund, in jedem Fall der Einzige, dem etwas an mir lag, der die Wahrheit herausfinden wollte, so wie Lilly, auch wenn er die ganze Zeit auf Abstand zu mir geblieben war.

Lilly: die alles war, was ich noch hatte.

Die Trauer über Elissa und Carey kam und ging wie Ebbe und Flut. Das Gleiche galt für meine Wut und meine Verbitterung gegenüber Francine und Paul und auch für meine brutalen Rachegedanken, von denen ich Lilly aber nichts erzählte. Jedenfalls drehten sich meine Gedanken hoffnungslos im Kreis, sobald wir eine ruhige Minute hatten. Wenn wir durch die Dunkelheit flogen oder uns vor der Sonne versteckten, ließ meine Wachsamkeit nach.

Über Süßigkeiten nachzudenken war sehr viel leichter.

»Hatte es irgendetwas wie mix im Namen?«, fragte ich. »Warte …« Meine Arme kribbelten, die Härchen standen zu Berge. Mein Blick heftete sich auf Lillys himmelblaue Augen. »Ich glaube, wir haben einen Blitz abbekommen!« Ich schaute nach oben und versuchte auszumachen, wo sich die unsichtbare Elektrizität ihre Bahn brach. Wir hatten das hier noch nie gemacht. Würde ich Zeit haben, dem Blitzschlag auszuweichen, wenn er zu heftig, zu stark wäre?

Aber der Himmel explodierte gleißend hell, und das Gewitter war schneller bei uns, als ich reagieren konnte. Der Blitz war deutlich zwischen dem Mast und den Wolken zu erkennen, eine gezackte Linie, in der elektrische Ströme flossen. Das Gefährt vibrierte und schaukelte hin und her. Ich hielt die Luft an und hatte die Arme fest um den Körper geschlungen. Hätte der Blitz mich nicht so geblendet, hätte ich wohl die Ritzen zwischen den Schiffsbohlen sehen können, beinahe wäre das Gefährt in tausend Stücke zersprungen. Ich vernahm das Summen der Elektrizität, und meine Strahlenverbrennungen, die nur langsam verheilten, kribbelten. Die Verbrennung auf meinem Kopf tat fast die ganze Zeit über weh.

Die Energie fuhr zischend den Mast hinunter, dann heulte der Quecksilber-Vortex-Motor beruhigend auf. Als ich meine Augen wieder öffnete, wirbelte die Turbine in ihrem hellsten Blau, der magnetische Antrieb lief auf Hochtouren.

»Okay!« Endlich wagte ich wieder zu atmen. »Lass uns von hier abhauen!« Ich setzte meine Füße wieder auf die Pedale. Vielleicht hatte ich dank der Erleichterung über den Neustart des Motors wieder einen klaren Kopf bekommen, denn plötzlich fiel mir der Name der Süßigkeit ein. »Mixits!«, rief ich und schaute hinüber zu …

Lilly war verschwunden. Die Segelleine, die sie in der Hand gehalten hatte, flatterte im Sturm. »Lilly!« Ich griff nach der Leine, und das Gefährt stürzte steil nach unten. Fieberhaft suchten meine Augen die Nebel, Wasserflächen und Wolken ab, aber da war nur Dunkelheit. Uns blieben nur ein paar Sekunden, bevor Lilly in das Meer unter uns fallen würde. »LILLY!«

Ich drückte die Pedale bis zum Boden durch, der neu aufgeladene Vortex-Motor leuchtete so hell wie eine kleine Sonne. Regen schlug mir ins Gesicht. Der Wind peitschte die Wolken umher und heulte lautstark.

Ich brach durch die Wolkendecke, und da lag die tiefschwarze, wogende See, riesige Wellen, an der Oberfläche voller Trümmer. Wo war sie? War es zu spät? Ich lehnte mich zurück, zog an den Seilen, um wieder in eine waagerechte Position zu kommen, dann flog ich eine weite Kurve. Konnte sie diesen Sturz überlebt haben? Selbst wenn, könnte das kalte Wasser ihr das Bewusstsein geraubt haben. Nein, nein, nein. Ich durfte sie nicht verlieren, nicht jetzt und nicht einfach so, auf so zufällige und dumme Weise, als ob der ganze Schmerz, das Leiden, all unsere Anstrengungen keine Bedeutung gehabt hätten.

Ich sah einen Lichtstrahl, der über mir größer wurde, wie ein Blitz, aber …

Das war es nicht.

Ich reckte den Hals und sah, dass etwas die Wolken von unten erleuchtete, etwas Türkises. Es wurde heller und löste sich auf.

Lilly erschien, in blaues Licht getaucht.

Sie fiel nicht …

Sie flog.

Bei ihrem Anblick wollte ich losschreien oder heulen oder beides zugleich. Wie auch immer sie das bewerkstelligte, was sie gerade machte. Es ging ihr gut. Das allein zählte. Die Emotion nahm mir den Atem. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie ich ohne sie weiterleben sollte.

Eine Windböe stieß mich zur Seite. Ich musste mich aufs Fliegen konzentrieren, sonst würde ich im Wasser landen. Ich richtete das Gefährt wieder auf, und während ich langsam eine Kurve flog, beobachtete ich Lilly, die zu mir herabsank. Ihr ganzer Körper glühte, und als sie nah genug bei mir war, sah ich, dass sie verwundert lächelte.

»Alles okay mit dir?«, fragte ich stumm.

»Klar!«, rief sie. Sie warf die Arme in die Höhe und machte einen Salto. Das erinnerte mich an das Mädchen, das ich im Schädelinneren des Mediums mit Rana gesehen hatte. Wir konnten mit Schwerkraft und Raum spielen, so wie ihr mit Wind und Wasser, hatte Rana gesagt. In der Hand hatte das Mädchen etwas von derselben blauen Farbe gehalten, und sie war vom Boden abgehoben.

Aber Lillys ganzer Körper strahlte, als ob das Licht aus ihrem Inneren käme.

Sie schoss unter das Gefährt. Ich flog eine Kurve und flitzte dann neben ihr her. »Wir treffen uns drüben am Strand!«, rief sie lachend, dann verschwand sie in Regen und Wolken außer Sichtweite.

Während ich in Richtung Ufer flog, wischte ich mir abwechselnd mit einer Hand den Regen aus dem Gesicht. Einen Moment lang waren da nur eine Wand aus Wasser und galoppierende Nebelbänke, und ich fragte mich, ob ich überhaupt in die richtige Richtung flog, aber dann erkannte ich die dunklen Umrisse einer kleinen, verlassenen Stadt, die zur Hälfte vom Meer verschlungen war. Die Vorderseiten der Gebäude am Wasser waren alle eingestürzt, sodass die Räume offen lagen. Wellen schlugen gegen die Trümmerhaufen am Boden. In den Straßen und in den oberen Stockwerken wuchsen Gras und Palmen. Kletterpflanzen hangelten sich durch Fenster und über schiefe Straßenlaternen.

Lilly landete etwas südlich der Stadt auf einer hohen Klippe mit einem dicken Blätterdach, das uns vor der sengenden Sonne und neugierigen Blicken schützen würde, während wir versuchten, uns vor einer weiteren langen Flugnacht auszuruhen.

Ich landete das Gefährt und stieg aus, Lilly, die nun nicht mehr leuchtete, begrüßte mich mit einer festen Umarmung. Schnell wurde unsere kalte, durchnässte Kleidung wieder warm. »Gute Arbeit«, flüsterte sie in mein Ohr, und dann küssten wir uns. Gefühle stiegen in mir auf, die von allem, was ich bisher kannte, dem der Freude am nächsten kamen und an die ich mich überraschenderweise während unserer Tage und Nächte zusammen schon sehr gewöhnt hatte.

Sie hätten sich auch nicht deutlicher von der tiefen Traurigkeit unterscheiden können, in die ich so viele Male versunken war, seit wir dem Tod in Desenna entflohen waren. Bei Dämmerung war es immer am schlimmsten. Wenn ich die ganze Nacht hindurch geflogen war und dann im Schatten lag, erschienen mir die Gesichter meiner verlorenen Familie, von Carey, Sieben, sogar von der kleinen Colleen, sobald ich die Augen schloss und einzuschlafen versuchte.

Zwischen Lilly und mir gab es keine Distanz mehr. Keine Kiemen, keine Zweifel, nicht mal unsere Vergangenheit war unterschiedlich. Wir waren eins im Kampf gegen die Welt, und unsere Küsse forderten die Zeit heraus. Während wir uns jetzt in den Armen hielten, klebten unsere nassen Klamotten aneinander; meine Hände fuhren über ihre Schultern, ihren Rücken, meine Lippen untersuchten ihr Kinn, ihren Hals, mein Körper schien ein Ziel zu haben, das so vollkommen wie offensichtlich war: Es gab kein Geheimnis, keine Techniker, keine alte DNA, nur ich sollte hier sein, jetzt, in diesem Moment, und unsere Umarmung war stark genug, die Welt auf Abstand zu halten.

»Ich liebe dich, Lilly«, sagte ich zum sechsten Mal, seit ich es in Eden Süd zum ersten Mal ausgesprochen hatte.

»Ich liebe dich, Owen«, flüsterte Lilly zurück, bei ihr war es das fünfte Mal. Einmal hatte ich es zu ihr gesagt, während sie schlief.

Und ich war mir meiner Gefühle ebenso sicher wie ihrer.

Nachdem wir uns noch eine Zeit lang geküsst hatten, sagte ich: »Mixits.«

Lilly hatte ein strahlendes Lächeln im Gesicht. »Bingo!«

Wir breiteten unsere Decken auf dem trockensten Fleck aus, den wir finden konnten. Regen platschte auf die Palmenblätter. Wir legten uns hin, deckten uns zu und küssten uns wieder. Ich vergaß die Dunkelheit und die Zweifel und alles, was sich außerhalb der Wärme zwischen uns beiden befand.

»Also, was war das?«, fragte ich sie später. Es hatte aufgehört zu regnen, nur von den Blättern tropfte es noch. Im Dschungel hinter uns erklang der Ruf einsamer Vögel.

»Mmm«, sagte Lilly schläfrig. »Du meinst das Fliegen?«

»Ja.« Ich drückte sie fest an mich. »Ich dachte, du wärst tot, ich …« Ein heftiger Schauder überlief mich.

Lilly hielt mich noch fester. »Der Wind hat mich aus dem Gefährt gestoßen, dann fiel und fiel ich und … Ich weiß auch nicht genau – es war fast instinktiv. Ich begann zu singen, die Melodie, die die Terra anruft, und während ich sang, fühlte ich diese … Verständigung, sag ich mal. Als hätte ich eine Verbindung zur Luft, zum Boden, als ob ich ein Teil von all dem wäre, nicht getrennt davon. Also habe ich mich einfach bewegt. Mit dem Wind, mit der Schwerkraft. Das war ein unglaubliches Gefühl.« Lilly seufzte. »Ich glaube, wir sehen die Welt ganz falsch.«

»Wie denn?«

»Ich meine nicht uns beide. Ich meine jeden Einzelnen. Als ob wir nicht begreifen würden, was es heißt, am Leben zu sein, Teil von etwas Lebendigem. Gerade eben habe ich mich mit allem verbunden gefühlt. Als ob wir alle ein einziges Wesen wären.«

»Das ist toll«, sagte ich, obwohl ich irgendwie eifersüchtig war. Wenn ich nicht meine Liebe zu Lilly spürte, fühlte ich nur die einsame Kälte von Verlust und Tod. Es fiel mir schwer zu glauben, dass ich auf der Welt mit irgendetwas anderem als mit ihr verbunden war.

»Ich glaube, die Atlanter wussten davon«, sagte Lilly. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, der Welt etwas davon zurückzugeben. Wenn wir alle so fühlen würden … wäre unsere Situation anders.«

»Vielleicht können wir alle so fühlen«, sagte ich. Vor einigen Tagen noch, als wir über Gambler’s Falls geflogen waren, hatte sie sich gefragt, warum wir diese Welt, in der so viel Schreckliches passierte, retten sollten. Auch ich kannte dieses Gefühl der Sinnlosigkeit, als wäre die Menschheit die Anstrengung nicht wert. Aber ich fühlte, dass Lilly es war – dass wir es wert waren, und nun klang sie wieder wie früher; sie hatte eine Mission, und dafür liebte ich sie umso mehr.

»Ohhh«, sagte Lilly, »eine Sternschnuppe.«

Ich blickte nach oben. »Hab’s verpasst.«

»Außerirdischer oder Müll?« Das wussten wir nie. Es machte uns nur Spaß, gemeinsam zu raten. »Drei …« Ich zählte runter. »Zwei« – Sieben wartete niemals auf Eins – »Eins …«

»Außerirdischer«, sagten wir beide gleichzeitig, und weil wir dasselbe geraten hatten, küssten wir uns, dann lachten wir, wohl wissend wie albern das Spiel war, aber das störte uns nicht.

»Zeit zu schlafen.« Lilly drehte sich um, und ich schmiegte mich an ihren Rücken. »Morgen ist wieder ein großer Tag, an dem wir die Welt retten.«

»Richtig.« Ich lächelte. Sie klang so zufrieden, endlich konnte sie der Leidenschaft, die sie in Eden verspürt hatte, Taten folgen lassen. Ich bewunderte sie dafür, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich niemals das Gleiche gespürt hatte. Wenn es auch mir so ergangen war, dann in der Zeit vor dem Kälteschlaf.

Bald hörte ich, wie ihr Atem langsamer ging. Ich versuchte die Augen zu schließen, mich zu entspannen …

Aber da war Elissa.

Sie sank in die Asche … ihre Augen öffneten sich in der Kryo-Röhre … sie stolperte auf dem Dach der Pyramide in Desenna umher, tot und dennoch lebendig.

Jeden Tag wartete ich nach Schulschluss vor ihrem Klassenzimmer auf sie.

Ich konnte sie jetzt vor mir sehen, sie trug ihren Lieblingsoverall, die Haare zum Zopf gebunden.

Einmal nahm Dad uns nachts mit zu den hohen Felsvorsprüngen, um dort einen Meteorregen anzuschauen, von dem wir aus dem Nördlichen Nachrichtensender erfahren hatten. Aber die Kletterpartie bekam seinen Lungen nicht. Elissa und ich mussten ihm auf dem Rückweg die in den Fels gehauene Treppe hinunterhelfen, und auch Elissa fing an zu husten.

In den dunklen Nächten, seit wir Desenna verlassen hatten, und während der einsamen Morgendämmerung hatte ich die meisten Erinnerungen wieder zusammengefügt. Viele davon stammten aus meinem Leben, bevor wir alle am Schwarzen Blut erkrankt waren. Ein ganzes Leben mit einer fünfundzwanzigjährigen Pause lag zwischen dem knapp entgangenen Seuchentod und dem Moment, in dem ich in Camp Eden angekommen war. In diesen langen Jahren war mein Verstand eingefroren gewesen, eine Falle aus Technikern und Kryo-Träumen hatte nur darauf gewartet zuzuschnappen. Nun war ich dabei, allmählich jede einzelne Erinnerung wieder an ihren Platz zu räumen.

Während der Footballspiele saß Elissa immer neben Dad auf der Sofalehne, damit sie bei jedem Touchdown aufspringen konnte.

Aber selbst diese schönen Erinnerungen waren wie alte Puzzleteile mit ausgefransten Rändern, deshalb passten sie nicht richtig, als sie ersetzt wurden:

Mom backte gern Kekse während der Spiele. Dann hatte sie Ablenkung, denn der Konkurrenzkampf stresste sie. Wir waren für »New Murmansk«, denn wir mochten ihre rotbraunen und grünen Uniformen und auch ihren Starspieler Vivechkin. Mom war sicher nicht immer glücklich, das Leben strengte sie furchtbar an … aber sie wäre nicht von uns fortgegangen.

Paul hatte an meinen Erinnerungen herumgebastelt und mir eine Mutter verpasst, die mich verlassen hatte.

Sie wäre niemals fortgegangen.

Mit chirurgischer Präzision hatte er meine Schwester entfernt und mir nur einen merkwürdigen Kryo-Traum gelassen, der mich immer verfolgt hatte. Es war eine große Erleichterung, dass Elissa wieder in meinen Gedanken und Erinnerungen war. …

Einmal fuhr die ganze Familie im Winter, als die Tage kürzer und daher sicherer waren, zu ein paar heißen Quellen, die sich einige Stunden Fahrt nördlich von Yellowstone befanden, wo keine Gase ausströmten und wo man bedenkenlos hineinsteigen konnte. Elissa fand, dass die Quellen wie verfaulte Eier rochen …

Aber es dauerte niemals wirklich lange, bis sich die anderen Erinnerungen wieder einschlichen.

Die tote Elissa, ihr Körper taumelt auf dem Dach der Pyramide in Desenna umher, leblos und kalt.

Mom und Dad. Sie sind … wahrscheinlich tot.

Dieser unerträgliche Schmerz war immer da. Seit wir in Desenna gewesen waren, lauerte er im Verborgenen und drohte jeden Moment wie eine Welle anzusteigen und mich von den Hochgefühlen meiner Liebe zu Lilly in die finsteren Tiefen hinunterzureißen, wo ich mich mit nichts und niemandem verbunden fühlte. Wenn ich dort hinuntersank, fühlte ich mich einsamer als ein einzelner Stern am nächtlichen Himmel. Dann war nicht einmal mehr Lillys Wärme neben mir genug.

Ich wandte mich von Lilly ab und stand leise auf. Wenn diese Gefühle in mir aufstiegen, würde der Schlaf nicht kommen.

Ich verließ das Gefährt, setzte mich an den Rand der Klippe und ließ meine Beine über den rauen, schwarzen Stein baumeln. Die Sterne verblassten langsam, der Horizont leuchtete zartblau. Einige letzte Gewitter blitzten im Norden und Süden, trieben wie riesige Quallen weit aufs Meer hinaus.

Wie sollte ich dieses Gefühl jemals überwinden? Dass ich ganz allein im weiten Universum war. Und auch wenn Lilly noch so sehr spürte, dass wir eine Mission oder einen Zweck erfüllen mussten, breitete sich in mir Sinnlosigkeit aus: Was sollte diese ganze atlantische Suche überhaupt? Für wen machten wir das? Auch ich würde bald sterben. Selbst wenn ich das alles hier irgendwie überlebte, wäre es spätestens in dreißig oder vierzig Jahren so weit – vielleicht auch früher, sobald eine neue Seuche ausbrach. Wozu das Ganze also? Was ging es mich an? Ich hatte keine Familie, zu der ich zurückkehren konnte.

Sieben hatte recht gehabt, als sie gesagt hatte, dass das alles nur Ameisenhaufen sind, und wir sind die Ameisen, und jeder, der dir etwas anderes erzählt, lügt. Sie hatte ihr Dasein als sinnlos empfunden, weil man sie aus ihrer Zeit gerissen hatte. Ich hatte versucht, sie davon zu überzeugen, dass das jetzt vielleicht ihre Zeit sei und dass es einen Plan, einen Entwurf gab, warum sie hier war.

Aber das alles hatte ich gesagt, bevor ich wusste, dass ich genau wie sie war. Aus meiner Zeit gerissen, benutzt. Jetzt verstand ich sie so viel besser, auch Leech, aber was machte das schon? Sie waren beide gestorben. Für immer. Wie konnte dieser willkürliche Tod auch nur irgendeinen Sinn haben? Die einzige Antwort, auf die ich stets wie zu einem Licht in der Dunkelheit zurückkam, war Lilly. Ich würde es für sie tun. Das war die Antwort … und was sollte ich noch tun? Wohin sonst konnten wir gehen? Die dritte Möglichkeit, die Sieben sich gewünscht hatte, gab es nicht. Paul würde uns zur Strecke bringen, wo immer wir auch hingingen. Und sollten wir ihm entkommen, einfach fortlaufen und uns irgendwo verstecken, wäre das Schicksal der Welt in dem Moment besiegelt, in dem er den Pinsel der Götter fand.

Wir mussten weitersuchen. Ich musste weitermachen, auch wenn mich diese Gedanken immer verfolgen würden.

Elissa liebte Ponys. Ihr ganzes Leben lang wollte sie ein echtes Pony sehen.

Sie hat nie eins gesehen.

Sie wird nie mehr eines sehen.

Ich saß dort und beobachtete, wie der Himmel heller und die Luft wärmer wurde, ich sah den Möwen zu und versuchte, ruhig zu bleiben, während der Sturm um mich herumfegte.

Eine Zeit lang.

Owen.

Ich hatte auf den öligen Regenbogenschimmer des Meeres geblickt. Die brennende, goldene Sonne hatte den Horizont von Wolken befreit, er war weiß geworden.

Ich blinzelte, konzentrierte mich und sah sie vor mir, sie schimmerte in der Luft, meine Sirene, von der ich inzwischen wusste, dass sie die Terra war. Sie sah so aus wie immer, das schwarze Haar fiel ihr bis auf die Hüfte, sie hatte das schlichte purpurne Kleid mit dem kupfer- und türkisfarbenen Gürtel an, um den Hals trug sie den Anhänger mit dem großen Tiger. Ihre alten, lavendelfarbenen Augen leuchteten in der Morgensonne.

»Hallo«, sagte ich, und dann kam mir, dass es dumm war, das zu einer Vision zu sagen, die so etwas wie ein Gott vor allen Göttern war, aber mein Gehirn war zu vernebelt, und ich fügte hinzu: »Du siehst heller aus.«

Du kommst näher, sagte sie und blickte mich unverwandt mit glühenden Augen an. Aber auch dein Feind nähert sich.

»Paul.« Ich drehte mich um, aber Lilly schien noch zu schlafen. »Hat sie dich gerufen?«

Nein, aber ich habe ihren Gesang gehört und gespürt, dass ihr Bewusstsein für Qi und An gewachsen ist.

»Ja«, sagte ich. »Sie konnte fliegen.«

Ja. Aber das wird nicht genügen.

Die Worte der Terra ließen mich schaudern.

Ihr nähert euch dem Unterschlupf einer Hüterin. Den Ort müsst ihr finden. Dann können wir in dem weißen Reich weitersprechen.

»Eine Hüterin? In den Anden?«

Ja. Die Zeit wird knapp, Owen. Vor dem Anfang gibt es immer ein Ende.

»Das habe ich schon mal gehört.« Ich fühlte, wie Frust in mir aufstieg. »Für Rätsel bin ich zu müde.«

Die Terra schien mich missbilligend anzusehen. Ihr Licht flackerte.

Du musst dich vor den Dreien in Acht nehmen.

»In Acht nehmen?«

Die Drei sind eine Lüge, sind es immer gewesen.

»Was soll das denn heißen?«, fragte ich, aber mir fiel ein, was Paul zu uns in der Schlucht in North Dakota gesagt hatte: Die Drei sind ein Mythos. Was er dann sagte, hatte so geklungen, als wäre ich irgendwie anders. Und das war ich; ich war ins Innere von Lillys Schädel gelangt, obwohl ich nicht das Medium war.

»Wie können die Drei eine Lüge sein?«, fragte ich. »Ich meine, wir wurden auserwählt, und dann sind da die Schädel, die Karten.«

Die Drei sind sehr echt. Aber das Versprechen der Drei ist eine Lüge, weil die Drei scheitern werden.

»Okay … aber genau genommen gibt es die Drei gar nicht mehr«, sagte ich. »Paul hat Leech umgebracht.«

Das ist nicht wichtig.

»Wie kann das unwichtig sein?«

Das wirst du sehen.

»Gut, aber …« Dieses kryptische Gespräch erinnerte mich an das, was Lilly in dem Tempel unterhalb von Eden Süd gelesen hatte. Das Ende der Inschrift, der Teil, den Sieben nicht lesen konnte, hatte gelautet:

Wir müssen sorgsam mit der Geduld der Terra sein. Denn wenn wir sie zu oft enttäuschen, wird sie eigene Pläne ersinnen.

Immer wieder hatte ich das im Kopf gewälzt: Lilly war das Medium, sie sollte mit der Terra kommunizieren, Leech war der Navigator gewesen, und ich war der Aeronaut, der Pilot.

Nur dass ich der Einzige war, mit dem die Terra sprach. »Bin ich ein Teil deines Plans?«, fragte ich. »Eines anderen Plans als dem von den Dreien?«

Die Terra blickte über meine Schulter, ich hörte, wie Lilly sich bewegte.

Finde die Hüterin, und ich werde dir alles zeigen.

»Owen?«, rief Lilly schwach hinter mir.

Ich drehte mich zu ihr um. »Ich bin hier drüben.«

Als ich zurückschaute, war die Terra verschwunden.

Ich blinzelte kurz. Mein Kopf war so müde und schwer. Ich fragte mich, ob sie eine Halluzination gewesen war. Aber ihre seltsamen Worte klangen in mir nach.

Die Drei sind eine Lüge. Die Drei werden scheitern.

Was meinte sie damit? Wie konnte sie das überhaupt wissen? Ich stand auf, ging zu Lilly zurück und kroch neben ihr unter die Decke.

»Alles okay bei dir?«, fragte sie sanft.

»Ja«, log ich. »Die Sonne ist aufgegangen. Schlaf weiter.«

»In Ordnung.«

Ich küsste sie auf die Wange, und sie drehte sich wieder auf die Seite.

Die thermischen Winde zogen auf und trugen den beißenden Teergeruch vom Wasser fort. Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte nach oben in die Palmblätter und das schräg einfallende Sonnenlicht.

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, aber zuvor hatte ich stundenlang nur dagelegen, die Worte der Terra in meinem Kopf hin und her gewendet und eine tiefe, kalte Furcht verspürt. Sollten wir, nach all dem, was geschehen war, wirklich zum Scheitern verdammt sein?

2

Eine schmale Mondsichel war in dieser Nacht am Himmel aufgegangen, als wir in der Ferne die Silhouette der Anden erkannten. Kurz nach Sonnenuntergang hatten wir das Meer hinter uns gelassen, hatten ein Dschungelhochland überquert, das bald in eine karge, trockene Hügellandschaft übergegangen war. Die Monsunfeuchtigkeit war verschwunden. Wir waren zurück in der Wüstenwelt. Auf unserem Weg flogen wir über sandverkrustete Orte und Städte so still wie Stein. Einmal machten wir einen großen Bogen um drei Lagerfeuer mit tanzenden Schatten drumherum, die einen Höllenlärm verursachten.

Während Lilly flog, zog ich mich in meinen Kopf zurück und stellte mir die Karten vor, das gesamte Navigatorwissen von Leech. Dann legten wir unseren Kurs fest: Zielpunkt war der höchste Berg. Leech hatte sich an einer früheren Version der Erde orientiert, bevor der Pinsel der Götter die Landmassen verschoben hatte. Die Atlanter hatten den Planeten wortwörtlich neu erschaffen, sich aber bei ihrem Vorgehen selbst vernichtet. Paul war der Meinung, er könnte ihre Kunst perfektionieren. Ich fragte mich, wie das wohl möglich sein sollte.

Eine Zeit lang waren wir schweigend dahingeflogen, und all meine dunklen Gedanken erwachten wieder. Schließlich sagte ich: »Drei Lagen Hirsekeks … Marshmallow zwischen zweien …«

»Oh.« Lilly wurde abrupt aus ihrer Trance gerissen. »Hm …« Während sie die Segelleinen ordnete, dachte sie nach.

»Erdbeercreme zwischen den anderen Lagen.«

»Ach ja! Me-O-Mys!«

»Genau.«

»Für einen von denen würde ich jetzt töten. Oder zumindest für eine ganze Packung.«

»Ich auch.«

Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus. Der Anblick der Berge bedeutete, dass wir näher kamen, näher an etwas heran, das sich gefährlich anfühlte und, nach der Warnung der Terra, auch vollkommen ungewiss.

Es bedeutete auch, dass die gemeinsamen Tage mit Lilly, die Tage in unseren Zwischenwelten, zu Ende gingen.

»Sieh mal«, sagte sie. Ich folgte mit den Augen ihrem Finger und erkannte ein knochiges Rückgrat auf dem Grat unter uns, eine zerbröckelte Mauer. »Inkas?«

»Gut möglich«, sagte ich. Die Mauer verlief ähnlich wie unser Kurs, zog sich in weitem Bogen von einem Grat zum nächsten, fast als hätten die Inkas die gleiche Reise gemacht.

»Glaubst du, er wird dort sein?«, fragte Lilly leise, obwohl wir viel zu hoch flogen, als dass irgendjemand auf dem Boden uns hätte hören können.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich genauso leise.

Ich wusste, dass sie von Paul sprach. Er hatte Leechs alte Karten, sein Skizzenbuch und den Spiegelsextanten, mit dessen Hilfe Leech den Kurs zu dem Tempel in den Anden bestimmt hatte. Und er hatte auch Lillys Medium-Schädel. Aber Paul hatte nicht wie ich Leechs Karten im Kopf, jene Karten, die die Terra mir übergeben hatte, als Leech gestorben war. Kannte er also den genauen Ort? Vielleicht hatte er begriffen, wie man den Sextanten benutzen konnte. Vielleicht hatte Leech die Route auch schon in seinem Tagebuch aufgezeichnet. Ich wünschte, ich könnte ihn das fragen.

Peng!

Ich hörte wieder das Echo von Francines Schuss in der Kryo-Anlage. Sah, wie Leech krampfte … und später in den Wellen verschwand … Wie hatte Paul das nur tun können? Waren wir alle so entbehrlich?

Die Drei werden scheitern …

Und ich hatte noch eine Sorge, die zusätzlich zu allem anderen an mir nagte. »Ich hoffe, wir führen ihn dieses Mal nicht wieder direkt zum Ziel«, sagte ich. Das Gefühl, dass man nur mit uns spielte, war wieder da. Wo waren Paul und seine Drohnenflotte in diesem Moment? Es waren nur zwei Gründe denkbar, warum sie uns nicht gleich nach der Flucht aus Desenna gefolgt waren: Entweder waren sie uns voraus, oder sie folgten unserer Spur, in beiden Fällen war ich mehr als sicher, dass sie uns irgendwo auflauern würden.

»Was können wir noch tun?«, fragte Lilly sich laut.

»Weiter auf diesen orangefarbenen Stern dort zuhalten«, sagte ich und deutete in Richtung Südwesten.

»Beteigeuze«, sagte Lilly.

»Ja.«

»Der Schulterstern des Orion«, fügte Lilly hinzu. »Ein Roter Überriese. Ungefähr hundertmal so groß wie die Sonne. Wäre es nicht wunderbar, so etwas mal zu sehen?«

»Ja.«

»Nach all den Marsmissionen während unserer Kindheit war ich immer vollkommen sicher, dass wir in den Weltraum fliegen, zu den Sternen reisen und neue Planeten kolonisieren würden, dieser ganze Science-Fiction-Kram. Ich hätte alles dafür gegeben, das zu tun.«

»Ich weiß«, stimmte ich ihr zu, nur dass mich, bevor ich Aeronaut wurde, schon eine hohe Treppe aus der Fassung gebracht hatte, ganz zu schweigen von der Vorstellung, in die Luft und über die Atmosphäre hinaus zu fliegen.

Die Erwähnung der Sterne erinnerte mich an etwas weniger Romantisches. Ich stand auf und trat zum Mast. Nahe der Spitze hatte ich ein kleines Stück Tau festgemacht.

An dessen Ende baumelte Victorias Finger.

Als ich ihn ansah, stieg in meiner Erinnerung wieder das Geräusch auf. Das Geräusch, das Micas Opfermesser gemacht hatte, wie das Zerreißen durchnässter Kleidung. Der Widerstand, den ich gefühlt hatte, als das Messer auf das Fleisch getroffen war …

Ich hatte den Finger jede Nacht, wenn wir flogen, getrocknet, und dann, während wir schliefen, hatte ich ihn fest umwickelt, um Ungeziefer fernzuhalten. Die Haut war nun schrumpelig und hatte sich aschgrau verfärbt. Der Finger fühlte sich hart und gummiartig an, und es war lange her, dass er geblutet hatte.

Ich griff in Dr. Marias Rucksack und zog das Messer mit dem weißen Griff heraus, das ich von Leech hatte. Trockenes Blut von Eden-Soldaten aus den Rocky Mountains klebte daran, und ich versuchte den Gedanken zu vertreiben, dass diese Reise sich so ähnlich anfühlte wie jene andere. …

Ich drehte die Klinge von mir weg und drückte sie in die Haut des Fingers. Nach einem Moment des Widerstands quoll ein Stück trockenen Gewebes heraus. Ich hielt den Finger an den Rand des Gefährts und schnitzte weiter, Lage für Lage grauer Haut und Muskeln zog ich ab und ließ die Fetzen vom Wind davontragen. Jeder Schnitt mit dem Messer klang wie das Reißen von Pergament.

»Das ist mehr als widerwärtig«, kommentierte Lilly.

»Ja«, brachte ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Als das Messer auf den Knochen traf, arbeitete ich sorgfältiger, während ich die harten, faserigen Wölbungen freilegte.

Bald schon sah ich den Strichcode.

Victoria war eine Auserwählte gewesen. Sie hatte der Elite innerhalb der Eden-Kuppeln angehört, die für das Projekt Elysion bestimmt waren. Für die Reise nach Eden Zentral, das laut Paul beinahe fertig war. Sie brauchten nur noch den Pinsel der Götter, um neu anfangen zu können. Aber wo sich Eden Zentral befand, blieb ein Geheimnis. Victoria hatte es nicht gewusst, da sie schon vor vielen Jahren vor Pauls Plänen geflüchtet war.

ENDE DER LESEPROBE