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Ein Roman von Rudi Dieringer, der die kleinen und großen Abenteuer des Hans Ingo Glück erzählt. Dabei stellen sich die Fragen: Was ist Glück? Was ist Pech? Was ist Liebe? Geschieht alles rein zufällig? Sein und Schein. Oberflächlichkeit und das oft so grausame Nebeneinanderher-Leben. Zuweilen in lyrisch schöner Sprache beschrieben, dann wieder in schonungsloser Härte, sarkastisch, dunkel und humorlos schwarz. Nichts für schwache Nerven. Ein ständiger Wechsel wie die Wellenlinien unseres Lebens: genauso spannend und langweilig, sinnig und sinnlos, öde und sensationell. Hans Ingo Glück kann in jedem von uns stecken - ein beängstigender Gedanke. Hans, vom Glück nicht wirklich verfolgt. Unscheinbar. Unwichtig. Unbeachtet. Amelie, seine erste große Liebe tötet er, ohne es wirklich zu wollen. Er wartet darauf, dass die Polizei ihn festnimmt und seiner gerechten Strafe zuführt. Doch nichts geschieht. Es folgen weitere schreckliche Verbrechen - durch seine Schuld. Aber er bleibt unbehelligt. So trauert er um seine Amelie und beginnt damit, ihren Tod zu rächen. Vielleicht nur, um selber bestraft zu werden? Schließlich bricht er aus seinem stupiden Alltag aus und zieht los, um das Glück zu suchen. Er reist nach Apulien, Barcelona, Mallorca und sogar nach Havanna und New York. Durch viele unglaubliche Zufälle lernt der bis dahin unscheinbare Behördenangestellte aus München die Schönen, Reichen und Wichtigen der Welt kennen und glaubt irgendwann, selbst Teil von ihnen zu sein. Während der Opernfestspiele in Bayreuth entdeckt und erlebt er die fesselnde Erotik einer wunderschönen, reichen Frau und erfährt an außergewöhnlichen Orten unglaubliche Sexualität und die vermeintliche Liebe. Dabei spielen Glück und Zufall eine entscheidende Rolle. Doch er verstrickt sich dabei immer tiefer in kriminelle Machenschaften.
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Seitenzahl: 298
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Für meine liebe Familie,
die zum Glück
nicht so abgefahren ist wie Hans.
„Zufall ist der gebräuchlichste
Deckname des Schicksals“
(Theodor Fontane)
Prolog
Amelie
Was ist Glück?
Erster Teil: Glücklose Tage
Wintertage
Die Arbeit
Pech, das Gegenteil von Glück?
Zweiter Teil: Hans‘ Reisen ins Glück
Hans’ Reise nach Apulien
Hans’ Reise nach Barcelona
Hans’ Reise nach Mallorca
Hans’ Reise zu den Festspielen nach Bayreuth
Hans’ Kurz-Weltreisen nach Havanna und New York
Dritter Teil: Das erzwungene Glück
Übergabe in Bari
Wieder zuhause und das Glück der Liebe
Vierter und vielleicht letzter Teil
Das Ende vom Glück?
Des Vaters Tochter
Das Leben im Paradies?
Epilog
Einsam gestorben
Schönheit vergänglich
gleich dem Blühen der Lilie
Herz anhänglich
Schmerz magnetisch
Dunklen Tagen
folgen helle Nächte
Lachen gefoltert
Freude erzwungen
mit dem Leben gerungen
Sinn gesucht
Sonne gebucht
Liebe gefordert
Menschen geordert
Gefühle zerstört
niemand gehört
Lebenslang gemauert
keiner trauert
Nachfolgende Handlungen und Personen wurden frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und wären rein zufällig. Ein Haftungsanspruch kann nicht erhoben werden.
Hätte sich die vielleicht wahre Geschichte wirklich zugetragen, so begänne sie nach der Jahrtausendwende – die schrecklichen Ereignisse des 11. September 2001 noch in junger Erinnerung. Gerade deshalb war die Welt schon aus ihren Fugen geraten.
Nichts schien mehr so, wie es sein sollte.
Hans lachte. Er lag im Gras. Das Gras war wieder trocken. Es war sehr heiß und schwül. Neben ihm leuchteten die kleinen spitzen Brüste von Amelie. Sie sah zufrieden aus, außer mit einem winzigen Höschen war sie unbekleidet. Das Gras war hoch und nicht gemäht. Von der nahe gelegenen Wittelsbacher Brücke dröhnte Autolärm. Mal hörte man das schrille Martinshorn eines vorbeirasenden Streifenwagens, mal das ungeduldige Hupen der Autofahrer. Die Isar schien an diesem Tag besonders schmutzig und rauschend, das nahende Gewitter brummelte und donnerte vor sich hin. Hans beobachtete Amelie, ihre Haut weiß, ihre Pölsterchen noch kindlich charmant. Sie war sechzehn. Mit verschlossenen Augen verzauberte sie ihn durch einen fast lächelnden Blick – als ob sie schliefe. Er berührte ihre Wangen, sie waren noch rosig und warm. Es war kaum eine Stunde her, da hatte er ihr das Genick gebrochen.
Sie waren ein schönes Paar. Auch wenn er über doppelt so alt war, man hatte es den beiden nie angesehen. Er wirkte wie ein Knabe. Sein großer Kopf mit den wachen, riesigen Augen, der Himmelfahrtsnase, den roten Pausbacken im ansonsten fahlen Gesicht, dem kleinen Mund oberhalb des spitzen, leicht hervorstehenden Kinns machten ihn weit jünger, als er war. So erschien er fast wie ein Kind. Man konnte ihn nicht deuten, weder Alter noch Wesen. Weder Herkunft noch Dasein. Weder Bildung noch Intelligenz. Er war nicht alt, nicht jung. Nicht reich, nicht arm. Nicht schön, nicht hässlich. Nicht da, nicht weg. Einfach nur unscheinbar. Keiner nahm von ihm Notiz. Auch keiner der zahlreichen Spaziergänger hier an den Isarauen. Nicht die ebenfalls im Gras liegenden Pärchen. Nicht die Schwulen und Lesben, die hier verliebt entlang stolzierten. Nicht die Jogger und Joggerinnen. Noch nicht einmal die vielen Hunde, die sich allein mit der Beobachtung ihrer Artgenossen und ihrer Notdurft beschäftigten. Keinen hat es interessiert, als er vor noch nicht einmal einer Stunde Amelies Genick brach. Eigentlich war er ein wenig wütend auf sie, denn sie hätte ja auch schreien können. Sie hätte sich wehren können. Sie hätte sich einfach so verhalten können, wie man es von einem Opfer erwarten sollte. Schließlich hat er ja nicht aus Versehen ihren Arm, sondern ihr Genick gebrochen. Nun aber lag sie da, stumm wie immer. Ahnungslos und naiv lächelnd.
Beide lagen sie so, bis die Dämmerung einbrach. Auf der Brücke leuchteten die Straßenlaternen. Passanten gingen vorüber. Spaziergänger mit Hunden. Walker mit Stöcken. Walker ohne Stöcke. Jogger. Keiner nahm Notiz. Kein Hund schnupperte an der toten Amelie. Hans griff ihre Arme und zog sie die paar Meter zur Böschung. Dann kugelte er sie den fünf Meter hohen Abgrund hinunter. Die Isar war durch die andauernden Regenfälle bereits zum rauschenden Fluss geworden. Amelie wurde sofort erfasst und mitgerissen.
≈
Hans wusste, er würde seiner lieben Amelie folgen. Er würde bald sterben. Er hing am Leben, auch wenn es ihm bisher die Schönheit verweigert hatte. Er dachte an die vielen Schwerkranken, die sich sträubten gegen das Unheil in ihnen, sich sträubten gegen das langsame Dahinsiechen, sich sträubten gegen den unerträglichen Schmerz, der sich in ihnen ausbreitete. Die bei ihren Familien, bei ihren Kinder bleiben wollten, die sich nicht vorstellen konnten, sie nie mehr um sich zu haben.
Hans hatte große Angst vor dem Tod. Was würde sein, wenn das Licht erlosch? Was würde sein, wenn er an einem Abgrund stünde, vielleicht auf dem Balkon im zehnten Stock eines Hochhauses, den ersten Schritt erst hinauszögerte, dann aber unumkehrbar sprang? Was würde in diesen langen Sekunden, in denen der Tod nicht mehr aufhaltbar wäre, durch seinen Kopf gehen? Hans stellte sich einen Aufprall vor. Einen dumpfen Schlag. Ein platzendes Trommelfell. Einen großen, unbeschreiblichen Schmerz. Das Brechen der Knochen. Das Verrenken des Kopfes. Das Daliegen auf dem Asphalt. Die Augen sähen die Straße. Doch das Blut, das aus ihnen quölle, würde die Konturen des Bildes verwischen. Der Schädel wäre vom Aufprall so deformiert, dass er sich der Straße anpassen würde. Blut, warmes Blut ränne langsam aus dem Mund, aus den Ohren, aus der Nase. Er hätte keine Möglichkeit, es mit der Hand wegzuwischen. Das Atmen fiele schwer, da das Blut in die Luftröhre gesogen würde. Das Gesäß wäre kaum zu spüren, nur die Wärme der unwillkürlichen Entleerung der Gedärme und der Blase. Die Hose zerrissen, darin Kot und Urin. Hans erschauerte über diese schreckliche Vorstellung. So zu liegen, jemals so dazuliegen, bereitete ihm Angst. Mehr Angst als vor dem Schmerz hatte er davor, in diesem Moment zu wissen, in wenigen langen Sekunden oder wenigen langen Minuten tot zu sein. Woran würde er dabei denken? An die ihm in bedingungsloser Liebe verbundenen Menschen? An das Entsetzen, sich nicht mehr von ihnen verabschieden zu können? An das Leben, das nun langsam, aber unaufhaltsam zu Ende ging? Oder an das, was bevorstünde? An das Dunkel, das jetzt nur noch ein schwarzes Nichts wäre und keine Gedanken mehr erzeugte. Wie ein nächtlicher Traum, an den man sich am darauf folgenden Morgen nicht mehr erinnern konnte? Die feinen roten Härchen in seinem Nacken und auf seinem Unterarm begannen sich zu kräuseln und richteten sich über einer Gänsehaut auf. Die ganze Vorstellung bereitete ihm Unbehagen.
Amelie wusste nicht, dass sie sterben würde, sie konnte sich nicht auf ihren Genickbruch vorbereiten. Sie war einfach tot, rasend schnell tot. Sie brauchte sich diese entsetzlichen Gedanken nicht machen. Sie musste ihre Gedanken nicht auf die bevorstehende Dunkelheit richten. Ein schöner Tod, dachte Hans und beneidete Amelie. Doch, wo war sie jetzt? Sah sie sich selbst in der Isar treiben? Sah sie Hans, der sich große Sorgen um ihren Verbleib machte? Wo war sie? In einer anderen Welt? Einer neuen, einer schöneren Welt? Oder einfach nur im Nichts?
Hans lag da, im hohen Gras, und stellte sich das Nichts vor. Konnte man sich das Nichts überhaupt vorstellen? Er versuchte es, aber er konnte es nicht. Hans stellte sich das Nichts als große Tragödie vor, wenn es Menschen gab, die man liebte, die man wirklich und ohne Bedingungen liebte. Wenn diese Menschen den Sterbenden, den Toten weiterliebten und dachten, dass sie diesen Menschen nie mehr im Arm halten könnten, sich mit diesem Menschen nie mehr streiten könnten, nie mehr gemeinsam lachen könnten, sich nie mehr gemeinsam freuen könnten. Das Nichts ist etwas Furchtbares, dachte Hans – der schrecklichste Zustand überhaupt.
Hans ging völlig verwirrt, ein wenig taumelnd und unheimlich traurig nach Hause und wartete, dass ein Kommissar an seiner Wohnungstür klingelte, um ihn zu verhaften. Er wartete eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, die halbe und schließlich die ganze Nacht, bis er dann im Morgengrauen völlig übermüdet auf seinem kleinen Sofa einschlief. So lag er bis lang in den Nachmittag hinein. Sein Schlaf wurde nicht gestört, durch keinen Kommissar, durch kein Telefon, durch nichts und niemanden. Hans wunderte sich sehr darüber.
Nachdem er eine Stunde in der Badewanne verbracht hatte, trauerte er um Amelie. Sie war ein guter Mensch. Er hatte sie geliebt. Und er liebte sie immer noch. Auch über ihren Tod hinaus.
Irgendwann klingelte es dann doch an seiner Tür. Hans erschrak und öffnete mit zitternden Händen. Doch es war nur der Hausmeister, der ihm mitteilte, dass die Feuerwehr gerade dabei war, seinen Keller auszupumpen. Das Grundwasser hätte sich bedrohlich durch die vielen Regenfälle erhöht. Der Sylvensteinspeicher im Isarwinkel bei Lenggries in den Bergen sei geöffnet worden. Die Isar wurde dadurch zur reißenden Gefahr für die ganze Stadt, insbesondere für die Anwohner der Auen. Das Grundwasser verschlammte und wässerte die Keller des ganzen Viertels.
Er schaute sich im Fernsehen die Nachrichten an. Durch gebrochene Dämme, eingestürzte Brücken, abgeknickte Bäume, überschwemmte Straßen gab es zu diesem Zeitpunkt sehr viele Unfälle. Bereits zehn Opfer forderte die beängstigende Situation allein im Süden Deutschlands. Eines dieser bedauernswerten Opfer sollte die arme Amelie gewesen sein.
In Hans staute sich überdimensionale Wut. Wut auf diese Naturkatastrophe. Sie hatte ihm seine liebe Partnerin geraubt. Die junge, rosige Amelie. Warum gerade sie, dachte er, und seine gewaltige, aufgestaute Wut vergrößerte sich ins Unermessliche.
Tage später saß Hans in einer alten Münchener Studentenkneipe unweit der Universität und sinnierte, ob er denn jemals glücklich war. Er erinnerte sich an seine Schulzeit und das ständige Vorlesen-Müssen des Märchens „Hans im Glück“. Genau in diesem Moment begannen zwei gut gekleidete Herren mittleren Alters am Nebentisch eine Unterhaltung über das Glück. Hans wunderte sich über diesen merkwürdigen Zufall, eigentlich glaubte er nicht an Zufälle, gemäß einem Zitat Theodor Fontanes, das er sich auch seit seiner Schulzeit merken konnte: „Zufall ist der gebräuchlichste Deckname des Schicksals“.
Hans belauschte das Gespräch der beiden Männer. Sie philosophierten, wie Hans es tat, sie rätselten über das Phänomen Glück. Sie fragten sich, ob es sich über einen Lottogewinn, ein großes Haus oder eine intakte, gesunde Familie definieren ließe.
„Du weißt ja, ich habe seinerzeit in Tübingen studiert. Ich konnte mich ewig nicht entscheiden was, so habe ich mich für Psychologie im Hauptfach eingeschrieben, obwohl ich wusste, dass ich niemals Psychologe werden wollte“, erzählte der eine, lachte und sein Gesprächspartner lachte ebenfalls.
„Dich könnte ich mir nie als Psychologen vorstellen. Ich erinnere mich an meine erste Vorlesung, als wäre es gestern gewesen. Ich dachte, es würde erzählt werden, wie die ganze Studiererei funktioniert, doch es wurde kein Wort über die Mensa, Immatrikulation, Sekretariat oder Klausuren verloren.“
„Das war bei mir anders!“, lächelte sein Gesprächspartner. „Ich fragte mich nach einer Woche, wann geht es denn endlich los? Da stand plötzlich Professor Mayr-Wittgenstein vor über 100 Frischlingen im Hörsaal. Der war damals schon über sechzig Jahre alt, ein grauhaariger Mann, der weit über die Uni Tübingen hinaus bekannt war.“
Der Gesprächspartner schaute, als würde ihn diese Geschichte interessieren.
„Das war noch ein richtiger Hörsaal. Kein Seminarraum, sondern eine Art Kinosaal mit steil aufsteigenden hölzernen, viel zu engen Bänken. Erst war es sehr unruhig. Die Studenten lachten, redeten miteinander, kicherten und machten allerlei Blödsinn mit kleinen Papierfliegern oder Papierkügelchen – wie sie es von der Schulzeit noch gewohnt waren. Da fragte der Professor mit seiner extrem tiefen, sehr sonoren Stimme“ – und er versuchte ihn dabei nachzuahmen, auch seine Gesichtszüge wurden ernst.
„‚Liebe Studierende, sehr verehrte Damen, sehr verehrte Herren, ich stelle Ihnen jetzt eine einfache Frage. Beantworten Sie sie mir: Was ist Glück‘?“
Dann erzählte er in normalem Ton weiter.
„Die jungen Studenten streckten ihre Köpfe lachend zueinander. Jeder sagte etwas. Jeder wusste etwas. Jeder wusste irgendwie, was Glück ist. Jeder hat es erlebt. Jeder wünscht es sich, sucht es, fordert es, verwirft es. Der Professor ging mit nach hinten verschränkten Armen durch die steilen, hölzernen Reihen und er begann damit, einzelne Studierende oder angehende Studenten persönlich zu fragen.“
Und seine Stimme wurde wieder theatralisch dunkel:
„‚Sie, ja, Sie – wie heißen Sie? Sie wissen sicherlich, was Glück ist‘!“
„Jetzt komm zum Punkt!“, antwortete der Gesprächspartner. Aber sein Freund ließ sich dadurch nicht beirren.
„Wenn einer etwas sagte, redete der Professor ihn mit seinem Namen an. ‚Lieber Herr Nüßle, sind Sie sich da sicher‘? Er hinterfragte ständig alle Antworten.
‚Warum Herr Hauser‘? Du kannst dir nicht vorstellen, wie er damals die ganzen Kommilitonen verunsichert hatte.
Heute weiß ich, dass das alles System hatte. ‚Sind Sie sicher, Frau Dittus‘? Das ging Ewigkeiten so, bis er im Hörsaal die Ruhe erzeugte, die er sich wünschte.“
Er schaute sehr nachdenklich.
„Ja, es war so richtig unheimlich ruhig. Man konnte das Knarren der Holzdielen unter den Schritten des Professors hören. Man hörte nur noch die Schritte des Professors Mayr-Wittgenstein. Dabei wurden alle zunehmend unsicher. Kaum einer traute sich noch etwas zu sagen. ‚Was ist Glück‘?, wiederholte er seine Frage. Die Stille war beklemmend. Die Schritte des alten grauen Professors auf dem knarrenden Holzboden verliehen der Situation noch zusätzliche Mystik. Glaub mir, das war wie im Theater, richtig gruselig. Ich habe dies nie vergessen. Nie“, wiederholte er sich.
Hans hörte gespannt zu und er meinte, diese Stimmung, auch in der Kneipe an der Universität zu spüren.
„Stille. Nur noch Stille. Und diese Schritte. Ich habe sie heute noch im Ohr. Der Professor brachte alle zum Schweigen und Nachdenken, und dies bei einer scheinbar so simplen Frage.“
Er trank sein Bier mit einem Schluck leer.
„Jeder war neugierig, ob der erfahrene, weise Professor überhaupt eine Antwort gäbe. ‚Glück, das sind drei Dinge‘, sagte er. ‚Nur drei simple Dinge‘. Es war wieder total ruhig, die Studenten waren gebannt.“
Er simulierte weiter die dunkle Stimme des Professors.
„‚Und genau das in einer bestimmten Reihenfolge. Erstens: Liebe‘ – er machte eine Pause. ‚Zweitens: Gesundheit‘ – er verlängerte seine Pause und schaute den steilen Hörsaal hoch. ‚Drittens: Zeit‘.“
Der Redner schaute seinen Gesprächspartner an, der nun sehr nachdenklich wurde.
„Dann hielt der Professor noch eine kleine Ansprache, ich weiß nicht, ob ich sie wortwörtlich wiedergeben kann, aber ich versuche es:
‚Liebe Studierende, sehr verehrte Damen, sehr verehrte Herren, merken Sie sich bitteschön: Fehlt Ihnen eines dieser drei Dinge, dann sind Sie nicht glücklich. Nicht wirklich glücklich. Sie vermissen etwas, und wer etwas vermisst, der ist nicht glücklich. Sie merken, jeder hat seine eigene Definition von Glück. Das ist meine. Sie werden während Ihres Studiums noch viel von Gemütszuständen der teilweisen und absoluten Zufriedenheit hören. Vieles davon ist Schwachsinn‘. Dann ging der Professor zu seinem Pult, packte seine Brille in ein Etui, legte das Etui in eine alte Ledertasche und verabschiedete sich: ‚Machen Sie sich darüber Gedanken. Bis zum nächsten Mal. Auf Wiedersehen‘. Und er ging.“
Die beiden Männer mittleren Alters schwiegen einen langen Augenblick.
„Heute, über zwanzig Jahre später, höre ich immer noch die Worte des grauen, alten Professors. Und ich weiß, er hatte recht.“
≈
Hans lag da. Er lag einfach nur da. Und er spürte bei jedem Hieb die metallene Schnalle des ledernen Gürtels. Sein Vater hörte nicht auf, ihn zu schlagen. Es war längst nach Mitternacht. Hans hatte bereits seit Stunden geschlafen. Er weinte nicht. Er schrie nicht. Die metallene Schnalle prallte auf die immer gleichen Stellen des geschundenen kindlichen Körpers, der blutend aufriss. Hans konnte nicht weinen und er wollte nicht weinen. Der Schmerz war unerträglich und das Peitschen des Gürtels wollte nicht mehr aufhören. Sein Vater weinte. Seine Tante half ihm nicht. Hans war schuld und er musste diese Schuld ertragen.
Die Weihnachtszeit war eben erst vorüber. Für das unnatürliche Ableben seiner geliebten Amelie sollte Hans unbehelligt bleiben. Ein tragischer Unfall, wie die Gerichtsmediziner nach dem Auffinden ihrer Leiche befanden. Man fand zwar kein Wasser in ihrer Lunge, doch wurde angenommen, dass sie von einem durch den Sturm geknickten oder umherfliegenden Ast erschlagen worden und dadurch ins Wasser gefallen war. Auch für den Umstand, dass sie nur mit einem Höschen bekleidet war, fanden sich Erklärungen. Ein Sexualdelikt konnte aufgrund ihrer jugendlichen Unversehrtheit rasch ausgeschlossen werden. Es gab viele weitere Opfer der reißenden Fluten. Die anfänglich eingeleiteten Ermittlungen, die einen gewaltsamen Tod überprüfen sollten, wurden schnell wieder eingestellt.
So ließ man Hans in seiner unendlichen Trauer alleine. Er konnte den Tod Amelies kaum begreifen.
An einem kalten Wintertag saß er in der Schnellbahnlinie, der S6, stadtauswärts in Richtung Starnberger See. Es war ein Samstagmorgen. Der Schnee puderte die stille Landschaft, die er durch das Zugfenster emotionslos an sich vorbeirauschen sah. Die schönen Villen links und rechts der Gleise kurz vor Starnberg beachtete er nicht. Er fuhr durch die blassen Bahnhöfe der ihm unbekannten Orte Planegg, Stockdorf, Gauting. Schließlich erreichte er Starnberg. Er roch den kalten See. Er setzte sich auf eine der eisigen, grünen Holzbänke an der Promenade. Das Geschrei der Möwen übertönte das der vielen Spaziergänger. Der schöne See, durchzogen von vielen einzelnen, brüchigen Eisplättchen, strahlte in winterlicher Eleganz. Auf dem Eis standen überall die Möwen. Stolz schwamm ein strahlend weißer Schwan um das Eis. Während Hans einfach nur da saß, überkam ihn wieder diese tiefe Trauer um Amelie.
Warum eigentlich hatte er sie getötet? Warum musste sie sterben? Er selber fand darauf keine Antworten. Wie hatte er es geschafft, schmächtig wie er war, lautlos mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck ihr Genick zu brechen, und dies unbemerkt von den ganzen Menschen und Hunden um ihn herum? Da saß er nun am See, schuldig und einsam. Allein und voller Selbstmitleid. Er hatte sich diesen Ort bewusst ausgesucht. Bereits vor Monaten, unmittelbar nach Amelies Tod, hatte er sich Gift besorgt. Ein weißes Pulver, das seinen Herzstillstand herbeiführen sollte, ganz ohne Qual, ganz ohne Schmerz. Er hatte eigens hierfür auf einem Flohmarkt einen alten aufklappbaren Ring erstanden. Er wollte seiner Amelie wieder nahe sein. Unendlich nahe. Er wollte mit ihr besprechen, weshalb sie sterben musste. Er wollte sie fragen, warum sie nicht geschrien hatte. Weswegen sie sich lustig über ihn gemacht hatte. Weswegen er hier auf Erden nicht bestraft würde. Er hatte viele Fragen, und sie sollte sie ihm beantworten.
Der Himmel strahlte in hellem Blau. Die Sonne blendete ihn, jedoch ohne zu wärmen. Er öffnete vorsichtig die Klappe des alten Ringes. Das Pulver würde er mit seiner Zunge lecken und es dann mit seinem Speichel schlucken. Ihn fröstelte. War das der Moment vor dem unentrinnbaren Nichts? Wieder hatte er Angst.
Er hatte noch einmal Hunger. Ihm kam die Idee, sein Pulver stilvoll mit einem wunderbaren alten Wein einzunehmen. Zuvor ein gutes Essen. Jedem zum Tode verurteilten Mörder stand eine letzte Mahlzeit, ein letzter Wunsch zu. Er schloss noch einmal die Klappe seines Ringes und ging mit langsamen, bedächtigen Schritten die Uferpromenade entlang, um ein passendes Lokal zu suchen. Er wollte zu einem Italiener, doch beim Eintreten erschien ihm das Restaurant zu sehr Ausflugslokal zu sein. Der Italiener am See war kein geeigneter Ort zum Sterben. Er machte wieder kehrt, ging in Richtung Stadtmitte, atmete die kühle Luft und beobachtete seinen Hauch. Er konnte sich lange für keines der anliegenden Lokale entscheiden und irrte mehr als eine Stunde durch das winterlich kalte Starnberg. Schließlich wollte er wieder zum See auf die eisige grüne Bank, da entdeckte er dann doch ein bayerisches Wirtshaus. In der Not empfand er es als geeigneten Ort.
Als er eintrat, fand er eine Mischung aus Kaffeehaus und Wirtsstube vor. Seine Wahl gefiel ihm, und er suchte einen passenden gemütlichen Platz in einer ruhigen Ecke. Eigentlich wollte er sich einen Barolo aus dem Piemont als letzten Trunk gönnen, doch die bescheidene Karte bot ihm keinen. Der teuerste Rote war ein Amarone di Valpolicella. Er zweifelte kurz, ob er doch in ein anderes Lokal wechseln sollte. Hans empfand es als großes Problem, dass ihm sein letzter Wein, wenn auch ein äußerst teurer, nicht schmecken könnte. Dennoch riskierte er es und bestellte eine Flasche des Jahrganges 1999, also dem letzten Jahrtausend, für 65 Euro. Dazu wollte er nun nichts Schweres essen, also war er mit dem Tagesangebot, einem frischen Salat mit Sesamkörnern und gebratener Putenbrust, dazu ein warmes französisches Baguette, bestrichen mit Knoblauchbutter, einverstanden.
Am Nebentisch saßen zwei junge Frauen, beide schätzte er auf fünfundzwanzig Jahre. Eine davon fand er sehr interessant und hübsch, die andere weniger. Sie brunchten, wie neudeutsch gerne in den frühen Nachmittagsstunden an Samstagen oder Sonntagen in München oder hier im vornehmen Starnberg erweitert gefrühstückt wurde. Die Hübschere von beiden trug ein sehr tief ausgeschnittenes, schwarzes Oberteil, darüber eine dünne schwarze Weste. Ihr Brustansatz war für diese Jahreszeit erstaunlich braungebrannt, nicht zu üppig, irgendwo im Niemandsland zwischen ein- und ausladend. Beide waren blond mit mittellangen welligen Haaren. Die eine mehr maskulin und grob, die andere mit zarten Gesichtszügen und schön geschwungenen, vollen Lippen. Die Hässliche dagegen hatte einen sehr schmalen, auch noch meist zusammengekniffenen Mund. Er belauschte sie. Das Gespräch war unbedeutend, betraf das Studium und ihre Neffen. Sie tranken Prosecco und strichen Butter auf die kleinen mit Mohn-, Sesam- und Kürbiskernen beflockten Semmeln. Sie stocherten in ihrem französischen Schimmelkäse und bemühten sich um andächtige langsame Bewegungen. Die Hässliche hochgeschlossen in grünem Rolli passend zu den schmalen Lippen. Die Hübschere beugte sich vor, und Hans genoss den direkten Blick auf ihr schönes Dekolleté, über dem eine schlichte silberne Kette mit kleinem Kreuz hin und her wippte. Er hatte bereits ein halbes Glas von seinem Amarone getrunken. Anfangs erschien er ihm ein wenig säuerlich, doch mit jedem Schluck wurde er genussvoller, der Geschmack zunehmend weicher. Der Wein duftete nach Dörrobst von Pflaumen und Beeren, leicht winterlich nach Bitterschokolade und vielen mediterranen Gewürzen. Der leichte Salat schmeckte ihm wunderbar, auch wenn ihm die Cocktailtomaten ein wenig zu weich und sämig, die Putenbrust ein wenig zu trocken und der Chicorée zu bitter erschienen. Der Wein, sein letzter, sein Trunk vor dem Tode, beschwipste ihn.
Er dachte wieder an Amelie. Warum nur hatte sie nicht um ihr junges Leben gewinselt? Warum hatte sie ihn verlassen? Warum nur blieb ihr Tod unbestraft? Sein Mitleid wandelte sich in Wut. Es musste doch einen Schuldigen für ihren Tod geben. Es musste doch einen rechtschaffenen Richter geben. Er gefiel sich immer mehr in seiner Opferrolle. Und er schwor würdige Rache. Er meinte, dies seiner toten Geliebten schuldig zu sein. Er begann ein lautloses Zwiegespräch. Immer wieder hörte er die belanglosen Worte seiner Tischnachbarinnen. Er ärgerte sich über deren Bedeutungslosigkeiten, die sich zu Wichtigtuereien steigerten. Sein Salat war gegessen, in seiner Flasche nur noch die Menge für ein halbes Glas. Es musste das entscheidende Glas sein – sein letztes. Er goss den Rest der Flasche in den kleinen Kelch und öffnete erneut seinen Ring. Die beiden jungen Frauen standen gerade auf, um sich am Brunch-Buffet Nachschub zu holen: Lachs und Erdbeeren, Walnüsse und Saft. Die smarte Kellnerin stellte beiden derweil jeweils einen geschäumten Milchkaffee in zwei großen Haferln, wie sie die größeren Tassen hier nannten, auf den Tisch. Die Flasche Wein verursachte Druck auf Hans’ Blase. Er wusste, wenn er jetzt das Gift zu sich nehmen würde, würde sie sich bei seinem nahen Tod unwillkürlich entleeren. Das wollte er aus ästhetischen Gründen nicht. Also schloss er ein weiteres Mal seinen Ring, stand auf und ging zur Toilette. Er entleerte sich, wusch die Hände, ging langsam zu seinem Tisch zurück und entdeckte, dass zwischenzeitlich die ausgetrunkene Amarone-Flasche abgeräumt worden war ebenso sein Salatteller und der längliche Brotkorb. Die beiden jungen Frauen machten sich immer noch am Buffet zu schaffen. Er öffnete seinen Ring bereits im Gehen, als er an ihrem verwaisten Tisch vorbeiging.
Wieder stieg in ihm Wut über Amelies Tod auf. Blinde Wut. Wut auf die Polizei, der nicht in den Kopf kam, dass seine Geliebte umgebracht worden sein könnte. Ermordet. Kaltblütig ermordet. Dieser Tod musste doch gerächt werden. Er musste ihn rächen. Er ging an den beiden geschäumten Milchkaffees vorbei und wie ferngesteuert schüttete er das gesamte Pulver seines geöffneten Ringes über den Milchschaum des am nächsten stehenden Haferls der beiden jungen Frauen. Dann setzte er sich wieder hin und trank seinen restlichen Wein. Die smarte Kellnerin fragte ihn, ob er eine weitere Flasche Wein wolle. Er verneinte und verlangte nach der Rechnung. Die beiden jungen Frauen setzten sich wieder an ihren Platz. Der Kaffee mit seinem Pulver stand bei der Schöneren, und er ärgerte sich darüber, denn die Hässlichere hätte doch viel eher den Tod verdient gehabt. Die smarte Kellnerin kam mit der Rechnung. Hans bezahlte, gab ihr ein für den besonderen Anlass recht bescheidenes Trinkgeld, stand auf und sah, wie die Schöne ihren Kaffee hochhob, um daran vorsichtig zu nippen.
Hans ging wieder zum See und setzte sich auf seine Bank. Kinder warfen Steine auf die Eisplättchen. Er stand auf und machte es den Kindern nach. Nach drei kleinen Steinen nahm er seinen Ring von der Hand und warf ihn soweit er konnte übers Eis. Unweit hörte er das schrille Horn eines Rettungswagens, der in die Maximilianstrasse einbog. Dorthin, wo auch das Wirtshaus war, das eigentlich sein letztes Menü zubereiten sollte. Dorthin, wo er eigentlich eine letzte gute Flasche Wein trinken wollte. Nun ärgerte er sich über die 85 Euro, die er für den Amarone und den viel zu teuren Salat ausgegeben hatte. Er hatte nicht viel Geld zum Leben und nun lebte er immer noch. Er war in Sorge, als die S-Bahn Richtung München eintraf. Wurde der Mord an Amelie nun durch den Tod der brunchenden Schönen aus Starnberg gesühnt? Vielleicht hatte sie ja gar keinen Herzstillstand erlitten? Vielleicht hatte das Pulver nicht ausgereicht? Vielleicht konnten sie Rückstände des Pulvers in ihrem Magen oder Bestandteile im Blut nachweisen? Und wieder flog an ihm die weiß gepuderte, winterliche Landschaft vorbei. Wieder fuhr er durch Gauting, Stockdorf und Planegg. Er fühlte sich nicht merklich unwohl. Er schaute auf die Villen links und rechts neben den Gleisen. Er war müde. Der schwere Wein beruhigte ihn. Er schloss die Augen und dachte an Amelie und an die schöne Starnbergerin. Wer sie wohl war, woher sie kam, wo sie jetzt wohl wäre? Was machte jetzt die Hässliche? Er ärgerte sich, dass nicht sie sterben sollte, sondern die Hübsche. Er hätte sich die Zeit nehmen können, ihr das Pulver zu geben. Dann schlief er ein beim monotonen Fahrgeräusch des Zuges.
Zuhause angekommen wartete er wieder auf die Polizei, die ihn wohl schnell finden würde. Schließlich waren nicht viele Gäste in diesem Wirtshaus am See. Er dachte, eine Vergiftung würde doch in heutiger Zeit schnell festzustellen sein, auch wenn das Gift seinen Informationen zufolge einen körpereigenen Stoff enthielt, und die nachzuweisenden kritischen Substanzen sich von alleine zersetzten. Ein Gerichtsmediziner müsste schon gezielt danach suchen, über herkömmliche Checklisten würde man es nicht finden. Und auch dieses Mal kam keine Polizei. Er schlief erneut erst im Morgengrauen ein und erholte sich wieder bis in den späten Nachmittag.
≈
Nach einer Tasse Pfefferminztee legte er sich in seine alte Badewanne und dachte an die Schöne. Er war sich nicht mehr sicher, ob er sie überhaupt getötet hatte. Vielleicht hatte man ihn damals bei dem Pulver übers Ohr gehauen, und es handelte sich um ein harmloses Placebo. Er hatte keine Sicherheit, ob der Rettungswagen wegen seines schrecklichen Verbrechens an der Schönen in die Maximilianstrasse einbog. Nach einer Weile verließ er das Haus. Die Sonne schien wie am Vortag, die Luft war kalt. Er ging langsam und bedächtig. Seine Schritte federten. Irgendwie fand er sich in einer anderen Welt, jedenfalls fühlte er sich so. Es war Sonntag. Keiner der Passanten oder Spaziergänger nahm Notiz von ihm. Er kam zur Wittelsbacher Brücke. Traurig blieb er stehen und schaute hinunter auf den Ort, wo er vor noch nicht einmal sechs Monaten Amelie die Isarböschung abwärts gerollt hatte. Er schaffte es nicht, die exakte Stelle zu bestimmen. Die Auen waren weiß vom Schnee und sahen anders aus als noch im Sommer. Er blieb lange auf der Brücke stehen und ärgerte sich über die vielen Menschen, die an ihm vorbeigingen. Sie hätten doch damals sehen müssen, wie er Amelies Genick brach, wie sie starb, wie er sie über die Böschung hinunterrollte, wie sie in die Isar fiel, wie sie von den reißenden Fluten mitgerissen wurde. Doch die Menschen hatten damals keine Notiz genommen, so wie sie auch an diesem Tage keine Notiz nahmen. Die Isar war klarer als damals im Sommer. Die Sonnenstrahlen ließen sie in einem hellen Grün erscheinen.
Er ging weiter, vorbei an den Irren, die auf der Terrasse vor dem Lokal Zoozies draußen sitzend froren. Er ging am Glockenbach entlang, sah die gefrorenen Kristalle, schlenderte wie schon hunderte Male zuvor am schönen Gärtnerplatztheater vorbei. Auch hier saßen die Verrückten, um sich in der Kälte zu quälen. Es war eben ein Sonnentag. Er kam zum Sendlinger Tor und ging die Sendlinger Straße in Richtung Rathaus. Nun begann er zu frösteln und er wollte sich in dem neuen amerikanischen Coffee-Shop wärmen. Er ging hinein, reihte sich in die Schlange und bestellte sich einen Caffè latte mit Vanille-Geschmack, ehe er sich in einen gemütlichen ledernen Sessel setzte. Das peinliche Quietsch-Geräusch, das er beim Hinsetzen erzeugte, interessierte keinen des vorwiegend jungen, studentischen Publikums. Er dachte an den Vortag, als er in dem Wirtshaus in Starnberg saß und die Hässliche und die Schöne beobachtete. Auch hier gab es viele Hässliche und einige Schöne. Aber er hatte kein Pulver mehr. Kein Gift. Und auch keinen Grund, jemanden zu töten, ganz gleich, ob schön oder hässlich. Er bekam wieder Wut, weil er sich nicht sicher sein konnte, ob der Tod Amelies wirklich gesühnt wäre. Ob die tote Schöne für die schreckliche Tat an Amelie auch eine würdige Büßerin war. Er wusste es nicht. Er nahm sich eine Sonntagszeitung und suchte nach einem Bericht aus Starnberg. Er fand keinen. Wieder war er unsicher.
Das amerikanische Café füllte sich bis auf den letzten Platz. Neben ihn setzten sich zwei Schöne und eine Hässliche, begleitet von einem Angeber, der sich schön fühlte, von Hans aber abgelehnt wurde. Hans ärgerte sich, dass er gestern bereits das Pulver verabreicht, ja verschwendet hatte. Der Angeber neben ihm, der sich vor den zwei Schönen und der einen Hässlichen aufplusterte, hätte sich seines Pulvers würdiger erwiesen. Es wäre ihm gerecht erschienen, an ihm Amelies Tod zu rächen. Hans überlegte sich, wie er ihn noch in seine Rachepläne mit einbeziehen konnte. Jetzt klingelte auch noch das Handy des Angebers, und er redete von Jahresberichten und Kennzahlen, die sich sein Gesprächspartner wohl herunterladen sollte. Hätte Hans eine Pistole gehabt, dann hätte er ihn einfach erschossen, dachte er. Doch er hatte keine Pistole und er verwarf diesen Gedanken schnell wieder, da er sich nicht sicher sein konnte, ob er ihn wirklich einfach so erschießen könnte. Obwohl, er saß ja schließlich in einem amerikanischen Café.
Hans legte sich gemütlich in seinen Ledersessel und freute sich zunehmend über die Macht, die er hier über alle Schönen und Hässlichen fühlte. Er wäre imstande jeden Einzelnen, jede Einzelne auszuwählen und sie für das Verbrechen an Amelie büßen zu lassen. Er fühlte sich gut. Es war eine gewisse Genugtuung gegenüber Amelie. Jetzt sah er ein junges, sich küssendes Paar. Sicher keine Studenten, eher noch Schüler. Sie schienen gerade ihre erste Liebe zu erfahren. Sie verhakten sich ineinander.
Er erinnerte sich an Amelie. Er war noch nicht lange mit ihr zusammen gewesen, aber er liebte sie unendlich. Mehr, als er je zuvor einen Menschen geliebt hatte. Mehr als seine Mutter ihn geliebt hatte – hatte sie ihn überhaupt geliebt? Die Monate, die sie ihn in ihrem Leibe trug? Er war als Kind so unscheinbar. Nie hatte er Freunde. Er hätte gerne Freunde gehabt, aber es ergab sich eben nie. Die Mitschüler mochten ihn nicht, und er mochte die Mitschüler nicht. Er überlegte sich, warum. Doch er fand keine Antwort. Hans war kein guter Schüler. Seine Zensuren recht durchschnittlich, nie hatte er eine mangelhafte Note, nie eine sehr gute oder gute, seine Noten waren befriedigend. Er war zufrieden damit. Für seine Aufgaben im Behördenbüro reichten seine schulischen Ergebnisse stets. Er war nicht dumm, befand er selbst. Und die Belesenheit, die er gerne hätte, konnte er all den Unbelesenen leicht vorspielen.
Und außerdem hatte er ja auch Macht. Macht über jeden hier im amerikanischen Coffee-Shop. Er begann wieder zu überlegen, wie er ohne sein Pulver Macht ausüben könnte. Er beschloss, sich bald ein neues Pulver zu besorgen. Ein besseres, sofort wirkendes. Er musste sich im Klaren sein können, dass Amelies Tod auch wirklich gesühnt werden würde. Die Ungewissheit vom Wirtshaus am Starnberger See durfte sich nicht wiederholen. Er erschrak, gedankenverloren hatte er nicht bemerkt, dass das junge, sich küssende Schülerpaar inzwischen gegangen ist. Er war ein wenig enttäuscht, und nun ging auch noch der Angeber, der erwählte Büßer für Amelies Tod. Wut überkam ihn. Ach, hätte er doch nur eine Pistole bei sich gehabt. Er hätte ihn sofort erschießen sollen. Er beschloss, sich unbedingt eine Pistole zu besorgen. Und ein Pulver, das sofort wirkte. Und einen neuen Ring. Er ärgerte sich, dass er seinen einfach auf das Eis des Starnberger Sees geworfen hatte. Er hatte jetzt viel zu tun. Er musste viele Besorgungen machen. Die ganzen Aufgaben entstanden nur, weil er sich nicht sicher sein konnte, ob Amelies Tod bereits von der Schönen gesühnt worden war. Er trank seinen Caffè latte mit Vanille-Geschmack. Er schmeckte ihm sehr gut. Er dachte, er wäre genauso gut für sein Pulver gewesen, hätte er es selbst genommen, wie der Amarone di Valpolicella. Überhaupt erschien ihm sein Wein von gestern zu teuer. Die 65 Euro reuten ihn. Und es reute ihn, dass er auch sein Pulver an die Schöne verschwendet hatte, ohne dafür Gewissheit zu bekommen, ohne dafür eine Indiz der Sühne an Amelies Tod erhalten zu haben. So etwas durfte sich nicht wiederholen.
Das amerikanische Café gefiel ihm. Die beiden Schönen und die Hässliche neben ihm standen nun auf und gingen. Zu seiner Linken nahmen drei Norwegerinnen Platz, zumindest interpretierte er sie als solche. Zu seiner Rechten ein junges, deutsches Paar. Die Norwegerinnen klassifizierte er in zwei Durchschnittliche und eine sehr Hübsche, noch hübscher als die tote Hübsche aus Starnberg, von der er ja noch nicht einmal wusste, ob sie wirklich tot war. Die Hässliche aus Starnberg war jedoch weitaus hässlicher gewesen als die durchschnittlichen Norwegerinnen zu seiner Linken. Er schaute sich die junge Frau zu seiner Rechten an, auch sie küsste ihren Partner. Sie hatte große, warme Augen und einige lustige Sommersprossen auf ihrem hellwachen Gesicht. Ihr Partner machte einen sehr freundlichen Eindruck, allerdings redete er in einem seltsamen Dialekt.
Zwei Sessel vor ihm, direkt in Hans‘ Blickfeld, lächelte eine sehr Durchschnittliche mit roten Flecken auf dem Gesicht. Sie lächelte Hans an. Hans erschrak fürchterlich. Nie hatte ihn eine junge Frau angelächelt. Er schaute sich um, aber hinter ihm war nur die gelbe Wand, die nicht gemeint sein konnte. Hans errötete und wollte ebenfalls lächeln, er verzog sein Gesicht. Irgendwie schien es ihm, als ob er etwas falsch gemacht hätte. Die rotbefleckte