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Die Kießlings gehören zu Juist wie die Gezeiten. Als Patriarch Eduard das Bundesverdienstkreuz erhält, kommen sie alle zusammen: Eduards Frau Adda, die drei Töchter, sowie Großmutter Johanne. Doch in die Generalprobe platzt Helen aus Neuseeland, die behauptet, mit der Sippe verwandt zu sein. Und tatsächlich: Sie ist Adda wie aus dem Gesicht geschnitten. Gemeinsam gehen sie dem Rätsel ihrer Herkunft nach. Denn Adda ahnt: Der Schlüssel zur Wahrheit liegt im familieneigenen Hotel de Tiden, dort, wo vor 75 Jahren alles begann.
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Seitenzahl: 634
Die Kießlings gehören zu Juist wie die Gezeiten. Als Patriarch Eduard das Bundesverdienstkreuz erhält, kommen sie alle zusammen: Eduards Frau Adda, die drei Töchter, sowie Großmutter Johanne. Doch in die Generalprobe platzt Helen aus Neuseeland, die behauptet, mit der Sippe verwandt zu sein. Und tatsächlich: Sie ist Adda wie aus dem Gesicht geschnitten. Gemeinsam gehen sie dem Rätsel ihrer Herkunft nach. Denn Adda ahnt: Der Schlüssel zur Wahrheit liegt im familieneigenen Hotel de Tiden, dort, wo vor 75 Jahren alles begann.
Anne Prettin ist eine Hamburger Autorin und schreibt Reden für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie in Freiburg, Hamburg und Bordeaux und arbeitete als freie Journalistin für verschiedene Tageszeitungen. Sie ist verheiratet und lebte mit ihrer Familie in Neuseeland, als dieser Roman entstand.
Anne Prettin
Die vier Gezeiten
Roman
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2021/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ann-Catherine Geuder, Lübeck
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Einband-/Umschlagmotiv: © plainpicture/Hartmann + Beese; © www.buerosued.de
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0381-9
luebbe.de
lesejury.de
In Erinnerung an Uda Albers (1946–1977)
Juist, 28. September 1978
Liebes Tagebuch,
in 90 Minuten werde ich tot sein. Die Flut ist immer pünktlich. Erst wird das Wasser meine Knöchel, dann meine Knie und Oberschenkel umspülen. Während es unaufhörlich bis zur Hüfte steigt und mich dann vielleicht doch die Angst packt, werde ich einen Punkt am Horizont fixieren, als würde ich nach einem Freund Ausschau halten. Das wird mir helfen. Wenn ich erst einmal brusttief in den Fluten stehe, werde ich auf der sicheren Seite sein. Die Strömung zerrt dann bereits so an meinem Körper, dass die Kraft des Wassers mich entweder erdrückt oder langsam verschlingt. Ich weiß nicht, was mir lieber wäre. In letzterem Falle wird es zunächst etwas in der Brust brennen. Das hat mein Pathologieprofessor gesagt und auch, dass der Tod durch Ertrinken überraschend schnell erfolgt. Von ihm habe ich gelernt, dass eine wissenschaftliche Betrachtung hilft, den Tod zu verstehen.
Ich werde also reflexartig den Atem anhalten, mich verschlucken, husten und erneut Salzwasser schlucken. Ein Teil davon wird durch die Luftröhre in die Lunge gelangen, die daraufhin ihre Pforten schließt. Dumm nur, dass der Würgreflex alles noch verschlimmern wird. Meine Lunge wird sich aufgrund dessen nämlich weiter füllen, weil sie nun dem umliegenden Gewebe Flüssigkeit entzieht. Mit der Folge, dass die Lungenbläschen zusammenfallen und dem Blut keinen Sauerstoff mehr zuführen können. Mein Gehirn wird unterversorgt, mein Kreislauf fährt herunter, und ich werde anfangen zu zittern. Davon bekomme ich aber nichts mehr mit, denn zu diesem Zeitpunkt wird sich bereits ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit in mir ausgebreitet haben. Ich werde bewusstlos sein, aufhören zu atmen, und mein Herz wird seinen letzten Schlag tun. Dann ist es geschafft.
Ich frage mich, wie es sich anfühlen wird, wenn mein Geist meinen Körper für immer verlässt. Werde ich ein helles Licht sehen, in einen langen Tunnel gesaugt werden und einem strahlenden Stern entgegenschweben?
Die endgültige Antwort darauf bekomme ich bald, sehr bald. Nur berichten kann ich Dir dann nicht mehr davon.
Sie klappte ihr Tagebuch zu, strich über den roten Samteinband und setzte sich an ihren Schminktisch, einen alten Sekretär aus Mahagoniholz. Die Idee mit dem Tagebuch stammte von Onno. Schreib auf, was du hörst, was du siehst, was du erlebst. Was du willst und fühlst. Vieles wird klarer durchs Schreiben. Hätte er geahnt, wie klar sie nun sah, er hätte ihr einen anderen Rat gegeben.
Sie blickte durch das kleine Dachfenster ihrer Kammer hinaus auf die schmale Mondsichel am Himmel. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und der erste Tag ihres Todes beginnen. Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt.
Selbst wenn sie es sich anders überlegen sollte, würde sie, sobald sie erst einmal im Wasser stand, keine Chance mehr haben, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Dann, wenn sich die harmlosen Priele in breite, reißende Flüsse verwandelt und jeden Rückweg abgeschnitten hätten. Sofort war ihr mulmiges Gefühl wieder da. Aber es half nichts. Wie sollte sie mit der Lüge weiterleben?
Sie tröstete sich damit, in guter Gesellschaft zu sein. Schon viele vor ihr waren »ins Watt gegangen«, wie man auf der Insel sagte.
Langsam öffnete sie die Lade, hob die Sperrholzplatte an, unter der sich der Hohlraum befand, und schob das Buch bis nach hinten durch.
Sie drückte den Türgriff herunter, und als sie sich umdrehte, kamen ihr zum ersten Mal die Tränen. Nur der Abschiedsschmerz, dachte sie, wischte die Wangen mit dem Handrücken trocken und schlich die Treppen hinunter, vorbei an den Zimmern ihrer Schwestern, ihrer Mutter. Würden sie sie vermissen? Kein Laut war zu hören, bestimmt schliefen alle tief und fest. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, schwang sich auf den Sattel und radelte die Uferstraße hinunter, an den Häusern im Loog vorbei in Richtung Domäne Bill, raus aus dem Dorf. Das gedämpfte Licht des Mondes leuchtete ihr den Weg. Das Wasser lief auf, und ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Schon jetzt kroch die Kälte von den Fußsohlen in ihre Beine. Mit voller Kraft stemmte sie sich gegen den pfeifenden Nordwind. Er blies noch heftiger als am Vortag. Sie liebte den Wind, dieses traurige Heulen, auch wenn es klang wie die Sterbelaute eines Fuchses.
Sie fuhr bis zu der Stelle, die sie sich in Gedanken bereits ausgesucht hatte, einen langen einsamen Schotterweg entlang, auf dessen rechter Seite die Dünen lagen, linker Hand, zur Landseite hin, die graugrünen Salzwiesen, wo das Wattenmeer begann. Auf Höhe des Hammersees war sie am Ziel. Um diese Zeit verirrte sich keine Menschenseele hierher. Nur die Möwen ließen ihr Kreischen hören.
Der Himmel war sternenklar. Sie hörte vom Strand hinter den Dünen die Brandung tosen. Der Leuchtturm von Memmert durchbrach das ebene Panorama in der Ferne als dunkle Senkrechte. Sie stieg vom Fahrrad und schob es über die Wiese. Der Geruch von Salz stieg ihr in die Nase. Jetzt war es also so weit.
Sie zog die festen braunen Lederschuhe aus und stellte sie in den Fahrradkorb. Es sei gut, den Blick vom Gezeitentümpel zu den Sternen schweifen zu lassen und dann wieder zurück, hatte John Steinbeck geschrieben. Also blickte sie zu den Sternen, wieder zurück zum Watt, ohne zu wissen, wofür es gut sein mochte, und marschierte im Tempo der auflaufenden Flut zur nächsten vorgelagerten Plaat. Dann wartete sie.
Adda wusste, wie sehr ihr Mann sich um eine gute Wirkung bemühte. Es lag nicht allein an der Auswahl seiner Kleidungsstücke, dem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug mit der frischen gelben Nelke im Reversknopfloch, dem blau-weißen Einstecktuch und den handgefertigten Budapestern. Die trug Eduard jeden Tag – ein Hauch Exzentrik, den er sich gönnte. Es war vor allem sein Habitus, die Art, wie er jedes einzelne Wort seiner Rede kraftvoll betonte, während er mit ausgebreiteten Armen und federndem Gang die Bühne des großen Festsaals abschritt, von einem Ende zum anderen, als wollte er sie beschlagnahmen. Der Testlauf für seine Ordensverleihung in vier Tagen verlief reibungslos. Man hätte meinen können, der Saal sei bereits proppenvoll mit Gästen, so wie Eduard aus sich herausging. Mit achtzig Jahren war er noch voll da.
»Ich bin nicht der Erste, der sich für das Überleben unseres schönen Wattenmeers eingesetzt hat. Aber der Erste in der Geschichte Juists, der dafür von der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wird«, sagte Eduard jetzt mit tönender Stimme.
Er hatte über jedem einzelnen Satz seiner Rede gebrütet, Formulierungen verworfen, neu verfasst. Adda hatte ihn überzeugt, den Verdienstorden, den es in verschiedenen Abstufungen gab, in seiner Rede nicht explizit zu benennen. Sie wollte vermeiden, dass ihr Mann andere Ordensträger von der Insel degradierte. Es wussten ohnehin alle, dass ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen werden würde, die höchste Ordensstufe, die jemals Einzug in ein Juister Haus gehalten hatte. Zu ihrer Überraschung hatte Eduard ihr zugestimmt. Bei der Planung der Feierlichkeiten ließ er sich jedoch nicht hineinreden, die würden die Ausmaße eines Staatsbanketts annehmen.
Eduard bestand darauf, die Feier im familieneigenen Hotel de Tiden auszurichten. Von Adda verlangte er, das Haus herauszuputzen, als sei es eine Braut vor der Vermählung. Allerdings ohne ihr dabei freie Hand zu lassen. Ständig änderte er seine Wünsche für die Gestaltung der Tischkarten, die Farbe der Blumenarrangements oder die Zusammensetzung des Dessertbuffets. Adda, die der Meinung war, dass es auch Tee und Rosinenstuten getan hätten, wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.
Die Generalprobe hatte Eduard im Kreise der engsten Familie und im Festsaal angesetzt, dort, wo sonst Hochzeiten oder goldene Konfirmationen ausgerichtet wurden. Das dunkle Holz der Deckenvertäfelung und das Fischgrät des Parkettbodens hatten etwas Erdrückendes, dachte Adda nicht zum ersten Mal. Eigens für die Feier hatte sie die Dielen wienern, die vergilbten hellbraunen Spitzenvorhänge durch moderne weiße Gardinen ersetzen und auf Geheiß Eduards alle zweihundert Stühle aufpolstern und mit weißem Stoff beziehen lassen. Wer nicht gut säße, hatte er gesagt, blase keine guten Töne. Die Sitzordnung hatte ihr Mann so arrangiert, dass in der ersten Reihe mittig der Ministerpräsident Platz nehmen würde, zu ihrer Rechten und Linken Johanne, Adda und ihre drei gemeinsamen Töchter.
Die jüngste der Schwestern war noch nicht aufgetaucht, die beiden älteren, Frauke und Theda, saßen schon auf ihren Plätzen, zwischen und neben ihnen leere Stühle. Adda hatte sich für die Probe einen Hocker neben den Rollstuhl ihrer Mutter gestellt, die mal wieder in einer Art Dämmerschlaf versunken war. Was beneidete Adda sie jetzt darum!
Für einen Moment war nichts zu hören außer dem vertrauten Klappern der Pferdehufe auf den Pflastersteinen des Weges, der am Hotel vorbeiführte, dann fuhr Eduard fort:
»Dabei bin ich nicht einmal ein echter Juister, sondern – in aller Bescheidenheit – nichts weiter als ein Badegast, ein Zugereister, ein Binnenländer. Das ist mal sicher – oder, wie wir Ostfriesen sagen, gebürtig oder eingemeindet: Daar kannst up an!«
Frauke und Theda zwinkerten ihm zu und applaudierten, woraufhin ihr Vater lächelnd eine Verbeugung andeutete.
Adda konnte nicht anders, sie ärgerte sich über seine Koketterie. Als würde ihm, »dem Inselmacher«, noch irgendwer die Nichteingesessenheit vorwerfen. Mehr Juister als Eduard ging doch gar nicht.
Sie fächelte sich Luft zu. Seit Wochen nicht ein Tropfen Regen, kein Hauch Wind. Nichts als Sonnenschein, fast unbarmherzig, der den dunklen Raum mit gleißendem Licht erhellte und aufheizte. Jetzt, wo die Strahlen ungebremst durch die frisch geputzten Fenster fielen, sah sie, wie der Staub im Licht wirbelte und auf den Deckenlampen schimmerte. Hübsch anzusehen zwar, aber die Zimmermädchen würden mit dem Mikrofasertuch nacharbeiten müssen. Gleich im Anschluss an die Probe wollte Adda sie anweisen.
Eduard hustete, räusperte sich, hielt sich die Hand vor den Mund.
»Trockene Luft hier drinnen«, sagte er mit rauer Stimme und setzte sich auf einen Schemel. Wie auf Kommando sprang Theda auf und brachte ihrem Vater ein Glas Wasser. Adda öffnete derweil ein Fenster. Salziger, leicht fischiger Geruch vom Meer stieg ihr in die Nase. Eine Möwe, die sich auf dem Fenstersims niedergelassen hatte, flog laut schreiend auf. Erschrocken trat Adda einen Schritt zurück, doch Eduard nahm keinerlei Notiz davon.
Er hob das Glas, bevor er es mit einem Schluck leerte.
»Theda!«, erinnerte er seine Tochter mit strenger Miene, als sie keine Anstalten machte, es ihm wieder abzunehmen. »Das Glas!«
Theda zuckte zusammen und lief rot an, wie jedes Mal, wenn ihr Vater sie anfuhr. Wie sehr Theda sich von ihrer Jüngsten unterschied, dachte Adda. Marijke scherte sich nicht um Eduards Befindlichkeiten. Gestern Abend war sie mit der Fähre angereist, aus New York, Rio oder Sydney, jede Woche ein neuer Ort – Adda hatte längst die Übersicht verloren. Seit dem Zubettgehen war sie nicht wieder aufgetaucht, dabei war ihr der Termin für den Probelauf wohlbekannt – wie auch das Wesen ihres Vaters.
Auf die Minute pünktlich wollte er sie alle auf ihren festen Plätzen sitzen sehen, damit Schlag dreizehn Uhr angerichtet werden konnte. Nicht einmal während der großen Sturmflut von 1962 hatte er sein Mittagessen verschoben. Was soll’s, dachte Adda. Marijke hatte ein bisschen Ruhe verdient.
Seit einem Jahr war sie nicht mehr zuhause gewesen, zu viele Ausstellungen in zu vielen Ländern. Momentan lebte sie in Kalifornien. Adda freute sich darauf, mit ihrer Tochter ins Watt zu spazieren, wie früher, und Strandkrebse zu fangen. Mit Weißwein, Knoblauch und Kabeljau zubereitet, würden sie eine Fischsuppe kochen, so wie Marijke sie liebte. Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, tauchte ihre Tochter in der Tür zum Saal auf und warf ihrer Mutter und den Schwestern einen Handkuss zu. Sie blieb stehen, als wollte sie den Anwesenden genügend Zeit geben, ihrer gewahr zu werden.
»Dieser furchtbare Jetlag«, sagte Marijke. »Je älter ich werde, desto schlimmer wird es.«
Mit ihrer Größe von 1,80 Meter überragte sie Adda und Eduard um Kopfeslänge. In den engen blauen Jeans, der cremefarbenen Seidenbluse unter dem blauen Blazer und mit den dunklen, schulterlangen Locken sah sie aus wie ein junges Mädchen, das schmale Gesicht immer noch faltenlos, die Lippen voll und rot. Nur die feinen Linien zwischen Nasenflügel und Mundwinkel ließen erahnen, dass sie mit ihren Mitte vierzig die Jugend bereits hinter sich gelassen hatte.
Während die zwei älteren Töchter Äußerlichkeiten nicht viel Bedeutung beimaßen, hatte Adda, chic gekleidet wie ihre Jüngste, dem Pragmatismus der Allwettertauglichkeit noch nie viel abgewinnen können. Frauke und Theda trugen das typische Sommer-Inseloutfit: graue Dreiviertelhosen zu karierten kurzärmeligen Blusen, die dunkelblonden Köpfe von wetterfesten Kurzhaarschnitten gerahmt. Wären Augenfarbe und Körperbau nicht unterschiedlich gewesen, man hätte die beiden kaum auseinanderhalten können. Theda war noch immer sehr schlank, Frauke dagegen hatte die überschüssigen Kilos nach der Geburt ihres Sohnes vor knapp dreißig Jahren bis heute nicht loswerden können. Mein Sohn hat mich meine Schönheit gekostet, sagte sie gern, und mein Ex-Mann meine inneren Werte. Die Scharfzüngigkeit hatte sie von Addas Mutter Johanne geerbt.
»Was kann wichtiger sein«, bemerkte Frauke nun ohne eine Spur von Ironie, »als Vaters Proberede für die Entgegennahme seines Verdienstkreuzes?«
Marijke strich Frauke über die Wange, bevor sie auf die Bühne stürmte und ihren Vater anlächelte. »Die Rede für die Entgegennahme seines Verdienstkreuzes!«
Adda schüttelte belustigt den Kopf. Und auch Eduard musste lächeln.
»Dann lass hören, wie der Retter des Wattenmeers den Bundespräsidenten an die Wand redet«, forderte Marijke ihren Vater auf, ohne zu wissen, dass sie damit einen wunden Punkt traf.
Adda warf Eduard einen schnellen Blick zu. Hoffentlich regte er sich jetzt nicht wieder auf! Dann würde die ganze Litanei von Neuem beginnen. Seit er erfahren hatte, dass er nicht auf den ersten Mann im Staate zählen konnte, hatte Eduards Freude über seinen Triumph einen empfindlichen Dämpfer erfahren. Es wurmte ihn, mit dem Rangniederen vorliebnehmen zu müssen, selbst wenn er in derselben Partei war.
Das Beste war dann, ihn klagen zu lassen, Zustimmung zu nicken und auf Durchzug zu stellen. Doch half das nur bedingt gegen sein Lamento, wie stiefmütterlich die Natur selbst, aber auch ihre Geschöpfe von der Politik behandelt wurden. Was müsse er denn noch alles tun, um eine Einladung nach Bellevue zu ergattern? Reiche es nicht, den Lebensraum für Millionen von Fischen, Muscheln, Krabben, Kegelrobben und Seehunden gerettet zu haben, dazu den Urlaub von Hunderttausenden Touristen?
Deutschland ist des Deutschen liebstes Urlaubsland, würde es doch immer heißen. Habe auch nur einer von diesen Deutschen denn Lust, in einer verdreckten Brühe neben toten Seerobben zu planschen und sich danach einen Ölfilm vom Körper zu schrubben? Adda hatte ihn schließlich gebeten, den Orden als das zu nehmen, was er war: eine der höchsten, wenn nicht die höchste Ehrung, die einem engagierten Bürger in diesem Land zuteilwerden konnte.
Zu Addas Erleichterung hatte er sich daraufhin wieder beruhigt. Es gab ohnehin nur wenig, das ihn aus der Ruhe bringen konnte. Denn die Welt gehörte ihm; zumindest die Welt, die er sich erschaffen hatte, sein Königreich, die Insel Juist, die beliebteste Ferieninsel im ganzen Wattenmeer, dessen inoffizieller Herrscher er noch immer war: Dr. Eduard Kießling, Hotelier, Großgrundbesitzer, Bürgermeister a.D., Aktionär der Fährlinie Juista, erster Vorsitzender des Segelclubs und Gründungsmitglied des Flughafenvereins.
»Alle Wege führen nach Juist, aber nur über mich«, witzelte er gern. Und er hatte nicht ganz unrecht: Als Adda mit ihrer Mutter ein paar Jahre nach dem Krieg auf die Insel gekommen war, war Juist von der Welt noch so gut wie abgeschnitten gewesen. Nur unregelmäßig hatte ein Schiff die Insel angefahren – allein die Idee eines von Kurgästen frequentierten Flughafens war abwegig –, und die Pensionen und Hotels waren gerade erst die Besatzer losgeworden. Samt Mobiliar.
Eduard erhob sich schwungvoll, betrat erneut das Rednerpult, als sei es ein Siegerpodest, und riss dem kleinlauten Tontechniker, der eigentlich Kutscher war, grob das Mikrofon aus der Hand. Er blickte in die erste Stuhlreihe, in der Marijke inzwischen ihren Platz eingenommen hatte, lachte den Anflug von Verärgerung weg und griff die Bemerkung seiner Tochter auf:
»Wenn der Bundespräsident also dringendere Termine hat«, wich er von seinem Redemanuskript ab und machte mit seiner freien Hand eine bedauernde Geste, »dann nehme ich das hübsche Stück Blech gerne auch aus Ihren werten Händen in Empfang, Herr Ministerpräsident. Wer einen Landesvater nicht ehrt, ist des Verdienstkreuzes nicht wert.«
Eduard zwinkerte in Richtung des leeren Stuhls, auf dem der Landesvater Platz nehmen würde, und lachte spitz. Offenbar zufrieden mit seiner neuen Formulierung, drehte er den Kopf zu Adda. »Besser?«
Adda nickte stumm und hoffte, dass sich der Scherz dem Publikum erschließen würde. Sie hatte nie verstanden, warum Eduard so begierig auf ihren Zuspruch war. Wo er doch eigentlich meinte, sein Bauch sei der beste Berater.
»Das Gleiche gilt für die Familie, ohne die ich heute nicht hier wäre.«
Er bedachte Adda mit einem zärtlichen Blick. Sie seufzte leise.
»Da wäre zuallererst meine Tochter Frauke, der ich meinen einzigen Enkel Arne verdanke.«
Ehrliche Rührung stand in Fraukes blassblauen Augen.
Seit sie sich hatte scheiden lassen, hatte sie Eduards Meinung nach ihm nicht mehr viel Anlass zu stolzgeschwängerten Äußerungen gegeben. War da jetzt ein Anflug von Triumph in ihrem Blick, mit dem sie ihre kinderlosen Schwestern bedachte? Adda war sich nicht sicher. Marijke schüttelte unmerklich den Kopf, während Theda sich um ein Lächeln bemühte. Doch ihr Kinn zuckte, und Adda wusste genau, mit welchen Gefühlen ihre Tochter in diesem Moment zu kämpfen hatte. Warum musste Eduard nur bei jeder Gelegenheit darauf herumhacken, dass Theda nie geheiratet und keine Kinder bekommen hatte? Hatte sie nicht auch um ihrer Eltern willen auf all das verzichtet? Um ihnen den Rücken freizuhalten, als sich das Unglück über die Familie gelegt hatte?
Eduards Blick wanderte zu Theda. In wohlwollendem Ton fuhr er fort:
»Nicht zu vergessen meine liebe Theda, die immer um mein Wohl bemüht ist. Du hättest eine wunderbare Ehefrau abgegeben.«
Theda sah ihren Vater unbewegt an und senkte den Kopf, während Marijke sich aufrichtete, in Erwartung der ihr zugedachten Worte.
»Und meine Jüngste, Marijke«, fuhr er fort und schnalzte mit der Zunge, »von der keiner jemals gedacht hätte, dass aus ihr eine so bekannte Fotografin werden würde, so erfolgreich, dass sie sogar unsere Kanzlerin ablichten durfte.«
An dieser Stelle warf Eduard erneut einen provokativen Blick auf den leeren Stuhl des Ministerpräsidenten. Dann schaute er auf Johanne, die noch immer schlief.
»Nicht zuletzt danke ich Johanne, meiner lieben Schwiegermutter, die mit ihrer herzlichen und fürsorglichen Art Tausende von Gästen glücklich gemacht hat.«
Marijke lachte laut auf. »Wem willst du das denn weismachen, Vati?«, fragte sie. In dem Moment klingelte ihr Handy. »Da muss ich ran«, sagte sie achselzuckend und verschwand durch den schmalen Spalt der Ziehharmonikatür in den angrenzenden Raum.
Das Klingeln hatte Johanne aus ihrem Schlummer geweckt, und sofort polterte sie los: »Zum Teufel nochmal, ist hier jetzt mal Ruhe mit dem Geschwätz!«
Alle kicherten. Nur Eduard wartete mit steifer Miene, bis seine Familie sich beruhigt hatte, und sprach nach einem ausgedehnten Moment der Stille weiter: »Du, liebe Johanne, hast mir den allergrößten Schatz anvertraut: meine geliebte Adda, der ich mein zweites Leben verdanke.« Eduard hielt inne, sah Adda an und fuhr dann fort: »Seit dem Moment, als ich dich das erste Mal sah, habe ich dich nicht mehr aus meinem Herzen gelassen.« Er nestelte an seiner Boutonnière, wie er die Einsteckblume nannte, die er in Erinnerung an ihre erste Begegnung täglich trug. Damals hatte Adda einen Strauß Nelken in der Hand gehalten und ihm aus Versehen vor die Füße geworfen. Seit ihrer Heirat legte er großen Wert darauf, stets ein Exemplar ihrer Lieblingsblume am Revers zu tragen, immer frisch, wie meine Liebe zu dir. Bis heute hatte er keine Ahnung, dass Adda Nelken hasste.
»Mit deinen langen braunen Haaren und den veilchenblauen Augen, in diesem blau gepunkteten Kleid sahst du aus wie das Mädchen meiner Träume.«
Sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Unwillkürlich strich sie sich über ihren dunkel getönten Bob, nahm die Brille ab und drehte sie hin und her. Eduard irrte sich. Adda erinnerte sich zwar daran, einmal ein blau gepunktetes Kleid besessen zu haben, aber da war sie noch ein Kind. Träume sind etwas für die Nacht, dachte sie, als es an der Tür klopfte. Eduard rief ungehalten: »Herein!« Die Tür wurde schwungvoll geöffnet. Im Rahmen stand eine junge Frau, die genauso aussah, wie Eduard Adda soeben beschrieben hatte, nur dass sie statt eines Sommerkleides Shorts und Top trug und statt eines Blumenstraußes ein Handy in der Hand hielt.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie mit einem leicht englischen Akzent. »Ich bin Helen.«
Adda sah die Fremde mit unverwandtem Blick an und spürte, wie ihr Herz einen Augenblick lang aussetzte. Auch ihre Töchter starrten die junge Frau mit offenen Mündern an.
»Zieh dir was Anständiges an, Adda!«, keifte Johanne in das Schweigen hinein und sah Helen verärgert an. »Wir Locks kommen aus einem guten Stall und kleiden uns nicht wie Dirnen.«
Helen stand einen Moment einfach nur da, wie festgefroren, mitten auf der Türschwelle. Die Menschen im Raum starrten sie an, als sei sie ein seltenes Reptil. Sie fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte, und wich einen Schritt zurück. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, wäre direkt wieder abgehauen, ohne Erklärung, ohne Entschuldigung. Doch sie blieb. Jetzt erst recht. »Adda« hatte sie die alte Dame im Rollstuhl genannt – das war der Name, der auf dem Foto stand. Sie war auf der richtigen Spur.
Eine herrische Stimme erklang. »Was kann ich für Sie tun?« Der alte drahtige Mann stieg von der Bühne und kam langsam auf sie zu, vorbei an etlichen Stuhlreihen. Von seiner Stirn tropften Schweißperlen und rannen ihm über die Nase. Ihre Blicke kreuzten sich für einen kurzen Augenblick, er runzelte die Stirn. Irritiert. Schwer atmend ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Eine schlanke kurzhaarige Frau mittleren Alters trat schnell zu ihm und fasste ihn an der Schulter.
»Lass das, Theda!« Er schüttelte ihren Arm ab und erhob sich schwungvoll.
»Mein Name ist Helen Burns«, beantwortete sie hastig seine Frage. »Ich suche eine Adda.«
Hastig kramte sie in ihrem Rucksack nach dem Foto. Ihre Adoptivmutter hatte es ihr gegeben, kurz vor ihrem Abflug. Das Einzige, was Helen von ihrer richtigen Familie besaß, und der einzige Hinweis auf ihre leibliche Mutter. Es zeigte ein kleines Mädchen auf einem hölzernen Umkleidewagen am Strand. Im Hintergrund sah man das Meer. Das Mädchen trug ein dunkles Kleid, helle Kniestrümpfe und Sandalen, hatte dunkle Zöpfe und lachte in die Kamera. Auf der Rückseite des Bildes hatte jemand in sperriger Schrift Adda, Juist 1943 notiert.
»Diese Frau«, sagte Helen und reichte der Frau namens Theda das Foto, während alle Anwesenden neugierig näher kamen. Auf einmal fühlte Helen sich wie eingekesselt.
»Das ist unsere Mutter …«, setzte Theda an, als plötzlich die ältere, gut gekleidete Frau um Mitte sechzig mit zitternder Hand nach dem Foto griff.
»Diese Ähnlichkeit«, sagte sie leise. Als sie den Blick hob, sah Helen in die gleichen veilchenblauen Augen, die ihr jeden Morgen im Spiegel entgegenblickten. Helen hatte das Gefühl, ihren eigenen Atem zu hören. Es war, als würden sie einander erkennen, ohne sich zu kennen, und im selben Moment schossen ihr Tränen in die Augen. Rasch wandte sie den Kopf zur Tür. Sie holte tief Luft, und das Gefühl der Erschütterung verging glücklicherweise so schnell, wie es gekommen war.
»Das bin ich«, sagte die Frau endlich. Sie streckte dem Mann das Foto hin. »Schau doch, Eduard.«
»Unsinn, Adda«, blaffte der, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
Helens Herz schlug wie wild. Adda. Das war tatsächlich Adda, die Frau, vielmehr das Mädchen auf dem Foto.
Eine dritte Frau mit kurzen Haaren riss Adda das Bild aus der Hand und warf einen flüchtigen Blick darauf. »Woher haben Sie das?«, fragte sie und musterte Helen aus zusammengekniffenen Augen.
Helen holte tief Luft. »Dieses Foto lag bei den Dingen, die man mir als Säugling mitgegeben hat. Ich komme aus Neuseeland, bin dort aufgewachsen. Und nun …« Sie stockte. »… will ich meine leiblichen Eltern finden.«
Die Frau lachte spöttisch auf. »Lass gut sein, Frauke«, sagte Adda mit brüchiger Stimme, doch die rief: »Und Sie glauben nun, nur aufgrund eines uralten, unscharfen Bildes, dass Sie ausgerechnet von unserem kleinen Juist ans andere Ende der Welt wegadoptiert wurden, weil man in Deutschland nicht weiß, wohin mit den ganzen Babys? Erscheint Ihnen das nicht selbst ein wenig absurd?«
Helens Halsschlagader pochte. Himmel, was sollte sie darauf antworten?
Ein Gong ertönte. Theda trat einen Schritt nach vorne und fragte mit leiser Stimme: »Vati, was hältst du davon, wenn wir den Dorsch ausnahmsweise ein paar Minuten länger in seiner Suppe schwimmen lassen? Mutti ist ganz fahl!«
Mit einem Mal bäumte sich die alte Frau im Rollstuhl auf. »Die Mittagsstille verschieben? Doch nicht Eduard. Der ist so flexibel wie das Holz einer Dresdner Eiche!«
»Red’ nicht so einen Unsinn, Johanne«, sagte Eduard, Helen noch immer fest im Blick. »Etwas im Magen wird Adda guttun. Wir gehen«, sagte er. »Und Sie bitte auch.«
Ohne von der Aufforderung ihres Mannes Notiz zu nehmen, murmelte Adda: »Ich kenne das Bild nicht, aber ich erinnere mich an den Tag, als es aufgenommen wurde.« Theda legte ihr eine Hand auf die Schulter, und Adda fuhr fort: »Es war im Krieg, der Strand war menschenleer. Morgens haben wir meinen Großvater beerdigt, und abends sind wir wieder zurück nach Dresden.«
Im gleichen Moment begann die Großmutter laut zu singen. Ihr Blick flackerte dabei ruhelos zwischen Adda und Helen hin und her, als könnte er sich nicht entscheiden, welche von beiden er festhalten sollte.
»Hausmeister Ehlers ist jeden Abend blau, und wenn der nicht betrunken ist, dann haut er seine Frau. Und jetzt ist er so tot wie sein Sargnagel.«
Sie ließ den Kopf genauso überraschend wieder sinken und verstummte. Für einen Moment hatte sie ganz klar gewirkt, dann, im nächsten, war es, als würde sich ein Schleier über ihre Augen legen und sie im Nebel ihrer Vergangenheit entschwinden.
»Tja, wo es etwas zu holen gibt, kreisen die Möwen«, sagte Frauke in sachlichem Ton. »Warum tauchen Sie gerade jetzt auf, ausgerechnet zur großen Feier, wo alle Zeitungen über unsere Familie berichten?«
Helen merkte, wie sie rot anlief. Sie war doch nicht gekommen, um alles auf den Kopf zu stellen, sondern nur, um dem einzigen Hinweis nachzugehen, den sie hatte!
»Und durch Zufall landen Sie im Hotel de Tiden?«, fuhr Eduard dazwischen und ging mit finsterer Miene zur Tür, die Pfeife in der Hand.
»Mich hat kein Zufall hierhergebracht«, sagte Helen. »Ich wohne in diesem Hotel.«
Die Anwesenden wechselten Blicke – erschrockene, ungläubige, irritierte.
»Da bin ich wieder«, ertönte plötzlich eine kräftige Stimme. Helen drehte ihren Kopf und sah, wie eine große, schlanke Frau mit einem fast gemeißelt schönen Gesicht aus einer Zwischentür trat.
»Wir haben Nachwuchs bekommen, Marijke«, sagte Frauke und trat einen Schritt zur Seite, um den Blick auf sie freizugeben. »Das ist Helen, die behauptet, mit uns verwandt zu sein. Bist du zufällig ihre Mutter?« Sie lachte höhnisch.
Marijke blieb stehen, starrte sie an wie ein Gespenst und schüttelte den Kopf. Auch sie sah offenbar die Ähnlichkeit sofort, dachte Helen, auf einmal hoffnungsvoll.
»Bist nicht tot, meine kleine Adda! Bist nicht tot, mein Gustav!« Johannes schrille Stimme riss sie aus den Gedanken. Sie sah, wie die alte Frau sie anstarrte und am ganzen Körper zuckte wie bei einem epileptischen Anfall. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, und sie fasste sich an den Bauch.
Adda eilte Johanne zu Hilfe. Leise redete sie auf sie ein und streichelte ihre Hand, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann drehte Adda sich zu Helen und sagte: »Es tut mir leid, meiner Mutter geht es nicht gut.« Helen schluckte den Kloß in der Kehle hinunter und nickte.
Frauke öffnete die Tür. »Wir gehen!«, rief sie und marschierte voran, gefolgt von den anderen. Marijke blieb kurz in der Türschwelle stehen und sagte: »Ich bin übrigens Marijke.« Dann verschwand auch sie, und Helen blieb zurück.
Einen Augenblick stand Helen nur da und spürte schmerzhaft den Schlag ihres Herzens. Nach ein paar Minuten wurde ihr Atem langsam ruhiger. Was sollte sie jetzt machen? Ihre Mutter hatte ihr über eine Internetplattform ein Zimmer in diesem Hotel reserviert. Sie mochte es, aber unter den gegebenen Umständen hielt sie es für besser, etwas auf Abstand zu gehen oder einfach wieder abzureisen. Zuerst einmal brauchte sie aber frische Luft und ein paar Schritte Bewegung, eine kurze Flucht von dieser Familie und allem, was mit ihr zusammenhing. Sie musste ihren Kopf freikriegen.
An der Hoteltür kam ihr der Wattführer Onno entgegen und blieb kurz stehen. »Nicht so gut gelaufen, was?«, sagte er mit sanfter Stimme und blickte ihr in die Augen. Prompt kamen ihr die Tränen. Sie schüttelte den Kopf und rannte ohne ein weiteres Wort davon.
Er hatte sie vor nicht einmal einer halben Stunde zu den Kießlings geführt.
Gleich nach dem späten Aufstehen hatte sie Gisela von der Rezeption nach jemandem gefragt, der viele Leute kannte – offiziell, weil sie eine Geschichte über die Insel schreiben wollte. Nachdem sie in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft mit dem Jetlag zu kämpfen und ihr Zimmer nicht ein einziges Mal verlassen hatte – selbst das Essen hatte sie sich aufs Zimmer bringen lassen –, fühlte sie sich an diesem Morgen endlich bereit, sich um den eigentlichen Grund ihres Kommens zu kümmern. »Ach wat, hier kennt jeder jeden«, hatte die dralle Blondine hinterm Tresen gesagt. »Aber wenn Sie jemanden brauchen, der alle kennt, denn gehen Sie zu Wattführer Onno.«
Sie war die Strandstraße an roten Backsteinhäusern entlanggeschlendert. Das Geklapper der Pferdehufe und Kutschenräder hallte auf dem holprigen, vor Hitze dampfenden Kopfsteinpflaster. Vor dem Eingang eines großen Eckgebäudes, an dessen Hauswand Glaskästen mit den Nachrichten der Insel angebracht waren, hatte sich eine längere Schlange gebildet. Über der Tür stand in grünen, verblassten Buchstaben Rathaus. Die Menschen, die davor warteten, wirkten entspannt und zufrieden. Sie lachten und schwatzten miteinander wie bei ihr zuhause. Vielleicht weil auch dieser Tag wieder so sonnig begonnen hatte und man bei jedem Atemzug die Weite der See fühlte.
Schnurstracks setzte sie ihren Weg zum Nationalpark-Haus fort. Hinter dem Schiffchenteich, auf dem ein paar Kinder ihre kleine Segelbötchen fahren ließen, und dem Kurplatz, in dessen Mitte in einer Konzertmuschel eine Handvoll Musiker in grauen Hosen, weißen Hemden und quer gestreiften Krawatten zum Vormittagskonzert mit Operettenmelodien aufspielten, bog sie rechts ein.
Sie passte den Wattführer ab, als er gerade die Tür zuschloss. Auch er sah sie an, als würde er einen Geist sehen.
»Komm mit, min Deern«, hatte er mit einem Blick auf das Foto von Adda gemurmelt, und sie zu ihrer Verwunderung mit seinem Fahrrad zurück zum Hotel de Tiden gebracht. An der Tür zum Festsaal hatte er sie verabschiedet mit den Worten: »Hier bist du richtig.«
Doch anscheinend sah nur er das so.
Die abweisende Kälte der Familie schockierte sie. So weit weg von ihrem Zuhause fühlte sie sich allein, mutterseelenallein. Ein Wort, das es auf Englisch so nicht gab, dachte sie.
An einem Fischwagen bestellte sie bei einem grimmig dreinblickenden Verkäufer in Matrosenhemd ein Matjesbrötchen. Er hatte kein Lächeln und Wort für sie übrig. Stattdessen musterte er sie mit solch finsterem Blick, als hätte sie ihn nach seinem Angelschein gefragt. Sie wollte gerade gehen, da knallte er ihr stumm das Brötchen auf die Theke und sagte: »Macht zwei Euro fünfzig.«
Mit dem Brötchen in der Hand setzte sich auf eine Bank mit Blick auf das Meer und das Strandhotel Kurhaus. Die Sonne brannte auf sie nieder. Verwirrt bemerkte sie, dass sie ihren Hut vergessen hatte. Doch bevor sie in diesem Zustand zurück ins Hotel kehrte, würde sie lieber noch zehn Fischbrötchen bei diesem Miesepeter kaufen.
Was in ihrer Heimat als unhöflich galt, ging hier offenbar als spröder Charme durch, dachte sie, während sie das Kurhaus betrachtete.
Es sah aus wie ein Schloss und passte mit seiner imposanten Glaskuppel gar nicht so richtig zum Rest der Insel, zumindest zu dem Teil, den sie bisher gesehen hatte. So wie sie. Aber sie hatte ja auch gar nicht vor, hierher zu passen – oder ihre Eltern durch passendere zu ersetzen. Sie wollte einzig und allein wissen, warum sie war, wie sie war. Warum sie auf so wackligen Beinen stand.
Ihren Anfang genommen hatte die Reise vor drei Wochen. Mit einem Picknick am Stadtstrand ihrer Heimatstadt Napier, bei dem sie kurzerhand ihren Freund nach zwei Jahren Beziehung aus einer spontanen Regung heraus verlassen hatte – wie schon all die anderen Freunde davor. Gefolgt von dem Entschluss noch am selben Tag, ihren Job als Bloggerin hinzuschmeißen. Wie schon zuvor eine Vielzahl an Jobs in diversen anderen Medienfirmen.
Helen wusste sich keinen besseren Rat, als bei ihren Eltern Zuflucht zu suchen. In Alex’ und ihrer gemeinsamen Wohnung konnte sie nicht bleiben. Ja, so hart es auch war, sich das einzugestehen: Außer ihren Eltern gab es keine Konstante mehr in ihrem Leben. Nicht mal ein eigenes Zimmer. Und so stand sie mit sechsundzwanzig Jahren am Nachmittag ihrer frischen Trennungen in der Küche ihrer Eltern – ohne Job, ohne Freund, ohne Wohnung und nur mit zwei großen Taschen beladen. Ihr Blick wanderte nach draußen. Von jedem Fenster sah man das Wasser, das an diesem Tag in herrlichen Grün- und Türkistönen schimmerte. Dieser sich ständig ändernde Ausdruck hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf sie. Das weiß gestrichene Holzhaus auf dem größten Hügel der Stadt, der sanft zum Meer auslief, hatten ihre Eltern vor zwanzig Jahren gekauft. Auf dem Tisch brannte eine Kerze.
»Ist jemand da?«, rief sie.
Von oben hörte sie das Rauschen des Wasserhahns. Helen warf einen Blick auf die gerahmten Fotos an der Wand. Sie als Baby im Tragetuch vor dem Bauch ihrer Mum Vera; sie als Siebenjährige, die einem Pinguinbaby die Flasche gab, ihre Eltern und sie am Tag ihrer letzten Uniprüfung in Auckland, wie sie auf der Kaimauer saßen, nah beieinander. Helen hörte ihre Mum die Treppe hinunterkommen. Schon am Geräusch ihres Gangs wusste sie, dass sie es war, das leichte Schlurfen auf den Hacken. Für Helen hörte sich das Geräusch nach Zuhause an.
Nun saßen sie sich gegenüber, tranken eine Kanne Kräutertee, und ihre Mum ließ sie erzählen. In Veras Blick lag etwas Forschendes. Als sie fertig war, beugte sie sich vor und nahm Helens Hände: »Kann es sein, dass du verlässt, damit du nicht verlassen wirst?« Helen sah sie an wie vom Donner gerührt. »Das ist nichts weiter als eine kleine Sinnkrise«, protestierte sie. Aber ein Teil von ihr ahnte, dass ihre Mutter recht haben könnte. »Du sitzt dir selbst viel zu sehr im Nacken. Du musst vor nichts im Leben Angst haben.« Sie zögerte. »Aber vielleicht musst du erst alles verstehen.« Sie stand auf, verließ den Raum und kam wenig später mit einem Bild zurück, diesem uralten Schwarzweißfoto der kleinen Adda, das sie Helen wie ein kostbares Fabergé-Ei überreichte.
Sie sieht aus wie ich früher, dachte Helen sofort.
»Mehr kann ich dir leider nicht geben«, sagte ihre Mum. Helen sah sie erstaunt an. Es war viel mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. Das Einzige, was sie bislang gewusst hatte, war, dass Vera und James sie in Auckland adoptiert hatten und ihnen gesagt wurde, dass ihre Mutter Deutsche war. Bisher waren Helens Versuche, etwas über ihre leiblichen Eltern zu erfahren, alle erfolglos verlaufen: Bei einer Inkognito-Adoption, wie ihre es gewesen war, erfuhr man auf offiziellem Weg weder den Namen der Eltern noch den Geburtsort.
Adda, Juist 1943, las sie auf der Rückseite des Fotos. Endlich eine Information. Ein Anfang.
Sie begann noch am selben Abend mit ihren Recherchen und erfuhr durch das Internet, dass Juist eine kleine autofreie Insel in der deutschen Nordsee war, eingeklemmt zwischen Borkum und Norderney, gerade einmal siebzehn Kilometer lang und fünfhundert Meter breit, eine ehemalige Sandbank. Ebbe und Flut, die zweimal am Tag wechselten, bestimmten das Leben der weniger als 1800 Inselbewohner, die zumeist seit Generationen dort zuhause waren. Die Wahrscheinlichkeit, dort einen Verwandten aufzuspüren, dürfte nicht gering sein, dachte Helen und spürte, wie Hoffnung in ihr aufkeimte. Zumal die Insel während des Krieges, als das Foto aufgenommen wurde, offenbar für Nichtinsulaner gesperrt gewesen war. Das Mädchen auf dem Foto musste demnach von Juist stammen. Ihre Mum hatte recht: Es war an der Zeit herauszufinden, wer sie damals verlassen hatte und warum.
Keine Woche später stand Helen am Flughafen von Napier, um einmal halb um den Globus zu fliegen. Zum Abschied legte ihre Mutter ihr eine Halskette mit einem maorischen Jadestein um, die sie auf der Reise beschützen sollte. »Du wirst deinen Platz in der Welt schon finden«, rief sie ihr mit fester Stimme nach, bevor Helen durchs Gate verschwand. Doch Helen ließ sich von dieser betonten Gelassenheit nicht täuschen: Sie hatte die Tränen in den Augen ihrer Mutter gesehen.
Helen war noch nie in Deutschland gewesen, nicht einmal in Europa. Und als sie nach zwei Tagen Schlaflosigkeit, in denen sie drei Kontinente überflogen hatte, völlig benommen aus der Fähre gestiegen war, hatte sie das entrückte Gefühl gehabt, tatsächlich in der Vergangenheit gelandet zu sein. Es war neun Uhr morgens gewesen, und mit ihr hatten Hunderte anderer Passagiere den Hafen von Juist verlassen. Einige von ihnen waren in Pferdekutschen gestiegen, andere hatten einen Bollerwagen für ihr Gepäck genommen, kein Auto weit und breit, nur Fahrräder, egal, wohin sie auch geblickt hatte.
Links neben dem Strandaufgang stand der Platz auch jetzt voller Fahrräder. Kaum eines war abgeschlossen, dachte sie, als ihr Telefon vibrierte. Sie holte das Handy aus der Tasche. Eine Textnachricht von ihrer Mum. In Neuseeland musste es gerade drei Uhr morgens sein. Hast du schon mein Päckchen geöffnet, mein Schatz?, las sie. Wenn du mich brauchst, ich bin immer ganz in deiner Nähe. Helen schluckte. Ihre Mum hatte die Angewohnheit, ihr Tim Tams, ihre Lieblingsschokolade, oder andere kleine Präsente mit auf Reisen zu geben, für den Fall, dass sie das Heimweh packte. Am Flughafen hatte sie ihr ein Päckchen in die Hand gedrückt, das sie sofort in der Seitentasche ihres Rucksacks verstaut und tatsächlich vergessen hatte. Wie gut sie jetzt ein Stück Trostschokolade gebrauchen könnte, dachte Helen und nahm stattdessen das Brötchen aus der Tüte. Aus dem Nichts kam eine Möwe angeflogen und klaute es ihr aus der Hand. Sie merkte, wie wieder Tränen in ihr aufstiegen.
Helen blickte der Möwe hinterher und dachte an Fraukes Worte. Wo es etwas zu holen gibt, kreisen die Möwen. Als wäre Helen nur darauf aus, der Familie das Beste vom Teller zu klauen. Aber Fräulein Aber!, hörte sie plötzlich die Stimme ihrer Mum im Ohr. Sie kannte sie besser als irgendwer sonst und wusste, dass sie nicht so schnell klein beigab. Helen atmete tief ein und blickte zum Himmel. Ihr waren Möwen lieber, die höher flogen. Denn die sahen nicht nur das, was ihnen schmeckte. Sondern das große Ganze, und das sollte sie auch tun. Vielleicht war es leicht gewesen, sie als Säugling wegzugeben; aber als Erwachsene würde sie sich nicht so einfach fortjagen lassen.
Wenn es nach Adda gegangen wäre, sie hätte mit dem Essen gern noch etwas gewartet. Aber ihrem Mann konnte man das fremde Mädchen erst mal nur in kleinen Dosen servieren. So kurz vor seinem Ehrentag flatterten seine Nerven, und er zog sein Kriegsbein auffällig nach, wie oft, wenn ihm etwas die Laune verhagelt hatte. Das »Beinbarometer«, wie sie es hinter Eduards Rücken nannten, war so zuverlässig wie die Abfolge von Ebbe und Flut, und hinkte er, dann war es klüger, in Deckung zu gehen. Adda hat ihre eigenen Methoden, Eduard wiederaufzurichten. Ein voller Magen war schon mal ein Anfang.
Sie strich Eduards Weste glatt und klingelte nach Auguste, die seit vierzig Jahren im Dienst der Familie stand, damit sie servierte. »Was steht ihr hier herum wie bestellt und nicht abgeholt«, blaffte Eduard ungeduldig und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Unverfroren, so hereinzuplatzen!«, murmelte er und schüttelte den Kopf.
Die anderen setzten sich ebenfalls an den dunkelroten Mahagonitisch. Sie befanden sich im Wintergarten des Familientraktes, einem Anbau aus den sechziger Jahren, zu dem die Hotelgäste keinen Zutritt hatten. An der schmalen Seitenwand hing ein großformatiges gerahmtes Bild vom Watt, die Fensterbänke hatte Adda mit Muscheln, Strandgut und Sand dekoriert. Von der Decke hing eine englische Tiffany-Leuchte, deren bunte Glasornamente geometrische Muster auf den Tisch warfen, wenn das Sonnenlicht sie traf. Adda liebte diese wechselnden Lichtspiele, die wie ein Sonnengruß den Raum immer wieder neu arrangierten.
Der Schock steckte ihr noch in den Gliedern. Helen zu sehen war, wie in den Spiegel ihrer eigenen Jugend zu blicken. Da war nichts Fremdes gewesen, nichts, was sie nicht schon einmal gesehen hatte. Die ovale Gesichtsform, die glänzenden langen dunklen Haare, die schlanke Silhouette. Selbst Helens Art, ihre Augenbrauen hochzuziehen, erschien ihr vertraut.
Geklirr riss Adda aus ihren Gedanken. Auguste, rund, rotgesichtig und sommersprossig, schwenkte mit dem Hintern voran durch die Tür, in den Händen eine riesige Porzellanschüssel, in der zahlreiche Fischstücke schwammen, und tat jedem von ihnen schweigend auf. Sie trug einen schwarzen Rock, eine gestärkte weiße Bluse und eine grüne Weste mit Namensschild. Eduard legte Wert auf Etikette, und dazu gehörte, dass das Personal, ob Zimmermädchen, Kellner oder Koch, selbst die Kießling’schen Privaträume nur in makellos gepflegter Hoteluniform betrat.
Adda nickte ihr abwesend zu. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass es noch jemanden geben könnte, der zu ihrer Familie gehörte, zu ihr. Woher kam Helen, und warum tauchte sie gerade jetzt auf? Wer waren ihre Eltern? Lebten sie noch? Und warum hatten sie ihr Kind zur Adoption freigegeben? In Addas Kopf hämmerte es so stark, dass sie ihre Schläfen massieren musste.
Adda besann sich, setzte ein Lächeln auf und klatschte in die Hände. »Sieht ja köstlich aus«, sagte sie. »Auf dich und deinen Ehrentag, Eduard.« Sie hob ihr Glas. Eduards Bedeutung hervorzuheben bewährte sich auch dieses Mal. Sein Mund, eben noch zu einem engen Schlitz verzogen, entspannte sich augenblicklich. In den Gläsern war ein Riesling, den Marijke ihnen aus Napa Valley mitgebracht hatte. Frauke kostete und spitzte die Lippen. »Hätte es nicht auch ein einfacher Riesling von der Mosel getan?«
Marijke sah ihre Schwester ausdruckslos an, nippte an dem Wein und erwiderte versöhnlich: »Du hast recht, Frauke, mein Fall ist der auch nicht. Nächstes Mal teste ich ihn vorher.«
Es war alles wie immer. Adda staunte, wie wenig sich mit den Jahren geändert hatte. Noch immer fühlte Frauke sich durch alles, was ihre Schwester sagte oder nicht sagte, verletzt und stichelte auf altgewohnte Weise. Woher Marijke plötzlich diese Besonnenheit nahm, wusste Frauke nicht, aber mit ihr schien sie Frauke nur noch mehr gegen sich aufzubringen. Sie verzog das Gesicht, als hätte Marijke ihr eine Ohrfeige verpasst. An Thedas Schweigen in diesen Situationen war man gewöhnt.
»Hast du deine Tablette genommen, Eduard?«, fragte Adda, um das Thema zu wechseln. Eduard nickte, und viel mehr gab es dazu nicht zu sagen. Adda wandte sich an ihre Jüngste.
»Ich freue mich so, dass du hier bist, Marijchen«, sagte sie, auch wenn ihr das einen verschnupften Blick von Frauke einbrachte. Aber sie wollte unbedingt vermeiden, dass wieder über das fremde Mädchen gesprochen wurde. Sie hatte keine Lust, sich die wilden Verschwörungstheorien ihrer Töchter und ihres Mannes anzuhören; lieber würde sie erst einmal selbst in aller Ruhe über diese Helen nachdenken.
»Wann dann, wenn nicht zu so einem Anlass, stimmt’s, meine Lütte!«, ergänzte Eduard lächelnd, trank einen Schluck und fischte mit seinem Löffel im Topf nach einem großen Stück Dorsch, das er zufrieden auf seinen Teller beförderte. »Wie weit ist dein Freund eigentlich mit der Festchronik?«, fragte er. »Sollte ich sie nicht gestern schon auf dem Schreibtisch haben?«
»Das hat er mir auch versprochen«, sagte Marijke rasch. »Ich kümmere mich darum. Aber es ist gerade ein bisschen schwierig mit ihm.«
»Wann ist es das nicht?«, meinte Frauke augenrollend und setzte ihr Glas wieder ab. Ihre Suppe hatte sie noch nicht angerührt. »Wie lange beehrst du uns diesmal?«
»So lange …« Marijke stockte. »So lange es sich richtig anfühlt«, sagte sie dann und prostete den anderen zu. »Nehmen wir die Dinge, wie sie kommen.«
»Also dann: Auf die verlorene Tochter«, sagte Theda freundlich und nahm einen Schluck. Adda zuckte zusammen.
»Na, das bezweifle ich aber stark«, sagte Frauke barsch und zog die Augenbrauen zusammen. »So eine Unverschämtheit, hier einfach …«
»Ich meinte Marijke«, versuchte Theda sich zu rechtfertigen.
Eduard tat, als würde ihn das alles nichts angehen. Vermutlich hörte er gar nicht mehr zu. Wenn er aß, dann aß er, und wenn er früher bei der kleinsten Unstimmigkeit ausgerastet war, ließ er sich heute nicht mehr so leicht aus der Ruhe und um das Vergnügen eines guten Mittagessens bringen.
Frauke machte noch immer keine Anstalten, etwas zu sich zu nehmen. Adda bemerkte den Blick, den Theda und Marijke tauschten, ohne eine Miene zu verziehen. Sie kannten ihre Schwester und wussten, dass sich mit der Kostverweigerung meist eine längere, aufreibende Verstimmtheit ankündigte.
»Iss doch, bevor die Suppe noch kalt wird«, sagte Theda in der Hoffnung, das Erwartete noch abwenden zu können, und lächelte ihrer Schwester aufmunternd zu. Doch Frauke verschränkte die Arme, drehte den Oberkörper leicht zur Seite und läutete damit die nächste Stufe der Auseinandersetzung ein. Um des lieben Friedens willen knickten an diesem Punkt meist alle ein und gaben in angespanntem Schweigen nach.
Doch Marijke war anders, und sie war jetzt hier.
»Sie sieht dir so ähnlich, Mutti«, sagte sie und legte den Löffel beiseite.
Frauke schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Dein Ernst?«, woraufhin Theda laut seufzte.
»So viele Zufälle gibt’s doch gar nicht. Wollt ihr denn nicht wissen, was hier los ist? Es geht doch auch um unsere Familie!«
Als hätte Frauke auf dieses Stichwort gewartet, richtete sie sich ruckartig auf. »Vom bösen Mädchen zur Klassensprecherin, wie?« Die Anklage in ihrer Stimme ließ Adda jedes Mal zusammenzucken. »Willst du etwa auf einmal auf Familie machen, oder was? Wo warst du denn, als Mattes mich betrogen hat oder Papa mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus nach Norden ausgeflogen werden musste?« Frauke presste die Lippen fest zusammen und begann, viereckige Fischstückchen akribisch auf ihrem Tellerrand zu stapeln.
»Verdacht auf Herzinfarkt«, protestierte Eduard und tunkte sein Brot in die Suppe.
»Frauke«, versuchte es Theda in ihrer sanften Therapeutinnenstimme. »Wir waren immer für dich da. Und ich kann verstehen, dass du dich so aufregst. Wir stehen alle unter Schock.« Doch Frauke quittierte Thedas Einwand nur mit einem Stöhnen.
Adda war der Appetit vergangen, sie schob ihren Teller weg. Sie hatte es satt, dass alle wie auf Eierschalen um Frauke herumschlichen, und sie hätte ihre Tochter gerne gefragt, wie lange sie diesmal die Beleidigte spielen wollte. Stattdessen bemühte sie sich nun, Johanne zu wecken, die in ihrem Rollstuhl neben ihr saß und leise schnarchte.
»Mutter, du musst was essen«, flüsterte sie leise. Doch Johanne träumte stur weiter.
Wie oft hatte sie Frauke gebeten, es mit Antidepressiva zu versuchen, wenn sie schon keinen Therapeuten aufsuchen wollte. Doch an ihrer fortlaufend schlechten Laune waren, soweit es Frauke betraf, meist die anderen schuld, und den Rest ihrer Probleme, ihre außergewöhnlich hohe Sensibilität, das Übergewicht und die trockene Haut begründete sie mit einer Schilddrüsenproblematik, ohne je einen Arzt zu ihrem Verdacht konsultiert zu haben. Fraukes Ausflüchte vernebelten langsam Addas Verstand. Mit den Jahren waren ihr Mitgefühl und ihre Gelassenheit schlicht aufgebraucht. Dabei war ihr nur zu bewusst, welchen Anteil sie an Fraukes Unglück hatte. Wie konnte sie es ihr also verübeln, wenn Marijkes oder Helens Auftauchen sie aus der Bahn warfen? Frauke reagierte ja lediglich so, wie sie es immer tat, wenn sie das Gefühl hatte, jemand würde ihr etwas wegnehmen, das ihr zustand.
»Wovor genau hast du Angst? Dass es doch eine heimliche Tochter gibt?«, fragte Marijke nun ganz direkt und sah Frauke in die Augen. »Wäre das so schlimm?«
»So weit kommt es noch«, knurrte Eduard.
Marijke lachte laut auf. »Ach Vati!«
Bei Frauke öffneten sich plötzlich alle Schleusen. Das hatte Adda zum letzten Mal erlebt, als ihre Tochter sich von Mattes getrennt hatte.
»Ich kann einfach nicht mehr«, presste sie heftig schluchzend hervor. »Lasst mich doch alle in Ruhe.« Theda sprang auf und nahm sie tröstend in den Arm. Von einem Tag auf den anderen hatte Fraukes Sohn Arne einen Posten in der Reederei Juista in Norden angenommen. Bis dahin hatte der fast Dreißigjährige den Kronprinzen seines Großvaters gespielt. Adda glaubte allerdings, dass ihr Mann sein kleines Reich nicht länger teilen wollte und ihren Enkel ohne sein Einverständnis aufs Festland abkommandiert hatte. Das dürfte auch Frauke nicht entgangen sein.
Eduard schüttelte den Kopf. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?« Er knüllte die Serviette zusammen. »Reiß dich zusammen, Kind!« Er tätschelte kurz Fraukes Arm, wie um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Dann wandte er sich an Auguste, die in der Tür stand. »Dann bring uns mal einen Dornkaat.«
Ein Dornkaat wie ein Ausrufezeichen. Adda wusste, dass Eduard damit das Thema zu beenden gedachte. Jedes weitere Wort würde verpuffen. In Eduards Welt setzte der Schnaps einen Strich unter Vertragsverhandlungen, unliebsame Themen und Ehen. Als Frauke vor zwei Jahren weinend in ihrem Wohnzimmer gestanden hatte, nachdem sie Mattes mit einem russischen Zimmermädchen erwischt hatte, hatte Eduard seinen Schwiegersohn zu sich gerufen, ihm in aller Ruhe einen Schnaps angeboten und ihm dann in zwei knappen Sätzen die Ehe mit seiner Tochter und den Job im Familienunternehmen aufgekündigt. Und jetzt auch noch Arne!
Frauke stierte stumm auf ihren Teller, Tränen rannen ihr über die Wangen. Für einen Augenblick herrschte Stille. In dieses Schweigen hinein trat Auguste mit einem Tablett gefüllter Gläser und reichte es herum.
»Soll ich dir deinen Stock holen?«, flüsterte Theda Eduard zu, nachdem er seinen Schnaps heruntergekippt hatte und Anstalten machte aufzustehen.
»Pah!«, schnaubte er und ließ seine Serviette fallen. »Zeit für die Mittagsstille.«
Marijke ging zu ihm und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Ruh dich schön aus, Vati!« Sie grinste ihn an. »Und träume von deiner heimlichen Enkeltochter!«
»Du nun wieder«, sagte er kopfschüttelnd und verließ das Esszimmer mit festem Schritt.
Theda und die noch immer lautlos schluchzende Frauke folgten ihm.
Adda rührte sich nicht von ihrem Stuhl. »Ich bleibe noch. Johanne hat noch nichts gegessen.« Bei dem Klang ihres Namens schlug Johanne die Augen auf.
Marijke hob die Serviette vom Boden auf und musterte ihre Mutter. »Kann ich was für dich tun?«, fragte sie.
Adda winkte ab. »Nein, lass mal. Das schaffe ich allein.«
Bevor Adda ihrer Mutter einen Löffel Suppe in den Mund schob, pustete sie darauf und testete die Temperatur mit gespitzten Lippen. Wie bei meinen Töchtern, als sie klein waren, dachte sie. Ob Johanne, die immer so selbstständig und stark gewesen war, sich gedemütigt fühlte, von ihrer Tochter gefüttert zu werden?
Ihre Mutter hatte gute Tage, klare Tage, an denen sie Messer und Gabel wie eine Dame aus der besseren Gesellschaft führte und sich selbst an unwichtigste Details aus ihrem Leben erinnerte, die sie, immer noch ganz die Alte, dann nur zensiert mit ihnen teilte. Es war eher die Gegenwart, die sie vergaß, was Adda nur zu gut verstehen konnte. Warum sich an die eigene Vergänglichkeit erinnern, wenn man sich auch an den Momenten erfreuen konnte, als man das Leben noch vorwärts lebte? Wer so alt wurde, musste über eine robuste Abwehr verfügen, in jeder Hinsicht, und über die Fähigkeit, die Gesetze der Zeit zu unterlaufen.
Adda wünschte sich oft, wie ihre Mutter nur an bessere Zeiten denken zu können. Doch es gelang ihr nicht. Für Adda war Vergessen schon immer ein ungeheurer Kraftakt gewesen, für den ihr inzwischen schlicht die Kraft fehlte. Es schien so verlockend, einen farbigen Schleier über ihre düsteren Gedanken zu legen, und sie versuchte es wirklich. Am Ende jedoch waren die Episoden, in denen sie die Protagonistin in einer von ihr selbst konstruierten Erzählung war, rar gesät und das Erwachen aus der Fantasievorstellung schlimmer. Die Erinnerung ließ sich nicht austricksen. Da genügte ein Blick auf einen tapsigen Neufundländer, eine Zimtschnecke oder auf eine zerzauste Puppe, der der kleine Finger an der linken Hand fehlte, und der Schmerz war zurück. Als würde man einer Hydra den Kopf abschlagen, nur um sogleich zwei neue Köpfe präsentiert zu bekommen, die einem mit einem Lächeln im Gesicht sogar das Unsagbare ins Gedächtnis riefen.
Vor dem Fenster hörte Adda spielende Kinder. Adda strich Johanne über den Kopf.
»Mama, wer ist Gustav?«
Ein zartes Lächeln erhellte Johannes Gesicht. Sie blieb stumm, während sich ihr Lächeln langsam im Nirgendwo verlor. Ihre rechte Hand begann zu zittern. Adda streichelte die dünnen Finger, bis das Zittern nachließ.
»Wer ist Gustav?«, versuchte sie es noch einmal. Johanne sagte nichts, aber die Knöchel an ihren Händen waren weiß vor Anspannung.
Das bleiche Gesicht ihrer Mutter verzog sich, sie stöhnte. Dann versank sie wieder in Teilnahmslosigkeit.
»Willst du mir nicht sagen, was dich so quält?«, fragte Adda sie leise. Als Johanne nicht reagierte, wollte Adda sie gerade hinausschieben, da wandte diese ihr ruckartig den Kopf zu, sah sie mit klarem Blick an und erwiderte mit fester Stimme: »Ja, das kann ich dir sagen!«
»Schau dich nur an«, sagte ihr Vater mit heiserer Stimme und ließ seinen Blick an Johanne hinabgleiten. »Wir Ehlers’ sind eine anständige Familie. Also benimm dich auch entsprechend und zieh dich um. Du siehst aus wie eine Dirne.«
Ebbo Ehlers, ein hagerer, blasser Mann in zerbeultem Anzug, schien angesichts ihres neuen Kleides mit einem Mal nüchtern zu sein. Wie immer, wenn ihr Vater sie herunterputzte, biss Johanne sich auf die Nägel und verfluchte die Worte, die ihr in der Kehle hingen, aber nicht hinauskonnten. Jahrelange Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Protest oder Tränen nichts bewirkten. Warum konnte er ihr seine Schimpfereien nicht einmal an ihrem sechzehnten Geburtstag ersparen? Nächtelang hatte sie an der alten Singer-Nähmaschine ihrer Mutter gesessen und an diesem Kleid gearbeitet, wie es gerade in Berlin oder Paris getragen wurde. Sie hatte es aus hellgrünen Stoffresten nach einem Muster aus der Praktischen Mode geschneidert: schmal geschnitten, wadenlang, mit Taillengürtel und Puffärmeln. Das Kleid war ein Geschenk an sie selbst. Im Grunde war es das erste feine Kleid, das sie besaß. Die dunkle Kittelschürze, die sie gewöhnlich trug, war nicht mehr als die Uniform eines Dienstmädchens. Ebbo lachte bitter, er war noch nicht fertig mit ihr. »Ganz die Mutter.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand er, das rechte Bein hinter sich herziehend, hinter der Tür des Diesseits. So hieß das Hauptgebäude der Schule am Meer, an der er als Hausmeister arbeitete. Johanne blieb allein auf dem Schulhof zurück. Ihre Lippen zitterten. Sie presste sie fest aufeinander und warf ihrem Vater einen wütenden Blick hinterher. Am liebsten hätte sie ihn in dem trockengefallenen Schiff verrotten lassen, in dem sie ihn heute am frühen Morgen nach einer durchzechten Nacht im »Alten Seehund« gefunden hatte. Besser noch, er wäre von der auflaufenden Flut weit aufs Meer hinausgetrieben worden und für immer verschollen. Jede Woche dasselbe Spektakel: Sobald ihr Vater am Freitag seine gelbe Lohntüte nach Hause brachte, marschierte er in den Alten Seehund, schmetterte mit seinen Trinkkumpanen das Horst-Wessel-Lied und versoff sein Geld schneller, als er es verdient hatte.
Wie ein Toter hatte Ebbo auf dem von Moos und Algen überwucherten Kahn gelegen. Sein rechtes Bein ragte steif über die Reling. Angewidert hatte sie ihn an der Schulter gepackt und wachgerüttelt. Sie hatte es so satt, seinem Zorn, seinen Saufeskapaden und seiner gelegentlichen Gnade ausgeliefert zu sein.
»Auf unseren Führer«, hatte er seiner Tochter mit einem imaginären Glas zugeprostet; sein Atem aus Dornkaat und Kautabak ließ Johanne würgen.
»Unser Führer, Adolf Hitler, trinkt keinen Alkohol und raucht nicht«, hatte sie leise das Propagandaschild der NSDAP zitiert, das an der Bahnhofshalle vor dem Kurplatz prangte. Aber Ebbo war schon wieder weggedämmert.
Ohne sie würde er längst auf der Straße sitzen und Badegäste um Pfennige anbetteln. Ständig musste Johanne ihm aus der Patsche helfen. Kaum hatte sie Feierabend im Hotel de Tiden, wo sie seit zwei Jahren für 30 Mark im Monat als Dienstmädchen arbeitete, harkte sie an seiner statt den Schulhof, fegte die Klassenräume aus und fütterte die Hühner oder das Pony Lottchen.
Durch die bodentiefen Fenster sah sie ihn nun umständlich die Stühle für das Frühstück herunterstellen. Der Gong riss sie aus ihren Gedanken. Wie jeden Morgen um sechs Uhr schlug Schulleiter Martin Luserke gegen seine burmesische Kupferschale.
Gleich darauf sang Lu, wie er von allen genannt wurde, nach alter Seefahrerart »Reise, Reise, aufstehen« durch seine Flüstertüte, während er Schlaftrakt um Schlaftrakt abschritt.
Lu war ein schriftstellernder Pädagoge mit dem Herzen eines Poeten. Als kleines Mädchen hatte sie auf seinem Schoß gesessen, während ihre Mutter in der Schulküche Kaffee und heiße Schokolade für sie kochte. Wenn er von der Krake erzählte, seinem Segelboot, dann stand an dessen Steuer Johanne und bereiste die Weltmeere, um sie von Seeungeheuern und bösen Piraten zu befreien. Jedes Mal eine andere Geschichte, immer mit gutem Ausgang.
»Und ich habe das ganz allein geschafft?«, fragte sie ihn ein ums andere Mal. Er strich ihr mit dem Finger über die Nase und versicherte: »Mein kleines Inselmädchen kann alles schaffen, alles, was es will, weil es viel schlauer und stärker ist, als sein hübsches Näschen verrät.«
Johannes Wut verwandelte sich in Traurigkeit ob all der Versprechen und vergeblichen Hoffnungen. Ihre Mutter war schon lange fort und würde auch nicht wiederkommen. Noch vor ein paar Jahren hatte sich dieser Ort nicht retten können vor Schülern aus ganz Deutschland; die Eltern hatten Lu geglaubt, dass er ihre Kinder »in der poetisch anmutenden Verlassenheit und Kargheit der Insel, auf diesem aus der Zeit gefallenen Stück Paradies, weit weg von den großen Krisen der Welt« zu freien und selbstständig denkenden Persönlichkeiten erziehen würde.
Jetzt steckten immer mehr Schüler in lächerlichen HJ-Uniformen und marschierten stramm wie Soldaten über die Insel. Fast alle jüdischen Schüler und Lehrer hatten das Weite gesucht. Am schwarzen Brett der Kurhalle hingen antisemitische Gedichte, am Strand flatterten schwarz-weiß-rote Flaggen, und auf den Sandburgen prangte das Hakenkreuz wie in Granit gemeißelt. Lus Stimme unterbrach ihre Gedanken. »Windstärke 3, Hoch über England, drei Dampfer querab. In fünf Minuten auf dem Schulhof!«