Die vierte Wand - Maja Ilisch - E-Book

Die vierte Wand E-Book

Maja Ilisch

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Beschreibung

Eine Welt voller Puppenhäuser Seit sie zurückdenken kann – und sie kann sich, findet Fox, schon ziemlich lang erinnern – lebt Fox mit ihrer Familie in diesem Haus, und jeder Tag ist wie der andere. Bis plötzlich ein seltsames Päckchen im Flur liegt, adressiert an Fox, mit einem Brief ohne Absender und einem Buch. Doch dieses Buch ist anders als jedes, das Fox kennt. In ihm stehen Wörter. Das Buch gibt ihr neue Bilder in den Kopf, neue Gedanken, neue Fragen. Kurzentschlossen klettert Fox aus dem Fenster hinaus in die unbekannte Welt – und findet sich neben ihrem Puppenhaus wieder, in einem Haus, das beinah so ist wie ihr eigenes … Ein wunderbar philosophisches Kinderbuch über das Geschichtenerzählen, die Wirklichkeit, und die Frage, was jenseits des Sichtbaren liegt. Die vierte Wand: Ein fantastisches Kinderbuch mit Klassikerpotenzial! - Zwischen Fantasie und Realität: Eine fantastische Geschichte für Kinder ab 10 Jahren, die zeigt, dass das Abenteuer manchmal nur einen Blickwinkel weit entfernt liegt. - Magisch und tiefgründig: Die kleine Fox entdeckt geheimnisvolle Puppenhäuser, die mehr gemeinsam haben, als es zunächst den Anschein hat. - Inspirierend: Das Kinderbuch regt die Fantasie an und lädt dazu ein, Fragen zu stellen und über das Bekannte hinauszudenken. - Preiswürdig: Das beeindruckende Kinderbuch der ausgezeichneten Autorin Maja Ilisch ("Unten") wandelt auf den Spuren großer Kinderbuch-Klassiker.Das atmosphärische Kinderbuch von Maja Ilisch lädt junge Leser*innen ab 10 Jahren ein, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und von dem Unmöglichen zu träumen. Ein gleichermaßen spannendes und berührendes Leseerlebnis. .  

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses Buch

Seit Fox denken kann, ist jeder Tag in ihrem Leben wie der andere. Niemand verlässt das Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebt, und niemand kommt zu Besuch. Bis plötzlich ein seltsames Päckchen im Flur liegt: adressiert an Fox, darin ein Brief ohne Absender und ein Buch. Doch dieses Buch ist anders als alle, die sie jemals gesehen hat. In ihm stehen Wörter.

Fox beginnt, Fragen zu stellen. Wieso essen sie immer von leeren Tellern? Warum feiert sie jedes Jahr ihren elften Geburtstag? Und was ist draußen? Kurzentschlossen klettert Fox aus dem Fenster in die unbekannte Welt und landet draußen …

… oder?

1

Die Puppen antworteten nicht. Die Puppen antworteten nie, und Fox konnte gar nicht sagen, wie froh sie darüber war. So war alles, was man hören konnte, die leise Stimme ihrer kleinen Schwester.

»Möchten Sie noch eine Tasse Tee, Miss Morris? Ein Stückchen Zucker? Ach, wie reizend von Ihnen!«

Pony schien den Puppen zuzuhören, wartete Antworten ab, nickte und gehorchte und trank Tee aus leeren Tassen. Die Puppen saßen nur da und rührten sich nicht.

Fox hörte ihr eine Weile zu und schüttelte den Kopf. Die ganze Zeit ging das schon so! Erst seufzte Fox noch, blätterte in ihrem Buch und tat so, als ob sie ganz allein war im Schaukelstuhl, dann legte sie doch das Buch beiseite und fragte: »Was spielst du da eigentlich? Und wer ist Miss Morris?«

Pony hatte drei Puppen, und sie hießen Daisy, Poppy und Dahlia. Normalerweise saßen sie auf dem Regalbrett, aber wenn Pony mit ihnen spielte, wurden sie heruntergeholt – was eigentlich jeden Tag nach dem Unterricht passierte.

»Ich spiele, dass Miss Morris zu Besuch ist«, antwortete Pony irgendwo zwischen todernst und erstaunt. »Und wir trinken Tee.«

»Aber wir bekommen doch nie Besuch!«, erwiderte Fox.

Pony nickte. »Darum spiele ich es ja auch.«

Vielleicht war das der Moment, in dem sich Fox zum ersten Mal ein kleines bisschen wunderte. Sie bekamen niemals Besuch, und sie besuchten auch niemals jemanden, aber das war es nicht, worüber Fox sich wunderte. Sie wunderte sich, woher Pony dann überhaupt die Idee genommen hatte. Aber sie wunderte sich nicht lange. Pony konnte spielen, was sie wollte, solange sie dabei Fox mit ihrem Buch nicht störte, und da Pony, wie sich das gehörte, beim Spielen leise war, damit sie das Baby nicht weckte, sollte das dann auch Fox nichts ausmachen.

Es war ein Tag wie andere Tage – wie alle Tage, seit Fox sich erinnern konnte, und sie erinnerte sich, fand sie, schon ziemlich lange zurück. Fox saß im Schaukelstuhl und blätterte in einem Buch, und ihre kleine Schwester saß neben dem alten Puppenhaus, das sie nicht anrühren durften, auf dem Teppich und spielte mit ihren Puppen. Das Baby war auch da, aber es spielte nicht, es lag in seiner Wiege und schlief, auch das wie immer. Das Baby sprach noch nicht und spielte noch nicht. Und wahrscheinlich hatte es ein ziemlich langweiliges Leben, aber das sollte Fox’ Sorge nicht sein, sie war ja selbst kein Baby, und sie hatte ihr Buch, und alles war gut. So wie immer, und gut. Besser als anders und schlecht.

»Lassen Sie mich Ihren Stuhl zurechtrücken, Miss Morris!«, sagte Pony, und Fox schielte unauffällig über den Rand ihres Buches, um zu sehen, welche der Puppen denn nun diese Miss Morris sein sollte. Es war Poppy. Fox versuchte, sich das zu merken, für später, falls es noch einmal wichtig sein sollte. Sie fragte sich, wie Pony auf diesen Namen gekommen war, schüttelte den Kopf und fühlte sich sehr erwachsen, aber sie war ja auch die Große. Nicht groß genug, um mit ihrem Buch irgendwo anders sitzen zu dürfen als im Kinderzimmer, aber immerhin groß genug, um ein Buch zu haben und nicht mehr mit Puppen zu spielen.

Ein kleines bisschen beneidete Fox Pony um ihre Puppen, und ein kleines bisschen fing sie an, sich zu langweilen, doch zu mehr kam sie nicht, als von unten die Glocke ertönte, die sie sonst immer zum Essen rief. Nur war es noch viel zu früh zum Abendessen, und das Mittagessen hatten sie schon hinter sich. Fox und Pony blickten einander an und zuckten die Schultern, und sie beeilten sich, zur Treppe zu kommen.

Unten stand Mutter. Ihr Gesicht war streng, und sie hielt etwas in den Händen, das Fox nicht erkennen konnte.

»Was soll das?«, fragte sie. »Fox, Pony, wer von euch hat die Glocke geläutet? Und was hat das hier zu bedeuten?«

Fox schüttelte den Kopf, während sie die Treppen hinunterlief. »Ich war es nicht!«, rief sie. »Wir waren es beide nicht! Wir waren die ganze Zeit oben.«

»So?«, sagte Mutter. »Das sagst du jetzt! Aber du hast das hier verloren.« Sie streckte Fox ein kleines Päckchen hin, eingeschlagen in braunes Papier und verschnürt mit einer Kordel. »FOXGLOVE«, hatte jemand in großen Buchstaben darauf geschrieben.

Fox starrte das Päckchen an und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass das ihr Name war, ihr richtiger Name. Es war Ewigkeiten her, seit ihn zuletzt jemand benutzt hatte, so lange, dass Fox sich nicht einmal mehr erinnern konnte, wann das gewesen sein sollte. Jeder, selbst der Lehrer, nannte sie immer Fox, genauso, wie Pony immer nur Pony war, aber in Wirklichkeit hießen sie beide nicht wie Tiere, sondern wie Blumen. »Alle Mädchen müssen wie Blumen heißen«, sagte Großmutter immer, und sie musste es wohl wissen. Nur waren irgendwann alle schönen Blumennamen schon vergeben, und so hieß Fox dann Foxglove, wie der Fingerhut, und Pony Peony, wie die Pfingstrose. Selbst Ponys Puppen hatten bessere Namen abbekommen, aber die waren auch schon alt, älter als das Haus selbst, älter als Großmutter, und wenn das Baby einmal selbst Enkel hatte, würden die Puppen immer noch da sein. Aber wen interessierten die Puppen? Die Puppen waren schon immer da. Dieses Päckchen hatte Fox noch nie gesehen. Und doch stand ihr Name darauf.

»Was ist das?«, fragte Fox. »Ist das für mich?«

»Es lag auf dem Läufer bei der Tür«, sagte Mutter. »Jetzt tu nicht so, als ob du das nicht genau wüsstest!«

Fox hob die Hände. »Aber ich weiß es wirklich nicht! Ich war nicht unten, ich schwör’s, ich habe nicht geläutet, und ich habe nichts vor die Tür gelegt.« Ihr kam eine Idee. »Vielleicht … Vielleicht ist ja jemand zu Besuch gekommen?« Miss Morris. Die echte Miss Morris. Es gab sie wirklich. Oder zumindest jemanden, der kam, ein Geschenk für Fox daließ und wieder verschwand. »Darf ich es haben, bitte? Es steht mein Name darauf, und du sagst ja selbst, es ist meines.«

Neben ihr schniefte Pony. »Und was ist mit mir?«, fragte sie. »Warum bekomme ich nichts?«

Mutter stand immer noch da mit dem Päckchen fest in beiden Händen. »Ihr bekommt es unter einer Bedingung«, sagte sie und zwinkerte, als ob sie selbst nicht verstand, was da gerade passiert war, aber sich fest vorgenommen hatte, sich über nichts im Leben zu wundern. »Ihr teilt euch das, was darin ist, wie Schwestern.«

»Aber es steht mein Name darauf!« Fox konnte es zumindest versuchen. Es hatte keinen Sinn, das wusste sie, und wenn sie sich nicht auf das Teilen einließ, bekam sie am Ende gar nichts. »Also gut«, sagte sie daher. »Aber ich will es auspacken.«

Mutter schüttelte den Kopf. »Ich muss sehen, was es ist«, sagte sie, »was hier so einfach vor der Tür landet.«

Und bevor Fox auch nur protestieren konnte, löste sie schon die Kordel und riss das Papier herunter, dass sich ein großer Riss quer durch Fox’ Namen zog. Fox biss sich auf die Zunge vor Enttäuschung. Und sie konnte nur hoffen, dass, wer immer ihr da Geschenke machte, es beim nächsten Mal an eine Stelle legte, wo Mutter es nicht finden konnte.

Es war ein Buch. Und mit der Feststellung drückte Mutter es Fox in die Hände, und Pony verzog enttäuscht das Gesicht. Es gab viele Bücher im Haus, ein ganzes großes Regal voll, aber niemand kümmerte sich jemals um sie, bis auf Fox. Und damit war dann auch klar, warum ihr Name darauf stand. Tatsächlich hätte es gereicht, da ein Buch hinzulegen, und es wäre bei Fox gelandet. Vater las am Morgen und Abend die Zeitung, aber Bücher – Bücher waren für Fox, immer.

Fox nahm das Buch und drückte es an sich. Die Glocke hatte inzwischen auch die anderen Bewohner des Hauses angelockt, bis auf das Baby, natürlich. Da kam Großmutter aus dem Salon und Koch aus der Küche und Mister Parker aus dem Schulzimmer und Vater aus dem Studierzimmer, und sie alle wollten wissen, wer sie da gestört hatte.

»Was ist hier los?«, fragte Vater. »Wer läutet jetzt schon? Ist das Essen bereit?«

Koch schüttelte den Kopf. »Das wüsst’ ich aber!«, rief er. »Nein, bis zum Essen ist noch Zeit, und geläutet habe ich nicht.«

»Es waren die Mädchen«, antwortete Mutter. »Sie haben gespielt, dass ein Paket kommt. Fox hat eines ihrer Bücher auf die Fußmatte gelegt –«

»Das habe ich gar nicht!«, protestierte Fox, aber niemand hörte ihr zu.

»Sie hat sogar ihren Namen draufgeschrieben, damit sie es wieder zurückbekommt.« Mutter lachte. »Also, es ist alles in Ordnung. Zurück zur Tagesordnung.«

Fox stand da, hielt das Buch fest mit beiden Händen umklammert, damit es ihr nur ja niemand wegnahm, und starrte die Erwachsenen zornig an. »Es ist wirklich ein Paket gekommen!«, rief sie. »Und es war wirklich für mich.« Aber da zogen sich die Großen auch schon wieder in ihre Zimmer zurück, bis auf Mutter, die Fox noch ein letztes Mal ausschelten musste.

»Wenn ihr unbedingt spielen müsst, dass es klingelt«, sagte sie streng, »dann spielt es nur, hörst du? Nicht wirklich läuten. Ihr stört das ganze Haus dabei. Und ihr wisst doch: Kinder soll man sehen, aber nicht hören.«

Fox nickte nur. Den Spruch hatte sie schon so oft gehört, und er stimmte noch nicht einmal. Meistens sollte man die Kinder noch nicht einmal sehen, darum mussten sie ja immer im Kinderzimmer bleiben. Aber es half nichts, jetzt noch mehr zu protestieren. Sie konnte froh sein, dass sie das Buch behalten durfte – vielleicht war ja sogar ganz gut, dass ihr niemand glaubte. Sonst hätte es am Ende noch einer von den Erwachsenen haben wollen.

»Und jetzt ab ins Spielzimmer mit euch!«

So landeten Fox und Pony wieder da, wo sie angefangen hatten. Die Puppen mussten sich schon langweilen, so ganz allein. Und Fox wollte endlich wissen, was es mit diesem Buch auf sich hatte.

»Manchmal sind die Großen schon merkwürdig«, sagte Pony versonnen. »Wo hätten wir denn das braune Papier hernehmen sollen?«

»Und wo hätte ich lernen sollen, so einen Knoten zu knoten?«, setzte Fox hinzu, ein bisschen traurig, dass ihre Mutter das Papier und die Kordel behalten hatte. Aber immerhin, Fox hatte das Buch. Und sie würde es sich so schnell nicht mehr wegnehmen lassen, auch nicht von ihrer kleinen Schwester, die schon neugierig die Hände danach ausstreckte.

»Mutter hat gesagt, wir sollen es teilen!«

»Jaaa«, sagte Fox gedehnt. »Aber das heißt nicht, dass wir es beide gleichzeitig haben müssen. Ich gebe es dir, wenn ich damit fertig bin.«

»Aber ich …«, fing Pony an, doch Fox ließ sie nicht mehr zu Wort kommen.

»Du hast doch Besuch, um den du dich kümmern musst! Was soll denn Miss Morris denken? Dann kommt sie doch nie wieder!«

Pony seufzte, aber sie wusste, wann sie verloren hatte. Fox setzte sich mit dem Buch in ihren Schaukelstuhl, nicht ohne das andere Buch, das sie da hatte liegen lassen, achtlos beiseitezuschieben. Dann, endlich, konnte sie sich ihr geheimnisvolles Geschenk von allen Seiten ansehen. Ein Buch, eingebunden in rotes Leinen. Es fühlte sich rau unter den Fingern an, als wollte es etwas erzählen, und wenn Fox es ans Ohr hielt, dann schien es wirklich zu flüstern. Und als sie es aufschlug …

Etwas kam aus dem Buch gerutscht. Ein Blatt. Aber in dem Moment hatte sie keine Augen dafür. Sie starrte auf das Buch, auf die erste Seite. Dieses Buch war anders als alle, die Fox jemals zuvor gesehen hatte.

In ihm standen Wörter.

2

In dem Buch standen Wörter. Und als Fox damit fortfuhr, sie anzustarren, ergaben sie einen Sinn. »DIEWUNDERKISTE« stand da in großen Buchstaben und darunter in kleineren: »Abenteuer aus aller Welt«. Fox fuhr die Schrift mit der Fingerspitze nach, erwartete, dass sie jeden Augenblick verschwinden würde, doch das tat sie nicht, sie blieb da stehen, auch dann, als Fox die fremden Wörter leise murmelnd wiederholte. Ehrfürchtig blätterte sie die Seite um: Da standen noch mehr Wörter in noch kleineren Buchstaben, verhießen große, abenteuerliche Abenteuer, die nur darauf warteten, erkundet zu werden.

Fox begannen die Augen zu tränen vor lauter Starren, und sie begriff, dass sie es noch nicht einmal mehr gewagt hatte zu zwinkern, um die Buchstaben nicht zu verscheuchen. Sie hatte alle Bücher gelesen, die im Haus waren – aber das stimmte so nicht, nicht wirklich: Sie hatte alle Bücher im Haus durchgeblättert und sich dabei sehr wichtig und weise gefühlt, weil sie gehört hatte, dass Bücher schlau machten, aber wofür sie wirklich da sein sollten, das hatte Fox nie verstanden.

Sie standen Seite an Seite im Bücherschrank, aber innen waren sie alle gleich, hatten alle die gleichen weißen, leeren Seiten, und wenn Fox ehrlich mit sich war, hatte sie sich dabei schon immer ein wenig gelangweilt und ihre Schwester beneidet, die noch mit Puppen spielen durfte, doch sie war nun einmal die Ältere, und das Alter hatte seinen Preis. Kein Wunder, dass sich sonst niemand im Haus für die Bücher interessierte! Jetzt bekam Fox die Belohnung dafür. Jetzt hatte sie das Buch mit den Abenteuern. Und sie würde einen Dreck tun und das mit ihrer Schwester teilen!

Endlich ergab es einen Sinn, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, lesen zu lernen. Tagein, tagaus marschierten Fox und Pony morgens ins Schulzimmer und lernten die Buchstaben, die an der Tafel standen, und die Wörter, die darunter aufgemalt waren: Apfel. Wurst. Katze. Jeden Tag, seit sie denken konnte. Aber es hatte sich gelohnt, denn jetzt, wo es darauf ankam, konnte sie lesen. Die Wunderkiste. Abenteuer aus aller Welt. Fox fragte sich, wo das sein sollte, Allerwelt. Es klang wie ein Ort, der weit weg war und, wie der Titel versprach, voller Wunder und Abenteuer.

»Auf Wiedersehen, Miss Morris!« Ponys Stimme kam von irgendwo aus so weiter Ferne, dass es ebenso gut in Allerwelt hätte sein können. »Es war schön mit Ihnen. Bitte besuchen Sie uns bald wieder.« Pony kicherte. »Nur klingeln dürfen Sie nicht, sonst stören sich die Erwachsenen daran.« Dann stand sie vor Fox’ Schaukelstuhl. »Und jetzt will ich das Buch haben«, sagte sie. »Bitte!«

»Stör mich nicht!«, gab Fox zurück. »Ich lese das gerade.« In Wirklichkeit las sie nur immer und immer wieder die erste Seite, und hinter ihrer Stirn wuchs die Verheißung der Abenteuer immer weiter an, sodass die echten Abenteuer in dem Buch es schwer haben würden, mit dieser Vorfreude schrittzuhalten.

»Dann sag ich Mutter, dass du nicht teilen willst!« Pony stampfte mit dem Fuß auf den Boden, was sie nicht sollte, weil davon das Baby aufwachen konnte, und da, die Wiege fing auch schon an, sich hin und her zu bewegen.

»Also gut, von mir aus«, sagte Fox, aber sie war listig und gab ihrer Schwester das andere Buch, das mit den leeren Seiten, in dem sie zuvor geblättert hatte. Pony würde den Unterschied nicht merken, sie kannte es nicht anders, und dann blieb Fox mehr Zeit, sich in die Geschichten aus aller Welt zu vertiefen.

Aber Pony hatte zu scharfe Augen. »Das ist das falsche Buch!«, sagte sie. »Ich will das richtige. Das rote.«

Mit einem Seufzer gab Fox ihr das Buch. Pony sollte nicht viel damit anfangen können. Sie konnte noch nicht alle Buchstaben lesen. Wenn sie im Unterricht saßen und Fox alles vorlesen musste, was an der Tafel stand, einschließlich »Apfel«, »Wurst« und »Katze«, las Pony immer nur die Buchstaben aus der ersten Reihe, weil sie die Kleinere war. Gut, wenn Fox versuchte, sich zu erinnern, gingen sie schon immer zusammen zur Schule, und Pony hätte bestimmt eine Menge Zeit gehabt, auch den Rest der Buchstaben zu lernen. Aber sie war nun einmal jünger, und dann gehörte sich das auch so, dass sie noch nicht alles konnte.

»Hier«, sagte Fox. »Aber ich will das wiederhaben. Und wehe, du machst es kaputt!«

Dann saß sie im Schaukelstuhl, kaute auf ihrer Unterlippe herum und beobachtete ihre kleine Schwester dabei, wie die durch das Buch blätterte. Die Wörter darin schienen Pony jedenfalls nicht lang aufzuhalten – verstand sie überhaupt, wie besonders das war? Hatte Pony jemals eines der anderen Bücher im Haus, eines der leeren, in den Händen gehalten?

Endlich gab Pony Fox das Buch wieder zurück. »Das ist ja wirklich nur ein Buch!«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Und ich dachte schon, das wäre ein richtiges Geschenk.«

»Das ist ein richtiges Geschenk!«, erwiderte Fox. »Für mich ist das genau richtig.« Und bevor Pony auf die Idee kommen konnte, ihr das Buch noch einmal wegzunehmen, setzte sie sich darauf. »So wie deine Puppen richtig für dich sind.« Vielleicht verstand Pony ja den Wink. Fox wollte ungestört sein, bevor sie sich wieder dem Buch zuwandte … Und dann fiel ihr das herausgefallene Blatt Papier ein. Das hatte sie ja noch gar keines Blickes gewürdigt! Aber wenn in dem Buch Wörter geschrieben waren, dann konnte das ebenso gut für dieses Blatt gelten …

Fox’ Finger zitterten vor Aufregung, als sie es aufsammelte. Ja, es standen Wörter darauf, und das in einer wunderschönen Handschrift, für die hätte Fox ihr Leben lang üben können und es doch nie so schön hinbekommen. Es war ein Brief. Fox hatte noch nie einen Brief bekommen, und doch wusste sie sofort, was es war.

»Liebe Foxglove«, las sie und musste sich dabei dreimal sagen, dass sie das war, dass dies ihr richtiger Name war und demzufolge auch wirklich ihr Brief. »Ich hoffe, du erfreust dich guter Gesundheit! Das Buch sollte deinen Geschmack treffen, es ist voller Abenteuer, und ich erinnere mich, wie sehr du Abenteuer immer geliebt hast. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, dann erzähle mir, welches deine Lieblingsgeschichte war! Bis dahin verbleibe ich, wie immer mit den besten Grüßen, M.«

Fox starrte den Brief an, so wie sie zuvor das Buch angestarrt hatte, das sich jetzt unangenehm hart in ihre Pobacken drückte. Es war ihr Name, aber das war auch alles, was an diesem Brief stimmte. Wer ihn geschrieben hatte, klang wie ein alter Bekannter oder eine alte Bekannte – aber Fox kannte doch niemanden außerhalb des Hauses! Oder war sie schon einmal jemandem begegnet, vielleicht vor langer Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war? Sie war doch einmal ein kleines Mädchen gewesen, oder?

»Was ist?«, fragte Pony. »Was hast du da?«

»Einen Brief«, antwortete Fox. »Aber er ist merkwürdig.« Sie schüttelte den Kopf. »Kennst du jemanden, dessen Name mit M anfängt?«

»Niemanden außer Mutter«, antwortete Pony, und Fox seufzte. Das konnte es sein! Mutter, die bereits in der Halle gewesen war, als Fox und Pony nachschauen gekommen waren, Mutter, die das Päckchen da schon in den Händen gehalten hatte … Wenn Sie es selbst mitgebracht hatte? Und dann selbst geklingelt und so getan, als hätte das Päckchen auf der Türmatte gelegen? Wenn es das war, dann nahm das so viel von den Rätseln weg, über die sich Fox so sehr gefreut hatte – aber dann blieb immer noch das Buch, das voller Wörter war und voller Geschichten. Und selbst wenn es einfach nur ein Geschenk von Mutter war, dann doch besser auf diesem geheimnisvollen Weg, als wenn sie es Fox einfach bei erstbester Gelegenheit in die Hände gedrückt hätte!

Aber wenn das Buch ein Geschenk von Mutter war, ließ sie sich das doch beim Abendessen nicht anmerken. Sie fragte nicht, wie Fox das Buch gefallen hatte, nicht mit Worten und noch nicht einmal mit Blicken – sie tat einfach so, als ob das Buch gar nicht existierte, und überhaupt: Hätte sie wirklich Fox ein Geschenk gemacht, ohne auch etwas für Pony zu haben? Wenn Mutter eines war, dann gerecht. Gerechter, als es Fox manchmal lieb war, wenn sie wieder alles mit ihrer Schwester teilen musste, was sie eigentlich für sich behalten wollte. Wäre der Brief von M wie Mutter gewesen, sie hätte bestimmt hineingeschrieben, dass Fox das Buch mit Pony teilen sollte. Aber so … So war das Geschenk von jemand anderem. Und damit ein großes Rätsel.

Fox war es ganz lieb. Ein großes Rätsel und ein Buch voller Abenteuer – was wollte man im Leben mehr? So aber wusste sie nicht, womit sie anfangen sollte – wollte sie an dem Brief und seinem geheimnisvollen Absender herumrätseln? Oder doch das Buch mit seinen Abenteuern aus Allerwelt durchlesen? Endlich entschied sich Fox, das abwechselnd zu machen: eine Geschichte lesen, dann ein bisschen an dem Brief herumraten, dann die nächste Geschichte …

»Ich weiß noch jemanden!«, rief Pony da mitten in ihre Überlegungen hinein. »Jemand, dessen Name mit einem M anfängt!«

Fox sah sie groß an. »Wen denn?«, fragte sie.

Pony strahlte. »Miss Morris!«, sagte sie stolz.

»Aber Miss Morris ist …«, fing Fox an und war still. »Nur eine Puppe«, hatte sie sagen wollen, aber noch nicht einmal das stimmte: Poppy war die Puppe. Miss Morris war … Miss Morris war niemand. Nur jemand, den sich Pony ausgedacht hatte. War sie das wirklich? »Und woher kennst du Miss Morris?«, fragte Fox stattdessen. Bei einem großen Rätsel musste man alle möglichen Antworten in Betracht ziehen. Selbst wenn sie einem erst einmal seltsam vorkamen.

»Ich … Ich weiß es nicht«, antwortete Pony. »Sie ist einfach plötzlich zu Besuch gekommen. Und dann habe ich getan, was sich gehört, und ihr eine Tasse Tee angeboten.«

Fox nickte. Vielleicht hatte Pony ja recht. Miss Morris gefiel ihr als Lösung allemal besser als Mutter. Und wer sollte sonst noch übrig bleiben? Fox kannte schließlich niemanden außerhalb des Hauses. Außerhalb des Hauses … Fox zwinkerte. Sie wusste nicht einmal, was außerhalb des Hauses lag. Aber bis zu diesem Augenblick hatte sie sich nie darüber gewundert. Im Haus war alles, was sie brauchten: ihre Familie, ihre Schule, Bücher, Essen, Trinken … Sie hatte nie etwas außerhalb des Hauses gebraucht. Aber jetzt, plötzlich, durch nicht mehr als ein Buch und einen Brief, hatte die Welt außerhalb des Hauses einen Namen. Allerwelt. Und Fox brannte darauf, mehr darüber zu erfahren.

3

Fox ließ sich Zeit, das Buch mit den Geschichten zu lesen. Sie konnte sich nicht entscheiden, wo sie anfangen sollte. Es einfach von vorn bis hinten durchlesen, von der ersten Geschichte bis zur letzten? Die Vorstellung gefiel ihr nicht. Wenn sie das tat, dann musste sie zuschauen, wie das Buch mit jeder Seite weniger und weniger wurde, und das war zu schade für so etwas Besonderes wie die Wunderkiste. Aber wenn sie von hinten nach vorn ging, war das genauso, nur umgekehrt – das schied also auch aus.

Schließlich entschied sich Fox dafür, es dem Zufall zu überlassen. Sie schloss die Augen und blätterte im Buch vor und zurück, vor und zurück, und dann schlug sie es willkürlich irgendwo auf. Fox öffnete ihre Augen und schaute auf die Seite, die sie erwischt hatte. Es war der Anfang einer Geschichte, als hätte das Buch das gewusst, als hätte das Buch gewollt, dass sie genau diese Geschichte als Allererstes las. Sie hieß »Die Männlein im Wald«. Fox lächelte. Genauso sollte es sein! Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und machte sich an die Lektüre.

Die Männlein im Wald … Fox runzelte die Stirn. Sie versuchte, sich das vorzustellen, die Geschichte hinter ihrer Stirn zum Leben zu erwecken, doch es ging nicht. Sie wusste nicht, wie ein Wald aussah. Sie war noch nie in einem gewesen. Was ein Männlein war, das wusste sie ja noch, das war ein kleiner, kleiner Mann, aber ihr fehlte die halbe Geschichte, wenn sie sich keinen Wald vorstellen konnte … Fox wusste, wer die Antworten kannte.

Sie klemmte sich das Buch unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Schulzimmer. Fox war noch nie außerhalb der Unterrichtszeiten dort gewesen, aber sie hoffte, dass Mister Parker dort sein würde – er war der Lehrer, wo sollte er sonst sein? So wie Koch immer in der Küche war, hatte auch Mister Parker einen Ort, an den er gehörte. Und wenn er schon einmal da war, dann würde es ihn bestimmt freuen, dass sich Fox auch außerhalb der Schulzeit mit Lesen beschäftigte!

Und wirklich, da war Mister Parker. Er stand an der Tafel, als Fox hereinkam, und drehte sich nicht zu ihr um, bis Fox sich mit einem leisen Räuspern bemerkbar machte.

»Mister Parker? Kann ich Sie etwas fragen, Mister Parker?«

Endlich, der Lehrer schaute sie an. »Was störst du mich, Fox? Weißt du nicht, dass ich den Unterricht vorbereiten muss?«

Fox zwinkerte. Sie fragte sich, was es da vorzubereiten gab. Sie nahmen doch jeden Tag das Gleiche durch, das, was an die Tafel geschrieben stand, immer die gleichen Buchstaben, die gleichen Wörter, die gleichen Zahlen – aber Mister Parker hatte bestimmt recht, wenn er sagte, dass er sich trotzdem darauf vorbereiten musste. Sie mussten das ja auch jeden Tag wiederholen, weil sie es sonst wieder vergessen hätten. Und vielleicht vergaß auch Mister Parker, was er erklären sollte, wenn er sich nicht anständig darauf vorbereiten konnte!

»Ich habe nur eine Frage«, sagte sie. »Dann bin ich schon wieder weg. Sie wissen das bestimmt. Sie wissen alles.«

Mister Parker nickte zufrieden. Das war seine Aufgabe in dem Haus, Sachen wissen. »Dann stell deine Frage«, sagte er.

»Was ist ein Wald?«, fragte Fox. »Und wie sieht der aus?«

»Ein Wald …«, sagte Mister Parker und runzelte die Stirn, als ob er dafür lang überlegen müsste. »Ein Wald ist eine Ansammlung von Bäumen.«

»Ah«, machte Fox. Sie wollte schon »Danke« sagen und wieder verschwinden, das Buch las sich nicht von selbst, aber dann stutzte sie. »Und was«, fragte sie weiter, »ist ein Bäum?«

»Was soll das werden?«, fragte Mister Parker. »Wie viele Fragen hast du denn noch?«

»Das gehört doch zusammen!«, rief Fox. »Sie müssen mir das so erklären, dass ich es mir vorstellen kann. Und ich weiß nicht, was das ist, ein Bäum. Ich habe noch nie einen gesehen.«

Mister Parker seufzte. »Ein Baum« – er sprach das Wort ganz deutlich aus – »ist ein Lebewesen mit einem Stamm aus Holz und einer Krone aus Blättern«, sagte er dann. »Ein Baum betreibt Fotosynthese und wandelt somit Kohlendioxid in Sauerstoff um, den wir zum Leben benötigen.«

Fox hörte ihm schweigend zu. Das waren große, große Wörter. »Fotos sind These«, wiederholte sie ehrfürchtig. »Saurer Stoff.« Das klang wie hohe Wissenschaft, wie etwas, das Kinder lernten, wenn sie älter waren als Fox. Einen Augenblick lang kam es ihr seltsam vor. Sie ging jetzt schon so lange zur Schule, seit sie denken konnte, und sie war niemals über das, was an der Tafel geschrieben stand, hinausgekommen. Musste sie nicht irgendwann älter werden, bereit sein für fortgeschrittenen Unterrichtsstoff? Und Pony einmal bereit sein für die zweite Reihe der Tafel?

»Danke«, murmelte Fox. Sie versuchte, sich einen Baum vorzustellen. Holz. Holz kannte sie. Daraus waren die Tische im Schulzimmer gemacht. Und eine Krone? Die kannte sie auch. Die Königin trug eine Krone, und damit war sie auf allem Geld abgebildet – all dem Geld, von dem man sich im Haus nichts kaufen konnte … Fox zwinkerte noch einmal. Hinter ihrer Stirn passierten Dinge – nicht nur Bilder, nicht nur die Männlein im Walde, sondern mehr als das. Hinter ihrer Stirn passierten Gedanken, und das war eine große, eine neue Sache für Fox. Es fühlte sich an, als ob ihr Kopf plötzlich dreimal so groß wäre und ihr Körper darunter winzig klein, und sie drückte das Buch an sich, damit es ihr eine Stütze war und all diese Gedanken auffing, die ihr aus Nase und Ohren gequollen kamen, viel zu groß für einen einzelnen Menschen und erst recht für ein Kind.

Auf ihrer Zunge brannten Fragen, so viele Fragen, aber Fox wagte es nicht, auch nur eine davon zu stellen, weil sie nicht mehr wusste, wo sie die Antworten dazu hätte hinpacken sollen – in ihr war kein Platz für noch mehr Wissen, bevor das alte verdaut war, das war wie mit dem Magen nach dem Essen. So bedankte sich Fox schnell artig bei ihrem Lehrer und lief zurück ins Kinderzimmer, doch sie traute sich nicht, weiter in dem Buch zu lesen, aus Angst, dort über noch mehr fremde Sachen zu stolpern. Ein Wald … Langsam nahm er vor ihrem inneren Auge an Gestalt an. Lebewesen aus Holz mit einer Krone aus Blättern. Blätter, immerhin, kannte sie. Blätter waren das, woraus Bücher bestanden. Also eine Krone aus ganz viel Papier, mit der man Fotos machen konnte …

Fox nickte bei sich. Vorstellen war schön und gut. Aber noch lieber hätte sie einmal einen richtigen, echten Wald gesehen. Mit oder ohne kleinen Männlein darin. Leise und auf Zehenspitzen trat sie ans Fenster und schaute hinaus. Es fühlte sich an, als ob sie etwas Verbotenes täte – aber natürlich hatte sie schon oft aus dem Fenster geschaut. Oder es zumindest versucht. Draußen gab es nichts zu sehen. Die Welt jenseits des Fensters war verschwommen, in eine Mischung aus Dämmerung und Nebel gehüllt, und bestenfalls konnte man ein paar dunkle Schemen erahnen, die keine Namen trugen. Waren das Bäume? War da draußen ein Wald? Fox wusste es nicht. Und doch stand sie am Fenster, drückte ihre Nase an der Scheibe platt und versuchte, etwas zu erkennen, wo es nichts zu erkennen gab.

Am Abend, als Fox in ihrem Bett lag, hatte sie das Buch immer noch bei sich. Sie hoffte, wenn sie es im Schlaf im Arm hielt, würden seine Geschichten in ihren Kopf hineinsickern und ihr all die Bilder mitgeben, die sie sich im Wachen nicht ausdenken konnte. Bilder, wie es in einem echten Wald aussah … Aber als sie dann wieder wach wurde, war ihr Kopf immer noch leer, und das Buch war nicht mehr in ihren Armen, sondern über Nacht aus dem Bett gefallen. Zum Glück war ihm nichts geschehen, aber es hatte sich im Fallen geöffnet und war so gelandet, dass es dabei die nächste Geschichte aufgeschlagen hatte.

Sie hieß »Die Schiffskatze«. Und Fox starrte dieses Wort lange an und versuchte, sich das vorzustellen, ein Schiff, das gleichzeitig eine Katze war, oder umgekehrt … Es gelang ihr nicht. Sie kannte das Wort »Schiff«, sie kannte das Wort »Katze«, sie konnte alles lesen, was in dem Buch geschrieben stand, aber je länger sie auf die Wörter schaute, desto weniger Sinn wollten sie ergeben, und desto mehr verstand Fox, dass es Dinge gab, Dinge außerhalb des Hauses, zu groß und zu viele für ihre Vorstellungskraft.

An diesem Morgen nahm Fox das Buch überall hin mit. Sie legte es zum Frühstücken auf den Tisch, und sie trug es zum Unterricht ins Schulzimmer. Keiner der Erwachsenen schien sich dafür zu interessieren, weder ihre Eltern am Frühstückstisch noch Mister Parker. Fox ließ das Buch extra aufgeklappt liegen, sodass jeder sehen konnte, dass es voller Wörter war – aber niemand fragte sie danach. Fox rang mit sich. Sie überlegte, ob sie das Buch nicht besser geheim halten sollte, bevor sich sein Zauber an zu vielen Personen abnutzte und am Ende jemand auf die Idee kam, es ihr wegzunehmen, oder ob es doch besser war, es allen Leuten zu zeigen, um Antworten auf die tausend Fragen zu bekommen, die das Buch ihr in den Kopf stopfte …

Fox seufzte. Ihre Eltern, das wusste sie, konnten ihr keine dieser Fragen beantworten. Aber vielleicht … Vielleicht fingen sie dann selbst an zu fragen – war das dann nicht noch viel besser? Mit dem Fragen fing es an, und mit dem Wissen hörte es auf … Aber sie verschob das auf später. Morgens wollten ihre Eltern nicht gestört werden. Dann saß Vater da mit seiner Zeitung, und Fox fragte sich, was wohl passieren sollte, wenn die plötzlich auch voller Wörter stand und nicht mehr nur voller gezackter schwarzer Linien auf weißem Grund – würde ihr Vater das überhaupt merken?