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Der Ruf der Eule kündet von dem Unheil, das in diesem alten Herrenhaus lauert … Lincolnshire, 1896. Vor sieben Jahren verschwand die ehemalige Zofe der jungen Adelia Borrell unter mysteriösen Umständen, kurz nachdem sie im Herrenhaus Owls End angestellt wurde. Um endlich herauszufinden, was mit ihrer Freundin passiert ist, gibt Adelia sich als Gouvernante aus und wird in dem alten Anwesen vorstellig. Nicht nur das verwahrloste Gemäuer, auch seine Bewohner wecken in ihr den Gedanken, dass hier etwas nicht stimmt. Aber erst, als sie von einem Wechselbalg verfolgt wird und einer wunderschönen jungen Frau begegnet, der die Zeit nichts anzuhaben scheint, beginnt sie zu begreifen, wie groß die Gefahr ist, in der sie schwebt … • Handlungsort und -zeit: England, Ende des 19. Jahrhunderts • Adelia begibt sich auf die Spur ihrer Freundin, die vor Jahren im Herrenhaus Owls End verschwand – doch hier lauert das Feenvolk auf sie ... • Romantasy für Fans von Kerri Maniscalco und Holly Black »Wer Fantasy abseits der ausgetretenen Pfade mag, wird hier einen wahren Schatz entdecken!« Amazon-Leserin zu »Das Puppenzimmer«, Debüt der Autorin
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Seitenzahl: 500
Über dieses Buch:
Lincolnshire, 1896. Vor sieben Jahren verschwand die ehemalige Zofe der jungen Adelia Borrell unter mysteriösen Umständen, kurz nachdem sie im Herrenhaus Owls End angestellt wurde. Um endlich herauszufinden, was mit ihrer Freundin passiert ist, gibt Adelia sich als Gouvernante aus und wird in dem alten Anwesen vorstellig. Nicht nur das verwahrloste Gemäuer, auch seine Bewohner wecken in ihr den Gedanken, dass hier etwas nicht stimmt. Aber erst, als sie von einem Wechselbalg verfolgt wird und einer wunderschönen jungen Frau begegnet, der die Zeit nichts anzuhaben scheint, beginnt sie zu begreifen, wie groß die Gefahr ist, in der sie schwebt …
Über die Autorin:
Maja Ilisch, geb. 1975 in Dortmund, studierte Öffentliches Bibliothekswesen an der FH Köln und absolvierte im Anschluss daran eine Fachbuchhandelsausbildung. Nach mehreren Stationen in Buchhandels-, Verlags- und Bibliothekswesen schreibt Maja Ilisch nunmehr hauptberuflich und betreibt nebenher das Fantasy-Autorenforum Tintenzirkel. Sie wurde mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet. Maja Ilisch ist verheiratet und lebt in einem alten Stolberger Haus, in dem es nur vielleicht spukt.
Maja Ilisch veröffentlichte bei dotbooks bereits »Das Puppenzimmer«.
Die Website der Autorin: www.ilisch.de
Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/majailisch
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Originalausgabe Dezember 2024
Copyright © der Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Renate Kunstwadl
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Motive von © Ana / Picza Booth / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98952-455-2
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Maja Ilisch
Die Schatten von Owls End
Roman
dotbooks.
Schon bevor ich die beiden Eulen sah, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Sie thronten links und rechts des Tores, das die Auffahrt zum Haus begrenzte, steinern wie die Pfosten, auf denen sie saßen, und während ich stehen blieb und zu ihnen hinaufschaute, ignorierten sie mich, starrten über mich hinweg, geradeaus, bis sich irgendwo im fernen Wald ihr Blick verlor.
Obwohl man im Haus auf mich wartete, stand ich und schaute, konnte nicht anders, als diese Eulen zu bewundern. Wer sie geschaffen hatte, verstand nicht nur etwas von Bildhauerei – er verstand auch etwas von Eulen. Er hatte nicht irgendwelche Eulen geschaffen, heraldisch, würdevoll, gelehrig, seltsam bedrohlich – dies waren zwei ganz spezielle Vögel: Zur Linken thronte eine Schleiereule, eine Waldohreule zur Rechten, und in ihren großen steinernen Augen vermeinte ich noch das Spiegelbild einer Maus zu erkennen. Es war, als könnten diese Eulen jeden Moment zum Leben erwachen, doch sie taten mir diesen Gefallen nicht.
Dass hier etwas nicht stimmte, das wusste ich, noch bevor ich in Dunston aus dem Eisenbahnzug gestiegen war und sogar noch bevor ich auch nur die Annonce in der Zeitung gefunden hatte.
Vielleicht hätte ich besser umkehren sollen, zurück in ein Leben, das Sicherheit verhieß und in dem alles richtig war – nur ich nicht. Aber jetzt, angesichts dieser beiden Steinfiguren, wusste ich endlich, dass ich hier sein musste. Das Haus hieß Owls End. Aber für mich war es erst der Anfang.
Zugegeben, ich verstand nicht viel von Eulen. Ich konnte sie identifizieren, die fünf heimischen Eulenarten aufzählen, ich war eine junge Frau von exquisiter Bildung, doch von den Flechten, die sich über Pfeiler und Eulen zogen, verstand ich mehr: Meine Eltern hatten mich ein Mikroskop haben lassen, keine Raubvogelvoliere, und von der Art, wie sich die hellgrünen Sprenkel von Rhizocarpon Geographicum auf dem steinernen Gefieder ausbreiteten wie Inseln auf der Karte einer noch nicht entdeckten Welt, konnte ich sagen, dass ich zu spät kam, viel zu spät, um den Bildhauer oder die Vögel noch persönlich zu treffen.
Ich wusste nicht, wie alt Owls End war oder wie lang das Haus schon diesen Namen trug – das Haus, vom Tor aus gut zu erkennen, sah neu aus: Älter als ich, natürlich, aber seine Erbauer und ich lebten unter der gleichen Königin. Diese Flechten hingegen – die hatten mehr als zweihundert Jahre gebraucht, um sich auszubreiten. Gott hatte die Menschen als sterblich erschaffen und die Tiere ebenfalls, ein Baum konnte Hunderte von Jahren alt werden, wenn man ihn nicht fällte, doch in Flechten, da fand man die wahre Unsterblichkeit. Es war eine Vorstellung, die mir immer gut gefallen hatte: wie Gott, Maler der Welt, ab und zu in der Ewigkeit seinen Pinsel abschüttelte und Sprenkel auf dem Gestein hinterließ, langsamer, als ein Mensch es ertragen hätte, dabei zuzuschauen.
Die Steine mochten Gottes Leinwand sein – doch die Herren von Owls End schienen ihm auch Haus und Garten überlassen zu haben. Anwesen und Park machten einen ungepflegten, beinahe verwahrlosten Eindruck. Es war Anfang Juni, und was ich sah, war das Werk, das die Natur vollbrachte in einem Frühling, nachdem der letzte Gärtner gekündigt hatte und noch kein neuer gefunden war. Owls End brauchte Personal, mehr als nur eine Person. Ob ein jeder, der kam, um sich hier vorzustellen, derart misstrauisch vor diesem Tor stand wie jetzt ich?
Ich nickte den Eulen ein letztes Mal zu, rückte meinen Hut zurecht und umfasste den Griff meines Regenschirms wie den Knauf eines Schwertes, dann durchschritt ich das Portal, als führte es in ein anderes Land, eine fremde Welt, die ich so schnell nicht wieder verlassen sollte.
Das Haus schien mich zu beobachten, wo es die Eulen nicht taten. Es lag an den Fenstern – sie waren groß, wachsam und dunkel. Natürlich, niemand ließ bei Tag alle Lichter brennen, aber die Fenster von Owls End schienen mir dunkler als andere. Sie hatten keinen Glanz, wirkten stumpf, als ob dem Haus die Seele fehlte. Mir lief es kalt über den Rücken. Hätte nicht ganz oben, unter dem kleinen, spitzen Giebel, ein Licht gebrannt, ich wäre vielleicht doch noch umgekehrt.
Dann, als hätte das Haus meine Gedanken gelesen, ging auch noch ein zweites Licht an, in einem Zimmer im ersten Stock, warm und gelblich. Ich atmete auf. Und was die Fenster anging: Die musste einfach mal wieder jemand putzen. Aber nicht ich, so viel stand fest. Ich kam nicht als Dienstmagd.
Das Licht im ersten Stock ging wieder aus, nur ein Zwinkern, mehr nicht. Die Fenster, die hinausblickten auf den Garten, hatten mich gesehen, hatten mich geprüft, doch es war nicht ich, auf die sie warteten, und so legten sie sich wieder schlafen. War dies das Willkommen, mit dem ich gerechnet hatte?
Ich wusste nichts über das Dorf, Octon, außer, dass es keinen eigenen Bahnhof hatte und zu klein war, um einen zu verdienen, und nichts über Owls End, bis auf eines: Es war der Ort, von dem Dinah verschwunden war. Aber was sagte das über Owls End, und was sagte es über Dinah? Ich war aus Elford Hall verschwunden, ohne jemandem zu sagen, wohin ich ging, und doch konnte man das nicht Elford Hall zum Vorwurf machen.
Aber Owls End sah aus, als ob es die Schuld daran trug, wenn Menschen dort verschwanden. Ich mochte eine junge Frau von überragender Bildung sein – aber meine Schwäche für Fortsetzungsromane hatte mir keine Gouvernante der Welt austreiben können. Vielleicht war ich doch zumindest in einem Punkt wie andere Frauen. Dinahs Eltern mochten glauben, dass sie aus freien Stücken gegangen war, dass sie irgendwo, mit irgendwem ihr Glück gefunden hatte, und wenn es in Amerika war, und dass ihre Briefe nur ausgeblieben waren, weil sie Besseres zu tun hatte, als zu schreiben – doch ich wusste es besser.
Die Eltern hatten beinahe sieben Jahre Zeit gehabt, nach Owls End zu fahren und selbst nach einer Spur von Dinah zu suchen, und hatten es nicht getan, und dabei hätten sie dazu viel mehr Gründe gehabt als ich. Und doch war ich jetzt dort, klammerte mich an die Vorstellung, dass Owls End ein großes, ein böses Geheimnis barg, und würde am Ende doch nicht mehr finden als ein paar lang vergilbte Wäschelisten. Owls End konnte nichts dafür, dass ich nur einen guten Grund gebraucht hatte, um davonzulaufen.
Also war ich jetzt hier. Bereit, jeden Stein umzudrehen. Bereit, mich zum Narren zu machen. Wenn jemand fragen sollte, war ich auf der Suche nach meiner verschwundenen Schwester. Ich war es nicht. Aber ich suchte Dinah, die ich sieben lange Jahre nicht gesehen hatte und die, zumindest damals, nur für ein paar Tage, die mir heute kostbarer erschienen als alle anderen, mein Herz hatte höherschlagen lassen.
Ich straffte mich. Kopf hoch. Rücken gerade. Hut. Regenschirm. Es war eine gute Idee, dass ich mein Gepäck im Weißen Hirsch zurückgelassen hatte – auch wenn Owls End gleich am Rand des Dorfes lag und ich nicht noch eine Stunde oder mehr über Land hatte marschieren müssen, machte es doch bestimmt einen besseren Eindruck, wenn ich frisch, wach und entschlossen auftrat und nicht angeschlurft kam, bepackt mit Koffern und Kisten und völlig außer Atem. Die letzten Schritte über den gekiesten Weg legte ich zügig und entschlossen zurück. Sieben Stufen bis zur Haustür, ein Klingelzug, den ich betätigte, und dann trat ich zwei Schritte zurück und wartete.
Dies war der letzte Augenblick, in dem ich noch umdrehen und davonlaufen konnte. Wenn mir etwas zustoßen sollte in diesen Mauern, waren die einzigen Menschen, die wussten, dass ich hier war, Dinahs Eltern – und die waren nicht einmal ihrer eigenen Tochter zu Hilfe gekommen …
Es war gut, dass ich nicht lange warten musste. Ich hörte zwar keine Schritte nahen – die kunstvoll verzierte Eichentür war so dick und mächtig, dass ich hier draußen mein Klingeln gar nicht gehört hatte –, aber dafür schwang sie umso schneller und mit einem lauten, beinahe freudigen Quietschen auf.
Eine Frau, die nur die Haushälterin sein konnte, stand dort und blickte zu mir hoch, und das, obwohl ich zwei Stufen weiter unten stand. Sie war winzig, beinahe zwei Köpfe kleiner als ich, die kleinste erwachsene Frau, die ich jemals außerhalb eines Zirkus gesehen hatte. Ihr freundliches Lächeln dagegen machte das wett, es war groß genug für drei. »Was kann ich für Sie tun, Miss?«
Ich erwiderte das Lächeln. »Mein Name ist Adelia Borrell«, sagte ich. »Ich komme, um mich für die Stelle als Gouvernante vorzustellen – Mr Carew erwartet mich.«
Die Haushälterin lächelte noch etwas breiter. »Dann sind Sie es wirklich, und pünktlich noch dazu.« Sie klang so freudig, dass ich mich fragte, ob so etwas nicht selbstverständlich sein sollte – aber ich wollte nicht zugeben, dass ich vom Berufsleben und von Terminen wenig verstand, und so nickte ich nur.
Sie lachte. »Sie sind mit dem Postwagen von Dunston gekommen, nicht wahr? Kommen Sie herein, Miss – geben Sie mir Ihren Hut …« Schon hatte sie mich entwaffnet und meinen Schirm in einen Ständer neben der Tür gestellt. »Nehmen Sie Platz … Mr Carew wird Sie gleich empfangen, ich gebe ihm Bescheid, dass Sie da sind – möchten Sie einen Schluck Tee?«
Ich war erst wenige Augenblicke da und fühlte mich schon wie eine Katze, um die eine aufgeplusterte kleine Amsel herumhüpfte, um mit lautem Gezwitscher von ihrem Nest abzulenken, und ich blickte mich unauffällig um, ob ich etwas sah, das nicht für meine Augen bestimmt war. Eine freundliche Amsel war das, natürlich, aber ich trug so viel Misstrauen in mir, dass ich nicht aus meiner Haut konnte. Mechanisch wanderten meine Augen durch die Eingangshalle, die Treppe hinauf, doch ich kam nicht weit, schon hatte die Amsel mich wieder mit Beschlag belegt.
Gehorsam setzte ich mich auf eine Bank, auch wenn ich nun nur noch die Tür sehen konnte. Aber auch so entging mir nicht, dass im Innern des Hauses etwas Muffiges in der Luft lag, ein Hauch von Alter, der nicht dazu passen wollte, dass es ein doch noch recht moderner Bau war, bestenfalls fünfzig, sechzig Jahre alt, erbaut in einer Zeit, als man gerade dachte, der Gasbeleuchtung gehöre die Zukunft, und noch nicht ahnen konnte, dass nur kurze Zeit später der elektrische Strom kommen und das alles wieder hinfällig machen würde.
Die kleinen Lampen an der Wand flackerten auf diese bestimmte Weise, wie es nur Gaslicht konnte, aber dafür, dass es die stolze Eingangshalle eines Herrenhauses war, gaben sie doch ziemlich wenig Licht – für mehr wäre der große Kronleuchter da gewesen, der oben, unter der Decke, im Schatten verschwand.
Und diese unbestimmte, modrige Atmosphäre, die in der Luft lag … Feuchtigkeit? Schimmel? Ich zuckte im Geiste die Schultern. Das war nichts, was ich Owls End zum Vorwurf machen konnte. Ich wusste von Elford Hall, was für eine Herausforderung es darstellte, ein großes Haus in Schuss zu halten, und alles, was hier vom Licht beschienen wurde, sah sauber aus. Vielleicht roch ich den Muff nur, weil ich etwas suchte, das nicht stimmte …
»Vielen Dank«, sagte ich zu der Amsel. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs …«
»Donovan«, sagte die Amsel und knickste. »Ich bin die Haushälterin. Wir werden in Zukunft noch viel miteinander zu tun haben, wenn alles gut für Sie läuft. Aber ich vergesse mich. Der Tee!«
Ich atmete auf, als sie fort war. Der Name und der dicke Knoten schwarzer Haare, der unter dem Häubchen hervorlinste, ließen mich an eine Irin denken, doch in ihrer Stimme hörte ich vertrautes Lincolnshire. Sie erschien mir etwas schwatzhaft, und das war genau das, was ich brauchte, um etwas über die Geschichte dieses Hauses zu erfahren.
Natürlich hätte ich sie auch direkt nach Dinah fragen können – aber ich hatte monatelang darauf gewartet, mich hier unter einem Vorwand einzuschleichen, bis endlich eine Annonce in der Zeitung gestanden hatte wie die, auf die hin sich Dinah damals vorgestellt hatte, ein halbes Jahr, während dessen ich auch direkt hätte nach Owls End fahren und Fragen stellen können – dann musste ich nicht ausgerechnet jetzt mit der Tür ins Haus fallen. Wenn Dinah etwas zugestoßen war, kam ich ohnehin sieben Jahre zu spät. Erst einmal das Gespräch mit Mr Carew abwarten – und wenn der mich nicht haben wollte, konnte ich immer noch versuchen, Mrs Donovan auszuquetschen.
Und da kam sie auch schon wieder, mit einem Teetablett in Händen. »Schnaufen Sie durch, Miss Borrell, Sie brauchen wirklich nicht aufgeregt zu sein, machen Sie sich keine Sorgen – ich verrate Ihnen etwas.« Mrs Donovan stellte den Tee auf einem kleinen Tischchen neben der Bank ab und schenkte mir eine Tasse ein mit der größten Selbstverständlichkeit, als ob das nicht üblicherweise Aufgabe eines Dienstmädchens war. Zugegeben, für ein Herrenhaus war Owls End eher von der kleinen Sorte, aber ich hoffte doch, dass sie hier noch mehr Personal hatten als nur Mrs Donovan – die sollte nicht auf die Idee kommen, dass ich ihr zur Hand gehen würde. Ich war gekommen, um eine Gouvernante zu werden, ich wollte nicht auch noch putzen und den Herrschaften aufwarten müssen.
»Hören Sie zu!«, sagte Mrs Donovan mit verschwörerischem Flüstern. »Wenn Sie das gleich nicht völlig vermasseln – außer Ihnen hat sich noch niemand auf die Stelle gemeldet. Da war die Annonce gerade erst raus, da kam Ihr Brief schon rein – Mr Carew hat das sehr gefreut, es eilt ja wirklich, doch es ist nicht so, als ob Sie jetzt noch ein Halbdutzend Konkurrentinnen ausstechen müssten. Also Kopf hoch! Das wird schon!«
Ich fühlte mich erröten, nicht, weil eine Frau, die vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter war als ich, es für nötig hielt, einen mütterlichen Tonfall bei mir anzuschlagen, sondern weil ich offenbar überhaupt nicht so überlegen und selbstbeherrscht daherkam, wie ich das gedacht hatte. Ich musste lernen, meine Nerven im Zaum zu halten. Dreiundzwanzig Jahre Unterricht darin, Haltung zu bewahren, sollten sich doch irgendwie bezahlt machen!
»Danke, Mrs Donovan«, sagte ich mit leicht belegter Stimme und starrte in die Teetasse. Ein hübsches Porzellantässchen, weiß, mit englischen Rosen – das hieß doch wohl, dass sie mich nicht für einen Teil des Gesindes hielt! Einer Dienstmagd gab man kein Porzellan in die Hand, und auch wenn ich selbst keine Ahnung hatte, welchen Rang eine Gouvernante in der häuslichen Hackordnung hatte, nahm ich das als ein gutes Omen. Der Tee war kräftig und süß und tat mir gut.
Mrs Donovan wartete, bis ich meine Tasse geleert hatte, und wachte währenddessen an meiner Seite, als wollte sie sichergehen, dass ich keinen Augenblick lang unbeaufsichtigt war. Ich versuchte, die Fragen, die mir auf der Zunge lagen, zusammen mit dem Tee hinunterzuschlucken, bis mir aufging, dass auch eine echte Gouvernante, die sich auf eine Stelle bewarb, vor Fragen nur so brennen durfte.
»Dann … dann ist das hier ein gutes Haus?«, fragte ich, und jetzt klang ich endgültig heiser. »Ich meine – würden Sie jemandem wünschen, hier zu arbeiten? Und das Kind, um das es geht – ist das ein Mädchen oder ein Junge? Oder gleich mehrere Kinder? Sind sie wohlerzogen?« Das war der Teil, an den ich am wenigsten zu denken versuchte: dass die Stelle einer Gouvernante sicherlich mehr meinem Stand entsprach als die einer Scheuermagd, aber dafür Kinder beinhaltete, und mit Kindern hatte ich wirklich wenig Erfahrung.
Dinah hatte in Owls End als Kindermädchen angefangen – froh, überhaupt wieder eine Stelle zu bekommen, nachdem ihr in Elford Hall als Zofe gekündigt worden war. Ging es hier um das gleiche Kind?
»Schscht«, machte Mrs Donovan. »Alles zu seiner Zeit.«
Plötzlich lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. »Aber … aber es ist ein gutes Haus?«, wiederholte ich.
Mrs Donovan lächelte auf eine Weise, bei der mir nur noch kälter wurde. »Das beste, das Sie sich nur vorstellen können«, flüsterte sie, und in ihren Augen lag ein Funkeln wie Fieber. Es dauerte nur einen kurzen Moment, aber ich war froh, als es vorbei war. »Nun kommen Sie, Miss Borrell. Wir wollen Mr Carew nicht warten lassen.«
Mr Carews Büro lag im ersten Stock, und spätestens auf der Treppe hämmerte mir das Herz vor Aufregung. Mehr als diesen Namen kannte ich nicht. Ich wusste nichts über die Herren von Owls End, er konnte der Hausherr sein oder ein Sekretär. Dinahs Eltern hatten auch nur den Namen des Hauses gekannt, und wie die Familie hieß, für die Dinah damals gearbeitet hatte, konnten sie mir nicht sagen. Dinah war keine große Briefschreiberin, überhaupt keine große Schreiberin – sie war zur Schule gegangen, lesen konnte sie sogar recht gut, ich hatte sie mir manchmal vorlesen lassen, aber selbst etwas schreiben, Sätze zusammensetzen und zu Papier bringen, das war nicht ihr Ding. Und da ihr Vater gar nicht lesen konnte und ihre Mutter nur mit Mühe, hatte sie für die beiden auch nicht die Kunst des Briefschreibens erlernen müssen.
Trotzdem, ich hätte so gern ihre Briefe gelesen, sie wieder und wieder durchgearbeitet mit der Gründlichkeit, mit der ich sonst eine Flechte unter der Lupe beobachtete oder ein Moos unter dem Mikroskop, ich hätte sie auf geheime Botschaften untersucht und auf Hilferufe, die sieben Jahre ungehört geblieben waren. Aber ich wusste es besser, als auch nur danach zu fragen. Dinahs Briefe, alle, die sie in ihrem Leben geschrieben hatte, aus Elford Hall und Owls End, lagen in einer hübschen, muschelbeklebten Schachtel, und sie wurden zwar nicht gelesen, aber geliebt. Zu gern hätte auch ich etwas von Dinah gehabt, ein Andenken, aber ich hatte nichts, noch nicht einmal ein Haarband oder einen Schuhabdruck im Schnee.
Zurück zu Mr Carew – war er ein junger Mann, ein alter? Unter der Tür sickerte nur ein Hauch von Licht hindurch, und von der Lage her musste dies das Zimmer sein, wo ich vom Garten aus das blinzelnde Licht gesehen hatte. Mrs Donovan klopfte kurz und öffnete dann die laut knarzende Tür, die kaum mehr als eine Handbreit aufgehen wollte, als hätte sie kein Interesse, mich hereinzulassen.
»Mr Carew, Sir?«, sagte Mrs Donovan. »Ihr Gast ist eingetroffen.« Dann drehte sie sich um und nickte mir zu. »Sie machen das schon!«, flüsterte sie, und dass sie mir dabei keinen Klaps auf die Schulter gab, war auch schon alles. Dann flatterte meine liebe kleine Amsel davon.
Aus dem Zimmer erklang eine Stimme: »Herein.«
Ich nickte, schluckte und gehorchte. Auf einem mächtigen Schreibtisch brannte eine kleine Lampe, und der Mann, der dahinter saß, bekam mehr Schatten ab als Licht. Selbst zum Fenster wollte kaum ein heller Schein hereinfallen: Die Scheiben waren zu schmutzig, als dass selbst die Junisonne viel Erfolg gehabt hätte. Das große Bücherregal an der Wand schien noch mehr Licht zu schlucken und alle unnötigen Geräusche dazu. Der Geruch von Feuchtigkeit und Vernachlässigung war hier stärker als in der Halle.
Ich knickste, aber nicht zu tief. »Mr Carew? Vielen Dank für Ihre Einladung. Mein Name ist Miss Borrell.«
»Adelia Borrell«, wiederholte der Schatten und nickte, als wollte er beweisen, dass er meinen Brief wirklich gelesen hatte. Ich biss die Zähne zusammen. Seinen richtigen Namen anzugeben, das war eine dumme Entscheidung, wenn man vorhatte, sich unter einem Vorwand einzuschleichen – aber was für einen Unterschied machte es schon? »Sie bewerben sich auf die Stelle der Gouvernante?«
Von seinem Gesicht war in dieser Düsternis nicht viel zu erkennen, aber seine Stimme klang noch recht jung, und was ich von seinem Haupthaar sehen konnte, war voll und dunkel. Seine Stimme war leise, und es gelang mir nicht, seinen Dialekt einzuordnen – er sprach klar, deutlich und durchaus wie ein Mann von Stand, aber irgendetwas daran wirkte nicht ganz richtig. Doch er klang freundlich, egal wie sehr ich bereit war, allem und jedem zu misstrauen.
Wieder nickte ich. »Ja, Sir.«
»Sie sind eine junge Frau aus gutem Haus«, sagte Mr Carew. »Haben Sie irgendwelche Erfahrungen als Gouvernante?«
»Ich habe Erfahrungen mit Gouvernanten«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Und ich denke, eine gute Erziehung ist das A und O, denn wie sonst sollte man diese an seine Schützlinge weitergeben? Ich hatte das Glück, eine umfassende Bildung zu genießen, und ich bin bereit, mich allen erdenklichen neugierigen Fragen zu stellen, ohne dabei jemals die Fassung zu verlieren.«
Überzeugte ihn das? Erschien ich ihm alt genug für eine Gouvernante? Ich wusste es nicht. Ich fühlte seinen Blick, ohne selbst auch nur sagen zu können, welche Farbe seine Augen hatten. Der Lichtkegel der Lampe war auf mich gerichtet, zwar ohne mich zu blenden, doch es führte nicht dazu, dass ich mich behaglicher gefühlt hätte. »Was veranlasst Sie dazu, sich als Gouvernante verdingen zu wollen? Sollten Sie nicht heiraten, einen Haushalt führen, eigenen Kindern das Leben schenken?«
Ich atmete durch und machte einen winzigen Schritt rückwärts. Eben noch wollte ich von dem schrecklichen Schicksalsschlag erzählen, der mich mittellos zurückgelassen hatte, aber stattdessen sagte ich: »Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Sir. Ich war verlobt. Ich sah mich gezwungen … diese Verbindung aufzulösen. Und nach nichts steht mir gerade weniger der Sinn als nach einem neuen Bräutigam.«
Ich starrte zu Boden und hoffte, dass Mr Carew den Anstand besaß, nicht weiter zu fragen. Bis zu dieser Stelle entsprach noch alles der Wahrheit, und ich wollte nicht ausgerechnet über diese Sache lügen müssen – nicht dem armen Edward ein Vergehen anhängen, das er nicht begangen hatte. Doch den wahren Grund, warum ich ihn verlassen hatte, konnte und durfte ich nicht aussprechen. Ich hatte Glück, Mr Carew fragte nicht weiter. Nicht danach, zumindest.
»Und dürfte ich fragen«, sagte er stattdessen, »warum Sie sich ausgerechnet in unserem Haus beworben haben?«
Es lief mir kalt über den Rücken. Hatte er mich durchschaut? Ich schenkte Mr Carew ein bezauberndes Lächeln, ohne zu blinzeln. »Mir hat der Name Ihres Hauses gefallen«, sagte ich. »Owls End. Ich habe auch die Eulen an Ihrem Tor bewundert – was für schöne Arbeiten! Können Sie mir verraten, warum das Haus so heißt?« So war es gut. Fragen mit Fragen beantworten!
Mir erschien, als ob auch Mr Carew lächelte, doch er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, Miss Borrell, ich könnte Ihnen eine schöne Geschichte über Eulen erzählen, aber ich bedaure, ich kenne keine. Als wir das Haus gekauft haben, hieß es bereits so. Aber ja, ich stimme Ihnen zu. Es ist ein guter Name.«
»Ist es dann auch ein gutes Haus?« Das rutschte mir heraus, und ich hätte mich auf die Zunge beißen mögen, aber es war zu spät. Mir lagen Mrs Donovans Worte wieder im Ohr, und ich fröstelte.
Ich hörte Mr Carew seufzen. Und nach einem Moment der Stille seufzte er noch einmal.
»Miss Borrell«, sagte er dann, »wollen Sie die Stelle wirklich?«
Ich nickte.
»Sehen Sie«, sagte Mr Carew, »ich bin nicht überzeugt, dass Sie es nötig haben. Sie sind jung, tüchtig, Sie können jede andere Stelle haben, wo auch immer Sie es versuchen. Ich möchte Sie nicht mit unseren Problemen behelligen.« Wieder schwieg er einen Moment, dann breitete er die Hände nach den Seiten aus. »Sie sehen, wie es hier aussieht. Sie verstehen, dass mit diesem Haus etwas nicht stimmt, auch wenn Sie zu gut erzogen sind, um auf dem Absatz kehrtzumachen. Wir brauchen jemanden, so ist es nicht, händeringend, jemanden wie Sie. Aber Sie brauchen uns nicht. Und ich möchte Sie nicht in diese Geschichte hineinziehen.«
Ich stand still, sehr still, in der Hoffnung, dass er weiterreden und mir mehr verraten würde, doch Mr Carew schwieg. Dafür tat er etwas anderes. Er stand auf, kam hinter dem Schreibtisch hervor und trat endlich selbst in den Lichtschein der Lampe. Er war ein noch recht junger Mann, wie ich es vermutet hatte, vielleicht kaum älter als ich, und seine hängenden Schultern ließen ihn kleiner wirken, als er in Wirklichkeit sein musste. Sein Gesicht war blass, und die Mundwinkel hingen ihm wie die Schultern, selbst wenn er lächelte.
»Fahren Sie heim, Miss Borrell«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie habe anreisen lassen. Ich werde selbstverständlich Ihre Unkosten tragen. Sie verdienen eine bessere Position als das, was ich Ihnen hier anbieten kann.«
»Aber was können Sie mir anbieten?«, fragte ich. »Ist etwas mit Ihrem Kind? Ich mag nicht viel Erfahrung haben, das ist wahr, aber ich bin geduldig, freundlich …« Die Annonce hatte nach einer Gouvernante verlangt, aber vielleicht war das nur eine blumige Bezeichnung für ein gewöhnliches Kindermädchen …
»Sie sprechen Französisch?«, fragte Mr Carew, und ich nickte. »Sie spielen Klavier? Können Zeichenunterricht geben und Shakespeare-Sonette vortragen? Ihr Talent ist vergeudet, wenn es nur darum geht, einen Kinderwagen zu schieben.«
Ich verzog kein Gesicht. Natürlich, ich hatte mit älteren Kindern gerechnet, den gleichen, um die sich Dinah damals gekümmert hatte, aber einiges deutete darauf hin, dass Mr Carew das Haus selbst erst kürzlich gekauft hatte und Dinahs Hausherren verschwunden waren wie sie selbst.
»Kinder werden größer«, sagte ich ruhig und wusste, das galt nicht für alle.
Mr Carew schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nicht, Miss Borrell, und wie sollten Sie auch?« Er seufzte wieder. »Ich will es Ihnen verraten, es hilft nichts, wenn ich um den heißen Brei herumrede. Nehmen Sie Platz.« Er deutete auf etwas, das ich mehr für einen Lesesessel hielt denn für etwas, in dem selbst das höchstgestellte Mitglied des Personals sitzen durfte. Ich ließ mich vorsichtig auf der Sesselkante nieder und wartete.
»Ich suche jemanden, der einen Kinderwagen durch den Garten schiebt«, sagte Mr Carew ruhig, und plötzlich verstand ich, was mir an seiner Stimme immer so unpassend vorgekommen war: ein leichtes Zittern, das in jedem Wort mitgeschwungen hatte; ein Zittern, das mir erst auffiel, als es plötzlich fehlte. »So, dass man es auch von den oberen Fenstern aus noch gut sehen kann: eine Gouvernante, die das Kind an die frische Luft bringt.«
»Ich kann auch …«, fing ich an, aber Mr Carew sprach weiter:
»Der Kinderwagen ist leer, Miss Borrell. Es gibt kein Kind in diesem Haus.«
Alles, was ich in meinem Leben darüber gelernt hatte, die Haltung zu bewahren, brauchte ich in diesem Augenblick, und während es mir gelang, keine Miene zu verziehen, ahnte ich doch, dass meine Augen immer noch alles verrieten, was in mir vorging. Was für ein Spiel wurde hier gespielt? War das eine Falle – für mich? Für wen? Warum?
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich und war sehr erstaunt darüber, wie geschäftig ich dabei immer noch klang.
»Sie müssen denken, Miss Borrell, ich hätte den Verstand verloren – und wenn nicht ich, dann die Welt. Die Wahrheit ist eine andere und nicht minder tragisch. Sie werden sich doch schon gewundert haben, dass Sie hier nur mich treffen – normalerweise, sollte man meinen, ist die Auswahl der richtigen Gouvernante doch etwas, mit dem sich die Mutter besser auskennt als der Vater, weiß sie doch, worauf es bei der Erziehung ankommt.«
Ich sagte nichts. Mütter kannten sich vielleicht besser mit ihren Kindern aus – sie hatten auch eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, bei der Geburt zu sterben. Mrs Carews Abwesenheit war das, was mich an der ganzen Sache am wenigsten wunderte.
»Es gab ein Kind in diesem Haus«, sagte Mr Carew leise, und jedes Wort schien ihn im Hals zu schmerzen. »Meine Frau und ich – wir hatten ein kleines Mädchen, das hübscheste Ding, das Sie sich nur vorstellen können, unser kleiner Sonnenschein.«
Ich blickte ihn stumm an. Ich ahnte, wie das ausgehen würde.
»Und dann ist sie gestorben. Einfach so. Sie war noch nicht einmal krank. Eines Morgens lag sie in ihrer Wiege und war … Der Doktor konnte nichts mehr für sie tun – er konnte noch nicht einmal sagen, woran sie gestorben war. Weniger als ein Jahr alt war sie. Und meine Frau – sie hat es nicht verkraftet.« Mr Carews Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, und es tat mir selbst weh, ihn weiterreden zu lassen, doch ich unterbrach ihn nicht. »Ihre Nerven, müssen Sie wissen. Sie …«
Mr Carew schüttelte den Kopf, und im gleichen Moment war über uns ein Geräusch zu hören – als ob im Stockwerk drüber ein Stuhl bewegt würde, jemand ein paar Schritte machte, und dann war es wieder still. Mr Carew wurde dabei noch bleicher, und seine Augen dunkler.
»Es hat ihr das Herz gebrochen«, flüsterte er endlich. »Tage-, sogar wochenlang hat sie kaum ein Wort gesprochen, das Zimmer nicht mehr verlassen, ich dachte schon, ich verliere sie auch noch. Dann, von einem Tag auf den anderen, trockneten ihre Tränen, erschien sie wieder ganz die Alte, als wäre nie etwas geschehen – und dann verlangte sie, unsere Tochter zu sehen.«
»Sie weiß nicht mehr, dass ihr Kind tot ist?« In diesem Augenblick verstand ich, dass ich Jane Eyre war, eine Jane Eyre, der Mr Rochester schon am ersten Tag reinen Wein einschenkte. Eine Gouvernante für ein kleines Mädchen, dessen Mutter den Verstand verloren hatte … nur mit dem Unterschied, dass hier auch das kleine Mädchen nicht mehr lebte. Und ich sehr weit davon entfernt war, mich in Mr Carew zu verlieben.
Mr Carew atmete durch und nickte, und er versuchte, seine Schultern etwas zu straffen. »Sie müssen mich für einen furchtbaren Menschen halten, Miss Borrell. Niemand verdient es, mit einer Lüge zu leben. Aber meine Frau … Sie hat sich in ihre eigene Welt zurückgezogen, eine Welt, in der unsere Tochter noch lebt. Wenn sie jetzt gezwungen wird, sich einzugestehen, dass die Kleine tot ist – sie würde es nicht überleben. Nur, was soll ich machen? Sie verlangt immer lauter nach unserer Tochter … Ich habe ihr versichert, dass es dem Kind gut geht, aber … ich schäme mich, das zugeben zu müssen … ich habe meiner Frau eingeredet, dass sie krank ist. Sie ist krank, natürlich, krank an Verstand und Seele, aber ich – und unser Arzt, der gute Mann, er ist so ein guter Freund geworden über diese schwere Zeit, er versteht, wie es in ihr vorgeht –, sie denkt jetzt, dass sie eine ansteckende Krankheit hat und das Kind deswegen nicht sehen darf. Es … es bricht mir das Herz, solche Spiele mit ihr spielen zu müssen, aber was soll ich tun? Ich will sie nicht auch noch verlieren.«
Ich nickte nur. Ich war gekommen, um herauszufinden, was aus der jungen Frau geworden war, die sich hier vor sieben Jahren als Kindermädchen verdingt hatte. Statt einer Spur von Dinah hatte ich jetzt ein unter unerklärlichen Umständen gestorbenes Kind, eine Wahnsinnige und einen Hausherrn, der es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Nur, wenn Mr Carew bereit war, selbst seine eigene Gemahlin derart zu belügen – wer sagte dann, dass er jetzt mir gegenüber die Wahrheit sprach?
»In den letzten Wochen war Mrs Donovan so gut, ab und zu den Kinderwagen durch den Garten zu schieben, wenn ihre Zeit es erlaubt hat, aber Owls End hat nicht mehr viel Personal und Mrs Donovan genug zu tun. Meine Frau soll wissen, dass für unser Kind gut gesorgt wird. Eine eigene Kinderschwester, die der Kleinen ihre ganze Aufmerksamkeit widmet. Deswegen habe ich diese Anzeige geschaltet …« Mr Carew schüttelte den Kopf, als könnte er selbst am wenigsten verstehen, dass sich wirklich jemand darauf beworben hatte. »Sie war so glücklich, als ich ihr die Zeitung mit der Annonce gebracht habe, aber … es war eine dumme Idee, und ich habe nicht darüber nachgedacht, was es für andere bedeuten kann. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an, dass Sie den weiten Weg umsonst auf sich genommen haben.«
Ich schaute ihn an, und er tat mir leid. Ein Mann, der sein Kind hatte begraben müssen und noch nicht einmal darum trauern durfte … Ich glaubte ihm. So verrückt die Geschichte auch klang – warum hätte er sich so etwas ausdenken sollen? Das ergab doch keinen Sinn! Er konnte nicht wissen, dass da jemand auf die Gelegenheit lauerte, sich in Owls End einzuschleichen – vor allem aber war sein Schmerz echt. Ich konnte es an einer ganz einfachen Sache festmachen: Mr Carew nannte niemals den Namen seines verstorbenen Kindes. Für eine Lügengeschichte hätte er sich leicht etwas ausdenken können, aber die Wirklichkeit war dafür zu schmerzhaft.
»Entschuldigen Sie sich nicht«, erwidere ich. »Noch habe ich nicht kehrtgemacht. Sie brauchen jemanden, der Ihnen hilft. Ich habe keine Erfahrung als Gouvernante, aber ich kann Ihnen sagen, ich weiß, wie eine auszusehen hat. Nur, wenn Sie mir eine Frage gestatten: Was haben Sie sich vorgestellt, das ich tun soll, wenn ich nicht gerade unter dem Fenster Ihrer Gattin mit dem Kinderwagen flaniere? Kinder brauchen vielleicht frische Luft, aber nicht zwölf Stunden am Tag – und ich, darauf lege ich Wert, bin kein Dienstmädchen. Selbst wenn Mrs Donovan jemanden braucht, der ihr zur Hand geht: Ich bin nicht gekommen, um ein Stubenmädchen zu spielen oder das Geschirr zu spülen.«
Vielleicht hätte ich sogar das getan, wenn ich damit irgendwie näher an die Wahrheit über Dinahs Schicksal herankam, nur – wie entschlossen ich wirklich war, das sollte Mr Carew unter keinen Umständen wissen.
»Sie … Sie würden das wirklich machen?« Jetzt war Mr Carew endgültig dabei, die Fassung zu verlieren. »Ich hätte nicht erwartet, dass überhaupt jemand … Selbstverständlich sind Sie kein Dienstmädchen, Miss Borrell, das würde ich niemals von Ihnen verlangen! Sie … Sie finden doch sicherlich etwas, womit Sie sich beschäftigen können? Vielleicht lesen Sie Romane? Ein Journal?«
»Ich finde bestimmt etwas«, erwiderte ich. Was erwartete er? Ich war eine Tochter aus gutem Haus, unverheiratet, und ehe ich aus meinem Elternhaus geflohen war, hatte mein Alltag auch nur daraus bestanden, mir irgendwie die Zeit totzuschlagen – auf eine Weise, die auch meine Eltern guthießen, natürlich, denn hätte ich selbst wählen dürfen, ich hätte nicht lange suchen müssen. So war es, als Kompromiss, das Mikroskop geworden. Immerhin. »Ich bin eine vielseitig interessierte, moderne junge Frau, machen Sie sich da keine Sorgen um mich.«
Mr Carew nickte. In seinem Gesicht brannten rote Flecken vor Aufregung. »Sagen Sie, Miss Borrell …«
Ich wartete.
»Tratschen Sie?«, fragte Mr Carew.
Abwehrend hob ich die Hände. »Niemals, Sir! Sie können sich auf meine Verschwiegenheit verlassen.«
Nun war es an Mr Carew, beschwichtigende Gesten zu machen. »Oh, nein, Miss Borrell, ich wollte Ihnen nicht unterstellen … Was ich meinte, war: Würde es Ihnen etwas ausmachen, an einem Tag in der Woche – was wir dann offiziell Ihren ›freien Tag‹ nennen werden –, würden Sie sich dann für ein paar Stunden rüber ins Dorf begeben, vielleicht im Weißen Hirsch ein Pint trinken – nein, ich verstehe, das ist nichts für eine Dame –, aber wenn Sie sich ein wenig mit den Dorfleuten anfreunden könnten, wissen Sie, und dann hier und da ein bisschen erzählen, wie es hier im Haus zugeht …«
»Sie sprechen nicht von der Wahrheit, nehme ich an?«, fragte ich vorsichtig.
Mr Carew, dem die Wangen jetzt wohl mehr vor Scham brannten, nickte. »Wenn das nicht zu viel verlangt ist? Die Dorfleute sind neugierig, natürlich. Wollen wissen, was hier vor sich geht – den Leuten ist nicht entgangen, wie Owls End heruntergekommen ist, seit unser Kind gestorben ist, und dass meine Gattin sich so lange nicht mehr hat blicken lassen. Ich sehe immer wieder, wie sich neugierige Kinder aus dem Dorf in den Garten schleichen, und was noch schlimmer ist, meine Frau sieht sie auch, und der Anblick eines Kindes … Und das Geschwätz der Leute …«
Ich sah Mr Carew, mit seinen unordentlichen Haaren, in seinem schlecht sitzenden Anzug, der ihm um die schmalen Schultern schlotterte. Ich sah das Zimmer, die Tapete, die sich wölbte, wo sie vor Feuchtigkeit aufgequollen war. Ich hatte den Garten vor Augen und die Eingangshalle und die schmutzigen Fenster. Es gab etwas, das Mr Carew mir nicht verraten wollte, aber nun war ich da angekommen, wo ich mehr als einen Grund hatte, danach zu fragen.
»Mr Carew – bitte entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen mit dieser Frage zu nahe trete, aber … wie lang ist es her, dass Ihr Kind gestorben ist?« Kleine Steinchen fügten sich in meinem Kopf zusammen. Owls End war nicht innerhalb von einem Monat so vor die Hunde gegangen und nicht innerhalb von einem Jahr. Aber vor vielleicht sechs, sieben? Wenn Dinah damals das Kindermädchen von Mr Carews Tochter gewesen war, wenn sie sich die Schuld am Tod des Kindes gegeben – oder man sie dessen beschuldigt hatte …
»Zu lang«, sagte Mr Carew, und ich bohrte nicht. Ich wusste, ich würde es schon früh genug herausfinden.
»Ihre Situation ist nicht das, womit ich hier gerechnet hätte«, sagte ich, und das entsprach sicher der Wahrheit. »Und meine Aufgaben als Gouvernante hätte ich mir anders vorgestellt. Aber ich bin hier, weil ich in meinem Leben eine Herausforderung suche – und ich glaube, das Schicksal selbst hat seine Hand im Spiel, dass ich heute hier bin. Die Wege des Herrn sind unergründlich …« Ich schluckte. Den Namen des Herrn in den Mund zu nehmen, fühlte sich falsch an, wo es um Lug und Trug ging. Und doch … »Wenn Sie mich haben wollen, Mr Carew, bin ich Ihre Gouvernante.«
Zu vieles stimmte nicht in Owls End. Und jetzt konnte man auch mich getrost auf diese Liste setzen.
Als ich aus Mr Carews Zimmer kam, war von Mrs Donovan nichts zu sehen. Sie hatte natürlich viel zu tun, trotzdem hätte ich erwartet, dass sie mir vor der Tür auflauern würde, um sicherzugehen, dass ich mich nicht selbstständig machte und auf eigene Faust das Haus erkundete. Jetzt, wo sie nicht da war, konnte ich genau das tun. Es war dumm und unsinnig von mir, das wusste ich – ich hatte Mr Carew zugesagt, und damit war klar, dass ich in Owls End bleiben und noch viele Gelegenheiten haben würde, mich dort umzuschauen.
Und doch ging ich jetzt auf die Zehenspitzen, vorsichtig darauf bedacht, nur nicht erwischt zu werden. Ich wusste nicht, ob ich jetzt schon unter Vertrag stand oder noch nicht, ich hatte nichts unterschrieben, und über so etwas wie Bezahlung hatten wir überhaupt nicht gesprochen – ich war Mr Carews Gouvernante und war es doch noch nicht. So schlich ich über den oberen Flur, der keine Fenster hatte und mit jedem Schritt, den ich mich von der Halle entfernte, dunkler wurde, weil ich es nicht wagte, das Licht anzumachen, und fühlte mich wie ein Eindringling.
Unter meinen Füßen lag ein Teppich, von dem ich irgendwie froh war, ihn nicht so genau erkennen zu können, seine Oberfläche fühlte sich beim Drauftreten mehr wie Moos an als wie etwas, das in ein Haus gehörte, und je weniger ich von den Wänden und Türen erkennen konnte, desto mehr kam es mir vor, als dringe ich tiefer und tiefer in einen Kaninchenbau ein, der mich in ein wundersames Land geführt hatte.
Im Halbdunkel sah ich eine Kommode stehen, gerade rechtzeitig, bevor ich dagegen gestoßen wäre. Es standen ein paar Bilderrahmen darauf, und ich nahm einen von ihnen in die Hand, fühlte das Silber unter meinen Fingern, doch ich konnte nichts von dem Bild darin erkennen. Eine Fotografie, aber damit hörte es auch schon auf – es half nichts, ich konnte nicht herumschnüffeln, solange ich nichts sehen konnte, und in das private Reich der Carews einzudringen, fühlte sich nicht anständig an.
Ich machte kehrt, ging zurück nach unten in die Halle, um Mrs Donovan zu finden. Ich war eine lausige Schnüfflerin, so viel war mir klar – warum hatte ich nicht zumindest eine Schachtel Zündhölzer in der Tasche, um mich verstohlen umzusehen? Aber es half nichts, Mr Carew tat mir so sehr leid, dass ich jetzt nicht einfach sein Haus auf den Kopf stellen wollte, das hatte er nicht verdient … Und während ich die Treppenstufen hinunterstieg, überkam mich noch ein Gefühl. Schuld.
Plötzlich musste ich wieder an Edward denken und wie ich ihn behandelt hatte. Mr Carews Worte schwangen noch in meinen Ohren nach, diese unterdrückten Tränen in seiner Stimme, als er sagte »Ich will sie nicht auch noch verlieren« – hier war ein Mann, der bereit war, eine Frau bedingungslos zu lieben, selbst wenn sie den Verstand verloren hatte, selbst wenn sie nicht mehr Richtig von Falsch, tot von lebendig unterscheiden konnte, die Liebe höret nimmer auf, Mr Carew war der wandelnde Beweis dafür, und auf der anderen Seite hatte ich Edward … Edward, von dem ich wusste, er würde das Gleiche für mich tun.
Edward war mehr als nur eine gute Partie. Edward Semper, Sohn aus guter Familie, Erbe, er hatte ein Stadthaus in Lincoln, war wohlhabend, gut aussehend, charmant, ein Gentleman, wie ich mir keinen besseren hätte wünschen können. Er machte mir Komplimente für meine Schönheit, obwohl wir beide wussten, dass es mit dieser nicht so weit her war, und für meinen Verstand; er freute sich darüber, dass man mit mir interessante Konversation treiben konnte, und lachte mich nicht einmal aus, wenn ich auf einem Spaziergang eine besonders interessante Flechte auf einer Mauer sah und stehen blieb, um sie mir aus der Nähe anzuschauen.
Wenn ich sprach, schaute er mich an und lächelte, als wäre gerade die Sonne aufgegangen. Wo andere Männer ihre Verlobte oder Ehefrau mit strengem Blick zum Schweigen brachten oder mit sauertöpfischer Miene ausreden ließen, um sie hinterher zurechtzuweisen, konnte ich für Edward gar nicht genug reden. Meine Eltern hatten der Verbindung zugestimmt, seine Eltern waren ebenfalls sehr angetan von mir, bereit, mich mit offenen Armen in ihrer Familie zu empfangen, selbst sein kleiner Bruder war ganz vernarrt in mich und konnte es gar nicht erwarten, mir die Käfer zu zeigen, die er gefunden hatte, und bettelte mich an, sie durch meine Lupe untersuchen zu dürfen – alles hätte besser nicht sein können. Wenn jemals ein Mann eine Frau geliebt hatte, dann war es Edward, und Edward liebte mich.
Das Problem war, ich liebte Edward nicht. Ich mochte ihn, so war das nicht, er war wirklich anständig, der beste Mann, den ich mir nur hätte wünschen können, aber sosehr ich es versuchte, und ich gab mir die allergrößte Mühe, mein Herz wollte sich nicht regen. Ich wusste nicht, woran es lag – wenn ich schon Edward, diesen Prachtkerl, nicht lieben konnte, dann würde ich mich auch in keinen anderen Mann jemals verlieben, und konnte ich dann nicht ebenso gut gleich Edward heiraten?
Als er mich fragte, ob ich damit einverstanden wäre, wenn er bei meinem Vater um meine Hand anhielte, sagte ich Ja, mechanisch und ohne lange nachzudenken und weil ich wusste, dass es von mir erwartet wurde. Aber es fühlte sich falsch an, und ich wusste nicht, warum. Er liebte mich so sehr, war bereit, mich auf Händen zu tragen – und ich fühlte mich, als ob ich besser untergebracht wäre in einer kalten, lieblosen Ehe mit einem Mann, der mich nicht ansah und dem ich egal war. So etwas hatte ich verdient; diese große Liebe, die Edward da empfand, war vergeudet an mich, die ich sie nicht erwidern konnte.
Ich wünschte Edward eine Bessere, eine Frau, die ihn so lieben würde wie er sie – aber nun, nachdem ich mit Mr Carew gesprochen hatte, brach alles über mir zusammen. Wie konnte ich erwarten, dass Edward sich jemals in eine andere verlieben sollte, wenn er bereit war, mich zu lieben bis in den Tod? Und ich hatte nichts mehr im Kopf als eine Schwärmerei, der ich mich mit sechzehn Jahren hingegeben hatte, ein junges Mädchen, das von der Liebe noch nichts verstand und sie da suchte, wo sie nicht hingehörte …
Was war ich für ein törichtes Ding, dass ich Dinah so nachhing! Stellte mich an, als wäre sie die große, die wahre Liebe meines Lebens gewesen – dabei hatte ich sie sieben Jahre lang nicht gesehen, keinen Brief an sie geschrieben, ja, kaum einen Gedanken an sie verschwendet, bis Edward in mein Leben trat und ich Gründe suchte, seine Liebe nicht erwidern zu müssen, weil … weil ich Angst davor hatte. Das war es – ich war dumm, ich hatte Angst vor der Liebe, weil sie so groß war und unendlich, und noch war es nicht zu spät, konnte ich zurückfahren, Edward um Vergebung bitten und ihn anflehen, mich doch noch zu nehmen, ein Telegramm musste ich ihm schicken, keinen Augenblick mehr verlieren, und …
Dinah.
Es half nichts. Je mehr ich an Edward dachte, überwältigt von Gefühlen, von denen eines schlimmer war als das andere, schuldig, eine Verräterin, unwürdig, desto mehr sehnte sich mein Herz nach der Frau, mit der ich den ersten und einzigen Kuss meines Lebens ausgetauscht hatte.
Edward hatte mich nie geküsst, wir waren nur verlobt, und es geziemte sich nicht, doch ich wusste, wie gern er es versucht hätte, in einem stillen Moment, ungestört, aber immer, wenn er auch nur seine Lippen auf diese bestimmte Weise schürzte, dass ich wusste, gleich fragt er mich, fand ich schnell eine Ausrede, das Zimmer zu verlassen.
Und dann saß ich da und dachte an Dinah, und ich hatte wieder die Erinnerung an ihren Kuss in meinem Mund … Ich wusste nicht, ob ich jemals wirklich in Dinah verliebt gewesen war oder jetzt nur in ihre Erinnerung, aber ich sehnte mich so sehr nach der Umarmung einer anderen Frau, dass es wehtat. Und nicht nach Edwards.
So kam ich unten in der Halle an, setzte mich auf die Bank, wo Mrs Donovan das Tablett längst fortgeräumt hatte, wischte mir die Tränen aus den Augen und sammelte mich. Ich würde nicht zu Edward zurückkehren. Schuld war eine schlechte Geliebte. Ich würde vielleicht auch nie erfahren, was aus Dinah geworden war, oder sie wiederfinden und feststellen, dass sie mich längst vergessen hatte oder ganz anders war als in meiner Erinnerung. Aber nun war ich einmal hier, und ich würde bleiben. Vielleicht für Dinah. Vielleicht für Mr Carew, für seine Frau oder für sein viel zu früh verstorbenes Kind. Und vielleicht am Ende sogar für mich.
Meine Nase, eben noch von Tränen verstopft, meldete sich und verriet mir, in welcher Richtung ich die Küche finden würde und dass Mrs Donovan dort gerade das Mittagessen zubereitete: Dabei wollte sie sicher nicht gestört werden. Besser, ich ließ sie in Ruhe und nutzte den Umstand aus, dass ich das Haus ungestört für mich hatte. Nicht, um es jetzt doch zu durchsuchen – aber ehe ich wirklich als Gouvernante in Owls End blieb, gab es eine Person, mit der ich sprechen musste. Und weil ich nicht wusste, ob man mich ohne Weiteres zu ihr lassen würde, machte ich mich auf eigene Faust auf den Weg, sie zu finden: nach oben, in den zweiten Stock, wo ich das Licht gesehen hatte.
Ich wusste, ich bewegte mich auf ganz dünnem Eis, als ich die Treppen wieder hinaufstieg und mich auf die Suche nach dem Weg in den zweiten Stock machte. Wobei, wirklich suchen musste ich nicht. Ich war selbst in einem großen Haus auf dem Land aufgewachsen, und diese Herrenhäuser ähnelten sich alle – aus dem einfachen Grund, dass sie alle auf die gleiche Weise zu funktionieren hatten. Von außen mochte man ihnen ihre Epoche ansehen, mit Schmuckelementen oder ohne, strenge Klötze oder mit zierlichen Türmchen, aber innen hatte man doch stets den gleichen Grundriss.
Es gab immer eine Halle, von der aus eine große Treppe nach oben ging. Manchmal führte diese dann weiter in den zweiten Stock. Wenn sie das nicht tat, musste man im ersten Stock dem Flur bis zum Ende folgen und fand dort die nächste Treppe. Irgendwo versteckt gab es das zweite Treppenhaus, das vom Personal genutzt wurde, aber danach suchte ich nicht – wenn ich mich jetzt erwischen ließ und Ärger für mein Herumschnüffeln bekam, war es egal, welches Treppenhaus ich genommen hatte.
Und überhaupt, ich schnüffelte ja nicht. Ich suchte den Lichtschalter, um die Lampen im oberen Flur anzuschalten, und war froh, als mir das nach ein paar Versuchen gelang. Dann schritt ich den Gang hinunter mit den langen, selbstverständlichen Schritten von jemandem, der dort lebte, hielt nicht an, um die Bilder auf der Kommode zu betrachten, versuchte nicht, verschlossene Türen zu öffnen, so neugierig ich auch sein mochte. Ich hatte mich Mr Carew vorgestellt, doch die Mutter sollte immer ein Wort mitzureden haben, wo es um die Auswahl der Gouvernante ging, und so war ich nun auf dem Weg zu Mrs Carew.
Ich hatte noch nie eine Wahnsinnige getroffen. Keine echte zumindest. Einmal hatte ich mit meinen Eltern das Theater besucht. Es gab Hamlet, und ich war fasziniert von Ophelia, barfuß und mit Stroh im Haar: Ich wusste, dass es bloß eine Schauspielerin war, doch in diesem Augenblick sah ich nur ihre herzzerreißende, wilde Freiheit, und ich beneidete sie darum, dass sie die Fesseln abgeschüttelt hatte, selbst wenn der Preis, den sie dafür bezahlt hatte, ihr Leben war und vielleicht ihr Seelenheil noch dazu.
Ophelias Wahnsinn war echt, wahrhaftig, wo Hamlet den seinen nur spielte, und so war es Ophelia, deren Tod mir naheging, nicht Hamlets – doch wer mir am Ende am meisten leidgetan hatte, war Horatio, der mit einem gebrochenen Herzen zurückblieb. Ich wusste, Horatio liebte Hamlet, es war so klar, so offensichtlich, und dass er es so offen aussprechen durfte, ohne mit Gewalt von der Bühne geführt zu werden … Vielleicht war das der Augenblick, wo ich verstand, dass ich Dinah geliebt hatte: Wenn Horatio als Mann Hamlet, einen Mann, derart lieben konnte, dann konnte auch ich als Frau eine Frau lieben.
Da war es natürlich zu spät, Dinah war längst entlassen gewesen, und ich trauerte um sie und Ophelia, bis wir aus dem Theater nach Hause kamen, der Zauber der Bühne wieder verflogen war und ich wusste, dass ich kein Stroh in meinem Haar trug und Füße an den Schuhen und dass Horatios Liebe ebenso erfunden und gespielt war wie Ophelias Wahn.
Die Treppe zum zweiten Stock war genau da, wo ich sie erwartet hatte, und dort oben war die Tür, hinter der Mrs Carew sein musste. Ich sah Licht, das sich bewegte, ich hörte Schritte, die still wurden, als ich näher kam, und da ich nun so oder so ertappt war, konnte ich auch gleich klopfen, und das tat ich. Ich wusste nicht, was mich erwartete, aber Mrs Carew trug bestimmt kein Stroh in den Haaren.
Ich stand still und wartete. Dann öffnete sich die Tür, nur einen winzigen Spaltbreit, zu schmal, um dahinter auch nur ein Auge zu sehen, doch ich hörte jemanden atmen. Dann flüsterte eine Frauenstimme: »Wer sind Sie?«
»Adelia«, antwortete ich. »Adelia Borrell. Ich bin die neue Gouvernante.«
Der Spalt wurde breiter. Ein Gesicht tauchte auf – und ich musste schlucken. Das war nicht Ophelia, die Wahnsinnige. So stellte ich mir Ophelia vor, nachdem man sie aus dem Wasser gezogen hatte. Mrs Carews Gesicht war so bleich, dass es mir fast bläulich erschien, mit großen blauen Augen, über denen ein Schleier lag wie Eisblumen auf einer Fensterscheibe. Sie trug wirklich kein Stroh in ihren Haaren, doch ihr Haar selbst sah aus wie Stroh, und was vielleicht einmal flachsblond gewesen sein mochte, war nun stumpf und gräulich und hing ihr lang und offen ins Gesicht. Die Frau trug ein langes, weißes Nachthemd, und ich war froh, sie auf diesem Weg zu treffen und zu wissen, dass es die Frau des Hausherrn war, denn wäre sie mir nachts über den Weg gelaufen, ich hätte keinen Zweifel daran gehabt, es mit einem Geist zu tun zu haben.
Sie sagte nichts.
»Sie sind doch Mrs Carew, nicht wahr?«, sagte ich. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ihr Mann sagte, dass es Ihnen nicht gut geht – oh, ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht geweckt? Das täte mir furchtbar leid …«
»Ich schlafe nicht«, antwortete die Frau. Und war wieder still.
»Ich dachte nur …« Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Hier heraufzukommen war ein Fehler gewesen, ich hätte Mrs Carews Ruhe nicht stören dürfen – jetzt musste ich sehen, wie ich da wieder herauskam. »Eine Mutter möchte wissen, wem sie ihr Kind anvertraut. Und ich wollte Ihnen die Gelegenheit geben, sich von meiner Qualifikation zu überzeugen – und Ihren Einspruch einzulegen, wenn Ihnen nicht wohl ist bei dem Gedanken, dass Ihr Kind in meinen Händen ist.«
»Mein Kind …«, sagte die Frau.
Ich schluckte. Das war nicht die Frau, mit der ich gerechnet hatte. Natürlich, ich wusste, dass Mrs Carew den Verstand verloren hatte, doch ich dachte, sie wäre vergnügt und munter, solange sie glauben durfte, ihr Kind wäre noch am Leben – stattdessen stand ich dem traurigsten Anblick meines Lebens gegenüber.
»Myrtle«, sagte die Frau. Und dann, endlich, ein Lächeln. Es war entrückt und kam aus einer anderen Welt, und es brachte keinen Glanz in ihre Augen.
»Myrtle«, wiederholte ich. »Genau.«
»Wo ist Myrtle?«, fragte Mrs Carew. »Warum ist sie nicht bei mir?« Ihre Stimme begann zu zittern.
»Sie schläft«, antwortete ich. »Es geht ihr gut.«
»Ihr kleines Köpfchen«, sagte Mrs Carew. »So kahl.«
Ich nickte. Sie schien sich wieder ein bisschen zu beruhigen, aber ich wollte sie nicht zornig machen. Sie jagte mir Angst ein. Woher sollte ich wissen, dass Mrs Carew nicht gefährlich war? Nur, weil man sie nicht in eine Anstalt gesperrt hatte? Mr Carew würde das niemals tun, er liebte seine Frau zu sehr dafür, aber … vielleicht hätte er das besser getan?
Ich atmete durch. Sicher wäre ihre Tür abgesperrt gewesen, wenn irgendeine Gefahr von Mrs Carew ausgegangen wäre, aber die Tür war offen. Es musste alles in Ordnung sein.
»Zwei Zähne hat sie schon«, sagte Mrs Carew. »Und nicht ein einziges Haar.«
Ich versuchte zu lächeln. »So haben wir alle einmal ausgesehen, nicht wahr?«
Mrs Carew fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Ich musste mit ihrem Ehemann sprechen. Vielleicht brauchte Mrs Carew eine Gouvernante, doch noch dringender brauchte sie eine Zofe. Eine Gesellschafterin. Jemanden, um sie wieder auf andere Gedanken zu bringen – hier saß die arme Frau, isoliert von der Welt, mit nichts als den Erinnerungen an ein Kind, das nicht mehr bei ihr sein konnte. Ich verstand nichts von Wahnsinn und wie man ihn heilen konnte, wenn überhaupt, aber das hier, so erschien es mir, war nicht der richtige Weg. Ich wollte Mr Carew nicht kritisieren, doch so ließ er seine Frau nicht minder leiden als sich selbst, und das konnte für beide nicht gut sein.
Dann hob Mrs Carew den Kopf und blickte mich an, und plötzlich glaubte ich, Verstand hinter ihren Augen hervorblitzen zu sehen. »Wer sind Sie?«, fragte sie, als hätte unsere Unterhaltung niemals stattgefunden, als wäre Mrs Carew gerade aus hundertjährigem Schlaf erwacht.
»Ich bin Adelia Borrell«, antwortete ich und fügte hinzu: »Della, wenn Sie mögen.« Ich wusste nicht, warum ich das sagte. Meine Eltern hatten mich so gerufen, als ich ein kleines Mädchen war, und später Dinah – seit Dinahs Fortgang hatte mich niemand mehr so genannt …
»Wer sind Sie, Della Borrell?«, fragte Mrs Carew, und ich verstand, dass sie mehr wollte als nur meinen Namen. »Was sind Sie?«
»Ich bin hier in Lincolnshire aufgewachsen«, sagte ich. »Ein kleiner Ort, er wird Ihnen nicht mehr sagen als Octon mir, bevor ich hergekommen bin. Ich liebe es, an der frischen Luft zu sein und die Natur zu erkunden. Es gibt so vieles, was da draußen kreucht und fleucht, ich freue mich schon darauf, es alles Myrtle zu zeigen, wenn sie ein bisschen älter ist. Und später … Meine Eltern haben mich lernen lassen, was immer mein Herz begehrte, und ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass auch ein Mädchen wissbegierig sein kann – ich habe so vieles lernen dürfen und bin bereit, das alles an ein aufgewecktes kleines Ding weiterzugeben.«
Mein Herz hämmerte. Das Kind war tot. Ich log. Es war alles so falsch …
Mrs Carew blickte mich an, lange, fragend, ob als ob es mein Geisteszustand war, an dem sie zweifelte, und nicht umgekehrt. »Sie wissen …«, fing sie an, und ich hielt die Luft an – wenn sie jetzt fortfuhr mit »Sie wissen, dass Myrtle nicht mehr am Leben ist, warum lügen Sie mich dann an?« …
»Sie wissen, dass ich mein Kind nicht sehen darf«, sagte sie dann, und ich atmete auf, ein kleines bisschen. »Mein Mann – mein Mann lässt sie mich nicht mehr sehen. Seit …« Da, der Schleier legte sich wieder über ihre Augen. »Seit – ich weiß nicht, seit wann.« Sie schüttelte den Kopf. »Es fühlt sich so lang an … Ihr kleines Köpfchen … Ihr müssen doch längst Haare gewachsen sein.« Ohne den Blick von mir zu nehmen, wickelte sie eine Strähne um ihren Finger. »Wie viel Zeit ist vergangen, Della Borrell? Hundert Jahre wie ein Tag …«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, sagte ich und fühlte, wie ich ins Schwimmen geriet. »Myrtle hat ein Häubchen getragen, wissen Sie? Sie soll sich ja nicht den Kopf verkühlen. Aber sie ist noch klein.« Ich deutete mit meinen Händen eine Größe an, von der ich mir vorstellen konnte, dass sie noch in einen Kinderwagen passen sollte, aber innerlich zitterte ich. Wenn mich genau die Person durchschaute, für die dieser ganze Schwindel überhaupt gedacht war …
Plötzlich ließ Mrs Carew von ihrer Haarsträhne ab, schnellte ihre Hand nach vorn und packte mich beim Handgelenk. Ihre Finger waren so bleich wie ihr Gesicht, doch es waren ihre Nägel, vor denen es mich grauste, kurz und abgenagt, dass ihr die Fingerkuppen bluteten.
»Helfen Sie mir!«, flüsterte Mrs Carew. »Bitte.«
Ich machte einen Schritt rückwärts und hoffte, dass sie mich dann loslassen würde, aber das Gegenteil passierte, Mrs Carew trat aus ihrem Zimmer auf den Flur, barfuß, mit schmutzigen Füßen. Ich geriet in Panik – was, wenn ich freigelassen hatte, was niemals frei sein durfte?
»Ich … ich tue, was ich kann«, sagte ich ausweichend.
»Bringen Sie mich zu meinem Kind!«
Ich legte eine Hand an Mrs Carews Schulter und versuchte, sie mit sanftem Druck zurück in ihr Zimmer zu schieben. »Das kann ich nicht tun, Mrs Carew. Ihre Krankheit, Sie wissen …«
»Dann bringen Sie mein Kind zu mir!« Mrs Carew rührte sich kein Stück.
»Auch das … Auch das kann ich nicht«, flüsterte ich.