Die Wahlverwandtschaften - Johann Wolfgang von Goethe - E-Book + Hörbuch

Die Wahlverwandtschaften E-Book

Johann Wolfgang von Goethe

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Beschreibung

Goethes "Wahlverwandtschaften" ist ein Roman aus dem Jahr 1809. Er beschreibt die Geschichte des in abgeschiedener Zweisamkeit lebenden Paares Charlotte und Eduard, deren Ehe durch das Aufeinandertreffen mit zwei Gästen auseinanderzubrechen droht. Der Roman markiert den Übergang hin zu Goethes Alterswerk und wir oft als sein bester und zugleich auch als sein rätselhaftester bezeichnet. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 398

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Johann Wolfgang von Goethe

Die Wahlverwandtschaften

Ein Roman

Johann Wolfgang von Goethe

Die Wahlverwandtschaften

Ein Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962816-58-2

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Eilf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Die wun­der­li­chen Nach­bars­kin­der

Eilf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

Erster Teil

Erstes Kapitel

Eduard – so nen­nen wir einen rei­chen Baron im bes­ten Man­nes­al­ter – Eduard hat­te in sei­ner Baum­schu­le die schöns­te Stun­de ei­nes April­nach­mit­tags zu­ge­bracht, um frisch er­hal­te­ne Pfropf­rei­ser auf jun­ge Stäm­me zu brin­gen. Sein Ge­schäft war eben vollen­det; er leg­te die Gerät­schaf­ten in das Fut­te­ral zu­sam­men und be­trach­te­te sei­ne Ar­beit mit Ver­gnü­gen, als der Gärt­ner hin­zu­trat und sich an dem teil­neh­men­den Flei­ße des Herrn er­getz­te.

»Hast du mei­ne Frau nicht ge­se­hen?« frag­te Eduard, in­dem er sich wei­ter­zu­ge­hen an­schick­te.

»Drü­ben in den neu­en An­la­gen«, ver­setz­te der Gärt­ner. »Die Moos­hüt­te wird heu­te fer­tig, die sie an der Fels­wand, dem Schlos­se ge­gen­über, ge­baut hat. Al­les ist recht schön ge­wor­den und muss Euer Gna­den ge­fal­len. Man hat einen vor­treff­li­chen An­blick: un­ten das Dorf, ein we­nig rech­ter Hand die Kir­che, über de­ren Turm­spit­ze man fast hin­weg­sieht, ge­gen­über das Schloss und die Gär­ten.«

»Ganz recht«, ver­setz­te Eduard; »ei­ni­ge Schrit­te von hier konn­te ich die Leu­te ar­bei­ten se­hen.«

»Dann«, fuhr der Gärt­ner fort, »öff­net sich rechts das Tal, und man sieht über die rei­chen Baum­wie­sen in eine hei­te­re Fer­ne. Der Stieg die Fel­sen hin­auf ist gar hübsch an­ge­legt. Die gnä­di­ge Frau ver­steht es; man ar­bei­tet un­ter ihr mit Ver­gnü­gen.«

»Geh zu ihr«, sag­te Eduard, »und er­su­che sie, auf mich zu war­ten. Sage ihr, ich wün­sche die neue Schöp­fung zu se­hen und mich dar­an zu er­freu­en.«

Der Gärt­ner ent­fern­te sich ei­lig, und Eduard folg­te bald.

Die­ser stieg nun die Ter­ras­sen hin­un­ter, mus­ter­te im Vor­bei­ge­hen Ge­wächs­häu­ser und Trei­be­bee­te, bis er ans Was­ser, dann über einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neu­en An­la­gen in zwei Arme teil­te. Den einen, der über den Kirch­hof ziem­lich ge­ra­de nach der Fels­wand hin­ging, ließ er lie­gen, um den an­de­ren ein­zu­schla­gen, der sich links et­was wei­ter durch an­mu­ti­ges Ge­büsch sach­te hin­auf­wand; da, wo bei­de zu­sam­men­tra­fen, setz­te er sich für einen Au­gen­blick auf ei­ner wohl­an­ge­brach­ten Bank nie­der, be­trat so­dann den ei­gent­li­chen Stieg und sah sich durch al­ler­lei Trep­pen und Ab­sät­ze auf dem schma­len, bald mehr bald we­ni­ger stei­len Wege end­lich zur Moos­hüt­te ge­lei­tet.

An der Türe emp­fing Char­lot­te ih­ren Ge­mahl und ließ ihn der­ge­stalt nie­der­sit­zen, dass er durch Tür und Fens­ter die ver­schie­de­nen Bil­der, wel­che die Land­schaft gleich­sam im Rah­men zeig­ten, auf einen Blick über­se­hen konn­te. Er freu­te sich dar­an in Hoff­nung, dass der Früh­ling bald al­les noch reich­li­cher be­le­ben wür­de.

»Nur ei­nes habe ich zu er­in­nern«, setz­te er hin­zu, »die Hüt­te scheint mir et­was zu eng.«

»Für uns bei­de doch ge­räu­mig ge­nug«, ver­setz­te Char­lot­te.

»Nun frei­lich«, sag­te Eduard, »für einen Drit­ten ist auch wohl noch Platz.«

»Wa­rum nicht?« ver­setz­te Char­lot­te, »und auch für ein Vier­tes. Für grö­ße­re Ge­sell­schaft wol­len wir schon an­de­re Stel­len be­rei­ten.«

»Da wir denn un­ge­stört hier al­lein sind«, sag­te Eduard, »und ganz ru­hi­gen, hei­te­ren Sin­nes, so muss ich dir ge­ste­hen, dass ich schon ei­ni­ge Zeit et­was auf dem Her­zen habe, was ich dir ver­trau­en muss und möch­te, und nicht dazu kom­men kann.«

»Ich habe dir so et­was an­ge­merkt«, ver­setz­te Char­lot­te.

»Und ich will nur ge­ste­hen«, fuhr Eduard fort, »wenn mich der Post­bo­te mor­gen früh nicht dräng­te, wenn wir uns nicht heut ent­schlie­ßen müss­ten, ich hät­te viel­leicht noch län­ger ge­schwie­gen.«

»Was ist es denn?« frag­te Char­lot­te freund­lich ent­ge­gen­kom­mend.

»Es be­trifft un­sern Freund, den Haupt­mann«, ant­wor­te­te Eduard. »Du kennst die trau­ri­ge Lage, in die er, wie so man­cher an­de­re, ohne sein Ver­schul­den ge­setzt ist. Wie schmerz­lich muss es ei­nem Man­ne von sei­nen Kennt­nis­sen, sei­nen Ta­len­ten und Fer­tig­kei­ten sein, sich au­ßer Tä­tig­keit zu se­hen und – ich will nicht lan­ge zu­rück­hal­ten mit dem, was ich für ihn wün­sche: ich möch­te, dass wir ihn auf ei­ni­ge Zeit zu uns näh­men.«

»Das ist wohl zu über­le­gen und von mehr als ei­ner Sei­te zu be­trach­ten«, ver­setz­te Char­lot­te.

»Mei­ne An­sich­ten bin ich be­reit dir mit­zu­tei­len«, ent­geg­ne­te ihr Eduard. »In sei­nem letz­ten Brie­fe herrscht ein stil­ler Aus­druck des tiefs­ten Miss­mu­tes; nicht dass es ihm an ir­gend­ei­nem Be­dürf­nis feh­le, denn er weiß sich durch­aus zu be­schrän­ken, und für das Not­wen­di­ge habe ich ge­sorgt; auch drückt es ihn nicht, et­was von mir an­zu­neh­men, denn wir sind uns­re Leb­zeit über ein­an­der wech­sel­sei­tig uns so viel schul­dig ge­wor­den, dass wir nicht be­rech­nen kön­nen, wie un­ser Kre­dit und De­bet sich ge­gen­ein­an­der ver­hal­te – dass er ge­schäft­los ist, das ist ei­gent­lich sei­ne Qual. Das Viel­fa­che, was er an sich aus­ge­bil­det hat, zu and­rer Nut­zen täg­lich und stünd­lich zu ge­brau­chen, ist ganz al­lein sein Ver­gnü­gen, ja sei­ne Lei­den­schaft. Und nun die Hän­de in den Schoß zu le­gen oder noch wei­ter zu stu­die­ren, sich wei­te­re Ge­schick­lich­keit zu ver­schaf­fen, da er das nicht brau­chen kann, was er in vol­lem Maße be­sitzt – ge­nug, lie­bes Kind, es ist eine pein­li­che Lage, de­ren Qual er dop­pelt und drei­fach in sei­ner Ein­sam­keit emp­fin­det.«

»Ich dach­te doch«, sag­te Char­lot­te, »ihm wä­ren von ver­schie­de­nen Or­ten Aner­bie­tun­gen ge­sche­hen. Ich hat­te selbst um sei­net­wil­len an man­che tä­ti­ge Freun­de und Freun­din­nen ge­schrie­ben, und so­viel ich weiß, blieb dies auch nicht ohne Wir­kung.«

»Ganz recht«, ver­setz­te Eduard; »aber selbst die­se ver­schie­de­nen Ge­le­gen­hei­ten, die­se Aner­bie­tun­gen ma­chen ihm neue Qual, neue Un­ru­he. Kei­nes von den Ver­hält­nis­sen ist ihm ge­mäß. Er soll nicht wir­ken; er soll sich auf­op­fern, sei­ne Zeit, sei­ne Ge­sin­nun­gen, sei­ne Art zu sein, und das ist ihm un­mög­lich. Je mehr ich das al­les be­trach­te, je mehr ich es füh­le, de­sto leb­haf­ter wird der Wunsch, ihn bei uns zu se­hen.«

»Es ist recht schön und lie­bens­wür­dig von dir«, ver­setz­te Char­lot­te, »dass du des Freun­des Zu­stand mit so­viel Teil­nah­me be­denkst; al­lein er­lau­be mir, dich auf­zu­for­dern, auch dei­ner, auch un­ser zu ge­den­ken.«

»Das habe ich ge­tan«, ent­geg­ne­te ihr Eduard. »Wir kön­nen von sei­ner Nähe uns nur Vor­teil und An­nehm­lich­keit ver­spre­chen. Von dem Auf­wan­de will ich nicht re­den, der auf alle Fäl­le ge­ring für mich wird, wenn er zu uns zieht, be­son­ders wenn ich zu­gleich be­den­ke, dass uns sei­ne Ge­gen­wart nicht die min­des­te Un­be­quem­lich­keit ver­ur­sacht. Auf dem rech­ten Flü­gel des Schlos­ses kann er woh­nen, und al­les an­de­re fin­det sich. Wie viel wird ihm da­durch ge­leis­tet, und wie man­ches An­ge­neh­me wird uns durch sei­nen Um­gang, ja wie man­cher Vor­teil! Ich hät­te längst eine Aus­mes­sung des Gu­tes und der Ge­gend ge­wünscht; er wird sie be­sor­gen und lei­ten. Dei­ne Ab­sicht ist, selbst die Gü­ter künf­tig zu ver­wal­ten, so­bald die Jah­re der ge­gen­wär­ti­gen Päch­ter ver­flos­sen sind. Wie be­denk­lich ist ein sol­ches Un­ter­neh­men! Zu wie man­chen Vor­kennt­nis­sen kann er uns nicht ver­hel­fen! Ich füh­le nur zu sehr, dass mir ein Mann die­ser Art ab­ge­ht. Die Land­leu­te ha­ben die rech­ten Kennt­nis­se; ihre Mit­tei­lun­gen aber sind kon­fus und nicht ehr­lich. Die Stu­dier­ten aus der Stadt und von den Aka­de­mi­en sind wohl klar und or­dent­lich, aber es fehlt an der un­mit­tel­ba­ren Ein­sicht in die Sa­che. Vom Freun­de kann ich mir bei­des ver­spre­chen; und dann ent­sprin­gen noch hun­dert an­de­re Ver­hält­nis­se dar­aus, die ich mir alle gern vor­stel­len mag, die auch auf dich Be­zug ha­ben und wo­von ich viel Gu­tes vor­aus­se­he. Nun dan­ke ich dir, dass du mich freund­lich an­ge­hört hast; jetzt sprich aber auch recht frei und um­ständ­lich und sage mir al­les, was du zu sa­gen hast; ich will dich nicht un­ter­bre­chen.«

»Recht gut«, ver­setz­te Char­lot­te; »so will ich gleich mit ei­ner all­ge­mei­nen Be­mer­kung an­fan­gen. Die Män­ner den­ken mehr auf das Ein­zel­ne, auf das Ge­gen­wär­ti­ge, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wir­ken be­ru­fen sind, die Wei­ber hin­ge­gen mehr auf das, was im Le­ben zu­sam­men­hängt, und das mit glei­chem Rech­te, weil ihr Schick­sal, das Schick­sal ih­rer Fa­mi­li­en an die­sen Zu­sam­men­hang ge­knüpft ist und auch ge­ra­de die­ses Zu­sam­men­hän­gen­de von ih­nen ge­for­dert wird. Lass uns des­we­gen einen Blick auf un­ser ge­gen­wär­ti­ges, auf un­ser ver­gan­ge­nes Le­ben wer­fen, und du wirst mir ein­ge­ste­hen, dass die Be­ru­fung des Haupt­man­nes nicht so ganz mit un­sern Vor­sät­zen, un­sern Pla­nen, un­sern Ein­rich­tun­gen zu­sam­men­trifft.

Mag ich doch so gern un­se­rer frühs­ten Ver­hält­nis­se ge­den­ken! Wir lieb­ten ein­an­der als jun­ge Leu­te recht herz­lich; wir wur­den ge­trennt; du von mir, weil dein Va­ter, aus nie zu sät­ti­gen­der Be­gier­de des Be­sit­zes, dich mit ei­ner ziem­lich äl­te­ren, rei­chen Frau ver­band; ich von dir, weil ich, ohne son­der­li­che Aus­sich­ten, ei­nem wohl­ha­ben­den, nicht ge­lieb­ten, aber ge­ehr­ten Man­ne mei­ne Hand rei­chen muss­te.

Wir wur­den wie­der frei; du frü­her, in­dem dich dein Müt­ter­chen im Be­sitz ei­nes großen Ver­mö­gens ließ; ich spä­ter, eben zu der Zeit, da du von Rei­sen zu­rück­kamst.

So fan­den wir uns wie­der. Wir freu­ten uns der Erin­ne­rung, wir lieb­ten die Erin­ne­rung, wir konn­ten un­ge­stört zu­sam­men­le­ben. Du drangst auf eine Ver­bin­dung; ich wil­lig­te nicht gleich ein, denn da wir un­ge­fähr von den­sel­ben Jah­ren sind, so bin ich als Frau wohl äl­ter ge­wor­den, du nicht als Mann. Zu­letzt woll­te ich dir nicht ver­sa­gen, was du für dein ein­zi­ges Glück zu hal­ten schienst. Du woll­test von al­len Un­ru­hen, die du bei Hof, im Mi­li­tär, auf Rei­sen er­lebt hat­test, dich an mei­ner Sei­te er­ho­len, zur Be­sin­nung kom­men, des Le­bens ge­nie­ßen; aber auch nur mit mir al­lein. Mei­ne ein­zi­ge Toch­ter tat ich in Pen­si­on, wo sie sich frei­lich man­nig­fal­ti­ger aus­bil­det, als bei ei­nem länd­li­chen Auf­ent­hal­te ge­sche­hen könn­te; und nicht sie al­lein, auch Ot­ti­li­en, mei­ne lie­be Nich­te, tat ich dort­hin, die viel­leicht zur häus­li­chen Ge­hil­fin un­ter mei­ner An­lei­tung am bes­ten her­an­ge­wach­sen wäre. Das al­les ge­sch­ah mit dei­ner Ein­stim­mung, bloß da­mit wir uns selbst le­ben, bloß da­mit wir das früh so sehn­lich ge­wünsch­te, end­lich spät er­lang­te Glück un­ge­stört ge­nie­ßen möch­ten. So ha­ben wir un­sern länd­li­chen Auf­ent­halt an­ge­tre­ten.

Ich über­nahm das In­ne­re, du das Äu­ße­re und was ins Gan­ze geht. Mei­ne Ein­rich­tung ist ge­macht, dir in al­lem ent­ge­gen­zu­kom­men, nur für dich al­lein zu le­ben; lass uns we­nigs­tens eine Zeit lang ver­su­chen, in­wie­fern wir auf die­se Wei­se mit­ein­an­der aus­rei­chen.«

»Da das Zu­sam­men­hän­gen­de, wie du sagst, ei­gent­lich euer Ele­ment ist«, ver­setz­te Eduard, »so muss man euch frei­lich nicht in ei­ner Fol­ge re­den hö­ren oder sich ent­schlie­ßen, euch recht zu ge­ben; und du sollst auch recht ha­ben bis auf den heu­ti­gen Tag. Die An­la­ge, die wir bis jetzt zu un­serm Da­sein ge­macht ha­ben, ist von gu­ter Art; sol­len wir aber nichts wei­ter dar­auf bau­en, und soll sich nichts wei­ter dar­aus ent­wi­ckeln? Was ich im Gar­ten leis­te, du im Park, soll das nur für Ein­sied­ler ge­tan sein?«

»Recht gut!« ver­setz­te Char­lot­te, »recht wohl! Nur dass wir nichts Hin­dern­des, Frem­des her­ein­brin­gen! Be­den­ke, dass uns­re Vor­sät­ze, auch was die Un­ter­hal­tung be­trifft, sich ge­wis­ser­ma­ßen nur auf un­ser bei­der­sei­ti­ges Zu­sam­men­sein be­zo­gen. Du woll­test zu­erst die Ta­ge­bü­cher dei­ner Rei­se mir in or­dent­li­cher Fol­ge mit­tei­len, bei die­ser Ge­le­gen­heit so man­ches da­hin Ge­hö­ri­ge von Pa­pie­ren in Ord­nung brin­gen und un­ter mei­ner Teil­nah­me, mit mei­ner Bei­hil­fe aus die­sen un­schätz­ba­ren, aber ver­wor­re­nen Hef­ten und Blät­tern ein für uns und an­de­re er­freu­li­ches Gan­ze zu­sam­men­stel­len. Ich ver­sprach, dir an der Ab­schrift zu hel­fen, und wir dach­ten es uns so be­quem, so ar­tig, so ge­müt­lich und heim­lich, die Welt, die wir zu­sam­men nicht se­hen soll­ten, in der Erin­ne­rung zu durch­rei­sen. Ja, der An­fang ist schon ge­macht. Dann hast du die Aben­de dei­ne Flö­te wie­der vor­ge­nom­men, be­glei­test mich am Kla­vier; und an Be­su­chen aus der Nach­bar­schaft und in die Nach­bar­schaft fehlt es uns nicht. Ich we­nigs­tens habe mir aus al­lem die­sem den ers­ten wahr­haft fröh­li­chen Som­mer zu­sam­men­ge­baut, den ich in mei­nem Le­ben zu ge­nie­ßen dach­te.«

»Wenn mir nur nicht«, ver­setz­te Eduard, in­dem er sich die Stir­ne rieb, »bei alle dem, was du mir so lie­be­voll und ver­stän­dig wie­der­holst, im­mer der Ge­dan­ke bei­gin­ge, durch die Ge­gen­wart des Haupt­manns wür­de nichts ge­stört, ja viel­mehr al­les be­schleu­nigt und neu be­lebt. Auch er hat einen Teil mei­ner Wan­de­run­gen mit­ge­macht; auch er hat man­ches, und in ver­schie­de­nem Sin­ne, sich an­ge­merkt: wir be­nutz­ten das zu­sam­men, und als­dann wür­de es erst ein hüb­sches Gan­ze wer­den.«

»So lass mich denn dir auf­rich­tig ge­ste­hen«, ent­geg­ne­te Char­lot­te mit ei­ni­ger Un­ge­duld, »dass die­sem Vor­ha­ben mein Ge­fühl wi­der­spricht, dass eine Ah­nung mir nichts Gu­tes weis­sagt.«

»Auf die­se Wei­se wä­ret ihr Frau­en wohl un­über­wind­lich«, ver­setz­te Eduard, »erst ver­stän­dig, dass man nicht wi­der­spre­chen kann, lie­be­voll, dass man sich gern hin­gibt, ge­fühl­voll, dass man euch nicht weh tun mag, ah­nungs­voll, dass man erschrickt.«

»Ich bin nicht aber­gläu­bisch«, ver­setz­te Char­lot­te, »und gebe nichts auf die­se dunklen An­re­gun­gen, in­so­fern sie nur sol­che wä­ren; aber es sind meis­ten­teils un­be­wuss­te Erin­ne­run­gen glück­li­cher und un­glück­li­cher Fol­gen, die wir an ei­ge­nen oder frem­den Hand­lun­gen er­lebt ha­ben. Nichts ist be­deu­ten­der in je­dem Zu­stan­de als die Da­zwi­schen­kunft ei­nes Drit­ten. Ich habe Freun­de ge­se­hen, Ge­schwis­ter, Lie­ben­de, Gat­ten, de­ren Ver­hält­nis durch den zu­fäl­li­gen oder ge­wähl­ten Hin­zu­tritt ei­ner neu­en Per­son ganz und gar ver­än­dert, de­ren Lage völ­lig um­ge­kehrt wur­de.«

»Das kann wohl ge­sche­hen«, ver­setz­te Eduard, »bei Men­schen, die nur dun­kel vor sich hin­le­ben, nicht bei sol­chen, die, schon durch Er­fah­rung auf­ge­klärt, sich mehr be­wusst sind.«

»Das Be­wusst­sein, mein Liebs­ter«, ent­geg­ne­te Char­lot­te, »ist kei­ne hin­läng­li­che Waf­fe, ja manch­mal eine ge­fähr­li­che für den, der sie führt; und aus die­sem al­len tritt we­nigs­tens so­viel her­vor, dass wir uns ja nicht über­ei­len sol­len. Gön­ne mir noch ei­ni­ge Tage, ent­schei­de nicht!«

»Wie die Sa­che steht«, er­wi­der­te Eduard, »wer­den wir uns auch nach meh­re­ren Ta­gen im­mer über­ei­len. Die Grün­de für und da­ge­gen ha­ben wir wech­sels­wei­se vor­ge­bracht; es kommt auf den Ent­schluss an, und da wär es wirk­lich das Bes­te, wir gä­ben ihn dem Los an­heim.«

»Ich weiß«, ver­setz­te Char­lot­te, »dass du in zwei­fel­haf­ten Fäl­len ger­ne wet­test oder wür­felst; bei ei­ner so ernst­haf­ten Sa­che hin­ge­gen wür­de ich dies für einen Fre­vel hal­ten.«

»Was soll ich aber dem Haupt­mann schrei­ben?« rief Eduard aus; »denn ich muss mich gleich hin­set­zen.«

»Ei­nen ru­hi­gen, ver­nünf­ti­gen, tröst­li­chen Brief«, sag­te Char­lot­te.

»Das heißt so­viel wie kei­nen«, ver­setz­te Eduard.

»Und doch ist es in man­chen Fäl­len«, ver­setz­te Char­lot­te, »not­wen­dig und freund­lich, lie­ber nichts zu schrei­ben, als nicht zu schrei­ben.«

Zweites Kapitel

Eduard fand sich al­lein auf sei­nem Zim­mer, und wirk­lich hat­te die Wie­der­ho­lung sei­ner Le­bens­schick­sa­le aus dem Mun­de Char­lot­tens, die Ver­ge­gen­wär­ti­gung ih­res bei­der­sei­ti­gen Zu­stan­des, ih­rer Vor­sät­ze sein leb­haf­tes Ge­müt an­ge­nehm auf­ge­regt. Er hat­te sich in ih­rer Nähe, in ih­rer Ge­sell­schaft so glück­lich ge­fühlt, dass er sich einen freund­li­chen, teil­neh­men­den, aber ru­hi­gen und auf nichts hin­deu­ten­den Brief an den Haupt­mann aus­dach­te. Als er aber zum Schreib­tisch ging und den Brief des Freun­des auf­nahm, um ihn noch­mals durch­zu­le­sen, trat ihm so­gleich wie­der der trau­ri­ge Zu­stand des treff­li­chen Man­nes ent­ge­gen; alle Emp­fin­dun­gen, die ihn die­se Tage ge­pei­nigt hat­ten, wach­ten wie­der auf, und es schi­en ihm un­mög­lich, sei­nen Freund ei­ner so ängst­li­chen Lage zu über­las­sen.

Sich et­was zu ver­sa­gen, war Eduard nicht ge­wohnt. Von Ju­gend auf das ein­zi­ge, ver­zo­ge­ne Kind rei­cher El­tern, die ihn zu ei­ner selt­sa­men, aber höchst vor­teil­haf­ten Hei­rat mit ei­ner viel äl­te­ren Frau zu be­re­den wuss­ten, von die­ser auch auf alle Wei­se ver­zär­telt, in­dem sie sein gu­tes Be­tra­gen ge­gen sie durch die größ­te Frei­ge­big­keit zu er­wi­dern such­te, nach ih­rem bal­di­gen Tode sein eig­ner Herr, auf Rei­sen un­ab­hän­gig, je­der Ab­wechs­lung, je­der Ver­än­de­rung mäch­tig, nichts Über­trie­be­nes wol­lend, aber viel und vie­ler­lei wol­lend, frei­mü­tig, wohl­tä­tig, brav, ja tap­fer im Fall – was konn­te in der Welt sei­nen Wün­schen ent­ge­gen­ste­hen!

Bis­her war al­les nach sei­nem Sin­ne ge­gan­gen, auch zum Be­sitz Char­lot­tens war er ge­langt, den er sich durch eine hart­nä­cki­ge, ja ro­ma­nen­haf­te Treue doch zu­letzt er­wor­ben hat­te; und nun fühl­te er sich zum ers­ten Mal wi­der­spro­chen, zum ers­ten Mal ge­hin­dert, eben da er sei­nen Ju­gend­freund an sich her­an­zie­hen, da er sein gan­zes Da­sein gleich­sam ab­schlie­ßen woll­te. Er war ver­drieß­lich, un­ge­dul­dig, nahm ei­ni­ge­mal die Fe­der und leg­te sie nie­der, weil er nicht ei­nig mit sich wer­den konn­te, was er schrei­ben soll­te. Ge­gen die Wün­sche sei­ner Frau woll­te er nicht, nach ih­rem Ver­lan­gen konn­te er nicht; un­ru­hig wie er war, soll­te er einen ru­hi­gen Brief schrei­ben; es wäre ihm ganz un­mög­lich ge­we­sen. Das Na­tür­lichs­te war, dass er Auf­schub such­te. Mit we­nig Wor­ten bat er sei­nen Freund um Ver­zei­hung, dass er die­se Tage nicht ge­schrie­ben, dass er heut nicht um­ständ­lich schrei­be, und ver­sprach für nächs­tens ein be­deu­ten­de­res, ein be­ru­hi­gen­des Blatt.

Char­lot­te be­nutz­te des an­de­ren Tags auf ei­nem Spa­zier­gang nach der­sel­ben Stel­le die Ge­le­gen­heit, das Ge­spräch wie­der an­zu­knüp­fen, viel­leicht in der Über­zeu­gung, dass man einen Vor­satz nicht si­che­rer ab­stump­fen kann, als wenn man ihn öf­ters durch­spricht.

Eduar­den war die­se Wie­der­ho­lung er­wünscht. Er äu­ßer­te sich nach sei­ner Wei­se freund­lich und an­ge­nehm; denn wenn er, emp­fäng­lich wie er war, leicht auf­lo­der­te, wenn sein leb­haf­tes Be­geh­ren zu­dring­lich ward, wenn sei­ne Hart­nä­ckig­keit un­ge­dul­dig ma­chen konn­te, so wa­ren doch alle sei­ne Äu­ße­run­gen durch eine voll­kom­me­ne Scho­nung des an­de­ren der­ge­stalt ge­mil­dert, dass man ihn im­mer noch lie­bens­wür­dig fin­den muss­te, wenn man ihn auch be­schwer­lich fand.

Auf eine sol­che Wei­se brach­te er Char­lot­ten die­sen Mor­gen erst in die hei­ters­te Lau­ne, dann durch an­mu­ti­ge Ge­sprächs­wen­dun­gen ganz aus der Fas­sung, so­dass sie zu­letzt aus­rief: »Du willst ge­wiss, dass ich das, was ich dem Ehe­mann ver­sag­te, dem Lieb­ha­ber zu­ge­ste­hen soll. We­nigs­tens, mein Lie­ber«, fuhr sie fort, »sollst du ge­wahr wer­den, dass dei­ne Wün­sche, die freund­li­che Leb­haf­tig­keit, wo­mit du sie aus­drückst, mich nicht un­ge­rührt, mich nicht un­be­wegt las­sen. Sie nö­ti­gen mich zu ei­nem Ge­ständ­nis. Ich habe dir bis­her auch et­was ver­bor­gen. Ich be­fin­de mich in ei­ner ähn­li­chen Lage wie du und habe mir schon eben die Ge­walt an­ge­tan, die ich dir nun über dich selbst zu­mu­te.«

»Das hör ich gern«, sag­te Eduard; »ich mer­ke wohl, im Ehe­stand muss man sich manch­mal strei­ten, denn da­durch er­fährt man was von­ein­an­der.«

»Nun sollst du also er­fah­ren«, sag­te Char­lot­te, »dass es mir mit Ot­ti­li­en geht, wie dir mit dem Haupt­mann. Höchst un­gern weiß ich das lie­be Kind in der Pen­si­on, wo sie sich in sehr drücken­den Ver­hält­nis­sen be­fin­det. Wenn Lu­cia­ne, mei­ne Toch­ter, die für die Welt ge­bo­ren ist, sich dort für die Welt bil­det, wenn sie Spra­chen, Ge­schicht­li­ches und was sonst von Kennt­nis­sen ihr mit­ge­teilt wird, so wie ihre No­ten und Va­ria­tio­nen vom Blat­te weg­spielt; wenn bei ei­ner leb­haf­ten Na­tur und bei ei­nem glück­li­chen Ge­dächt­nis sie, man möch­te wohl sa­gen, al­les ver­gisst und im Au­gen­bli­cke sich an al­les er­in­nert; wenn sie durch Frei­heit des Be­tra­gens, An­mut im Tan­ze, schick­li­che Be­quem­lich­keit des Ge­sprächs sich vor al­len aus­zeich­net und durch ein an­ge­bor­nes herr­schen­des We­sen sich zur Kö­ni­gin des klei­nen Krei­ses macht, wenn die Vor­ste­he­rin die­ser An­stalt sie als klei­ne Gott­heit an­sieht, die nun erst un­ter ih­ren Hän­den recht ge­deiht, die ihr Ehre ma­chen, Zu­trau­en er­wer­ben und einen Zuf­luss von an­de­ren jun­gen Per­so­nen ver­schaf­fen wird, wenn die ers­ten Sei­ten ih­rer Brie­fe und Mo­nats­be­rich­te im­mer nur Hym­nen sind über die Vor­treff­lich­keit ei­nes sol­chen Kin­des, die ich denn recht gut in mei­ne Pro­se zu über­set­zen weiß: so ist da­ge­gen, was sie schließ­lich von Ot­ti­li­en er­wähnt, nur im­mer Ent­schul­di­gung auf Ent­schul­di­gung, dass ein üb­ri­gens so schön her­an­wach­sen­des Mäd­chen sich nicht ent­wi­ckeln, kei­ne Fä­hig­kei­ten und kei­ne Fer­tig­kei­ten zei­gen wol­le.

Das we­ni­ge, was sie sonst noch hin­zu­fügt, ist gleich­falls für mich kein Rät­sel, weil ich in die­sem lie­ben Kin­de den gan­zen Cha­rak­ter ih­rer Mut­ter, mei­ner wer­tes­ten Freun­din, ge­wahr wer­de, die sich ne­ben mir ent­wi­ckelt hat und de­ren Toch­ter ich ge­wiss, wenn ich Er­zie­he­rin oder Auf­se­he­rin sein könn­te, zu ei­nem herr­li­chen Ge­schöpf her­auf­bil­den woll­te.

Da es aber ein­mal nicht in un­sern Plan geht und man an sei­nen Le­bens­ver­hält­nis­sen nicht so­viel zup­fen und zer­ren, nicht im­mer was Neu­es an sie her­an­zie­hen soll, so trag ich das lie­ber, ja ich über­win­de die un­an­ge­neh­me Emp­fin­dung, wenn mei­ne Toch­ter, wel­che recht gut weiß, dass die arme Ot­ti­lie ganz von uns ab­hängt, sich ih­rer Vor­tei­le über­mü­tig ge­gen sie be­dient und uns­re Wohl­tat da­durch ge­wis­ser­ma­ßen ver­nich­tet.

Doch wer ist so ge­bil­det, dass er nicht sei­ne Vor­zü­ge ge­gen an­de­re manch­mal auf eine grau­sa­me Wei­se gel­tend mach­te! Wer steht so hoch, dass er un­ter ei­nem sol­chen Druck nicht manch­mal lei­den müss­te! Durch die­se Prü­fun­gen wächst Ot­ti­li­ens Wert; aber seit­dem ich den pein­li­chen Zu­stand recht deut­lich ein­se­he, habe ich mir Mühe ge­ge­ben, sie an­der­wärts un­ter­zu­brin­gen. Stünd­lich soll mir eine Ant­wort kom­men, und als­dann will ich nicht zau­dern. So steht es mit mir, mein Bes­ter. Du siehst, wir tra­gen bei­der­seits die­sel­ben Sor­gen in ei­nem treu­en, freund­schaft­li­chen Her­zen. Lass sie uns ge­mein­sam tra­gen, da sie sich nicht ge­gen­ein­an­der auf­he­ben!«

»Wir sind wun­der­li­che Men­schen«, sag­te Eduard lä­chelnd. »Wenn wir nur et­was, das uns Sor­ge macht, aus un­se­rer Ge­gen­wart ver­ban­nen kön­nen, da glau­ben wir schon, nun sei es ab­ge­tan. Im gan­zen kön­nen wir vie­les auf­op­fern, aber uns im ein­zel­nen her­zu­ge­ben, ist eine For­de­rung, der wir sel­ten ge­wach­sen sind. So war mei­ne Mut­ter. So­lan­ge ich als Kna­be oder Jüng­ling bei ihr leb­te, konn­te sie der au­gen­blick­li­chen Be­sorg­nis­se nicht los wer­den. Ver­spä­te­te ich mich bei ei­nem Aus­ritt, so muss­te mir ein Un­glück be­geg­net sein; durchnetz­te mich ein Re­gen­schau­er, so war das Fie­ber mir ge­wiss. Ich ver­reis­te, ich ent­fern­te mich von ihr, und nun schi­en ich ihr kaum an­zu­ge­hö­ren. Be­trach­ten wir es ge­nau­er«, fuhr er fort, »so han­deln wir bei­de tö­richt und un­ver­ant­wort­lich, zwei der edels­ten Na­tu­ren, die un­ser Herz so nahe an­ge­hen, im Kum­mer und im Druck zu las­sen, nur um uns kei­ner Ge­fahr aus­zu­set­zen. Wenn dies nicht selbst­süch­tig ge­nannt wer­den soll, was will man so nen­nen! Nimm Ot­ti­li­en, lass mir den Haupt­mann, und in Got­tes Na­men sei der Ver­such ge­macht!«

»Es möch­te noch zu wa­gen sein«, sag­te Char­lot­te be­denk­lich, »wenn die Ge­fahr für uns al­lein wäre. Glaubst du denn aber, dass es rät­lich sei, den Haupt­mann mit Ot­ti­li­en als Haus­ge­nos­sen zu se­hen, einen Mann ohn­ge­fähr in dei­nen Jah­ren, in den Jah­ren – dass ich dir die­ses Schmei­chel­haf­te nur ge­ra­de un­ter die Au­gen sage –, wo der Mann erst lie­be­fä­hig und erst der Lie­be wert wird, und ein Mäd­chen von Ot­ti­li­ens Vor­zü­gen?«

»Ich weiß doch auch nicht«, ver­setz­te Eduard, »wie du Ot­ti­li­en so hoch stel­len kannst! Nur da­durch er­klä­re ich mir’s, dass sie dei­ne Nei­gung zu ih­rer Mut­ter ge­erbt hat. Hübsch ist sie, das ist wahr, und ich er­in­ne­re mich, dass der Haupt­mann mich auf sie auf­merk­sam mach­te, als wir vor ei­nem Jah­re zu­rück­ka­men und sie mit dir bei dei­ner Tan­te tra­fen. Hübsch ist sie, be­son­ders hat sie schö­ne Au­gen; aber ich wüss­te doch nicht, dass sie den min­des­ten Ein­druck auf mich ge­macht hät­te.«

»Das ist löb­lich an dir«, sag­te Char­lot­te, »denn ich war ja ge­gen­wär­tig; und ob sie gleich viel jün­ger ist als ich, so hat­te doch die Ge­gen­wart der äl­tern Freun­din so vie­le Rei­ze für dich, dass du über die auf­blü­hen­de, ver­spre­chen­de Schön­heit hin­aus­sa­hest. Es ge­hört auch dies zu dei­ner Art zu sein, des­halb ich so gern das Le­ben mit dir tei­le.«

Char­lot­te, so auf­rich­tig sie zu spre­chen schi­en, ver­hehl­te doch et­was. Sie hat­te näm­lich da­mals dem von Rei­sen zu­rück­keh­ren­den Eduard Ot­ti­li­en ab­sicht­lich vor­ge­führt, um die­ser ge­lieb­ten Pfle­ge­toch­ter eine so große Par­tie zu­zu­wen­den; denn an sich selbst in Be­zug auf Eduard dach­te sie nicht mehr. Der Haupt­mann war auch an­ge­stif­tet, Eduar­den auf­merk­sam zu ma­chen; aber die­ser, der sei­ne frü­he Lie­be zu Char­lot­ten hart­nä­ckig im Sin­ne be­hielt, sah we­der rechts noch links und war nur glück­lich in dem Ge­fühl, dass es mög­lich sei, ei­nes so leb­haft ge­wünsch­ten und durch eine Rei­he von Er­eig­nis­sen schein­bar auf im­mer ver­sag­ten Gu­tes end­lich doch teil­haft zu wer­den.

Eben stand das Ehe­paar im Be­griff, die neu­en An­la­gen her­un­ter nach dem Schlos­se zu ge­hen, als ein Be­dien­ter ih­nen has­tig ent­ge­gen­stieg und mit la­chen­dem Mun­de sich schon von un­ten her­auf ver­neh­men ließ: »Kom­men Euer Gna­den doch ja schnell her­über! Herr Mitt­ler ist in den Schloss­hof ge­sprengt. Er hat uns alle zu­sam­men­ge­schri­en, wir sol­len Sie auf­su­chen, wir sol­len Sie fra­gen, ob es not tue. ›Ob es not tut‹, rief er uns nach, ›hört ihr? aber ge­schwind, ge­schwind!‹«

»Der drol­li­ge Mann!« rief Eduard aus; »kommt er nicht ge­ra­de zur rech­ten Zeit, Char­lot­te? – Ge­schwind zu­rück!« be­fahl er dem Be­dien­ten; »sage ihm, es tue not, sehr not! Er soll nur ab­stei­gen. Ver­sorgt sein Pferd; führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Früh­stück vor! Wir kom­men gleich.

Lass uns den nächs­ten Weg neh­men!« sag­te er zu sei­ner Frau und schlug den Pfad über den Kirch­hof ein, den er sonst zu ver­mei­den pfleg­te. Aber wie ver­wun­dert war er, als er fand, dass Char­lot­te auch hier für das Ge­fühl ge­sorgt habe. Mit mög­lichs­ter Scho­nung der al­ten Denk­mä­ler hat­te sie al­les so zu ver­glei­chen und zu ord­nen ge­wusst, dass es ein an­ge­neh­mer Raum er­schi­en, auf dem das Auge und die Ein­bil­dungs­kraft ger­ne ver­weil­ten.

Auch dem äl­tes­ten Stein hat­te sie sei­ne Ehre ge­gönnt. Den Jah­ren nach wa­ren sie an der Mau­er auf­ge­rich­tet, ein­ge­fügt oder sonst an­ge­bracht; der hohe So­ckel der Kir­che selbst war da­mit ver­man­nig­fal­tigt und ge­ziert. Eduard fühl­te sich son­der­bar über­rascht, wie er durch die klei­ne Pfor­te her­ein­trat: er drück­te Char­lot­ten die Hand, und im Auge stand ihm eine Trä­ne.

Aber der när­ri­sche Gast ver­scheuch­te sie gleich. Denn die­ser hat­te kei­ne Ruh im Schloss ge­habt, war sporn­streichs durchs Dorf bis an das Kirch­hof­tor ge­rit­ten, wo er still hielt und sei­nen Freun­den ent­ge­gen­rief: »Ihr habt mich doch nicht zum bes­ten? Tuts wirk­lich not, so blei­be ich zu Mit­ta­ge hier. Hal­tet mich nicht auf! Ich habe heu­te noch viel zu tun.«

»Da Ihr Euch so weit be­müht habt«, rief ihm Eduard ent­ge­gen, »so rei­tet noch vollends her­ein; wir kom­men an ei­nem ernst­haf­ten Orte zu­sam­men; und seht, wie schön Char­lot­te die­se Trau­er aus­ge­schmückt hat!«

»Hier her­ein«, rief der Rei­ter, »komm ich we­der zu Pfer­de, noch zu Wa­gen, noch zu Fuße. Die­se da ru­hen in Frie­den, mit ih­nen habe ich nichts zu schaf­fen. Ge­fal­len muss ich mirs las­sen, wenn man mich ein­mal, die Füße vor­an, her­ein­schleppt. Also ists Ernst?«

»Ja«, rief Char­lot­te, »recht Ernst! Es ist das ers­te­mal, dass wir neu­en Gat­ten in Not und Ver­wir­rung sind, wor­aus wir uns nicht zu hel­fen wis­sen.«

»Ihr seht nicht da­nach aus«, ver­setz­te er, »doch will ichs glau­ben. Führt ihr mich an, so lass ich euch künf­tig ste­cken. Folgt ge­schwin­de nach! Mei­nem Pfer­de mag die Er­ho­lung zu­gut kom­men.«

Bald fan­den sich die dreie im Saa­le zu­sam­men; das Es­sen ward auf­ge­tra­gen, und Mitt­ler er­zähl­te von sei­nen heu­ti­gen Ta­ten und Vor­ha­ben. Die­ser selt­sa­me Mann war frü­her­hin Geist­li­cher ge­we­sen und hat­te sich bei ei­ner rast­lo­sen Tä­tig­keit in sei­nem Amte da­durch aus­ge­zeich­net, dass er alle Strei­tig­kei­ten, so­wohl die häus­li­chen als die nach­bar­li­chen, erst der ein­zel­nen Be­woh­ner, so­dann gan­zer Ge­mein­den und meh­re­rer Guts­be­sit­zer zu stil­len und zu schlich­ten wuss­te.

So­lan­ge er im Diens­te war, hat­te sich kein Ehe­paar schei­den las­sen, und die Lan­des­kol­le­gi­en wur­den mit kei­nen Hän­deln und Pro­zes­sen von dort­her be­hel­li­get. Wie nö­tig ihm die Rechts­kun­de sei, ward er zei­tig ge­wahr. Er warf sein gan­zes Stu­di­um dar­auf und fühl­te sich bald den ge­schick­tes­ten Ad­vo­ka­ten ge­wach­sen. Sein Wir­kungs­kreis dehn­te sich wun­der­bar aus; und man war im Be­griff, ihn nach der Re­si­denz zu zie­hen, um das von oben her­ein zu vollen­den, was er von un­ten her­auf be­gon­nen hat­te, als er einen an­sehn­li­chen Lot­te­rie­ge­winst tat, sich ein mä­ßi­ges Gut kauf­te, es ver­pach­te­te und zum Mit­tel­punkt sei­ner Wirk­sam­keit mach­te, mit dem fes­ten Vor­satz oder viel­mehr nach al­ter Ge­wohn­heit und Nei­gung, in kei­nem Hau­se zu ver­wei­len, wo nichts zu schlich­ten und nichts zu hel­fen wäre. Die­je­ni­gen, die auf die Na­mens­be­deu­tun­gen aber­gläu­bisch sind, be­haup­ten, der Name Mitt­ler habe ihn ge­nö­tigt, die­se selt­sams­te al­ler Be­stim­mun­gen zu er­grei­fen.

Der Nach­tisch war auf­ge­tra­gen, als der Gast sei­ne Wir­te ernst­lich ver­mahn­te, nicht wei­ter mit ih­ren Ent­de­ckun­gen zu­rück­zu­hal­ten, weil er gleich nach dem Kaf­fee fort müs­se. Die bei­den Ehe­leu­te mach­ten um­ständ­lich ihre Be­kennt­nis­se; aber kaum hat­te er den Sinn der Sa­che ver­nom­men, als er ver­drieß­lich vom Ti­sche auf­fuhr, ans Fens­ter sprang und sein Pferd zu sat­teln be­fahl.

»Ent­we­der ihr kennt mich nicht«, rief er aus, »ihr ver­steht mich nicht, oder ihr seid sehr bos­haft. Ist denn hier ein Streit? Ist denn hier eine Hil­fe nö­tig? Glaubt ihr, dass ich in der Welt bin, um Rat zu ge­ben? Das ist das dümms­te Hand­werk, das ei­ner trei­ben kann. Rate sich je­der selbst und tue, was er nicht las­sen kann. Gerät es gut, so freue er sich sei­ner Weis­heit und sei­nes Glücks; läufts übel ab, dann bin ich bei der Hand. Wer ein Übel los sein will, der weiß im­mer, was er will; wer was Bes­sers will, als er hat, der ist ganz star­blind – Ja ja! lacht nur – er spielt Blin­de­kuh, er er­tappts viel­leicht; aber was? Tut, was ihr wollt: es ist ganz ei­ner­lei! Nehmt die Freun­de zu euch, lasst sie weg: al­les ei­ner­lei! Das Ver­nünf­tigs­te habe ich miss­lin­gen se­hen, das Ab­ge­schmack­tes­te ge­lin­gen. Zerbrecht euch die Köp­fe nicht, und wenns auf eine oder die an­de­re Wei­se übel ab­läuft, zerbrecht sie euch auch nicht! Schickt nur nach mir, und euch soll ge­hol­fen wer­den. Bis da­hin euer Die­ner!«

Und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaf­fee ab­zu­war­ten.

»Hier siehst du«, sag­te Char­lot­te, »wie we­nig ei­gent­lich ein Drit­ter fruch­tet, wenn es zwi­schen zwei nah ver­bun­de­nen Per­so­nen nicht ganz im Gleich­ge­wicht steht. Ge­gen­wär­tig sind wir doch wohl noch ver­worr­ner und un­ge­wis­ser, wenns mög­lich ist, als vor­her.«

Bei­de Gat­ten wür­den auch wohl noch eine Zeit lang ge­schwankt ha­ben, wäre nicht ein Brief des Haupt­manns im Wech­sel ge­gen Eduards letz­ten an­ge­kom­men. Er hat­te sich ent­schlos­sen, eine der ihm an­ge­bo­te­nen Stel­len an­zu­neh­men, ob sie ihm gleich kei­nes­wegs ge­mäß war. Er soll­te mit vor­neh­men und rei­chen Leu­ten die Lan­ge­wei­le tei­len, in­dem man auf ihn das Zu­trau­en setz­te, dass er sie ver­trei­ben wür­de.

Eduard über­sah das gan­ze Ver­hält­nis recht deut­lich und mal­te es noch recht scharf aus. »Wol­len wir un­sern Freund in ei­nem sol­chen Zu­stan­de wis­sen?« rief er. »Du kannst nicht so grau­sam sein, Char­lot­te!«

»Der wun­der­li­che Mann, un­ser Mitt­ler«, ver­setz­te Char­lot­te, »hat am Ende doch recht. Alle sol­che Un­ter­neh­mun­gen sind Wa­ge­stücke. Was dar­aus wer­den kann, sieht kein Mensch vor­aus. Sol­che neue Ver­hält­nis­se kön­nen frucht­bar sein an Glück und an Un­glück, ohne dass wir uns da­bei Ver­dienst oder Schuld son­der­lich zu­rech­nen dür­fen. Ich füh­le mich nicht stark ge­nug, dir län­ger zu wi­der­ste­hen. Lass uns den Ver­such ma­chen! Das ein­zi­ge, was ich dich bit­te: es sei nur auf kur­ze Zeit an­ge­se­hen. Er­lau­be mir, dass ich mich tä­ti­ger als bis­her für ihn ver­wen­de und mei­nen Ein­fluss, mei­ne Ver­bin­dun­gen eif­rig be­nut­ze und auf­re­ge, ihm eine Stel­le zu ver­schaf­fen, die ihm nach sei­ner Wei­se ei­ni­ge Zufrie­den­heit ge­wäh­ren kann.«

Eduard ver­si­cher­te sei­ne Gat­tin auf die an­mu­tigs­te Wei­se der leb­haf­tes­ten Dank­bar­keit. Er eil­te mit frei­em, fro­hem Ge­müt, sei­nem Freun­de Vor­schlä­ge schrift­lich zu tun. Char­lot­te muss­te in ei­ner Nach­schrift ih­ren Bei­fall ei­gen­hän­dig hin­zu­fü­gen, ihre freund­schaft­li­chen Bit­ten mit den sei­nen ver­ei­ni­gen. Sie schrieb mit ge­wand­ter Fe­der ge­fäl­lig und ver­bind­lich, aber doch mit ei­ner Art von Hast, die ihr sonst nicht ge­wöhn­lich war; und was ihr nicht leicht be­geg­ne­te, sie ver­un­stal­te­te das Pa­pier zu­letzt mit ei­nem Tin­ten­fleck, der sie är­ger­lich mach­te und nur grö­ßer wur­de, in­dem sie ihn weg­wi­schen woll­te.

Eduard scherz­te dar­über, und weil noch Platz war, füg­te er eine zwei­te Nach­schrift hin­zu: der Freund sol­le aus die­sen Zei­chen die Un­ge­duld se­hen, wo­mit er er­war­tet wer­de, und nach der Eile, wo­mit der Brief ge­schrie­ben, die Eil­fer­tig­keit sei­ner Rei­se ein­rich­ten.

Der Bote war fort, und Eduard glaub­te sei­ne Dank­bar­keit nicht über­zeu­gen­der aus­drücken zu kön­nen, als in­dem er aber- und aber­mals dar­auf be­stand, Char­lot­te sol­le zu­gleich Ot­ti­li­en aus der Pen­si­on ho­len las­sen.

Sie bat um Auf­schub und wuss­te die­sen Abend bei Eduard die Lust zu ei­ner mu­si­ka­li­schen Un­ter­hal­tung auf­zu­re­gen. Char­lot­te spiel­te sehr gut Kla­vier, Eduard nicht eben­so be­quem die Flö­te; denn ob er sich gleich zu­zei­ten viel Mühe ge­ge­ben hat­te, so war ihm doch nicht die Ge­duld, die Aus­dau­er ver­lie­hen, die zur Aus­bil­dung ei­nes sol­chen Ta­len­tes ge­hört. Er führ­te des­halb sei­ne Par­tie sehr un­gleich aus, ei­ni­ge Stel­len gut, nur viel­leicht zu ge­schwind; bei an­de­ren wie­der hielt er an, weil sie ihm nicht ge­läu­fig wa­ren, und so wär es für je­den an­de­ren schwer ge­we­sen, ein Duett mit ihm durch­zu­brin­gen. Aber Char­lot­te wuss­te sich dar­ein zu fin­den; sie hielt an und ließ sich wie­der von ihm fort­rei­ßen und ver­sah also die dop­pel­te Pf­licht ei­nes gu­ten Ka­pell­meis­ters und ei­ner klu­gen Haus­frau, die im gan­zen im­mer das Maß zu er­hal­ten wis­sen, wenn auch die ein­zel­nen Pas­sa­gen nicht im­mer im Takt blei­ben soll­ten.

Drittes Kapitel

Der Haupt­mann kam. Er hat­te einen sehr ver­stän­di­gen Brief vor­aus­ge­schickt, der Char­lot­ten völ­lig be­ru­hig­te. So­viel Deut­lich­keit über sich selbst, so­viel Klar­heit über sei­nen ei­ge­nen Zu­stand, über den Zu­stand sei­ner Freun­de gab eine hei­te­re und fröh­li­che Aus­sicht.

Die Un­ter­hal­tun­gen der ers­ten Stun­den wa­ren, wie un­ter Freun­den zu ge­sche­hen pflegt, die sich eine Zeit lang nicht ge­se­hen ha­ben, leb­haft, ja fast er­schöp­fend. Ge­gen Abend ver­an­lass­te Char­lot­te einen Spa­zier­gang auf die neu­en An­la­gen. Der Haupt­mann ge­fiel sich sehr in der Ge­gend und be­merk­te jede Schön­heit, wel­che durch die neu­en Wege erst sicht­bar und ge­nieß­bar ge­wor­den. Er hat­te ein ge­üb­tes Auge und da­bei ein ge­nüg­sa­mes; und ob er gleich das Wün­schens­wer­te sehr wohl kann­te, mach­te er doch nicht, wie es öf­ters zu ge­sche­hen pflegt, Per­so­nen, die ihn in dem Ih­ri­gen her­um­führ­ten, da­durch einen üb­len Hu­mor, dass er mehr ver­lang­te, als die Um­stän­de zulie­ßen, oder auch wohl gar an et­was Voll­komm­ne­res er­in­ner­te, das er an­ders­wo ge­se­hen.

Als sie die Moos­hüt­te er­reich­ten, fan­den sie sol­che auf das lus­tigs­te aus­ge­schmückt, zwar nur mit künst­li­chen Blu­men und Win­ter­grün, doch dar­un­ter so schö­ne Bü­schel na­tür­li­chen Wei­zens und an­de­rer Feld- und Baum­früch­te an­ge­bracht, dass sie dem Kunst­sinn der An­ord­nen­den zur Ehre ge­reich­ten. »Ob­schon mein Mann nicht liebt, dass man sei­nen Ge­burts- oder Na­mens­tag fei­re, so wird er mir doch heu­te nicht ver­ar­gen, ei­nem drei­fa­chen Fes­te die­se we­ni­gen Krän­ze zu wid­men.«

»Ein drei­fa­ches?« rief Eduard. – »Ganz ge­wiss!« ver­setz­te Char­lot­te; »un­se­res Freun­des An­kunft be­han­deln wir bil­lig als ein Fest; und dann habt ihr bei­de wohl nicht dar­an ge­dacht, dass heu­te euer Na­mens­tag ist. Heißt nicht ei­ner Otto so gut als der an­de­re?«

Bei­de Freun­de reich­ten sich die Hän­de über den klei­nen Tisch. »Du er­in­nerst mich«, sag­te Eduard, »an die­ses ju­gend­li­che Freund­schafts­stück. – Als Kin­der hie­ßen wir bei­de so; doch als wir in der Pen­si­on zu­sam­men­leb­ten und man­che Ir­rung dar­aus ent­stand, so trat ich ihm frei­wil­lig die­sen hüb­schen, la­ko­ni­schen Na­men ab.«

»Wo­bei du denn doch nicht gar zu groß­mü­tig warst«, sag­te der Haupt­mann. »Denn ich er­in­ne­re mich recht wohl, dass dir der Name Eduard bes­ser ge­fiel, wie er denn auch, von an­ge­neh­men Lip­pen aus­ge­spro­chen, einen be­son­ders gu­ten Klang hat.«

Nun sa­ßen sie also zu drei­en um das­sel­be Tisch­chen, wo Char­lot­te so eif­rig ge­gen die An­kunft des Gas­tes ge­spro­chen hat­te. Eduard in sei­ner Zufrie­den­heit woll­te die Gat­tin nicht an jene Stun­den er­in­nern, doch ent­hielt er sich nicht zu sa­gen: »Für ein Vier­tes wäre auch noch recht gut Platz.«

Wald­hör­ner lie­ßen sich in die­sem Au­gen­blick vom Schloss her­über ver­neh­men, be­jah­ten gleich­sam und be­kräf­tig­ten die gu­ten Ge­sin­nun­gen und Wün­sche der bei­sam­men ver­wei­len­den Freun­de. Still­schwei­gend hör­ten sie zu, in­dem je­des in sich selbst zu­rück­kehr­te und sein ei­ge­nes Glück in so schö­ner Ver­bin­dung dop­pelt emp­fand.

Eduard un­ter­brach die Pau­se zu­erst, in­dem er auf­stand und vor die Moos­hüt­te hin­austrat. »Lass uns«, sag­te er zu Char­lot­ten, »den Freund gleich völ­lig auf die Höhe füh­ren, da­mit er nicht glau­be, die­ses be­schränk­te Tal nur sei un­ser Erb­gut und Auf­ent­halt; der Blick wird oben frei­er und die Brust er­wei­tert sich.«

»So müs­sen wir dies­mal noch«, ver­setz­te Char­lot­te, »den al­ten, et­was be­schwer­li­chen Fuß­pfad er­klim­men; doch, hof­fe ich, sol­len mei­ne Stu­fen und Stei­ge nächs­tens be­que­mer bis ganz hin­auf­lei­ten.«

Und so ge­lang­te man denn über Fel­sen, durch Busch und Ge­sträuch zur letz­ten Höhe, die zwar kei­ne Flä­che, doch fort­lau­fen­de, frucht­ba­re Rücken bil­de­te. Dorf und Schloss hin­ter­wärts wa­ren nicht mehr zu se­hen. In der Tie­fe er­blick­te man aus­ge­brei­te­te Tei­che, drü­ben be­wach­se­ne Hü­gel, an de­nen sie sich hin­zo­gen, end­lich stei­le Fel­sen, wel­che senk­recht den letz­ten Was­ser­spie­gel ent­schie­den be­grenz­ten und ihre be­deu­ten­den For­men auf der Ober­flä­che des­sel­ben ab­bil­de­ten. Dort in der Schlucht, wo ein star­ker Bach den Tei­chen zu­fiel, lag eine Müh­le halb ver­steckt, die mit ih­ren Um­ge­bun­gen als ein freund­li­ches Ru­he­plätz­chen er­schi­en. Man­nig­fal­tig wech­sel­ten im gan­zen Halb­krei­se, den man über­sah, Tie­fen und Hö­hen, Bü­sche und Wäl­der, de­ren ers­tes Grün für die Fol­ge den fül­le­reichs­ten An­blick ver­sprach. Auch ein­zel­ne Baum­grup­pen hiel­ten an man­cher Stel­le das Auge fest. Be­son­ders zeich­ne­te zu den Fü­ßen der schau­en­den Freun­de sich eine Mas­se Pap­peln und Pla­ta­nen zu­nächst an dem Ran­de des mitt­le­ren Tei­ches vor­teil­haft aus. Sie stand in ih­rem bes­ten Wachs­tum, frisch, ge­sund, em­por und in die Brei­te stre­bend.

Eduard lenk­te be­son­ders auf die­se die Auf­merk­sam­keit sei­nes Freun­des. »Die­se habe ich«, rief er aus, »in mei­ner Ju­gend selbst ge­pflanzt. Es wa­ren jun­ge Stämm­chen, die ich ret­te­te, als mein Va­ter, bei der An­la­ge zu ei­nem neu­en Teil des großen Schloss­gar­tens, sie mit­ten im Som­mer aus­ro­den ließ. Ohne Zwei­fel wer­den sie auch die­ses Jahr sich durch neue Trie­be wie­der dank­bar her­vor­tun.«

Man kehr­te zu­frie­den und hei­ter zu­rück. Dem Gas­te ward auf dem rech­ten Flü­gel des Schlos­ses ein freund­li­ches, ge­räu­mi­ges Quar­tier an­ge­wie­sen, wo er sehr bald Bü­cher, Pa­pie­re und In­stru­men­te auf­ge­stellt und ge­ord­net hat­te, um in sei­ner ge­wohn­ten Tä­tig­keit fort­zu­fah­ren. Aber Eduard ließ ihm in den ers­ten Ta­gen kei­ne Ruhe; er führ­te ihn über­all her­um, bald zu Pfer­de, bald zu Fuße, und mach­te ihn mit der Ge­gend, mit dem Gute be­kannt; wo­bei er ihm zu­gleich die Wün­sche mit­teil­te, die er zu bes­se­rer Kennt­nis und vor­teil­haf­te­rer Be­nut­zung des­sel­ben seit lan­ger Zeit bei sich heg­te.

»Das ers­te, was wir tun soll­ten«, sag­te der Haupt­mann, »wäre, dass ich die Ge­gend mit der Ma­gnet­na­del auf­näh­me. Es ist das ein leich­tes, hei­te­res Ge­schäft, und wenn es auch nicht die größ­te Ge­nau­ig­keit ge­währt, so bleibt es doch im­mer nütz­lich und für den An­fang er­freu­lich; auch kann man es ohne große Bei­hil­fe leis­ten und weiß ge­wiss, dass man fer­tig wird. Denkst du ein­mal an eine ge­naue­re Aus­mes­sung, so lässt sich dazu wohl auch noch Rat fin­den.«

Der Haupt­mann war in die­ser Art des Auf­neh­mens sehr ge­übt. Er hat­te die nö­ti­ge Gerät­schaft mit­ge­bracht und fing so­gleich an. Er un­ter­rich­te­te Eduar­den, ei­ni­ge Jä­ger und Bau­ern, die ihm bei dem Ge­schäft be­hilf­lich sein soll­ten. Die Tage wa­ren güns­tig; die Aben­de und die frühs­ten Mor­gen brach­te er mit Auf­zeich­nen und Schraf­fie­ren zu. Schnell war auch al­les la­viert und il­lu­mi­niert, und Eduard sah sei­ne Be­sit­zun­gen auf das deut­lichs­te aus dem Pa­pier wie eine neue Schöp­fung her­vor­ge­wach­sen. Er glaub­te sie jetzt erst ken­nen­zu­ler­nen, sie schie­nen ihm jetzt erst recht zu ge­hö­ren.

Es gab Ge­le­gen­heit, über die Ge­gend, über An­la­gen zu spre­chen, die man nach ei­ner sol­chen Über­sicht viel bes­ser zu­stan­de brin­ge, als wenn man nur ein­zeln, nach zu­fäl­li­gen Ein­drücken, an der Na­tur her­um­ver­su­che.

»Das müs­sen wir mei­ner Frau deut­lich ma­chen«, sag­te Eduard.

»Tue das nicht!« ver­setz­te der Haupt­mann, der die Über­zeu­gun­gen an­de­rer nicht gern mit den sei­ni­gen durch­kreuz­te, den die Er­fah­rung ge­lehrt hat­te, dass die An­sich­ten der Men­schen viel zu man­nig­fal­tig sind, als dass sie, selbst durch die ver­nünf­tigs­ten Vor­stel­lun­gen, auf einen Punkt ver­sam­melt wer­den könn­ten. »Tue es nicht!« rief er, »sie dürf­te leicht irre wer­den. Es ist ihr wie al­len de­nen, die sich nur aus Lieb­ha­be­rei mit sol­chen Din­gen be­schäf­ti­gen, mehr dar­an ge­le­gen, dass sie et­was tue, als dass et­was ge­tan wer­de. Man tas­tet an der Na­tur, man hat Vor­lie­be für die­ses oder je­nes Plätz­chen; man wagt nicht, die­ses oder je­nes Hin­der­nis weg­zuräu­men, man ist nicht kühn ge­nug, et­was auf­zu­op­fern; man kann sich vor­aus nicht vor­stel­len, was ent­ste­hen soll, man pro­biert, es ge­rät, es miss­rät, man ver­än­dert, ver­än­dert viel­leicht, was man las­sen soll­te, lässt, was man ver­än­dern soll­te, und so bleibt es zu­letzt im­mer ein Stück­werk, das ge­fällt und an­regt, aber nicht be­frie­digt.«

»Ge­steh mir auf­rich­tig«, sag­te Eduard, »du bist mit ih­ren An­la­gen nicht zu­frie­den.«

»Wenn die Aus­füh­rung den Ge­dan­ken er­schöpf­te, der sehr gut ist, so wäre nichts zu er­in­nern. Sie hat sich müh­sam durch das Ge­stein hin­auf­ge­quält und quält nun je­den, wenn du willst, den sie hin­auf­führt. We­der ne­ben­ein­an­der noch hin­ter­ein­an­der schrei­tet man mit ei­ner ge­wis­sen Frei­heit. Der Takt des Schrit­tes wird je­den Au­gen­blick un­ter­bro­chen; und was lie­ße sich nicht noch al­les ein­wen­den!«

»Wäre es denn leicht an­ders zu ma­chen ge­we­sen?« frag­te Eduard.

»Gar leicht«, ver­setz­te der Haupt­mann; »sie durf­te nur die eine Fel­se­n­e­cke, die noch dazu un­schein­bar ist, weil sie aus klei­nen Tei­len be­steht, weg­bre­chen, so er­lang­te sie eine schön ge­schwun­ge­ne Wen­dung zum Auf­stieg und zu­gleich über­flüs­si­ge Stei­ne, um die Stel­len her­auf­zu­mau­ern, wo der Weg schmal und ver­krüp­pelt ge­wor­den wäre. Doch sei dies im engs­ten Ver­trau­en un­ter uns ge­sagt; sie wird sonst irre und ver­drieß­lich. Auch muss man, was ge­macht ist, be­ste­hen las­sen. Will man wei­ter Geld und Mühe auf­wen­den, so wäre von der Moos­hüt­te hin­auf­wärts und über die An­hö­he noch man­cher­lei zu tun und viel An­ge­neh­mes zu leis­ten.«

Hat­ten auf die­se Wei­se die bei­den Freun­de am Ge­gen­wär­ti­gen man­che Be­schäf­ti­gung, so fehl­te es nicht an leb­haf­ter und ver­gnüg­li­cher Erin­ne­rung ver­gan­ge­ner Tage, wor­an Char­lot­te wohl teil­zu­neh­men pfleg­te. Auch setz­te man sich vor, wenn nur die nächs­ten Ar­bei­ten erst ge­tan wä­ren, an die Rei­se­jour­na­le zu ge­hen und auch auf die­se Wei­se die Ver­gan­gen­heit her­vor­zu­ru­fen.

Üb­ri­gens hat­te Eduard mit Char­lot­ten al­lein we­ni­ger Stoff zur Un­ter­hal­tung, be­son­ders seit­dem er den Ta­del ih­rer Park­an­la­gen, der ihm so ge­recht schi­en, auf dem Her­zen fühl­te. Lan­ge ver­schwieg er, was ihm der Haupt­mann ver­traut hat­te; aber als er sei­ne Gat­tin zu­letzt be­schäf­tigt sah, von der Moos­hüt­te hin­auf zur An­hö­he wie­der mit Stüf­chen und Pfäd­chen sich em­por­zu­ar­bei­ten, so hielt er nicht län­ger zu­rück, son­dern mach­te sie nach ei­ni­gen Um­schwei­fen mit sei­nen neu­en Ein­sich­ten be­kannt.

Char­lot­te stand be­trof­fen. Sie war geist­reich ge­nug, um schnell ein­zu­se­hen, dass jene recht hat­ten; aber das Ge­ta­ne wi­der­sprach, es war nun ein­mal so ge­macht; sie hat­te es recht, sie hat­te es wün­schens­wert ge­fun­den, selbst das Ge­ta­del­te war ihr in je­dem ein­zel­nen Tei­le lieb; sie wi­der­streb­te der Über­zeu­gung, sie ver­tei­dig­te ihre klei­ne Schöp­fung, sie schalt auf die Män­ner, die gleich ins Wei­te und Gro­ße gin­gen, aus ei­nem Scherz, aus ei­ner Un­ter­hal­tung gleich ein Werk ma­chen woll­ten, nicht an die Kos­ten den­ken, die ein er­wei­ter­ter Plan durch­aus nach sich zieht. Sie war be­wegt, ver­letzt, ver­drieß­lich; sie konn­te das Alte nicht fah­ren las­sen, das Neue nicht ganz ab­wei­sen; aber ent­schlos­sen wie sie war, stell­te sie so­gleich die Ar­beit ein und nahm sich Zeit, die Sa­che zu be­den­ken und bei sich reif wer­den zu las­sen.

In­dem sie nun auch die­se tä­ti­ge Un­ter­hal­tung ver­miss­te, da in­des die Män­ner ihr Ge­schäft im­mer ge­sel­li­ger be­trie­ben und be­son­ders die Kunst­gär­ten und Glas­häu­ser mit Ei­fer be­sorg­ten, auch da­zwi­schen die ge­wöhn­li­chen rit­ter­li­chen Übun­gen fort­setz­ten, als Ja­gen, Pfer­de­kau­fen, -tau­schen, -be­rei­ten und -ein­fah­ren, so fühl­te sich Char­lot­te täg­lich ein­sa­mer. Sie führ­te ih­ren Brief­wech­sel auch um des Haupt­manns wil­len leb­haf­ter, und doch gab es man­che ein­sa­me Stun­de. De­sto an­ge­neh­mer und un­ter­hal­ten­der wa­ren ihr die Be­rich­te, die sie aus der Pen­si­ons­an­stalt er­hielt.

Ei­nem weit­läu­fi­gen Brie­fe der Vor­ste­he­rin, wel­cher sich wie ge­wöhn­lich über der Toch­ter Fort­schrit­te mit Be­ha­gen ver­brei­te­te, war eine kur­ze Nach­schrift hin­zu­ge­fügt nebst ei­ner Bei­la­ge von der Hand ei­nes männ­li­chen Ge­hil­fen am In­sti­tut, die wir bei­de mit­tei­len.

Nach­schrift der Vor­ste­he­rin

»Von Ot­ti­li­en, mei­ne Gnä­di­ge, hät­te ich ei­gent­lich nur zu wie­der­ho­len, was in mei­nen vo­ri­gen Be­rich­ten ent­hal­ten ist. Ich wüss­te sie nicht zu schel­ten, und doch kann ich nicht zu­frie­den mit ihr sein. Sie ist nach wie vor be­schei­den und ge­fäl­lig ge­gen an­de­re; aber die­ses Zu­rück­tre­ten, die­se Dienst­bar­keit will mir nicht ge­fal­len. Euer Gna­den ha­ben ihr neu­lich Geld und ver­schie­de­ne Zeu­ge ge­schickt. Das ers­te hat sie nicht an­ge­grif­fen, die an­de­ren lie­gen auch noch da, un­be­rührt. Sie hält frei­lich ihre Sa­chen sehr rein­lich und gut und scheint nur in die­sem Sinn die Klei­der zu wech­seln. Auch kann ich ihre große Mä­ßig­keit im Es­sen und Trin­ken nicht lo­ben. An un­serm Tisch ist kein Über­fluss; doch sehe ich nichts lie­ber, als wenn die Kin­der sich an schmack­haf­ten und ge­sun­den Spei­sen satt es­sen. Was mit Be­dacht und Über­zeu­gung auf­ge­tra­gen und vor­ge­legt ist, soll auch auf­ge­ges­sen wer­den. Dazu kann ich Ot­ti­li­en nie­mals brin­gen. Ja, sie macht sich ir­gend­ein Ge­schäft, um eine Lücke aus­zu­fül­len, wo die Die­ne­rin­nen et­was ver­säu­men, nur um eine Spei­se oder den Nach­tisch zu über­ge­hen. Bei die­sem al­len kommt je­doch in Be­trach­tung, dass sie manch­mal, wie ich erst spät er­fah­ren habe, Kopf­weh auf der lin­ken Sei­te hat, das zwar vor­über­geht, aber schmerz­lich und be­deu­tend sein mag. So­viel von die­sem üb­ri­gens so schö­nen und lie­ben Kin­de.«

Bei­la­ge des Ge­hil­fen

»Un­se­re vor­treff­li­che Vor­ste­he­rin lässt mich ge­wöhn­lich die Brie­fe le­sen, in wel­chen sie Beo­b­ach­tun­gen über ihre Zög­lin­ge den El­tern und Vor­ge­setz­ten mit­teilt. Die­je­ni­gen, die an Euer Gna­den ge­rich­tet sind, lese ich im­mer mit dop­pel­ter Auf­merk­sam­keit, mit dop­pel­tem Ver­gnü­gen; denn in­dem wir Ih­nen zu ei­ner Toch­ter Glück zu wün­schen ha­ben, die alle jene glän­zen­den Ei­gen­schaf­ten ver­ei­nigt, wo­durch man in der Welt em­por­steigt, so muss ich we­nigs­tens Sie nicht min­der glück­lich prei­sen, dass Ih­nen in Ih­rer Pfle­ge­toch­ter ein Kind be­schert ist, das zum Wohl, zur Zufrie­den­heit an­de­rer und ge­wiss auch zu sei­nem ei­ge­nen Glück ge­bo­ren ward. Ot­ti­lie ist fast un­ser ein­zi­ger Zög­ling, über den ich mit un­se­rer so ver­ehr­ten Vor­ste­he­rin nicht ei­nig wer­den kann. Ich ver­ar­ge die­ser tä­ti­gen Frau kei­nes­we­ges, dass sie ver­langt, man soll die Früch­te ih­rer Sorg­falt äu­ßer­lich und deut­lich se­hen; aber es gibt auch ver­schlos­se­ne Früch­te, die erst die rech­ten, kern­haf­ten sind und die sich frü­her oder spä­ter zu ei­nem schö­nen Le­ben ent­wi­ckeln. Der­glei­chen ist ge­wiss Ihre Pfle­ge­toch­ter. So­lan­ge ich sie un­ter­rich­te, sehe ich sie im­mer glei­chen Schrit­tes ge­hen, lang­sam, lang­sam vor­wärts, nie zu­rück. Wenn es bei ei­nem Kin­de nö­tig ist, vom An­fan­ge an­zu­fan­gen, so ist es ge­wiss bei ihr. Was nicht aus dem Vor­her­ge­hen­den folgt, be­greift sie nicht. Sie steht un­fä­hig, ja stöckisch vor ei­ner leicht fass­li­chen Sa­che, die für sie mit nichts zu­sam­men­hängt. Kann man aber die Mit­tel­glie­der fin­den und ihr deut­lich ma­chen, so ist ihr das Schwers­te be­greif­lich.

Bei die­sem lang­sa­men Vor­schrei­ten bleibt sie ge­gen ihre Mit­schü­le­rin­nen zu­rück, die mit ganz an­de­ren Fä­hig­kei­ten im­mer vor­wärtsei­len, al­les, auch das Un­zu­sam­men­hän­gen­de, leicht fas­sen, leicht be­hal­ten und be­quem wie­der an­wen­den. So lernt sie, so ver­mag sie bei ei­nem be­schleu­nig­ten Lehr­vor­tra­ge gar nichts; wie es der Fall in ei­ni­gen Stun­den ist, wel­che von treff­li­chen, aber ra­schen und un­ge­dul­di­gen Leh­rern ge­ge­ben wer­den. Man hat über ihre Hand­schrift ge­klagt, über ihre Un­fä­hig­keit, die Re­geln der Gram­ma­tik zu fas­sen. Ich habe die­se Be­schwer­de nä­her un­ter­sucht: es ist wahr, sie schreibt lang­sam und steif, wenn man so will, doch nicht zag­haft und un­ge­stalt. Was ich ihr von der fran­zö­si­schen Spra­che, die zwar mein Fach nicht ist, schritt­wei­se mit­teil­te, be­griff sie leicht. Frei­lich ist es wun­der­bar: sie weiß vie­les und recht gut; nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wis­sen.

Soll ich mit ei­ner all­ge­mei­nen Be­mer­kung schlie­ßen, so möch­te ich sa­gen: sie lernt nicht als eine, die er­zo­gen wer­den soll, son­dern als eine, die er­zie­hen will; nicht als Schü­le­rin, son­dern als künf­ti­ge Leh­re­rin. Vi­el­leicht kommt es Euer Gna­den son­der­bar vor, dass ich selbst als Er­zie­her und Leh­rer je­man­den nicht mehr zu lo­ben glau­be, als wenn ich ihn für mei­nes­glei­chen er­klä­re. Euer Gna­den bes­se­re Ein­sicht, tiefe­re Men­schen- und Welt­kennt­nis wird aus mei­nen be­schränk­ten, wohl­ge­mein­ten Wor­ten das Bes­te neh­men. Sie wer­den sich über­zeu­gen, dass auch an die­sem Kin­de viel Freu­de zu hof­fen ist. Ich emp­feh­le mich zu Gna­den und bit­te um die Er­laub­nis, wie­der zu schrei­ben, so­bald ich glau­be, dass mein Brief et­was Be­deu­ten­des und An­ge­neh­mes ent­hal­ten wer­de.«

Char­lot­te freu­te sich über die­ses Blatt. Sein In­halt traf ganz nahe mit den Vor­stel­lun­gen zu­sam­men, wel­che sie von Ot­ti­li­en heg­te; da­bei konn­te sie sich ei­nes Lä­chelns nicht ent­hal­ten, in­dem der An­teil des Leh­rers herz­li­cher zu sein schi­en, als ihn die Ein­sicht in die Tu­gen­den ei­nes Zög­lings her­vor­zu­brin­gen pflegt. Bei ih­rer ru­hi­gen, vor­ur­teils­frei­en Denk­wei­se ließ sie auch ein sol­ches Ver­hält­nis, wie so vie­le an­de­re, vor sich lie­gen; die Teil­nah­me des ver­stän­di­gen Man­nes an Ot­ti­li­en hielt sie wert; denn sie hat­te in ih­rem Le­ben ge­nug­sam ein­se­hen ge­lernt, wie hoch jede wah­re Nei­gung zu schät­zen sei in ei­ner Welt, wo Gleich­gül­tig­keit und Ab­nei­gung ei­gent­lich recht zu Hau­se sind.

Viertes Kapitel

Die to­po­gra­fi­sche Kar­te, auf wel­cher das Gut mit sei­nen Um­ge­bun­gen nach ei­nem ziem­lich großen Maß­sta­be cha­rak­te­ris­tisch und fass­lich durch Fe­der­stri­che und Far­ben dar­ge­stellt war und wel­che der Haupt­mann durch ei­ni­ge tri­go­no­me­tri­sche Mes­sun­gen si­cher zu grün­den wuss­te, war bald fer­tig; denn we­ni­ger Schlaf als die­ser tä­ti­ge Mann be­durf­te kaum je­mand, so wie sein Tag stets dem au­gen­blick­li­chen Zwe­cke ge­wid­met und des­we­gen je­der­zeit am Aben­de et­was ge­tan war.