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Die hübsche amerikanische Erbin Lillian Bowman soll auf Wunsch ihrer Mutter einen englischen Adligen heiraten. Doch Lillian eckt mit ihrer direkten Art in der vornehmen britischen Gesellschaft immer wieder an. Keiner der wohlerzogenen Herren scheint ihr gewachsen, allenfalls der mächtige und arrogante Lord Westcliff kann es mit ihr aufnehmen. Marcus ist berüchtigt für seine kalte, herablassende Art – und für sein märchenhaftes Vermögen. Lillian verachtet ihn, und doch bringt niemand sie so aus der Fassung wie Lord Westcliff.
Dieser Titel ist bereits auf Deutsch unter dem Titel »Der Earl und die Erbin« erschienen.
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Seitenzahl: 557
Buch
Eine neue Ballsaison steht vor der Tür, und die hübsche amerikanische Erbin Lillian Bowman hat ein Ziel. Auf Wunsch ihrer Mutter soll sie einen englischen Adligen heiraten. Doch nicht nur sind die Bowmans als neureich verpönt, Lillian eckt auch immer wieder mit ihrer unverblümten Art in der vornehmen britischen Gesellschaft an. Keiner der wohlerzogenen Herren scheint ihr gewachsen, allenfalls der mächtige und arrogante Lord Marcus Westcliff, Stammhalter einer der ältesten Grafschaften Englands, kann es mit ihr aufnehmen. Marcus ist als der Junggeselle der Saison begehrt, berüchtigt für seine kalte, herablassende Art – und für sein märchenhaftes Vermögen. Lillian verachtet ihn, und doch bringt niemand sie so aus der Fassung wie Lord Westcliff. Und auch Lillian lässt den mächtigen Lord, dessen Familie ganz sicher keine selbstbewusste Amerikanerin an seiner Seite will, alles andere als kalt …
Weitere Informationen zu Lisa Kleypas sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Lisa Kleypas
Übersetzt vonBabette Schröder & Wolfgang Thon
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »It happened one Autumn« bei Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
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Copyright © 2005 by Lisa Kleypas
Copyright © Neuausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 2008 unter dem Titel "Herbstfeuer" auf Deutsch erschienenen Romans.UNO Werbeagentur, München
Covermotive: Lee Avison / Trevillion Images; FinePic®, München
Redaktion: Antje Steinhäuser
MR · Herstellung: ik
Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München
ISBN: 978-3-641-29703-9V002
www.goldmann-verlag.de
London, 1843
Zwei junge Ladys standen im Eingang einer Parfümerie, die eine zerrte ungeduldig am Arm der anderen. »Müssen wir wirklich da hineingehen?«, fragte die kleinere der beiden. Sie hatte einen amerikanischen Akzent und sträubte sich dagegen, dass die andere sie in den schwach beleuchteten Laden ziehen wollte. »Ich langweile mich stets zu Tode in diesen Läden, Lillian – stundenlang riechst du an irgendwelchen Flakons …«
»Dann warte mit dem Dienstmädchen in der Kutsche!«
»Das ist ja noch langweiliger! Außerdem sollte ich dich nirgendwo allein hingehen lassen. Ohne mich würdest du in Schwierigkeiten geraten.«
Die größere der beiden lachte schallend und höchst undamenhaft, während sie schließlich den Laden betraten. »Du willst mich nicht etwa davon abhalten, in Schwierigkeiten zu geraten, Daisy. Du willst nur nichts verpassen, wenn es passiert.«
»In einer Parfümerie gibt es wohl kaum Abenteuer zu erleben«, kam die mürrische Antwort.
Ein leises Lachen ertönte, und die beiden Ladys drehten sich zu einem bebrillten, alten Mann um, der hinter einem verschrammten Eichentresen auf der einen Seite des Ladens stand. »Sind Sie sich dessen ganz sicher, Miss?« Er lächelte, als die beiden auf ihn zukamen. »Manche schreiben Parfüm magische Kräfte zu. Der Duft einer Sache ist ihr reinstes Wesen. Und bestimmte Düfte können den Geist einer vergangenen Liebe oder süßeste Erinnerungen heraufbeschwören.«
»Einen Geist?«, wiederholte Daisy neugierig.
Die andere mischte sich ungeduldig ein: »Das meint er nicht wörtlich, meine Liebe. Parfüm kann keinen Geist heraufbeschwören. Und es ist auch nicht wirklich magisch. Es ist nur eine Mischung aus Duftpartikeln, die zu den Geruchsrezeptoren in deiner Nase wandern.«
Der alte Mann, Mr Phineas Nettle, betrachtete die beiden mit wachsendem Interesse. Keine von ihnen war im konventionellen Sinn schön zu nennen, dennoch waren sie beide bemerkenswert: blasse Haut, dichtes dunkles Haar und diese klaren Gesichtszüge, die Amerikanerinnen eigen zu sein schienen. »Aber bitte«, sagte er einladend und deutete auf eine Regalwand in der Nähe. »Sie sind herzlich eingeladen, sich meine Waren anzusehen, Miss …«
»Bowman«, antwortete die Ältere freundlich. »Lillian und Daisy Bowman.« Sie warf einen Blick auf die teuer gekleidete blonde Lady, die er bis eben beraten hatte, und erkannte, dass er noch nicht sofort Zeit haben würde, sich um sie zu kümmern.
Während die unentschlossene Kundin vor einer Reihe von Parfüms zauderte, die Nettle ihr präsentiert hatte, stöberten die beiden Amerikanerinnen in den Regalen mit Parfüm, Eau de Cologne, Pomaden, Wachs, Cremes, Seifen und anderen Artikeln für die Schönheitspflege. Es gab Badeöl in Kristallflaschen mit Stöpsel, Tiegel mit Kräutersalben sowie kleine Döschen mit Veilchenpastillen, die den Atem erfrischten. In den unteren Fächern befanden sich Duftkerzen und Tinten, Beutel mit nach Nelken duftendem Riechsalz, Potpourri-Schalen und Gläser mit Kleister und Salben. Nettle bemerkte jedoch, dass die jüngere der beiden Frauen, Daisy, das Sortiment nur mit mäßigem Interesse betrachtete, während die ältere, Lillian, vor einer Reihe von Ölen und Extrakten mit reinen Duftessenzen stehen geblieben war. Rose, Frangipani, Jasmin, Bergamotte und andere. Sie hob die Flaschen aus braunem Glas an, öffnete sie vorsichtig und atmete mit sichtlicher Wertschätzung den Duft ein.
Schließlich traf die blonde Lady ihre Wahl, kaufte einen kleinen Flakon und verließ den Laden. Ein Glöckchen bimmelte fröhlich, als sich die Tür hinter ihr schloss.
Lillian, die sich umgedreht hatte, um der Kundin nachzusehen, murmelte nachdenklich: »Ich frage mich, warum so viele hellhaarige Frauen nach Amber riechen …«
»Du meinst Amber-Parfüm?«, fragte Daisy.
»Nein – ihre Haut selbst riecht danach. Nach Amber und manchmal auch nach Honig …«
»Was um alles in der Welt meinst du?« Die jüngere der beiden lachte verwirrt. »Menschen riechen nach gar nichts, außer wenn sie sich waschen müssen.«
Sie sahen sich überrascht an. »Doch, das tun sie«, beharrte Lillian. »Jeder Mensch hat einen spezifischen Geruch … sag nicht, du hättest das bislang nie bemerkt. Die Haut einer Person riecht nach Bittermandel oder Veilchen, die einer anderen …«
»Andere duften nach Pflaume, Palmsaft oder frischem Heu«, warf Nettle ein.
Lillian blickte ihn mit einem zufriedenen Lächeln an. »Ja, genau!«
Nettle nahm seine Brille ab und polierte sie sorgfältig, während ihm einige Fragen durch den Kopf schwirrten. War das möglich? Konnte diese junge Frau tatsächlich den Körpergeruch eines Menschen wahrnehmen? Er selbst konnte es auch, aber es war eine höchst seltene Gabe, und er war noch nie einer Frau mit dieser Fähigkeit begegnet.
Lillian Bowman zog einen gefalteten Zettel aus einer mit Perlen besetzten Tasche, die an ihrem Handgelenk hing, und trat an ihn heran. »Ich habe eine Formel für ein Parfüm«, sagte sie und reichte ihm das Papier, »aber ich bin mir nicht ganz sicher, wie das richtige Verhältnis der Zutaten sein sollte. Könnten Sie es für mich mischen?«
Nettle öffnete das Papier und las die Liste, wobei er die grauen Brauen leicht nach oben zog. »Eine unkonventionelle Kombination. Aber sehr interessant. Das könnte gut funktionieren, denke ich.« Er sah sie mit großem Interesse an. »Darf ich fragen, wie Sie an diese Formel gelangt sind, Miss Bowman?«
»Sie kommt aus meinem Kopf.« Sie lächelte arglos. »Ich habe versucht, mir vorzustellen, welche Düfte meine eigene Alchemie am besten zur Geltung bringen. Aber wie gesagt, das Mengenverhältnis kann ich nur schwer einschätzen.«
Nettle senkte den Blick, um seine Skepsis zu verbergen, und las die Formel noch einmal. Es kamen oft Kundinnen mit der Bitte zu ihm, ein Parfüm zu mischen, das einen vorherrschenden Duft wie Rosen oder Lavendel enthielt, aber eine solche Liste hatte ihm noch niemand gegeben. Noch interessanter war, dass die Auswahl der Düfte ungewöhnlich und dennoch harmonisch schien. Vielleicht war es ja ein Zufall, dass sie gerade diese Kombination gewählt hatte.
»Miss Bowman«, begann er, neugierig darauf herauszufinden, wie weit ihre Fähigkeiten reichten, »würden Sie mir erlauben, Ihnen einige meiner Parfüms zu zeigen?«
»Ja, natürlich«, antwortete Lillian fröhlich. Sie trat dichter an den Tresen heran, während Nettle ein kleines Kristallfläschchen hervorholte, das mit einer blassen, glitzernden Flüssigkeit gefüllt war. »Was machen Sie?«, fragte sie, als er ein paar Tropfen des Parfüms auf ein sauberes Leinentaschentuch schüttelte.
»Man sollte Parfüm nie direkt aus der Flasche einatmen«, erklärte Nettle und reichte ihr das Taschentuch. »Man muss es erst der Luft aussetzen, damit der Alkohol entweicht … dann bleibt der wahre Duft zurück. Miss Bowman, welche Düfte können Sie in diesem Parfüm wahrnehmen?«
Selbst für die erfahrensten Parfümeure bedeutete es eine große Anstrengung, die Bestandteile eines gemischten Parfüms auseinanderzuhalten … Es brauchte Minuten oder sogar Stunden wiederholten Inhalierens, um einen Inhaltsstoff nach dem anderen zu erkennen.
Lillian senkte den Kopf, um den Duft des Taschentuchs einzuatmen. Ohne zu zögern und zu Nettles Verblüffung, identifizierte sie die Komponenten mit der Flinkheit eines Pianisten, der Tonleitern übt. »Orangenblüte … Neroli … grauer Amber und Moos …« Sie hielt inne, ihre langen Wimpern hoben sich und enthüllten samtbraune Augen, in denen eine leichte Verwirrung lag. »Moos in Parfüm?«
Nettle starrte sie mit unverhohlenem Erstaunen an. Die Fähigkeit der allermeisten Menschen, die einzelnen Bestandteile eines komplexen Geruchs zu identifizieren, war sehr begrenzt. Vielleicht konnten sie einen Hauptbestandteil erkennen, ein offensichtliches Aroma wie Rose, Zitrone oder Minze, aber die verschiedenen Schichten und Nuancen eines bestimmten Geruchs zu unterscheiden, war den meisten Menschen unmöglich.
Als er sich wieder gefasst hatte, lächelte er über ihre Frage. Er versah seine Parfüms oft mit besonderen Noten, die dem Duft Tiefe und Struktur verliehen, aber noch nie hatte jemand eine davon erraten. »Die Sinne erfreuen sich an Komplexität, an versteckten Überraschungen … hier, probieren Sie noch einen.«
Er holte ein frisches Taschentuch hervor und beträufelte es mit einem anderen Parfüm.
Und wieder vollführte Lillian die Aufgabe mit der gleichen wundersamen Leichtigkeit. »Bergamotte … Tuberose … Weihrauch …« Sie zögerte, atmete noch einmal ein und sog den reichhaltigen Duft tief in ihre Nase. Ein verwundertes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Und ein Hauch von Kaffee.«
»Kaffee?«, rief ihre Schwester Daisy und beugte ihren Kopf über den Flakon. »Hier riecht nichts nach Kaffee.«
Lillian warf Nettle einen fragenden Blick zu, und er bestätigte lächelnd ihre Vermutung. »Ja, es ist Kaffee.« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Sie besitzen wahrlich eine Gabe, Miss Bowman.«
Lillian zuckte mit den Achseln. »Eine Gabe, die bei der Suche nach einem Ehemann leider wenig hilfreich ist. Es ist einfach mein Schicksal, ein derart nutzloses Talent zu besitzen. Es wäre besser, wenn ich eine schöne Stimme hätte oder von großer Schönheit wäre. Wie meine Mutter sagt, ziemt es sich nicht für eine Dame, an Dingen zu schnuppern.«
»Das gilt nicht in meinem Geschäft«, widersprach Nettle.
Sie unterhielten sich weiter über Aromen wie andere Leute über Kunst, die sie in einem Museum gesehen hatten: die süßen, erdigen, lebendigen Gerüche eines Waldes nach ein paar Regentagen; die malzig-süße Brise des Meeres; den pilzartigen Reichtum eines Trüffels; die frische, beißende Kälte eines Himmels, der Schnee versprach. Daisy verlor schnell das Interesse und inspizierte die Kosmetikregale. Sie öffnete ein Puderglas und musste niesen, dann wählte sie eine Dose mit Pastillen, die sie geräuschvoll zerkaute.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs erfuhr Nettle, dass der Vater der beiden jungen Ladys in New York ein Unternehmen besaß, das Düfte und Seifen herstellte. Bei gelegentlichen Besuchen im Labor und in den Fabriken hatte Lillian ein rudimentäres Wissen über Düfte und Mischungen erworben. Sie hatte sogar geholfen, einen Duft für eine von Bowmans Seifen zu entwickeln. Auch wenn sie keinerlei Ausbildung genossen hatte, für Nettle war offensichtlich, dass es sich bei Lillian um ein Wunderkind handelte. Allerdings würde dieses Talent aufgrund ihres Geschlechts für immer ungenutzt bleiben.
»Miss Bowman«, sagte er, »ich habe da eine Essenz, die ich Ihnen gerne zeigen würde. Wenn Sie so freundlich wären, hier zu warten, während ich sie aus dem hinteren Teil des Ladens hole …?«
Neugierig geworden, nickte Lillian und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen, während Nettle durch einen Vorhang verschwand, der den Durchgang vom Laden zum dahinterliegenden Lagerraum verbarg. Der Raum war vollgestopft mit Akten voller Rezepturen, Schränken mit Destillationen, Extrakten und Tinkturen, Regalen mit Utensilien und Trichtern, Mischflaschen und Messgläsern – mit allem, was er für sein Handwerk brauchte. Auf dem obersten Regal standen ein paar in Leinen gebundene Bände mit alten gallischen und griechischen Texten über die Kunst der Parfümherstellung. Ein guter Parfümeur war zu einem Teil Chemiker, zu einem Teil Künstler und zu einem Teil Zauberer.
Nettle stieg auf eine hölzerne Trittleiter und holte eine kleine Kiefernkiste aus dem obersten Regal. Als er in den Laden zurückkehrte, stellte er das Kästchen auf den Tresen. Die beiden Bowman-Schwestern beobachteten aufmerksam, wie er das winzige Messingscharnier öffnete und ein kleines Fläschchen zum Vorschein brachte, das mit Faden und Wachs versiegelt war. Diese halbe Unze einer fast farblosen Flüssigkeit war die kostspieligste Essenz, die Nettle je erworben hatte.
Er öffnete die Flasche, trug einen der kostbaren Tropfen auf ein Taschentuch auf und reichte es Lillian. Beim ersten Einatmen war der Duft leicht und mild, fast harmlos. Doch wenn er die Nase hinaufwanderte, wurde er überraschend üppig, und noch lange nachdem der anfängliche Rausch verklungen war, blieb ein süßer Hauch zurück.
Lillian betrachtete Nettle über den Rand des Taschentuchs hinweg mit offensichtlicher Verwunderung. »Was ist das?«
»Die Essenz einer seltenen Orchidee, die ihren Duft nur nachts verströmt«, antwortete Nettle. »Die Blütenblätter sind rein weiß, viel zarter als Jasmin. Man kann die Essenz nicht durch Erhitzen der Blüten gewinnen – dafür sind sie zu empfindlich.«
»Kalte Enfleurage also«, murmelte Lillian und meinte damit das Verfahren, bei dem die kostbaren Blütenblätter auf Schichten von Fett gebettet werden, bis es mit ihrem Duft gesättigt ist, um dann mit einem Lösungsmittel auf Alkoholbasis die reine Essenz herauszuziehen.
»Ja.«
Sie nahm einen weiteren Atemzug von der exquisiten Essenz. »Wie heißt diese Orchidee?«
»Lady of the Night«.
Der Name entlockte Daisy ein amüsiertes Kichern. »Das klingt wie der Titel eines der Romane, die mir meine Mutter zu lesen verboten hat.«
»Ich würde Ihnen vorschlagen, den Duft dieser Orchidee anstelle des Lavendels in Ihrer Formel zu verwenden«, fuhr Nettle fort. »Das ist gewiss teurer, aber meiner Meinung nach wäre es die perfekte Basisnote, vor allem, wenn Sie Amber als Fixateur verwenden möchten.«
»Wie viel teurer?«, erkundigte sich Lillian. Als er den Preis nannte, weiteten sich ihre Augen. »Großer Gott, das ist mehr als sein Gewicht in Gold.«
Nettle hielt das Fläschchen gegen das Licht, in dem die Flüssigkeit glitzerte und schimmerte wie ein Diamant. »Magie ist nicht billig, fürchte ich.«
Lillian lachte, während ihr Blick gebannt und fasziniert der Flasche folgte. »Magie«, spottete sie.
»Dieses Parfüm wird Magie bewirken«, betonte er und lächelte sie an. »Ich werde außerdem noch eine geheime Zutat hinzufügen, um seine Wirkung zu verstärken.«
Erfreut, aber offensichtlich ungläubig, verabredete Lillian mit Nettle, später am Tag zurückzukehren, um das Parfüm abzuholen. Sie bezahlte sowohl Daisys Dose Pastillen als auch den bestellten Duft und verließ mit ihrer jüngeren Schwester den Laden. Ein Blick in Daisys Gesicht verriet, dass ihre ohnehin recht lebhafte Fantasie von Gedanken an magische Formeln und geheime Ingredienzien geradezu beflügelt wurde.
»Lillian … du lässt mich doch etwas von diesem magischen Parfüm probieren, oder?«
»Teile ich nicht immer alles mit dir?«
»Keineswegs.«
Lillian grinste. Trotz der vorgetäuschten Rivalität und gelegentlicher Zwistigkeiten waren die beiden Schwestern die treuesten Verbündeten und engsten Freundinnen. Nur wenige Menschen in Lillians Leben hatten sie je so sehr geliebt wie Daisy, die außerdem die hässlichsten streunenden Hunde, die nervtötendsten Kinder und Dinge liebte, die repariert oder weggeworfen werden mussten.
Und doch waren sie trotz ihrer Nähe sehr unterschiedlich. Daisy war eine Idealistin, eine Träumerin, ein sprunghaftes Wesen, das zwischen kindlichen Launen und klugen Einsichten hin- und herschwankte. Lillian wusste, dass sie eine scharfe Zunge besaß und um sich eine Mauer zum Schutz vor dem Rest der Welt errichtet hatte. Ein Mädchen mit einem gepflegten Zynismus und einem beißenden Sinn für Humor. Dem kleinen Kreis von Menschen in ihrem Umfeld gegenüber war sie äußerst loyal, vor allem bei den Mauerblümchen. So nannte sich eine Gruppe von jungen Ladys, die sich in der letzten Saison kennengelernt hatten, als sie bei jedem Ball und jeder Soiree am Rand saßen. Lillian, Daisy und ihre Freundinnen Annabelle Peyton und Evangeline Jenner hatten sich geschworen, sich gegenseitig zu helfen und Ehemänner für die anderen zu finden. Folge ihrer erfolgreichen Bemühungen war, dass Annabelle vor zwei Monaten Mr Simon Hunt geheiratet hatte. Lillian war als Nächste dran. Allerdings hatten sie bis jetzt noch keine klare Vorstellung, wer für sie in Frage kam, und deshalb auch keinen festen Plan, wie sie ihn finden sollten.
»Natürlich lasse ich dich das Parfüm probieren«, versprach Lillian ihrer Schwester jetzt. »Obwohl nur der Himmel weiß, was du dir davon versprichst.«
»Selbstverständlich wird es dafür sorgen, dass sich ein gut aussehender, junger Herzog in mich verliebt«, gab Daisy zurück.
»Ist dir aufgefallen, wie wenige Männer von Adel jung und gut aussehend sind?«, fragte Lillian augenzwinkernd. »Die meisten von ihnen sind stumpfsinnig, alt oder sehen aus, als hätten sie einen Angelhaken im Mund.«
Daisy kicherte und schlang ihren Arm um die Taille ihrer Schwester. »Die richtigen Gentlemen sind da draußen«, sagte sie. »Und wir werden sie finden.«
»Warum bist du dir da so sicher?«, erkundigte sich Lillian amüsiert.
Daisy lächelte sie schelmisch an. »Weil wir die Magie auf unserer Seite haben.«
Stony Cross Park, Hampshire
»Die Bowmans sind eingetroffen«, verkündete Lady Olivia Shaw von der Tür des Arbeitszimmers aus, wo ihr älterer Bruder an seinem Schreibtisch zwischen Stapeln von Geschäftsbüchern saß. Die späte Nachmittagssonne schien durch die langen, rechteckigen Buntglasfenster – die einzige Verzierung in dem ansonsten schlichten, mit Rosenholz getäfelten Raum.
Marcus, Lord Westcliff, blickte von seiner Arbeit auf und zog die dunklen Brauen über den kaffeebraunen Augen zusammen. »Möge das Chaos beginnen«, murmelte er.
Livia lachte. »Ich nehme an, du sprichst von den Bowman-Töchtern? So schlimm sind sie nun auch wieder nicht, oder?«
»Schlimmer«, sagte Marcus knapp, und seine finstere Miene vertiefte sich, als er sah, dass die vorübergehend vergessene Schreibfeder in seinen Fingern einen großen Tintenfleck auf der ansonsten makellosen Zahlenreihe hinterlassen hatte. »Zwei weitere ungehobelte junge Frauen, mit denen ich mich jetzt herumschlagen muss. Vor allem die ältere.«
»Nun, sie sind Amerikanerinnen«, bemerkte Livia. »Es ist doch nur fair, ihnen gegenüber eine gewisse Nachsicht walten zu lassen, nicht wahr? Man kann ja wohl kaum erwarten, dass sie jedes komplizierte Detail unserer endlosen gesellschaftlichen Regeln kennen …«
»Selbstverständlich lasse ich in Details Nachsicht walten«, unterbrach Marcus sie knapp. »Wie du weißt, neige ich nicht dazu, den Winkel von Miss Bowmans kleinem Finger zu bemängeln, wenn sie ihre Teetasse hält. Womit ich mich allerdings nicht anfreunden kann, ist ein gewisses Gebaren, das man in allen Teilen der zivilisierten Welt als anstößig empfinden würde.«
Gebaren?, dachte Livia. Jetzt wurde es interessant. Sie trat weiter in das Arbeitszimmer, obwohl sie diesen Raum normalerweise nicht mochte, weil er sie so stark an ihren verstorbenen Vater erinnerte.
Sie besaß keine glücklichen Erinnerungen an den achten Earl of Westcliff. Ihr Vater war ein liebloser und grausamer Mann gewesen, der den ganzen Sauerstoff aus einem Raum zu saugen schien, wenn er ihn betrat. Alles und jeder in seinem Leben hatten den Earl enttäuscht. Von seinen drei Nachkommen hatte nur Marcus seinen hohen Ansprüchen annähernd genügt. Denn ganz gleich, welche Strafen der Earl verhängte, ungeachtet wie unmöglich seine Anforderungen oder wie ungerecht seine Urteile waren, Marcus hatte sich nie beschwert.
Livia und ihre Schwester Aline bewunderten ihren älteren Bruder, dessen ständiges Streben nach Höchstleistungen dazu geführt hatte, dass er in der Schule die besten Noten erhielt, in seinen bevorzugten Sportarten sämtliche Rekorde brach und sich selbst weitaus strenger beurteilte, als es irgendjemand sonst je tat. Marcus konnte ein Pferd zureiten, eine Quadrille tanzen, eine Vorlesung über mathematische Theorie halten, eine Wunde verbinden und ein Kutschenrad reparieren. Doch keine seiner zahlreichen Fähigkeiten hatte ihm jemals auch nur ein Wort des Lobes von seinem Vater eingebracht.
Im Nachhinein erkannte Livia, dass es die Absicht des alten Earls gewesen sein musste, seinem einzigen Sohn jede Spur von Sanftheit oder Mitgefühl auszutreiben. Eine Zeit lang schien es, als sei ihm das auch gelungen. Doch nach dem Tod seines Vaters vor fünf Jahren hatte sich Marcus als ein ganz anderer Mensch erwiesen als der, zu dem er erzogen worden war. Livia und Aline hatten entdeckt, dass ihr älterer Bruder nie zu beschäftigt war, um ihnen zuzuhören, und dass er immer bereit war, ihnen zu helfen, ganz gleich, wie unbedeutend ihre Probleme schienen. Er war mitfühlend, zugewandt und verständnisvoll – eigentlich ein Wunder, wenn man bedachte, dass ihm die meiste Zeit seines Lebens keine dieser Eigenschaften jemals vorgelebt worden war.
Dennoch war Marcus auch etwas dominant. Nun ja … er war sehr dominant. Ging es um die Menschen, die er liebte, hegte Marcus keine Skrupel, sie zu manipulieren, damit sie taten, was er für das Beste hielt. Das gehörte nicht zu seinen charmantesten Eigenschaften. Und wenn Livia über seine Fehler nachdachte, musste sie auch zugeben, dass Marcus einen enervierenden Glauben an seine eigene Unfehlbarkeit besaß.
Jetzt lächelte sie ihren charismatischen Bruder liebevoll an und fragte sich, wie sie ihm so zugetan sein konnte, wo er doch äußerlich so sehr nach ihrem Vater kam. Marcus hatte die gleichen kantigen Gesichtszüge, die hohe Stirn und die breiten, schmalen Lippen. Er hatte das dichte rabenschwarze Haar, die kühne, kräftige Nase und das starrsinnig vorspringende Kinn des Vaters. Die Kombination war eher auffällig als attraktiv … aber dennoch war es ein Gesicht, das leicht die Blicke der Frauen auf sich zog. Denn im Gegensatz zu den Augen ihres Vaters glitzerten Marcus’ wache, dunkle Augen oft voller Heiterkeit, und wenn er ein seltenes Lächeln zeigte, leuchteten strahlend weiße Zähne in seinem gebräunten Gesicht.
Als Livia auf ihn zukam, lehnte sich Marcus auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Finger auf seinem muskulösen Bauch. Da es ungewöhnlich warm für einen frühen Septembernachmittag war, hatte Marcus seinen Gehrock abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt, sodass seine muskulösen braunen Unterarme zu sehen waren, die von schwarzen Härchen überzogen waren. Er war mittelgroß und außerordentlich gut in Form und besaß den muskulösen Körperbau eines begeisterten Sportlers.
Gespannt, mehr über das zuvor erwähnte Gebaren der schlecht erzogenen Miss Bowman zu hören, lehnte sich Livia an die Schreibtischkante und sah Marcus an. »Ich frage mich, was Miss Bowman getan hat, um dich so zu beleidigen«, überlegte sie laut. »Sag es mir, Marcus. Wenn nicht, wird sich meine Fantasie sicher etwas ausdenken, das weitaus skandalöser ist, als die arme Miss Bowman es je sein könnte.«
»Die arme Miss Bowman?« Marcus schnaubte. »Frag mich nicht, Livia. Es steht mir nicht frei, darüber zu sprechen.«
Wie die meisten Männer schien Marcus nicht zu begreifen, dass nichts die Flammen der Neugier einer Frau heftiger entfachte als ein Thema, über das man nicht sprechen durfte. »Raus mit der Sprache, Marcus!«, befahl sie. »Oder ich werde dich auf unaussprechliche Weise leiden lassen.«
Eine seiner Brauen hob sich in einem sardonischen Bogen. »Da die Bowmans bereits hier sind, erübrigt sich diese Drohung.«
»Dann werde ich eben raten. Hast du Miss Bowman mit jemandem erwischt? Hat sie einem Gentleman gar erlaubt, sie zu küssen … oder Schlimmeres?«
Marcus antwortete mit einem verächtlichen Lächeln. »Schwerlich. Ein Blick genügt, und jeder halbwegs vernünftige Mann würde schreiend in die entgegengesetzte Richtung davonrennen.«
Livia hatte das Gefühl, dass ihr Bruder etwas zu barsch über Lillian Bowman urteilte. »Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, Marcus«, bemerkte sie mit nachdenklicher Miene.
»Eine schöne Fassade reicht längst nicht aus, um die Schwächen ihres Charakters auszugleichen.«
»Die da wären?«
Marcus machte ein verächtliches Geräusch, als seien Miss Bowmans Fehler zu offensichtlich, als dass man sie aufzählen müsste. »Sie ist manipulativ.«
»Das bist du auch, Lieber«, murmelte Livia.
Er ging nicht darauf ein. »Sie ist herrschsüchtig.«
»Genau wie du.«
»Sie ist arrogant.«
»Da kenne ich noch jemanden«, sagte Livia fröhlich.
Marcus warf ihr einen bösen Blick zu. »Ich dachte, wir wollten Miss Bowmans Fehler aufzählen, nicht meine.«
»Aber ihr scheint viel gemeinsam zu haben«, bemerkte Livia etwas zu unschuldig. Sie beobachtete, wie er die Schreibfeder weglegte und sie ordentlich mit den anderen Gegenständen auf seinem Schreibtisch ausrichtete. »Was ihr unangemessenes Verhalten angeht – willst du damit sagen, dass du sie nicht in einer kompromittierenden Situation erwischt hast?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass ihr unschickliches Verhalten nicht auf einen Gentleman bezogen war.«
»Marcus, ich habe keine Zeit für so etwas«, versetzte Livia ungeduldig. »Ich muss die Bowmans begrüßen – und du übrigens auch – , aber bevor wir dieses Arbeitszimmer verlassen, verlange ich zu erfahren, was für einer skandalösen Angelegenheit sie sich schuldig gemacht hat!«
»Es ist zu lächerlich, um es zu sagen.«
»Ritt sie etwa rittlings auf einem Pferd? Hat sie eine Zigarre geraucht? Schwamm sie nackt in einem Teich?«
»Nicht ganz.« Mürrisch nahm Marcus ein Stereoskop, das in der Ecke des Schreibtisches stand. Es war ein Geburtstagsgeschenk von seiner Schwester Aline, die jetzt mit ihrem Mann in New York lebte. Das Stereoskop war eine ganz neue Erfindung, die aus Ahornholz und Glas angefertigt wurde. Wenn eine Stereokarte – eine Doppelfotografie – auf die Verlängerung hinter dem Objektiv aufgesteckt wurde, erschien das Motiv als dreidimensionales Abbild. Tiefe und Detailreichtum der Stereofotografien waren verblüffend … die Zweige eines Baumes schienen den Betrachter an der Nase zu kitzeln, und eine Bergschlucht wirkte derart realistisch, dass man den Eindruck hatte, man könne jeden Moment in den Tod stürzen. Marcus hob das Stereoskop an seine Augen und betrachtete mit übermäßiger Konzentration die Ansicht des Kolosseums in Rom.
Gerade als Livia vor Ungeduld zu explodieren drohte, murmelte Marcus: »Ich habe Miss Bowman in Unterwäsche Schlagball spielen sehen.«
Livia starrte ihn verblüfft an. »Schlagball? Du meinst das Spiel mit dem Lederball und dem flachen Schläger?«
Marcus verzog ungeduldig den Mund. »Es geschah bei ihrem letzten Besuch hier bei uns. Miss Bowman und ihre Schwester tummelten sich mit ihren Freundinnen auf einer Wiese im nordwestlichen Quadranten des Anwesens, als Simon Hunt und ich zufällig dort vorbeiritten. Alle vier Ladys trugen lediglich ihre Unterwäsche – sie behaupteten, es sei schwierig, das Spiel in üppigen Röcken zu bewerkstelligen. Ich vermute, sie hätten jede Ausrede genutzt, um halb nackt herumlaufen zu können. Die Bowman-Schwestern sind Hedonisten.«
Livia schlug sich eine Hand vor den Mund, um einen Lachanfall zu unterdrücken, was ihr nicht ganz gelang. »Ich kann nicht glauben, dass du das nicht schon früher erwähnt hast!«
»Ich wünschte, ich könnte es vergessen«, antwortete Marcus grimmig und ließ das Stereoskop sinken. »Gott weiß, wie ich Thomas Bowmans Blick begegnen soll, während die Erinnerung an seine unbekleidete Tochter noch frisch in meinem Kopf ist.«
Amüsiert betrachtete Livia das markante Profil ihres Bruders. Ihr war nicht entgangen, dass Marcus »Tochter« und nicht »Töchter« gesagt hatte – was deutlich machte, dass er die jüngere kaum wahrgenommen hatte. Offenbar hatte er nur Augen für Lillian gehabt.
So wie sie Marcus kannte, hätte Livia erwartet, dass er sich über den Vorfall amüsieren würde. Obwohl ihr Bruder einen ausgeprägten Sinn für Moral besaß, war er alles andere als ein Moralapostel, und zudem besaß er viel Humor. Obwohl Marcus sich nie eine Mätresse geleistet hatte, hörte Livia hier und da Gerüchte über einige diskrete Affären – und ihr war sogar die eine oder andere getuschelte Bemerkung zu Ohren gekommen, dass der nach außen hin so strenge Earl im Schlafzimmer ausgesprochen abenteuerlustig war. Aber aus irgendeinem Grund schien ihr Bruder an dieser heißblütigen, verwegenen Amerikanerin mit den rauen Sitten und dem neuen Geld Anstoß zu nehmen. Spöttisch fragte sich Livia, ob die Vorliebe der Familie Marsden für Amerikaner – immerhin hatte Aline einen geheiratet, und sie selbst hatte gerade Gideon Shaw von den New York Shaws geehelicht – vielleicht auch auf Marcus zutraf.
»War sie in ihrer Unterwäsche nicht furchtbar hinreißend?«, fragte Livia listig.
»Ja«, erwiderte Marcus ohne nachzudenken, und sah sie dann finster an. »Ich meine natürlich, nein. Das heißt, ich habe sie nicht lange genug angesehen, um ihre Reize einschätzen zu können. Falls sie welche hat.«
Livia biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe, um nicht zu lachen. »Komm schon, Marcus … du bist ein kerngesunder Mann von dreißig Jahren. Und du hast nicht einen einzigen heimlichen Blick auf Miss Bowman riskiert, als sie dort in ihrer Unterwäsche stand?«
»Ich werfe keine heimlichen Blicke, Livia. Entweder sehe ich mir etwas genau an, oder ich lasse es. Heimlich Blicke zu riskieren ist etwas für Kinder oder Perverslinge.«
Sie warf ihm einen zutiefst mitleidigen Blick zu. »Nun, es tut mir schrecklich leid, dass du eine so schwierige Erfahrung machen musstest. Wir können nur hoffen, dass Miss Bowman bei diesem Besuch in deiner Gegenwart vollständig bekleidet bleibt, um deinen sensiblen Charakter nicht erneut zu schockieren.«
Marcus reagierte mit finsterer Miene auf den Spott. »Das bezweifle ich.«
»Bezweifelst du, dass sie vollständig bekleidet bleibt, oder dass sie dich schockieren wird?«
»Es reicht, Livia!«, knurrte er, und sie kicherte.
»Komm, wir müssen die Bowmans begrüßen.«
»Dafür habe ich keine Zeit«, sagte Marcus knapp. »Heiße sie willkommen und entschuldige mich bei ihnen.«
Livia blickte ihn erstaunt an. »Du wirst doch nicht … Aber Marcus, du musst sie begrüßen! Ich habe dich noch nie als unhöflich empfunden.«
»Ich mache es später wieder gut. Um Himmels willen, sie sind fast einen Monat hier! Ich werde wohl noch reichlich Gelegenheit haben, sie zu beschwichtigen. Aber das Gerede über dieses Bowman-Mädchen hat mir die Laune verdorben, und im Moment macht mich allein der Gedanke, mit ihr in einem Raum zu sein, nervös.«
Livia schüttelte leicht den Kopf und betrachtete ihn auf eine forschende Weise, die ihm ganz und gar nicht gefiel. »Ich habe gesehen, wie du mit Leuten umgehst, die du nicht magst. Es gelingt dir immer, höflich zu sein – vor allem, wenn du etwas von ihnen willst. Aber aus irgendeinem Grund scheint dich Miss Bowman übermäßig zu provozieren. Ich habe eine Theorie, warum.«
»Ach?« Eine subtile Herausforderung leuchtete in seinen Augen auf.
»Ich arbeite noch daran. Sobald ich zu einem endgültigen Ergebnis gekommen bin, lasse ich es dich wissen.«
»Gott steh mir bei. Geh einfach, Livia, und begrüße die Gäste.«
»Während du dich in diesem Arbeitszimmer verkriechst, wie ein Fuchs, den man aufgestöbert hat?«
Marcus stand auf und forderte sie mit einer Handbewegung auf, vor ihm hinauszugehen. »Ich nehme die Hintertür und dann mache ich einen langen Ausritt.«
»Wie lange wirst du weg sein?«
»Ich werde rechtzeitig zurück sein, um mich für das Abendessen umzuziehen.«
Livia seufzte verärgert. Zum heutigen Abendessen erwarteten sie zahlreiche Gäste. Es war der Auftakt zum ersten Tag der Gesellschaft, die morgen offiziell beginnen sollte. Die meisten Gäste waren bereits eingetroffen, und nur ein paar Nachzügler sollten bald noch hinzukommen. »Du solltest dich besser nicht verspäten«, warnte sie ihn. »Dass ich zugestimmt habe, für dich die Gastgeberin zu spielen, heißt nicht, dass ich mich um alles allein kümmern muss.«
»Ich komme nie zu spät«, erwiderte Marcus gelassen und ging dann mit den eiligen Schritten eines Mannes davon, der unerwartet vor dem Tod am Galgen bewahrt worden war.
Marcus ließ das Herrenhaus hinter sich und lenkte sein Pferd über den ausgetretenen Waldweg hinter den Gärten. Sobald er eine tiefer liegende Gasse überquert und den Hang auf der anderen Seite hinaufgeritten war, ließ er dem Tier freien Lauf, und sie galoppierten über Felder aus Mädesüß und sonnengetrocknetem Gras. Stony Cross Park besaß die beste Anbaufläche in Hampshire, mit dichten Wäldern und schimmernden Feuchtwiesen, mit Mooren und weiten Feldern mit goldenem Weizen. Einst als Jagdrevier für Könige reserviert, war das Anwesen heute ein ausgesprochen beliebtes Reiseziel.
Es kam Marcus’ Zwecken entgegen, dass er mehr oder weniger unablässig einen Strom an Gästen auf dem Anwesen begrüßen konnte. Sie boten ihm reichlich Gesellschaft für die geliebte Jagd und den Sport, und es ergaben sich daraus auch gewisse finanzielle und politische Vorteile. Bei diesen Hausgesellschaften wurden alle Arten von Geschäften getätigt, und häufig gelang es Marcus, einen bestimmten Politiker oder Geschäftsmann in wichtigen Fragen auf seine Seite zu ziehen.
Diese Gesellschaft hätte sich nicht von anderen unterscheiden sollen, aber in den letzten Tagen war Marcus’ Unbehagen stetig gewachsen. Als äußerst rationaler Mensch glaubte er nicht an übersinnliche Vorahnungen oder irgendeinen anderen spiritistischen Unsinn, der in letzter Zeit in Mode gekommen war … aber es schien, als hätte sich etwas in der Atmosphäre in Stony Cross Park verändert. Es lag eine erwartungsvolle Spannung in der Luft, wie in der Ruhe vor einem Sturm. Marcus war unruhig und ungeduldig, und keine noch so große körperliche Anstrengung schien sein wachsendes Unbehagen lindern zu können.
Bei dem Gedanken an den vor ihm liegenden Abend und daran, dass er mit den Bowmans verkehren musste, steigerte sich Marcus’ Unbehagen zu einer Art Beklemmung. Er bedauerte, dass er sie eingeladen hatte. Wenn er sie auf diese Weise loswerden könnte, hätte er gern auf ein mögliches Geschäft mit Thomas Bowman verzichtet. Tatsache war jedoch, dass sie hier waren und fast einen Monat bleiben würden, also konnte er auch das Beste daraus machen.
Marcus beabsichtigte, mit Thomas Bowman über die Erweiterung seines Seifenunternehmens zu verhandeln, um eine Produktionsstätte in Liverpool oder vielleicht in Bristol aufzubauen. Wenn Marcus seinen liberalen Verbündeten im Parlament Glauben schenken konnte, würde die britische Seifensteuer in den nächsten Jahren so gut wie sicher abgeschafft werden. Dann wurde die Seife für den Normalbürger erheblich erschwinglicher, was gut für die Volksgesundheit wäre und – falls Bowman bereit war, ihn als Partner zu akzeptieren – ebenso für Marcus’ Finanzen.
Er konnte jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass ein Besuch von Thomas Bowman auch die Anwesenheit seiner Töchter bedeutete. Lillian und Daisy waren ein typisches Beispiel für den verwerflichen Trend, amerikanische Erbinnen nach England zu schicken, damit sie sich hier einen Ehemann angelten. Der Adel wurde von diesen ambitionierten Ladys belagert, die mit ihrem grässlichen Akzent von sich selbst schwärmten und ständig in den Zeitungen um Aufmerksamkeit buhlten. Schamlose, laute, selbstgefällige junge Frauen, die sich mit dem Geld ihrer Eltern einen Adligen zu kaufen beabsichtigten … und häufig Erfolg hatten.
Marcus hatte die Bowman-Schwestern bei ihrem letzten Besuch in Stony Cross Park kennengelernt und fand, dass nur wenig für die beiden sprach. Insbesondere die ältere, Lillian, hatte sein Missfallen erregt. Sie und ihre Freundinnen – die »Mauerblümchen«, wie sie sich selbst nannten, als wäre das etwas, worauf man stolz sein könnte! – hatten einen Plan ausgeheckt, um einen seiner Adelsfreunde in die Ehe zu locken. Marcus würde nie den Moment vergessen, als der Plan aufflog. »Gütiger Gott – schrecken Sie denn vor nichts zurück?«, hatte Marcus Lillian gefragt. Und sie hatte dreist geantwortet: »Wenn es etwas gibt, ist es mir bislang entgangen.«
Ihre außergewöhnlich freche Art unterschied sie von allen anderen Frauen, die Marcus kannte. Das und dieses Ballspiel, das sie in Unterwäsche gespielt hatten, hatten ihn davon überzeugt, dass Lillian Bowman ein Teufelsbraten war. Und wenn er einmal ein Urteil über jemanden gefällt hatte, änderte er seine Meinung nur selten.
Stirnrunzelnd überlegte Marcus, wie er am besten mit Lillian umgehen sollte. Er würde kühl und distanziert bleiben, ganz gleich, wie sehr sie ihn auch provozierte. Zweifellos würde es sie wütend machen, wenn sie sah, wie kühl sie ihn ließ. Als er sich ihre Empörung ausmalte, wenn er sie ignorierte, ließ der Druck auf seiner Brust nach. Ja, er würde ihr möglichst aus dem Weg gehen, und wenn die Umstände sie zwangen, sich im selben Raum aufzuhalten, würde er sie mit kühler Höflichkeit behandeln. Seine Miene hellte sich auf, und Marcus führte sein Pferd in eine Reihe leichter Sprünge. Über eine Hecke, einen Zaun und eine schmale Steinmauer. Dabei bewegten sich Tier und Reiter in perfekter Harmonie.
*
»Also, Mädchen!« Mrs Mercedes Bowman stand in der Tür zum Zimmer ihrer Töchter und musterte sie mit strengem Blick. »Ich bestehe darauf, dass ihr mindestens zwei Stunden schlaft, damit ihr heute Abend frisch seid. Lord Westcliffs Dinner beginnen für gewöhnlich spät und dauern bis Mitternacht, und ich möchte nicht, dass eine von euch bei Tisch gähnt.«
»Ja, Mutter«, sagten beide pflichtbewusst und sahen sie mit unschuldigen Gesichtern an, durch die sich ihre Mutter jedoch nicht im Geringsten täuschen ließ.
Mrs Bowman war eine äußerst ehrgeizige Frau mit einem Übermaß an nervöser Energie. Neben ihrem spindeldürren Körper hätte selbst ein Windhund pummelig gewirkt. Ihr besorgtes, hartnäckiges Geplapper diente für gewöhnlich dazu, ihr Hauptziel im Leben voranzubringen: ihre beiden Töchter glänzend zu verheiraten. »Unter keinen Umständen werdet ihr diese Gemächer verlassen!«, fuhr sie streng fort. »Kein Herumschleichen auf Lord Westcliffs Anwesen, keine Abenteuer, Streitereien oder Zwischenfälle jeglicher Art. Um sicherzustellen, dass ihr hier bleibt und euch ausruht, beabsichtige ich, eure Tür zu verschließen.«
»Mutter!«, protestierte Lillian, »wenn es in der zivilisierten Welt einen langweiligeren Ort als Stony Cross gibt, dann verspeise ich meine Schuhe. In welche Schwierigkeiten könnten wir hier schon geraten?«
»Ihr schafft es, aus dem Nichts Schwierigkeiten zu erschaffen«, erklärte Mercedes mit zusammengekniffenen Augen. »Deshalb werde ich euch nicht aus den Augen lassen. Nach eurem Verhalten bei unserem letzten Besuch hier bin ich schon erstaunt, dass wir überhaupt wieder eingeladen wurden.«
»Ich nicht«, erwiderte Lillian trocken. »Jeder weiß, dass wir hier sind, weil Westcliff ein Auge auf Vaters Firma geworfen hat.«
»Lord Westcliff«, zischte Mercedes. »Lillian, du musst ihm mit Respekt begegnen! Er ist der reichste Adlige in ganz England, mit einer Blutlinie …«
»… die älter ist als die der Königin«, unterbrach Daisy im Singsang, da sie diese Rede schon bis zum Überdruss gehört hatte. »Und es ist der älteste Titel eines Earls in ganz Großbritannien, das macht ihn …«
»… zum begehrtesten Junggesellen in Europa«, führte Lillian den Satz trocken zu Ende und hob spöttisch die Brauen. »Vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Mutter, wenn du wirklich hoffst, dass Westcliff eine von uns beiden heiratet, musst du verrückt geworden sein.«
»Sie ist nicht verrückt«, verbesserte Daisy ihre Schwester. »Sie ist New Yorkerin.«
In New York gab es immer mehr Menschen von der Sorte der Bowmans – Emporkömmlinge, die weder Zugang zu den konservativen, alteingesessenen New Yorker Kreisen, den Knickerbockern, noch zur modernen New Yorker Gesellschaft fanden. Diese Familien von Parvenus hatten mit der Herstellung von Waren oder dem Bergbau gewaltige Vermögen angehäuft, dennoch fanden sie in den Kreisen, die sie so verzweifelt anstrebten, keine Anerkennung. Die demütigende Erfahrung, so gänzlich von der New Yorker Gesellschaft abgelehnt und ausgeschlossen zu werden, hatte Mercedes’ Ehrgeiz nur umso mehr angestachelt.
»Wir werden dafür sorgen, dass Lord Westcliff euer ungeheuerliches Verhalten bei unserem letzten Besuch vergisst«, teilte Mercedes ihnen grimmig mit. »Ihr werdet euch stets bescheiden, ruhig und sittsam verhalten – und mit dieser Mauerblümchen-Angelegenheit ist ebenfalls Schluss. Ich will, dass ihr euch von dieser skandalösen Annabelle Peyton fernhaltet, und von dieser anderen, dieser …«
»Evie Jenner«, half Daisy. »Und erstere heißt jetzt Annabelle Hunt, Mutter.«
»Annabelle hat Westcliffs besten Freund geheiratet«, bemerkte Lillian beiläufig. »Ich denke, das wäre ein hervorragender Grund für uns, sie weiterhin zu sehen, Mutter.«
»Ich werde es erwägen.« Mercedes betrachtete die beiden misstrauisch. »In der Zwischenzeit möchte ich, dass ihr ein ausgiebiges Schläfchen haltet. Ich will von keiner auch nur einen Ton hören, habt ihr verstanden?«
»Ja, Mutter«, erwiderten beide im Chor.
Die Tür ging zu und wurde von außen verschlossen.
Die Schwestern sahen sich grinsend an. »Nur gut, dass sie nie von dem Schlagballspiel erfahren hat«, sagte Lillian.
»Dann wären wir jetzt tot«, stimmte Daisy ernsthaft zu.
Lillian holte eine Haarnadel aus einer kleinen emaillierten Schachtel auf dem Frisiertisch und ging zur Tür. »Schade, dass sie sich so über Kleinigkeiten aufregt, findest du nicht auch?«
»Wie damals, als wir das eingefettete Ferkel in Mrs Astors Salon geschmuggelt haben.«
Lillian lächelte, kniete vor der Tür und schob die Nadel in das Schloss. »Weißt du, ich habe mich schon immer gefragt, warum Mutter es nicht zu schätzen wusste, dass wir es zu ihrer Verteidigung getan haben. Es musste doch etwas geschehen, nachdem Mrs Astor Mutter nicht zu ihrer Gesellschaft einladen wollte.«
»Ich glaube, Mutter wollte uns damit klarmachen, dass das Hineinschmuggeln von Nutzvieh in einen Salon wenig dazu beiträgt, uns als zukünftige Gäste für Gesellschaften zu empfehlen.«
»Nun, ich fand das nicht annähernd so schlimm wie damals, als wir den Römerlicht-Feuerwerkskörper in dem Laden in der Fifth Avenue entzündet haben.«
»Dazu waren wir verpflichtet, nachdem dieser Verkäufer so unhöflich gewesen war.«
Lillian zog die Haarnadel heraus, knickte fachmännisch ein Ende ab und schob sie wieder hinein. Mit vor Konzentration zusammengekniffenen Augen bewegte sie die Nadel im Schloss, bis es klickte dann sah sie Daisy mit einem triumphierenden Lächeln an. »Ich glaube, so schnell war ich noch nie.«
Doch ihre jüngere Schwester erwiderte das Lächeln nicht. »Lillian … wenn du dieses Jahr einen Ehemann findest … dann ändert sich alles. Du wirst dich verändern. Dann gibt es keine Abenteuer mehr, keinen Spaß, und ich werde ganz allein sein.«
»Sei nicht albern«, sagte Lillian mit einem Stirnrunzeln. »Ich werde mich nicht ändern, und du wirst nicht allein sein.«
»Du hast einen Ehemann, dem du Rechenschaft ablegen musst«, beharrte Daisy. »Und er wird nicht zulassen, dass du mit mir irgendwelchen Unfug treibst.«
»Nein, nein, nein …« Lillian stand auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Einen solchen Ehemann heirate ich nicht. Ich heirate einen Mann, der entweder nicht merkt, was ich in seiner Abwesenheit tue, oder dem es egal ist. Einen Mann wie Vater.«
»Vater scheint Mutter aber nicht sehr glücklich gemacht zu haben«, sagte Daisy. »Ich frage mich, ob sie jemals verliebt waren?«
Lillian lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und dachte angestrengt über Daisys Frage nach. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob die Ehe ihrer Eltern eine Liebesheirat gewesen war. Irgendwie glaubte sie das nicht. Sie schienen beide ganz und gar unabhängig zu sein, und eine Verbindung zwischen ihnen war kaum vorhanden. Soweit Lillian wusste, stritten sie sich nur selten, umarmten sich nie und sprachen kaum miteinander. Und doch herrschte keine offensichtliche Verbitterung zwischen ihnen. Vielmehr waren sie einander gleichgültig, und keiner von ihnen zeigte den Wunsch oder auch nur die Fähigkeit, glücklich zu sein.
»Liebe ist etwas für Romane, meine Liebe«, sagte Lillian und gab sich Mühe, zynisch zu klingen. Als sie die Tür öffnete, spähte sie den Flur hinauf und hinunter und warf einen Blick zurück auf Daisy.
»Die Luft ist rein. Sollen wir durch den Dienstboteneingang verschwinden?«
»Ja, dann gehen wir auf die Westseite des Anwesens und in den Wald.«
»Warum in den Wald?«
»Erinnerst du dich an den Gefallen, den Annabelle von mir erbeten hat?«
Lillian starrte sie einen Moment lang verständnislos an, dann verdrehte sie die Augen. »Großer Gott, Daisy, fällt dir nichts Besseres ein, als einen so lächerlichen Auftrag zu erledigen?«
Ihre jüngere Schwester warf ihr einen gerissenen Blick zu. »Du bist nur dagegen, weil es zum Wohl von Lord Westcliff ist.«
»Es ist zu niemandes Wohl«, erwiderte Lillian verärgert. »Es ist ein alberner Auftrag.«
Daisy sah sie mit entschlossener Miene an. »Ich werde zum Wunschbrunnen von Stony Cross gehen«, sagte sie mit großer Würde, »und tun, worum Annabelle mich gebeten hat. Du kannst mir gern Gesellschaft leisten oder allein etwas anderes unternehmen. Aber …«, sie kniff bedrohlich die mandelförmigen Augen zusammen, »… nachdem du mich ewig hast warten lassen, während du in verstaubten, alten Parfümerien und Apotheken gestöbert hast, denke ich, dass ich bei dir etwas guthabe …«
»In Ordnung«, willigte Lillian missmutig ein. »Ich begleite dich. Ohne mich findest du den Brunnen nie und verirrst dich noch im Wald.« Lillian blickte noch einmal in den Flur und vergewisserte sich, dass er immer noch leer war, dann ging sie in Richtung des Dienstboteneingangs am Ende. Geräuschlos schlichen die Schwestern auf Zehenspitzen über den dicken Teppich unter ihren Füßen.
So wenig Lillian den Besitzer von Stony Cross Park auch mochte, so musste sie doch zugeben, dass es sich um ein prachtvolles Anwesen handelte. Das Haus war im europäischen Stil erbaut, eine anmutige Festung aus honigfarbenem Stein mit vier malerischen Türmen, die sich an den Ecken in den Himmel reckten. Das auf einer Klippe über dem Fluss Itchen gelegene Herrenhaus war von terrassenförmig angelegten Parkanlagen, Gärten und Obsthainen umgeben, die in achtzig Hektar Landschaft und wilde Wälder übergingen. Das Herrenhaus wurde schon seit fünfzehn Generationen von der Westcliff-Familie, den Marsdens, bewohnt, wie jeder der Bediensteten gern betonte. Und das war nur ein Teil des Besitzes, über den Lord Westcliff verfügte. Es hieß, dass fast achtzigtausend Hektar in England und Schottland unter seiner direkten Verwaltung standen. Zu seinen Anwesen gehörten des Weiteren zwei Schlösser, drei Säle, eine Häuserreihe, fünf Einzelhäuser und eine Villa an der Themse. Stony Cross Park war jedoch zweifelsohne das Juwel in der Krone der Familie Marsden.
Die Schwestern gingen an der Seite des Anwesens entlang und hielten sich dabei dicht an die lange Eibenhecke, die sie vor Blicken aus dem Haupthaus schützte. Als sie in den Wald traten, glitzerte das Sonnenlicht durch das Blätterdach der alten Zedern und Eichen.
Überschwänglich warf Daisy ihre Arme in die Luft. »Oh, ich liebe diesen Ort!«, rief sie.
»Er ist ganz passabel«, räumte Lillian widerwillig ein, obwohl sie insgeheim zugeben musste, dass es in diesem blühenden Frühherbst kaum einen schöneren Teil von England geben konnte.
Daisy hüpfte auf einen Baumstamm, der an den Rand des Weges geschoben worden war, und balancierte vorsichtig darüber. »Um Herrin von Stony Cross Park zu werden, würde es sich fast lohnen, Lord Westcliff zu heiraten, meinst du nicht?«
Lillian hob die Brauen. »Um dann all seine großspurigen Äußerungen ertragen und jeden seiner Befehle befolgen zu müssen?« Sie verzog das Gesicht und rümpfte angewidert die Nase.
»Annabelle sagt, dass Lord Westcliff eigentlich viel netter ist, als sie ursprünglich dachte.«
»Nach dem, was vor ein paar Wochen passiert ist, muss sie das wohl sagen.«
Die Schwestern verstummten und dachten an die dramatischen Ereignisse, die sich vor Kurzem ereignet hatten. Als Annabelle und ihr Mann Simon Hunt die Lokomotivfabrik besichtigten, die sie zusammen mit Lord Westcliff besaßen, hätte eine schreckliche Explosion sie fast das Leben gekostet. Lord Westcliff war in einer nahezu selbstmörderischen Mission in das Gebäude gestürzt, um sie zu retten, und hatte sie beide lebend herausgeholt. Verständlicherweise sah Annabelle Westcliff nun in einem heldenhaften Licht und hatte kürzlich sogar gesagt, dass sie selbst seine Arroganz ziemlich liebenswert fände. Lillian hatte daraufhin säuerlich geantwortet, dass Annabelle wohl noch unter den Nachwirkungen der Rauchvergiftung litte.
»Ich denke, wir schulden Lord Westcliff zumindest unsere Dankbarkeit«, bemerkte Daisy und sprang vom Baumstamm. »Immerhin hat er Annabelle das Leben gerettet, und außerdem haben wir ja nicht gerade schrecklich viele Freunde.«
»Die Rettung von Annabelle war nebensächlich«, sagte Lillian mürrisch. »Westcliff hat sein Leben nur riskiert, damit er seinen lukrativen Geschäftspartner nicht verliert.«
»Lillian!« Daisy, die ein paar Schritte voraus war, drehte sich um und sah sie überrascht an. »Es ist gar nicht deine Art, so unbarmherzig zu sein. Um Himmels willen, der Earl ist in ein brennendes Gebäude gelaufen, um unsere Freundin und ihren Gatten zu retten … was muss der Mann noch tun, um dich zu beeindrucken?«
»Ich bin sicher, dass es Westcliff nicht im Geringsten darum geht, mich zu beeindrucken«, sagte Lillian. Als sie den mürrischen Ton in ihrer eigenen Stimme hörte, verzog sie leicht das Gesicht, fuhr jedoch im selben Tonfall fort. »Ich lehne ihn deshalb so ab, Daisy, weil er mich so offensichtlich ablehnt. Er hält sich mir gegenüber in jeder Hinsicht für überlegen. Moralisch, sozial und intellektuell … oh, wie gern würde ich ihm einen kleinen Schock versetzen!«
Eine Weile gingen sie schweigend weiter, dann hielt Daisy inne, um einige Veilchen zu pflücken, die in dichten Büscheln am Wegesrand wuchsen. »Hast du jemals daran gedacht, nett zu Lord Westcliff zu sein?«, murmelte sie. Sie griff nach oben, um die Veilchen in ihr über der Stirn zu einem Kranz geflochtenes Haar zu stecken, und fügte hinzu: »Vielleicht überrascht er dich ja ebenfalls mit einer netten Reaktion.«
Lillian schüttelte grimmig den Kopf. »Nein, er würde wahrscheinlich mit einer beißenden Bemerkung reagieren und dann sehr selbstgefällig und zufrieden wirken.«
»Ich glaube, du bist zu …« hob Daisy an und hielt dann mit aufmerksamer Miene inne. »Ich höre ein Plätschern. Der Wunschbrunnen muss in der Nähe sein!«
»Oh, wie wundervoll!«, sagte Lillian, lächelte jedoch, als sie ihrer jüngeren Schwester folgte, die durch einen Hohlweg huschte, der von einer Feuchtwiese gesäumt war. Die sumpfige Wiese war dicht von blauen und violetten Astern bewachsen, von Zylinderputzer-Gewächsen und raschelnden Goldruten. In der Nähe des Weges wuchs ein Dickicht aus Johanniskraut mit üppigen gelben Blüten, die wie Sonnentropfen aussahen. Lillian genoss die laue Luft, verlangsamte ihren Schritt und atmete tief durch. Als sie sich dem sprudelnden Wunschbrunnen näherte, der ein von einer Quelle gespeistes Loch im Boden war, wurde die Luft weich und feucht.
Als die Mauerblümchen den Wunschbrunnen zu Beginn des Sommers besucht hatten, hatte jede von ihnen eine Stecknadel in die schäumende Tiefe geworfen, wie es der örtlichen Tradition entsprach. Und Daisy hatte einen geheimnisvollen Wunsch für Annabelle geäußert, der später in Erfüllung ging.
»Hier ist er«, sagte Daisy und holte einen hauchdünnen Metallsplitter aus ihrer Tasche. Annabelle hatte ihn aus Westcliffs Schulter gezogen, nachdem bei der Explosion Eisentrümmer und -splitter durch die Luft geschleudert worden waren. Selbst Lillian, die nicht geneigt war, Mitleid mit Westcliff zu empfinden, zuckte beim Anblick des bösartig aussehenden Splitters zusammen. »Annabelle sagte, ich solle ihn in den Brunnen werfen und mir für Lord Westcliff dasselbe wünschen wie für sie.«
»Was hast du dir damals gewünscht?«, fragte Lillian. »Das hast du mir nie erzählt.«
Daisy betrachtete sie mit einem neugierigen Lächeln. »Liegt das nicht auf der Hand, meine Liebe? Ich habe mir gewünscht, dass Annabelle jemanden heiratet, der sie wirklich liebt.«
»Oh.« Aus dem, was sie über Annabelles Ehe wusste, und der offensichtlichen Zuneigung zwischen ihr und Hunt schloss Lillian, dass der Wunsch in Erfüllung gegangen sein musste. Sie warf Daisy einen liebevollen und zugleich gereizten Blick zu und verfolgte das Geschehen.
»Lillian«, protestierte ihre Schwester, »du musst dich neben mich stellen. Der Brunnengeist wird den Wunsch eher erfüllen, wenn wir uns beide darauf konzentrieren.«
Lillian entfuhr ein leises Lachen. »Du glaubst doch nicht etwa wirklich an diesen Brunnengeist, oder? Guter Gott, wann bist du nur so abergläubisch geworden?«
»Sagt eine, die erst kürzlich eine Flasche Parfüm mit magischen Kräften gekauft hat …«
»Ich habe nie gedacht, dass es magische Kräfte besitzt. Ich mochte nur den Geruch!«
»Wirklich, Lillian«, schimpfte Daisy mit gespielter Verärgerung, »was kann es schaden, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen? Ich weigere mich zu glauben, dass in unserem Leben nicht irgendetwas Magisches geschieht. Und jetzt wünsch dir etwas für Lord Westcliff. Das ist das Mindeste, was wir tun können, nachdem er die liebe Annabelle aus dem Feuer gerettet hat.«
»Na gut. Ich stelle mich neben dich – aber nur, damit du nicht hineinfällst.« Lillian schlang einen Arm um die schlanken Schultern ihrer Schwester und starrte in das schlammige, plätschernde Wasser.
Daisy schloss fest die Augen und die Finger um den Metallsplitter. »Ich wünsche es mir von ganzem Herzen«, flüsterte sie. »Du auch, Lillian?«
»Ja«, murmelte Lillian, obwohl sie nicht gerade hoffte, dass Lord Westcliff die wahre Liebe fand. Ihr Wunsch ging eher in eine andere Richtung: Ich hoffe, dass Lord Westcliffeine Frau trifft, die ihn in die Knie zwingt. Der Gedanke zauberte ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen, und sie lächelte auch noch, als Daisy das scharfe Metallstück in den Brunnen warf, wo es in der endlosen Tiefe versank.
Daisy wischte sich die Hände ab und wandte sich zufrieden vom Brunnen ab. »So, erledigt«, sagte sie und strahlte. »Ich kann es kaum erwarten zu sehen, bei wem Westcliff landet.«
»Das arme Mädchen tut mir jetzt schon leid«, antwortete Lillian, »wer auch immer sie ist.«
Daisy deutete mit dem Kopf in Richtung des Herrenhauses. »Zurück zum Haus?«
Ihre Unterhaltung entwickelte sich schnell zu einer strategischen Planungssitzung, als sie eine Idee diskutierten, die Annabelle bei ihrem letzten Gespräch aufgebracht hatte. Die Bowmans brauchten dringend einen gesellschaftlichen Förderer, der sie in die höheren Schichten der britischen Gesellschaft einführte … aber nicht irgendeinen Förderer. Es musste jemand sein, der mächtig und einflussreich und weithin bekannt war. Jemand, dessen Unterstützung von den übrigen Mitgliedern des Adels akzeptiert wurde. Annabelle zufolge gab es niemanden, der besser geeignet war als die Countess of Westcliff, die Mutter des Earls.
Die Countess, die anscheinend gern den Kontinent bereiste, wurde nur selten hier gesehen. Selbst wenn sie sich auf Stony Cross Manor aufhielt, mischte sie sich nicht oft unter die Gäste, da sie die Neigung ihres Sohnes missbilligte, sich mit Unternehmern und anderen Nicht-Aristokraten anzufreunden. Keine der Bowman-Schwestern hatte die Countess jemals getroffen, aber sie hatten viel über sie gehört. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, war sie ein mürrischer, alter Drachen, der Ausländer verachtete. Insbesondere Amerikaner.
»Warum Annabelle glaubt, dass die Countess uns fördern würde, ist mir unbegreiflich«, sagte Daisy und trat einen kleinen Stein vor sich her, während sie den Weg entlanggingen. »Freiwillig wird sie das niemals tun, so viel steht fest.«
»Nur, wenn Westcliff es ihr sagt«, antwortete Lillian. Sie hob einen großen Stock auf und schwang ihn abwesend durch die Luft. »Offenbar kann die Countess zu etwas gezwungen werden, wenn Westcliff es verlangt. Annabelle hat mir erzählt, dass sie die Heirat von Lady Livia und Mr Shaw nicht guthieß und die Absicht hegte, der Hochzeit fernzubleiben. Doch Westcliff wusste, dass dies die Gefühle seiner Schwester zutiefst verletzen würde, und so zwang er seine Mutter zu bleiben. Mehr noch, er brachte sie dazu, eine gute Miene aufzusetzen.«
»Wirklich?« Daisy sah sie mit einem neugierigen Lächeln an. »Ich frage mich, wie er das bewerkstelligt hat?«
»Er ist der Herr des Hauses. In Amerika ist die Frau die Herrin im Haus, aber in England dreht sich alles bloß um den Mann.«
»Hmm. Das gefällt mir nicht besonders.«
»Ja, ich weiß.« Lillian hielt inne, bevor sie dunkel hinzufügte: »Laut Annabelle muss ein englischer Ehemann die Speisen, die Einrichtung, die Farbe der Vorhänge … einfach alles absegnen.«
Daisy schien überrascht und entsetzt. »Kümmert sich Mr Hunt um solche Dinge?«
»Nun … nein, er ist kein Adliger. Er ist Geschäftsmann. Und Geschäftsmänner haben normalerweise keine Zeit für solche Nebensächlichkeiten. Aber ein durchschnittlicher Adliger hat viel Zeit, sich jeder Kleinigkeit zu widmen, die im Haus vor sich geht.«
Daisy hörte auf, den Stein vor sich her zu treten, und betrachtete Lillian nachdenklich. »Ich frage mich … warum sind wir eigentlich dermaßen entschlossen, in den Adelsstand einzuheiraten, in einem riesigen, bröckelnden alten Haus zu leben, zerkochtes englisches Essen zu vertilgen und zu versuchen, einem Haufen von Dienern Anweisungen zu geben, die absolut keinen Respekt vor uns haben?«
»Weil Mutter es so will«, antwortete Lillian trocken. »Und weil kein New Yorker Junggeselle eine von uns heiraten will.« Es war eine unselige Tatsache, dass es in der hochgradig hierarchischen New Yorker Gesellschaft für Männer mit frisch erworbenem Vermögen recht einfach war, gut zu heiraten. Aber Erbinnen aus einfachen Verhältnissen waren weder bei den etablierten Blaublütern noch bei den neureichen Männern, die sich sozial verbessern wollten, begehrt. Die einzige Lösung war daher die Ehegattenjagd in Europa, wo Adlige reiche Ehefrauen brauchten.
Daisys finstere Miene wich einem ironischen Grinsen. »Und was, wenn uns hier auch niemand haben will?«
»Dann werden wir zwei verruchte alte Jungfern, die ganz Europa unsicher machen.«
Daisy lachte über diesen Gedanken und schob sich einen langen Zopf auf den Rücken. Es galt als unschicklich für junge Frauen in ihrem Alter, ohne Hut herumzulaufen, geschweige denn, ihr Haar offen herunterhängen zu lassen. Die beiden Bowman-Schwestern hatten jedoch eine solche Fülle schwerer, dunkler Locken, dass es eine Tortur war, sie in die komplizierten Frisuren zu zwingen, die so in Mode waren. Jede von ihnen brauchte dafür mindestens drei Ständer mit Haarnadeln, und Lillians empfindliche Kopfhaut schmerzte buchstäblich nach all dem Zupfen und Drehen, das nötig war, um ihr Haar für einen formellen Abend salonfähig zu machen. Mehr als einmal hatte sie Annabelle Hunt beneidet, deren leichte, seidige Locken sich immer genau so zu verhalten schienen, wie sie es sich wünschte. Im Moment hatte Lillian ihr Haar im Nacken zusammengebunden und ließ es auf eine Weise über den Rücken fallen, die in Gesellschaft niemals erlaubt gewesen wäre.
»Wie sollen wir Westcliff davon überzeugen, dass seine Mutter unsere Förderin werden soll?«, erkundigte sich Daisy. »Es kommt mir sehr unwahrscheinlich vor, dass er dem jemals zustimmen würde.«
Lillian zog ihren Arm zurück, schleuderte den Stock weit in den Wald hinein und wischte sich die Rindenstücke von den Handflächen. »Ich habe keine Ahnung«, gab sie zu. »Annabelle hat versucht, Mr Hunt dazu zu bringen, ihn in unserem Namen zu fragen. Er weigert sich jedoch mit der Begründung, dass es ein Missbrauch ihrer Freundschaft wäre.«
»Wenn wir Westcliff nur irgendwie zwingen könnten«, überlegte Daisy. »Ihn austricksen oder irgendwie erpressen.«
»Man kann einen Mann nur erpressen, wenn er etwas Schändliches getan hat, das er verbergen will. Und ich bezweifle, dass der trübselige, langweilige, alte Westcliff jemals etwas getan hat, das einer Erpressung wert wäre.«
Daisy schmunzelte über diese Beschreibung. »Er ist nicht trübselig und langweilig, und alt ist er auch nicht!«
»Mutter sagt, er ist mindestens fünfunddreißig. Ich würde sagen, das ist ziemlich alt, meinst du nicht?«
»Ich wette, dass die meisten zwanzigjährigen Männer nicht annähernd so gut in Form sind wie Westcliff.«
Wie immer, wenn das Gespräch auf Westcliff kam, war Lillian äußerst gereizt. So ähnlich hatte sie sich in ihrer Kindheit gefühlt, wenn ihre Brüder sich über ihren Kopf hinweg ihre Lieblingspuppe zugeworfen hatten, während sie weinend darum bettelte, sie ihr zurückzugeben. Warum die bloße Erwähnung des Earls sie derart aufregte, war eine Frage, auf die sie keine Antwort wusste. Also tat sie Daisys Bemerkung mit einem gereizten Achselzucken ab.
Als sie sich dem Haus näherten, hörten sie in der Ferne fröhliche Schreie, gefolgt von Jubel, der wie der Lärm spielender Kinder klang. »Was ist das?«, fragte Lillian und blickte in Richtung der Stallungen.
»Ich weiß nicht, aber es hört sich so an, als würde sich jemand sehr gut amüsieren. Lass uns nachsehen.«
»Wir haben nicht viel Zeit«, warnte Lillian. »Wenn Mutter herausfindet, dass wir weg sind …«
»Wir beeilen uns. Ach, bitte, Lillian!«
Während sie zögerten, ertönte aus der Richtung des Stallhofs weiteres Johlen und Lachen, was einen solchen Kontrast zu der friedlichen Szenerie um sie herum bildete, dass Lillians Neugier die Oberhand gewann. Schalkhaft grinste sie Daisy an. »Rennen wir um die Wette«, schlug sie vor und lief auch schon los.
Daisy hob ihre Röcke hoch und rannte hinter ihr her. Obwohl sie viel kürzere Beine als Lillian hatte, war sie so leicht und wendig wie eine Elfe und hatte Lillian beinahe eingeholt, als sie den Stallhof erreichten. Etwas aus der Puste, nachdem sie eine lange Steigung hinaufgelaufen war, umrundete Lillian eine ordentlich eingezäunte Koppel und sah fünf Jungen im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren auf dem kleinen Feld dahinter spielen. Ihre Kleidung wies sie als Stallburschen aus. Die Stiefel hatten sie neben der Koppel abgelegt und liefen barfuß umher.
»Siehst du?«, fragte Daisy eifrig.
Als Lillian einen Blick auf die Gruppe warf, bemerkte sie, dass einer von ihnen einen langen Weidenschläger durch die Luft schwang, und sie lachte vor Freude. »Sie spielen Schlagball!«
Obwohl das Spiel, das aus einem Schläger, einem Ball und vier rautenförmig angeordneten Pfosten bestand, sowohl in Amerika als auch in England beliebt war, hatte es in New York ein geradezu obsessives Interesse ausgelöst. Jungen und Mädchen aller Klassen spielten das Spiel, und Lillian erinnerte sich sehnsüchtig an so manches Picknick mit anschließendem Schlagballspiel. Als sie einen Stalljungen beobachtete, der die Pfosten umrundete, durchströmte sie ein warmes, sehnsuchtsvolles Gefühl. Es war offensichtlich, dass das Feld oft zu diesem Zweck genutzt wurde, denn die Pfosten waren tief in den Boden gerammt und das Gras auf den Flächen dazwischen zu Trampelpfaden niedergetreten. In einem der Spieler erkannte Lillian den Jungen, der ihr zwei Monate zuvor den Schläger für das unselige Spiel der Mauerblümchen geliehen hatte.
»Glaubst du, sie würden uns mitspielen lassen?«, fragte Daisy hoffnungsvoll. »Nur für ein paar Minuten?«
»Ich wüsste nicht, warum nicht. Dieser rothaarige Junge – er hat uns den Schläger geliehen. Ich glaube, er heißt Arthur …«
In diesem Moment flog ein niedriger, schneller Wurf auf den Schlagmann zu, der in einem kurzen, gekonnten Bogen ausholte. Die flache Seite des Schlägers berührte den Lederball fest, und er flog in einem Bogen auf sie zu, den man in New York als »Hopper« bezeichnete. Lillian rannte nach vorn, nahm den Ball mit bloßen Händen auf und warf ihn gekonnt zu dem Jungen, der am ersten Pfosten stand. Er fing ihn wieder auf und starrte sie überrascht an. Als die anderen Jungen die beiden jungen Frauen bemerkten, die neben der Koppel standen, hielten sie alle unsicher inne.
Lillian trat vor und richtete den Blick auf den rothaarigen Jungen. »Arthur? Erinnerst du dich an mich? Ich war im Juni hier – du hast uns den Schläger geliehen.«
Der verwirrte Ausdruck im Gesicht des Jungen klärte sich. »Oh ja, Miss … Miss …«
»Bowman.« Lillian deutete lässig auf Daisy. »Und das ist meine Schwester. Wir haben uns gefragt, ob ihr uns mitspielen lassen würdet. Nur für eine kurze Weile?«