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London, 1876: Die schöne Garrett Gibson ist die einzige Ärztin in ganz England. Obwohl sie die Anatomie so liebt, ist ihr eigenes Herz ihr ein Rätsel! Rasend schnell schlägt es, wann immer sie dem mysteriösen Ethan Ransom begegnet. Es heißt, dass der charmante Ire für oberste Regierungskreise arbeitet und selbst vor Mord nicht zurückschreckt. Doch seine sinnlichen Küsse machen sie wehrlos, und eine betörende Liebesnacht lang gibt sie sich ihm hin. Dann verschwindet er wieder aus ihrem Leben. Bis Garrett kurz darauf zu einem Notfall gerufen wird: Ethan wurde angeschossen, blutend liegt er in ihren Armen! Er darf nicht sterben, sonst ist auch sie verloren …
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Seitenzahl: 483
IMPRESSUM
HISTORICAL GOLD erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2018 by Lisa Kleypas Originaltitel: „Hello Stranger“ erschienen bei: Avon Books, an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 335 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Gisela Grätz
Abbildungen: Harlequin Books S.A., Alastair James / Getty Images alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 01/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733736521
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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London, Sommer 1876
Jemand schlich ihr nach.
Bei der Erkenntnis sträubten sich Garrett die Nackenhaare. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich beobachtet fühlte, wenn sie dem Armenspital ihren wöchentlichen Besuch abstattete, doch bis jetzt hatte sie ihren Verdacht nicht bestätigt gefunden. Hinter ihr waren keine Schritte zu hören, und ebenso wenig konnte sie einen Verfolger entdecken, wenn sie einen prüfenden Blick über die Schulter warf. Dennoch wusste sie, dass jemand da war, ganz in der Nähe.
Die lederne Arzttasche in der Rechten und den Spazierstock aus Hickoryholz in der Linken, schritt Garrett weit aus, während sie mit wachem Blick jedes Detail in ihrer Umgebung aufnahm. Der Bezirk Clerkenwell im Osten Londons gehörte zu den Vierteln, in denen man sich besser keine Unaufmerksamkeit leistete. Glücklicherweise befand sie sich nur zwei Blocks entfernt von der neuen Hauptstraße, und dort konnte sie eine Mietdroschke heranwinken.
Als sie die Gitterroste über der Fleet Ditch überquerte, trieben ihr die strengen Dünste, die dem unterirdischen Abwasserkanal entstiegen, die Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie sich ein parfümiertes Tüchlein vor Mund und Nase gehalten, doch so etwas pflegte in Clerkenwell kein Mensch zu tun, und sie wollte möglichst nicht auffallen.
Die rußgeschwärzten Wohnhäuser standen eng nebeneinander und waren geisterhaft still. Bei den meisten handelte es sich um verlassene, abbruchreife Ruinen, an deren Stelle in Kürze neue Gebäude errichtet würden. Von der Laterne am Ende der Straße drang nur spärliches Licht durch den fahlgelben Sommernebel, dessen dichte Schwaden hin und wieder kurz aufbrachen und einen marmorierten Vollmond enthüllten. Bald würden die üblichen Scharen von Hökern, Taschendieben, Säufern und Huren aus ihren Löchern kriechen und die Bürgersteige bevölkern. Bis dahin hatte Garrett vor, aus der Gegend verschwunden zu sein.
Plötzlich zeichneten sich vor ihr im Dunst drei Silhouetten ab. Es waren Soldaten, die grölend in ihre Richtung kamen. Garrett wechselte die Straßenseite und hielt sich im Schatten der Gebäude. Doch zu spät – einer von ihnen hatte sie entdeckt und blieb stehen.
„Uns lacht das Glück“, rief er seinen Kameraden zu. „Eine Bordsteinschwalbe, ganz zu unserem Vergnügen.“
Garrett musterte die Männer kühl und schloss die Finger fester um den Griff ihres Spazierstocks. Offenbar waren die Kerle betrunken. Wahrscheinlich hatten sie den ganzen Tag in einer Taverne verbracht. Für Soldaten auf Urlaub gab es kaum einen anderen Zeitvertreib.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als die drei kehrtmachten und auf sie zusteuerten. „Lassen Sie mich in Ruhe, Gentlemen“, verlangte sie kurz angebunden und wollte die Straße erneut überqueren.
Sie schlossen zu ihr auf und verstellten ihr krakeelend und gestikulierend den Weg. „Spricht wie eine Dame“, erklärte der Jüngste des Trios seinen Kumpanen mit schwerer Zunge. Er war barhäuptig, das Haar stand ihm in rostroten Locken vom Kopf ab.
„Ist aber keine“, widersprach einer der anderen beiden, ein Kerl wie ein Schrank mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, der keinen Uniformrock trug. „Nicht wenn sie nachts allein draußen herumläuft.“ Er musterte Garrett mit einem anzüglichen Grinsen, das seine gelben Zahnstümpfe sehen ließ. „Mach, stell dich an die Wand, und heb die Röcke, du eingebildetes Weibsstück. Ich habe Lust auf eine Drei-Penny-Nummer.“
„Sie irren sich.“ Garrett versuchte um ihn herumzugehen. Zu dritt verstellten sie ihr den Weg. „Ich bin keine Prostituierte. Für dergleichen Bedürfnisse finden sich zahlreiche Bordelle in der Nähe.“
„Aber ich habe keine Lust, dafür zu bezahlen“, erwiderte der Koloss aufsässig. „Ich will es umsonst. Und zwar auf der Stelle.“
Es war nicht das erste Mal, dass Garrett beleidigt oder bedroht wurde, während sie in den Armenvierteln von London unterwegs war. Sie nahm Unterricht bei einem Fechtmeister, um für diese Art von Situationen gewappnet zu sein. Doch nachdem sie im Spital mehr als zwei Dutzend Patienten behandelt hatte, war sie erschöpft und außerdem wütend, von einer Bande Holzköpfe aufgehalten zu werden, während sie eigentlich nur noch nach Hause wollte.
Sie biss die Zähne zusammen. „Als Soldaten im Dienste Ihrer Majestät haben Sie die verdammte Pflicht, die Ehre einer Frau zu schützen, meine Herren, und nicht, sie anzutasten.“
Ihre Bemerkung rief wieherndes Gelächter hervor.
„Braucht einen Dämpfer, die feine Dame“, rief der Dritte des Trupps, ein korpulenter, grobschlächtiger Kerl mit einem pockennarbigen Gesicht und schwerlidrigen Augen.
„Ich kann mich gern darum kümmern“, bot der Junge eifrig an. Er rieb sich den Schritt und zog seine Hosen straff, sodass nichts an der die Form seines Gemächts der Fantasie überlassen blieb.
Der Kerl mit den scharfen Gesichtszügen musterte Garrett drohend. „Los, an die Wand, meine Schöne. Hure oder nicht, du wirst uns zu Willen sein.“
Sein untersetzter Kumpan zog ein Bajonettmesser aus dem Gürtelfutteral und hielt es hoch, sodass die gezackte Schneide sichtbar war. „Mach schon, tu, was er sagt, oder ich richte dich zu wie einen gespickten Schinken.“
Garrett hob sich der Magen. „Es ist ungesetzlich, eine Waffe zu ziehen, wenn Sie nicht im Dienst sind“, meinte sie kühl, obwohl ihr das Herz zu rasen begann. „Zusammen mit Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Vergewaltigung bringt Ihnen das eine saftige Prügelstrafe ein und wenigstens zehn Jahre Kerker.“
Der grobschlächtige Taugenichts grinste. „Dann pass auf, dass ich dir nicht die Zunge herausschneide, damit du niemandem davon erzählen kannst.“
Garrett hatte keinen Zweifel, dass er es tun würde. Als Tochter eines früheren Konstablers wusste sie, dass Kerle, die das Messer zogen, es ernst meinten, und außerdem musste sie häufig genug Frauen eine aufgeschlitzte Wange zusammennähen, wenn ein Vergewaltiger ihr ein Andenken hinterlassen hatte.
„Langsam, Keech“, schaltete sich der Jüngere beschwichtigend ein. „Du musst die arme Kleine nicht verschrecken.“ Er wandte sich zu Garrett um und sagte beinahe begütigend: „Mach, was wir sagen. Es ist einfacher für dich, wenn du keinen Widerstand leistest.“
Zorn schoss in ihr hoch, doch gleichzeitig erinnerte Garrett sich an einen Ratschlag, den ihr Vater ihr für solche Situationen gegeben hatte. Halt Abstand. Achte auf deine Flanken. Sprich mit deinem Gegner und lenk ihn ab, während du den richtigen Moment abpasst.
„Warum eine Frau zwingen, die nicht will?“ Sie bückte sich und stellte ihren Arztkoffer auf den Boden. „Wenn ihr kein Geld fürs Bordell habt, kann ich euch welches geben.“ Unauffällig ließ sie die Hand in die Außentasche des Koffers gleiten, wo sie die Lederrolle mit den chirurgischen Messern aufbewahrte. Ihre Finger schlossen sich um den Griff eines Skalpells, das sie geschickt verbarg, als sie sich wieder aufrichtete. Das vertraute Gewicht des Instruments gab ihr Mut.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass der korpulente Soldat mit dem Bajonettmesser sie zu umrunden begann.
Gleichzeitig trat der Kerl mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen näher. „Wir nehmen dein Geld“, versicherte er ihr grinsend. „Aber erst vergnügen wir uns mit dir.“
Garrett schloss die Finger fester um den Griff des Skalpells und platzierte den Daumen auf der flachen Seite, während sie mit der Zeigefingerspitze an der stumpfen Seite der Klinge entlangstrich. Los, wirf, wies sie sich in Gedanken an, holte aus und schleuderte das Skalpell nur aus dem Handgelenk, damit es nicht ins Trudeln geriet und sein Ziel verfehlte. Das Geschoss traf ihren Gegner in der Wange. Noch während er aufbrüllte, wirbelte Garrett herum und ließ ihren Spazierstock mit einer solchen Wucht auf das Handgelenk des Angreifers mit dem Bajonettmesser herniedersausen, dass ihm seine Waffe aus den kraftlosen Fingern glitt. Garrett landete einen weiteren Schlag gegen seinen Brustkorb und hörte, wie seine Rippen brachen. Sie stieß ihm die Spitze des Spazierstocks in die Weichteile, sodass er sich krümmte, und brachte ihn mit einem letzten Stoß unter das Kinn endgültig zur Strecke.
Er sank in sich zusammen wie ein halbgares Soufflé.
Garrett schnappte sich das Bajonettmesser und wandte sich den anderen beiden Halunken zu.
Und stand da wie angewurzelt. Ihre Brust hob und senkte sich unter ihren raschen Atemzügen.
Es herrschte Stille.
Die beiden Kerle lagen ausgestreckt auf dem Boden.
Wollten sie sie hinters Licht führen? Gaben sie vor, bewusstlos zu sein, um sie näher zu locken?
Vibrierende, aufgepeitschte Kampfbereitschaft pulsierte ihr durch den Körper, der noch nicht erkannt zu haben schien, dass der Notfall vorüber war. Langsam trat sie näher, um sich ihre beiden Angreifer anzusehen, sorgsam darauf bedacht, eine Armeslänge Abstand einzuhalten. Ihr Skalpell hatte eine blutige Wunde in die Wange des Größeren gerissen, doch dass er davon bewusstlos geworden sein sollte? An seiner Schläfe entdeckte sie einen rötlichen Abdruck, der von roher Gewalteinwirkung zeugte.
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den jüngeren Soldaten, aus dessen Nase das Blut strömte und die ohne Zweifel gebrochen war.
„Was zum Teufel…?“, murmelte sie fassungslos und sah die stille Straße hinauf und hinunter. Wieder beschlich sie das Gefühl, dass jemand da war. Es musste so sein, es sei denn, die beiden Soldaten hätten sich selbst zu Boden geschickt. „Kommen Sie heraus und zeigen Sie sich“, sagte sie laut in die Runde, auch wenn es sich komisch anfühlte. „Es ist nicht nötig, dass Sie sich wie eine Ratte im Schrank verstecken. Ich weiß, dass Sie mich seit Wochen verfolgen.“
„Nur an Dienstagen.“
Die männliche Stimme kam aus einer Richtung, die sie nicht dingfest machen konnte. Zu Tode erschrocken zuckte Garrett zusammen.
Sie drehte sich um die eigene Achse, versuchte den Besitzer der Stimme zu entdecken. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine flüchtige Bewegung in einer Toreinfahrt wahr und festigte den Griff um das Bajonettmesser.
Ein Umriss löste sich aus der Dunkelheit, wurde zur Gestalt eines Mannes. Er war großgewachsen, wohlproportioniert und athletisch und in einfache graue Hosen und eine offene Weste gekleidet. Auf dem Kopf trug er eine flache Kappe mit einem kurzen Schirm über der Stirn; die Art Kappe, wie sie von Schauermännern bevorzugt wurde. Ein paar Schritte vor ihr blieb der Fremde stehen, zog seine Mütze und enthüllte kurz geschnittenes glattes schwarzes Haar.
Garrett sackte der Unterkiefer herunter, als sie ihn erkannte. „Sie schon wieder!“
„Dr. Gibson.“ Er nickte knapp und setzte sich die Mütze wieder auf. In einer unverkennbaren Geste des Respekts tippte er seine Fingerspitzen an den Schirm und ließ sie einen Moment länger dort ruhen als nötig.
Bei dem Mann handelte es sich um Detective Ethan Ransom von Scotland Yard. Garrett war ihm in der Vergangenheit schon zwei Mal begegnet. Einmal vor zwei Jahren, als er Lady Helen Winterborne bei einem Auftrag in eine gefährliche Gegend Londons begleitet hatte. Sehr zu Garretts Ärger war Ransom von Lord Winterborne angeheuert worden, damit er ihnen folgte.
Im vergangenen Monat hatte sie Ransom in ihrer Klinik wiedergetroffen, nachdem Lady Winterbornes jüngere Schwester Pandora bei einem Überfall auf offener Straße verletzt worden war. Ransom hatte sich unauffällig im Hintergrund gehalten, war ihr aber dennoch aufgefallen, weil er so attraktiv war, dass man ihn nicht ignorieren konnte. Er hatte ein schmales, kantiges Gesicht mit einem festen Mund, eine kräftige Nase, deren breiter Rücken eine frühere Fraktur verriet. Ein Kranz dichter dunkler Wimpern umrahmte die durchdringend blickenden Augen unter den geraden Brauen. Garrett konnte sich nicht an die Farbe erinnern. Grün-braun vielleicht?
Sie hätte ihn sogar als herausragend gut aussehend bezeichnet, wäre da nicht die Ausstrahlung von gewaltbereiter Härte gewesen, die den Eindruck von kultivierter Geschliffenheit gar nicht erst aufkommen ließ. Er mochte sich um eine glatte Oberfläche bemühen, aber darunter lauerte unverkennbar ein Raufbold.
„Wer hat Sie diesmal angeheuert, damit Sie mir folgen?“ Garrett führte einen geschickten Schwung mit ihrem Spazierstock aus, dann stützte sie sich darauf, die Spitze in der „Bereit“-Position. Zugegeben, es war eine etwas prahlerische Demonstration, doch sie hielt es für angebracht, ihre Fähigkeiten zu zeigen.
Ein Ausdruck unverhohlenen Amüsements huschte über Ransoms Gesichtszüge. Dennoch war sein Ton ernst. „Niemand.“
„Warum sind Sie dann hier?“
„Sie sind die einzige Ärztin Englands. Es wäre eine Schande, wenn Ihnen etwas zustieße.“
„Ich brauche keinen Beschützer“, informierte sie ihn kühl. „Und wenn ich einen bräuchte, wären es nicht Sie, den ich anheuern würde.“
Ransom musterte sie mit einem rätselhaften Blick, dann trat er zu dem Soldaten, den sie mit ihrem Spazierstock zu Boden befördert hatte. Der Bewusstlose lag auf der Seite. Mit der Stiefelspitze rollte Ransom ihn auf den Rücken, holte ein Stück Kordel aus seiner Westentasche und fesselte dem Mann die Handgelenke auf dem Rücken.
„Wie Sie sehen“, fuhr Garrett herablassend fort, „war es kein Problem für mich, den Kerl zu verprügeln, und die anderen beiden hätte ich auch noch geschafft.“
„Hätten Sie nicht“, erwiderte Ransom ausdruckslos.
Bei seinen Worten verspürte Garrett Verärgerung in sich aufsteigen. „Ich wurde im Kampf mit dem Stock von einem der besten Waffenmeister ganz Londons ausgebildet. Ich weiß, was ich tun muss, um mich mehrerer Gegnern zu erwehren.“
Ransom zuckte mit den Schultern. „Sie haben einen Fehler gemacht.“
„Was für einen?“
Ransom streckte die Hand nach dem Bajonettmesser aus, und Garrett gab es ihm widerwillig. Er schob es in die lederne Scheide und befestigte sie an seinem eigenen Gürtel. „Nachdem Sie ihm das Messer aus der Hand geschlagen hatten, hätten Sie es forttreten sollen. Stattdessen bückten Sie sich, um es aufzuheben, und wandten Ihren Gegnern den Rücken zu. Sie hätten Sie fertiggemacht, wenn ich nicht eingegriffen hätte.“ Er wandte sich zu den blutverschmierten Soldaten um, die stöhnend zu sich kamen, und sagte beinahe liebenswürdig: „Wenn einer von euch auch nur eine falsche Bewegung macht, kastriere ich ihn wie einen Kapaun und werfe ihn in den River Fleet.“ Sein Ton war angelegentlich und daher umso drohender.
Die beiden taten keinen Mucks mehr.
Ransom wandte sich erneut Garrett zu. „Auf einer Fechtbahn zu kämpfen ist etwas anderes als auf der Straße. Männer wie diese zwei“, mit dem Kinn deutete er auf die beiden Kerle auf dem Pflaster, „warten nicht höflich, bis sie einer nach dem andern vertrimmt werden. Sie werfen sich gleichzeitig in den Kampf. Sobald einer Ihnen zu nahe gekommen wäre, hätten Sie Ihren Spazierstock vergessen können.“
„Keineswegs“, widersprach Garrett im Brustton der Überzeugung. „Ich hätte ihn mit der Spitze aufgespießt und anschließend mit einem harten Schlag niedergestreckt.“
Ransom trat näher, blieb jedoch außerhalb ihrer Reichweite. Er musterte sie mit einem gerissenen Blick. Obwohl Garrett ihm die Stirn bot, versetzte alles an diesem Mann sie in Alarmbereitschaft. Sie wusste nicht, was sie von Ethan Ransom halten sollte, der ihr ebenso übermenschlich wie unmenschlich vorkam. Ein Mann wie eine Waffe, langgliedrig und muskulös, gelenkig und auf eine elegante Weise beweglich. Selbst wenn er einfach nur da stand, ging eine berstende Kraft von ihm aus.
„Versuchen Sie es mit mir.“ Sein Blick verfing sich mit ihrem.
Garrett blinzelte überrascht. „Sie wollen, dass ich Sie mit meinem Stock schlage? Hier? Jetzt?“
Ransom nickte knapp.
„Ich möchte Sie nicht verletzen.“ Sie versuchte Zeit zu gewinnen.
„Das wird nicht …“ Weiter kam er nicht. Sie holte aus, um ihm im nächsten Moment einen Hieb zu verpassen.
Doch so schnell sie auch war, Ransom war schneller. Er duckte sich seitlich fort, sodass die Spitze des Stocks seine Rippen nur streifte. Er packte ihn in der Mitte und brachte Garrett mit einem kräftigen Ruck aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte und fühlte zu ihrem Erstaunen, wie sich sein Arm um sie schloss, während er ihr gleichzeitig mit der freien Hand den Spazierstock entwand – mit einer Leichtigkeit, als wäre es ein Kinderspiel für ihn, einen Gegner zu entwaffnen.
Keuchend und ächzend versuchte Garrett sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie unnachgiebig wie eine Schraubzwinge. Sie konnte nichts machen.
Vielleicht lag es an ihrem rasenden Herzen, doch plötzlich überkam sie ein merkwürdiges Gefühl, eine samtige Ruhe, die sich über ihre Gedanken und ihre Wahrnehmung legte. Die Welt um sie her schien zu versinken, und es gab nur noch den Mann in ihrem Rücken und seinen eisernen Griff um ihren Körper. Sie schloss die Augen, lauschte dem wilden Tumult ihres Herzschlags, während ihr der frische Duft seines Atems in die Nase stieg und ihr Körper dem gemessenen Heben und Senken seines Brustkorbs folgte.
Auf einmal lachte er leise in sich hinein, und der Bann war gebrochen. Abermals versuchte sie sich von ihm zu befreien.
„Machen Sie sich nicht über mich lustig“, verlangte sie grimmig.
Ransom ließ sie los, nicht jedoch ohne sich zu vergewissern, dass sie sicher stand. Dann gab er ihr den Spazierstock zurück. „Ich habe nicht über Sie gelacht. Sondern darüber, dass es Ihnen fast gelungen wäre, mich zu übertölpeln.“ Er hob kapitulierend die Hände, und in seinen Augen tanzte der Übermut.
Langsam ließ Garrett den Stock sinken. Ihre Wangen fühlten sich an, als wären sie rot wie Klatschmohn. Immer noch konnte sie seine Umarmung spüren, fast so, als hätte sich ihr die Empfindung in die Haut eingeprägt.
Ransoms griff in seine Westentasche und zog eine silberne Trillerpfeife hervor. Er setzte sie an die Lippen und entlockte ihr drei schrille Pfiffe.
Garrett nahm an, dass er einen patrouillierenden Konstabler herbeirief. „Sie benutzen keine Polizeirassel?“ Ihr Vater, dessen Revier in Kings Cross gelegen hatte, war nie ohne die schwere Rassel aus Holz unterwegs gewesen. Wenn es galt, Alarm zu schlagen, wurde die Rassel geschwungen, sodass die Klingen laut klapperten.
Ransom schüttelte den Kopf. „Die Rassel ist zu umständlich. Außerdem musste ich sie zurückgeben, als ich die Polizei verließ.“
„Sie gehören nicht länger zur Stadtpolizei?“ Sie runzelte die Stirn. „Wer ist dann Ihr Dienstherr?“
„Offiziell habe ich keinen.“
„Aber Sie erledigen Aufträge für die Regierung?“
„So ist es.“
„Als Detective?“
Ransom zögerte lange, dann antwortete er: „Manchmal.“
Garrett verengte die Augen und fragte sich, welche Aufträge er für die Regierung übernahm, die die reguläre Polizei nicht erledigen konnte. „Sind Ihre Aktivitäten legal?“
Sein Grinsen blendete sie förmlich in der zunehmenden Dunkelheit. „Nicht immer.“
Sie wandten sich gleichzeitig um, als ein blau uniformierter Konstabler, eine Laterne in der Hand, die Straße entlanggeeilt kam. „Sie da, Madam!“, rief der Mann aus. „Ich bin Konstabler Hubble. Haben Sie Alarm geschlagen?“
„Ich war das“, klärte Ransom ihn auf.
Der Polizist, ein stattlicher Mann, auf dessen Nase und Wangen der Schweiß stand, musterte ihn durchdringend. „Ihr Name?“
„Ransom“, lautete die gelassene Antwort. „Ehemals Mitglied der Division K.“
Der Konstabler machte große Augen, sein Ton und selbst seine Haltung bekamen etwas Unterwürfiges. „Ich habe von Ihnen gehört, Sir. Guten Abend.“
Mit dem Kinn wies Ransom auf die Männer, die am Boden lagen. „Ich habe diese drei betrunkenen Kerle dabei erwischt, wie sie eine Dame beleidigten und ausrauben wollten, nachdem sie sie hiermit bedroht hatten.“ Er reichte dem Konstabler die Scheide mit dem Bajonettmesser.
„Allmächtiger.“ Der Polizist maß die Männer am Boden mit einem angewiderten Blick. „Und das wollen Soldaten sein? Eine Schande. Darf ich fragen, ob der Dame etwas passiert ist?“
„Nein.“ Ein Lächeln zuckte um Ransoms Lippen. „Im Gegenteil, Dr. Gibson besaß die Geistesgegenwart, einen von ihnen mit ihrem Stock zu vertreiben, nachdem sie ihm das Messer aus der Hand geschlagen hatte.“
„Doktor?“ Der Konstabler starrte Garrett mit unverhülltem Erstaunen an. „Sie sind die Ärztin? Die aus der Zeitung?“
Garrett nickte und wappnete sich innerlich. Den meisten Menschen war eine Frau in einem medizinischen Beruf unheimlich.
Der Konstabler fuhr fort, sie anzustarren, und schüttelte verwundert den Kopf. „Ich hätte nicht erwartet, dass sie so jung ist“, sagte er in Ransoms Richtung, ehe er sich wieder an Garrett wandte. „Entschuldigen Sie, Miss … weshalb sind Sie Ärztin? Es ist ja schließlich nicht so, dass Sie hässlich wären. Mir fallen allein in meiner Abteilung zwei Burschen ein, die Sie auf der Stelle heiraten würden.“ Er nickte. „Jedenfalls, wenn Sie kochen und flicken können.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte Garrett, dass Ransom sich ein Lachen verkniff. „Ich fürchte, die einzige Art des Flickens, auf die ich mich verstehe, ist die von Knochen und Wunden.“
Der ungeschlachte Soldat am Boden stützte sich auf die Ellbogen. „Ein Frauenzimmer als Doktor“, sagte er verächtlich. „Meiner Meinung nach ist das wider die Natur. Ich wette, sie verbirgt ein Gemächt unter ihren Röcken.“
Ransoms Augen wurden schmal, die Erheiterung verschwand aus seinen Zügen. „Wie würde dir ein Fußtritt gegen den Schädel gefallen?“ Er trat auf den Soldaten zu.
„Mr. Ransom.“ Garrett schlug einen scharfen Ton an. „Es ist nicht fair, einen Mann anzugreifen, der schon am Boden liegt.“
Der Detective blieb wie angewurzelt stehen und warf einen unheilvollen Blick über die Schulter. „Eingedenk dessen, was er Ihnen antun wollte, hat er Glück, dass er noch atmet.“
Garrett horchte auf. Wie interessant, in seinen letzten Worten hatte sie einen leichten irischen Akzent zu hören geglaubt.
Ein weiterer Konstabler näherte sich ihnen. „Ich habe die Trillerpfeife gehört.“
Während Ransom mit dem Neuankömmling redete, ging Garrett ihren Arztkoffer holen. „Die Wunde an der Wange wird genäht werden müssen“, erklärte sie Konstabler Hubble.
Der Soldat versuchte sich aufzurappeln. „Komm mir bloß nicht zu nahe, du Teufelin!“
Konstabler Hubble bedachte ihn mit einem finsteren Blick. „Halt die Klappe, oder ich verpasse dir ein Loch in der anderen Wange.“
Garrett runzelte die Stirn. Sie hatte ihr Skalpell noch nicht wiedergefunden. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Konstabler, wenn Sie die Laterne ein wenig höher hielten? Ich muss das Messer finden, das ich auf diesen Mann geworfen habe.“ Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. „Vielleicht hat er es noch.“
„Nein“, sagte Ransom über die Schulter gewandt, „ich habe es.“ Dann setzte er seine Unterhaltung mit dem anderen Konstabler fort.
Garrett runzelte die Stirn. Wie schaffte es der Mann, ihr zuzuhören, während er sich gleichzeitig mit jemand anderem unterhielt? Und außerdem …
„Sie haben sich das Messer geschnappt, während Sie mit ihm kämpften?“, fragte sie entrüstet. „Und mir wollen Sie erzählen, es sei gefährlich, das zu tun?“
„Ich halte mich nicht an Regeln“, erklärte Ransom schlicht und redete weiter mit dem Konstabler.
Angesichts der ruhigen Überheblichkeit, mit der er sprach, machte Garrett große Augen. Mit finsterer Miene winkte sie Konstabler Hubble beiseite. „Was wissen Sie über den Mann?“, erkundigte sie sich flüsternd. „Wer ist er?“
„Meinen Sie Mr. Ransom?“ Der Konstabler senkte die Stimme. „Er wuchs hier auf, in Clerkenwell. Kennt die Stadt wie seine Westentasche und kann sich alles erlauben. Vor ein paar Jahren bewarb er sich bei der Polizei und bekam ein Revier in der Abteilung K zugewiesen. Ein skrupelloser Kämpfer. Unerschrocken. Nahm freiwillig an Patrouillen in den Armenvierteln teil, in die kein anderer Officer einen Fuß gesetzt hätte, und wollte von Anfang an Detective werden, heißt es. Er ist gescheit und kann sich die sonderbarsten Kleinigkeiten merken. Wenn er von seinen nächtlichen Rundgängen zurückkam, pflegte er Akten zu wälzen und sich ungelöste Fälle anzusehen. Es gelang ihm, einen Mord aufzuklären, an dem seine Vorgesetzten gescheitert waren, außerdem bewies er die Unschuld eines Dieners, den man des Juwelendiebstahls bezichtigt hatte, und fand ein gestohlenes Gemälde.“
„Mit anderen Worten, er arbeitete außerhalb seiner Befugnisse.“
Hubble nickte. „Der Leiter der Abteilung erwog, ihn wegen schlechter Führung zu belangen. Doch stattdessen beförderte er Ransom vom Konstabler vierter Klasse zum Inspektor.“
Garretts Augen weiteten sich. „Wollen Sie damit sagen, fünf Stufen gleich im ersten Jahr?“
„Nein, in den ersten sechs Monaten. Doch ehe die Prüfung stattfinden konnte, verließ Ransom die Einheit. Sir Jasper Jenkyn heuerte ihn an.“
„Wer ist das?“
„Irgendein hohes Tier in der Hauptverwaltung.“ Hubble unterbrach sich und musterte sie unbehaglich. „Mehr weiß ich auch nicht.“
Garrett wandte sich um und ließ den Blick über Ransoms breitschultrige Gestalt gleiten. Er wirkte entspannt, wie er, die Hände in die Taschen geschoben, da stand. Dennoch entging ihr nicht, dass er seine Umgebung unablässig beobachtete, während er mit dem anderen Konstabler sprach. Nichts schien ihm zu entgehen, Nicht einmal die Ratte, die in der Nähe über die Straße lief.
Sie räusperte sich. „Mr. Ransom.“
Er unterbrach die Unterhaltung und drehte sich zu ihr um „Ja, Doktor?“
„Brauchen Sie meine Aussage über die Ereignisse des Abends?“
„Nein.“ Ransoms Blick wanderte von ihr zu Konstabler Hubble. „Es ist das Beste, wenn wir Ihre – und meine – Privatsphäre wahren und es Konstabler Hubble überlassen, die Männer festzusetzen.“
Hubble protestierte. „Ich kann unmöglich die Anerkennung für Ihre Tapferkeit in Anspruch nehmen.“
„Es war ebenso sehr meine Tapferkeit“, erklärte Garrett säuerlich. „Ich habe den Kerl mit dem Messer niedergestreckt.“
Ransom trat an ihre Seite. „Lassen Sie Hubble die Anerkennung“, sagte er sanft. „Es bringt ihm eine Empfehlung ein und eine Belohnung. Das Einkommen eines Konstablers ist nicht so hoch, dass er sie nicht gebrauchen könnte.“
Ein Umstand, der Garrett nur allzu bewusst war. Sie nickte. „In Ordnung.“
Um Ransoms Mundwinkel zuckte ein Lächeln. „Dann überlassen wir den Konstablern die Angelegenheit, und ich begleite Sie zur Hauptstraße.“
„Danke, ich brauche keine Eskorte.“
„Wie Sie wünschen“, entgegnete Ransom so rasch, als hätte er ihre Ablehnung erwartet.
Garrett musterte ihn misstrauisch. „Sie werden mir trotzdem folgen, nicht wahr? Wie ein Raubtier einer verirrten Ziege.“
Ein belustigter Ausdruck erschien in seinen leuchtend blauen Augen, deren dichte Wimpern im zufälligen Lichtstrahl der Polizeilaterne Schatten auf seine Wangenknochen warfen. „Nur bis Sie sicher in einer Mietdroschke sitzen.“
„Dann würde ich es vorziehen, wenn Sie ganz zivilisiert neben mir her gehen.“ Sie streckte die Hand. „Mein Skalpell bitte.“
Ransom bückte sich und griff in den Schaft seines Stiefels. Als er sich aufrichtete, hielt er das schmale, glänzende Schneidwerkzeug in der Hand. Es sah halbwegs sauber aus. „Ein fabelhaftes Instrument“, bemerkte er und betrachtete bewundernd die lanzettartige Schneide, ehe er ihr das Skalpell zurückgab. „Die Klinge ist höllisch scharf. Ziehen Sie sie mit Öl ab?“
„Mit Diamantpaste.“ Garrett brachte das Skalpell in dem dafür vorgesehenen Instrumentenetui unter, dann hob sie den Arztkoffer hoch und schnappte sich ihren Stock. Als Ransom ihr die Tasche abnehmen wollte, wich sie entrüstet zurück.
„Gestatten Sie.“
Garrett wich einen weiteren Schritt zurück und umfasste die Ledergriffe fester. „Ich brauche keine Hilfe.“
„Das sehe ich. Ich möchte einer Dame gegenüber nur galant sein, nicht Ihre Fähigkeiten infrage stellen.“
„Würden Sie das Angebot auch einem Arzt machen?“
„Nein.“
„Mir wäre es lieber, Sie betrachten mich als Arzt denn als Dame.“
„Warum so ausschließlich?“ Ransom schüttelte den Kopf. „Sie sind beides. Und ich finde nichts dabei, einer Dame die Tasche zu tragen und gleichzeitig ihre berufliche Kompetenz zu würdigen.“
Sein Ton war sachlich, doch in seinen Augen stand ein Ausdruck, der sie aus dem Konzept brachte, eine Eindringlichkeit, die im Blick eines Fremden nichts zu suchen hatte. Als sie zögerte, streckte er die Hand aus und sagte ruhig: „Bitte.“
„Danke, ich schaffe das schon.“ Sie setzte sich in Bewegung.
Ransom schloss rasch zu ihr auf und schob die Hände in die Hosentaschen. „Woher haben Sie Ihre Geschicklichkeit im Messerwerfen?“
„Als ich an der Sorbonne studierte, machten sich ein paar Medizinstudenten den Spaß, mit Skalpellen auf eine Zielscheibe zu werfen, die sie hinter einem der Laborgebäude aufgebaut hatten.“ Garrett schüttelte den Kopf. „Leider habe ich nie gelernt, aus der Hinterhand zu werfen.“
„Eine gute Vorhand ist alles, was man braucht. Wie lange haben Sie in Frankreich gelebt?“
„Viereinhalb Jahre.“
„Eine junge Frau, die an der besten medizinischen Fakultät der Welt studiert“, überlegte Ransom laut, „weit fort von zu Hause, in einer fremden Sprache. Sie sind eine zielstrebige Frau, Dr. Gibson.“
„Keine medizinische Fakultät in England wollte mich akzeptieren“, sagte Garrett. „Mir blieb keine Wahl.“
„Sie hätten aufgeben können.“
„Aufgeben kam nie infrage.“ Sie lächelte.
Sie passierten ein leer stehendes Gebäude. Die Fenster des ehemaligen Ladengeschäfts im Erdgeschoss waren mit Papier verklebt. Ransom umfasste Garretts Ellbogen und führte sie um einen Haufen Unrat herum, in dem Austernschalen, Tonscherben und Reste eines Vogelkadavers erkennbar waren. Unwillkürlich zuckte Garrett unter dem leichten Druck seiner Hand um ihren Arm zusammen.
„Sie brauchen meine Berührung nicht zu fürchten“, murmelte Ransom beruhigend. „Ich wollte Ihnen nur über die Straße helfen.“
„Ich habe keine Angst.“ Garrett zögerte, dann räumte sie ein: „Wahrscheinlich bin ich einfach zu unabhängig.“ Sie gingen weiter, und sie bemerkte den Blick, den Ransom auf ihren Arztkoffer richtete. Ihr entschlüpfte ein leises Lachen. „Sie können ihn tragen“, lenkte sie ein. „Aber Sie müssen irisch mit mir sprechen.“
Ransom blieb stehen und musterte sie verblüfft. Zwischen seinen dunklen Brauen erschien eine senkrechte Falte. „Wodurch habe ich mich verraten?“
„Als Sie einem der Soldaten drohten, glaubte ich, den Anflug einer anderen Aussprache zu hören. Und die Art, wie Sie sich an Ihre Mütze tippen … etwas langsamer, als Engländer es zu tun pflegen.“
„Meine Eltern waren Iren, und ich wuchs in Clerkenwell auf“, erwiderte Ransom nüchtern. „Nicht dass ich mich dafür schäme. Aber manchmal ist der Akzent ein Nachteil.“ Er streckte die Hand aus, und Garrett gab ihm die Arzttasche. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und als er in der träge klingenden irischen Mundart zu sprechen begann, veränderte sich seine Stimme und wurde volltönend und tief. „Nun denn, mein Mädchen, worüber soll ich reden?“
Sprachlos angesichts der verheerenden Wirkung, die er auf sie hatte, vermochte Garrett nicht sofort zu antworten. „Sie werden zu vertraulich, Mr. Ransom.“
Er lächelte immer noch. „Das ist der Preis dafür, wenn Sie einen Mann irisch sprechen hören wollen. Sie müssen damit rechnen, dass er Ihnen Honig ums Maul schmiert.“
„Honig ums Maul schmiert?“ Stirnrunzelnd ging Garrett weiter.
„Ihnen Komplimente macht, weil Sie so bezaubernd und schön sind.“
„Ich glaube, man nennt es Gesäusel“, meinte sie unbeeindruckt. „Und ich bitte Sie, es mir zu ersparen.“
„Und eine so kluge, wache Frau“, fuhr er fort, als hätte er sie nicht gehört. „Außerdem habe ich eine Schwäche für grüne Augen …“
„Und ich habe einen Stock“, rief Garrett ihm verärgert in Erinnerung.
„Sie können mir damit nichts anhaben.“
„Vielleicht nicht“, räumte sie schulterzuckend ein und schloss die Finger fester um den Knauf. Im nächsten Moment holte sie zu einem Querschlag aus, nicht so heftig, dass er ernsthaften Schaden angerichtet hätte, aber heftig genug, um Ransom eine schmerzhafte Lektion zu erteilen.
Doch zu ihrer Empörung war sie es, die eine Lektion erhielt. Ransom blockierte ihren Schlag geistesgegenwärtig mit ihrer Arzttasche und entwand ihr den Spazierstock zum zweiten Mal. Mit einem dumpfen Aufprall, bei dem die metallenen Instrumente im Innern klapperten, landete die Tasche auf dem Boden. Ehe Garrett reagieren konnte, fand sie sich mit dem Rücken an Ransoms Brustkorb, den Spazierstock gegen ihre Kehle gepresst.
Dann hörte sie die betörend raue Stimme an ihrem Ohr: „Sie geben zu erkennen, was Sie als Nächstes zu tun beabsichtigen, mein Schatz. Eine schlechte Angewohnheit.“
„Lassen Sie mich los!“ Wütend versuchte sie sich von ihm loszumachen.
Ransom gab sie nicht frei. „Drehen Sie den Kopf.“
„Was?“
„Drehen Sie den Kopf, um den Druck auf Ihre Luftröhre zu verringern, und umfassen Sie den Stock mit Ihrer Rechten.“
Als Garrett erkannte, dass er ihr beibringen wollte, wie sie sich seinem Griff entwinden konnte, hörte sie auf, sich gegen ihn zu wehren, und gehorchte zögernd.
„Umgreifen Sie den Stock von innen, um Ihre Kehle zu schützen“, wies Ransom sie an und wartete, bis sie es getan hatte. „Aye, genau so. Und jetzt ziehen Sie das eine Ende des Stocks herunter, und benutzen Sie Ihren linken Ellbogen, um mir einen Stoß in die Rippen zu versetzen. Aber nur leicht, wenn ich bitten darf.“ Sie tat, wie ihr geheißen, und er knickte vornüber, als wäre er im Begriff zusammenzuklappen. „Gut. Jetzt packen Sie den Stock mit beiden Händen – weiter auseinander – und vollführen eine abrupte Drehung damit, während Sie sich gleichzeitig unter meinem Arm hinwegducken.“
Garrett folgte seinen Instruktionen und plötzlich … war sie frei. Sie wandte sich zu Ransom um und starrte ihn verdutzt an, außerstande zu entscheiden, ob sie sich bei ihm bedanken oder ihm eins überbraten sollte.
Mit einem ausdruckslosen Lächeln bückte Ransom sich nach der Arzttasche. Dann bot er Garrett den Arm, als wären sie ein altes Ehepaar auf einem Spaziergang im Hyde Park. Sie ignorierte die Geste und setzte ihren Weg fort.
„Wenn jemand eine Frau angreift, würgt er sie gewöhnlich von vorn“, erläuterte Ransom im Plauderton. „Oder aber er nimmt sie in den Schwitzkasten und drückt ihr die Kehle zu. Die dritte Möglichkeit ist, sie von hinten zu packen und fortzuschleppen. Hat Ihr Fechtmeister Ihnen nicht beigebracht, sich ohne Stock zu verteidigen?“
„Nein“, musste Garrett widerwillig zugeben. „Er unterrichtet keinen Kampf von Mann zu Mann.“
„Warum stellt Winterborne Ihnen keine Kutsche samt Fahrer für Ihre Ausflüge zur Verfügung? Er ist doch kein Geizhals, und für gewöhnlich kümmert er sich um die Seinen.“
Bei der Erwähnung des Namens runzelte Garrett die Stirn. Winterborne war der Gründer der Klinik, in der sie arbeitete. Er hatte sie für die annähernd tausend Angestellten seines Warenhauses eingerichtet und ihr die berufliche Chance gegeben, die sonst niemand ihr hatte geben wollen. Dafür war sie ihm ewig dankbar.
„Mr. Winterborne hat mir eine Kutsche angeboten“, räumte sie zögernd ein. „Aber ich möchte ihm nicht noch mehr Umstände bereiten, als ich es ohnehin schon tue, und außerdem hatte ich Unterricht in Selbstverteidigung.“
„Sie überschätzen sich, Doktor, und mit Ihrer geringen Erfahrung bringen Sie sich eher selbst in Gefahr. Es gibt ein paar einfache Taktiken, mit denen Sie einen Angreifer abwehren können. Wenn Sie wollen, bringe ich sie Ihnen irgendwann nachmittags einmal bei.“
Sie bogen um eine Ecke und kamen auf die Hauptstraße, wo Trauben von armselig gekleideten Menschen in Hauseingängen und auf Treppen herumstanden, während Fußgänger aus jeder gesellschaftlichen Schicht auf den Bürgersteigen flanierten. Pferde, Karren und Kutschen fuhren in die eine und die andere Richtung parallel zu den Trambahnschienen, die dem Straßenverlauf folgten. Garrett sah sich nach einer Mietdroschke um.
Während Ransom und sie da standen und warteten, ließ sie sich seine Worte durch den Kopf gehen. Der Mann wusste eindeutig mehr über Straßenkampf als ihr Fechtmeister. Seine Manöver mit ihrem Stock hatten sie beeindruckt. Während ein Teil von ihr ihm am liebsten gesagt hätte, er solle sich zum Teufel scheren, war der andere Teil im höchsten Maße fasziniert von ihm.
Trotz seines Geredes vom Honig-ums-Maul-Schmieren war Garrett sicher, dass er keine romantischen Absichten verfolgte, was sie nur begrüßen konnte. Ihr lag nichts an einer Beziehung, die ohnehin nur ihrer Karriere im Weg gestanden hätte. Ja gut, sie hatte die ein oder andere kleine Affäre gehabt … einen heimlichen Kuss von einem attraktiven Medizinstudenten an der Sorbonne … ein harmloser Flirt mit einem Gentleman beim Tanz … aber Männern, die eine wirkliche Versuchung für sie dargestellt hätten, war sie konsequent aus dem Weg gegangen. Und eine Verwicklung mit dem unverschämten Fremden konnte nur zu Problemen führen.
Aber von seiner Erfahrung im Straßenkampf wollte sie profitieren.
„Wenn ich Ihnen gestatte, mir Unterricht zu geben“, begann sie vorsichtig, „hören Sie dann auf, mich auf meinen dienstäglichen Runden zu verfolgen?“
„Aye.“ Ransom nickte bereitwillig.
Zu bereitwillig.
Garrett musterte ihn mit einem skeptischen Blick. „Sind Sie ein ehrlicher Mensch, Mr. Ransom?“
Er lachte in sich hinein. „Bei meinem Beruf?“ Mit einem Blick über ihre Schulter entdeckte er eine Mietdroschke und winkte sie herbei. Dann suchte er Garretts Blick und hielt ihn fest. „Ich schwöre Ihnen beim Grab meiner Mutter, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben.“
Rumpelnd und ratternd kam die Droschke neben ihnen zum Stehen.
Garrett traf eine Entscheidung. „In Ordnung. Morgen Nachmittag um vier, im Fechtklub von Monsieur Baujart.“
Ein Ausdruck von Genugtuung flackerte in Ransoms Augen auf. Er sah zu, wie Garrett auf das Fußbrett der zweirädrigen Chaise kletterte und sich mit der Geschicklichkeit einer erfahrenen Droschkenbenutzerin unter den Leinen hindurchduckte und auf dem Mitfahrersitz Platz nahm.
Ransom reichte ihr den Arztkoffer, dann wandte er sich an den Kutscher. „Passen Sie auf, dass Sie die Dame nicht durchschütteln.“ Ehe Garrett Einwände erheben konnte, war er auf das Fußbrett geklettert und reichte dem Fahrer eine Handvoll Münzen.
„Ich kann meine Fahrt selbst bezahlen“, protestierte sie ungehalten.
Mit seinen dunkelblauen Augen starrte Ransom sie unverwandt an. Dann drückte er ihr etwas in die Hand und sprang zu Boden. „Bis morgen dann, Doktor.“ Er tippte sich an den Schirm seiner Mütze und nahm die Finger erst fort, als die Droschke losfuhr.
Benommen starrte Garrett auf den Gegenstand, der auf ihrem Handteller lag. Die Trillerpfeife, noch warm von seinem Körper.
Wie unverschämt. Trotzdem schlossen sich ihre Finger darum.
Ehe er sich auf den Weg zu seiner Wohnung in der Half Moon Street machen konnte, hatte Ethan noch eine Verabredung. Er nahm eine Droschke zur Cork Street, deren gesamte Länge von Rhys Winterbornes berühmtem Warenhaus eingenommen wurde.
In der Vergangenheit war Ethan ein paar Mal für den Besitzer persönlich tätig gewesen. Die Aufträge hatten sich als unkompliziert und schnell zu erledigen erwiesen, kaum den Zeitaufwand wert, doch er hätte ein Narr sein müssen, die Aufträge eines so mächtigen Mannes abzulehnen. In einem Fall hatte er Winterbornes damalige Verlobte, Lady Helen Ravenel, beschattet, als sie und eine Freundin ein Waisenhaus in einer gefährlichen Gegend in den Docklands aufgesucht hatten.
Damals, vor zwei Jahren, war Ethan Dr. Garrett Gibson zum ersten Mal begegnet.
Die schlanke Frau mit dem kastanienbraunen Haar hatte einen Angreifer, der gut doppelt so groß gewesen war wie sie selbst, mit ein paar präzise gezielten Hieben ihres Spazierstocks niedergestreckt. Ethan lächelte noch jetzt bei dem Gedanken daran, wie sie die Sache angefangen hatte – als hätte sie eine leidige Pflicht zu erledigen. Als händigte sie dem Müllkutscher einen Eimer Abfall aus.
Ihr Gesicht war ihm unerwartet jung erschienen, die Haut sauber geschrubbt und glatt wie ein Stück weiße Seife. Sie hatte hohe Jochbeine, kühle grüne Augen und ein energisches Kinn. Doch am schönsten unter all den schönen Einzelheiten ihrer Züge war ihr Mund – zart und verletzlich, die Oberlippe fast so voll wie die untere, und so verführerisch gebogen, dass Ethan jedes Mal, wenn er ihn betrachtete, die Knie zu zittern begannen.
Nach jener ersten Begegnung hatte er sich bemüht, Garrett Gibson aus dem Weg zu gehen. Er wusste, dass sie ihn in Schwierigkeiten zu bringen vermochte, vielleicht mehr noch als er sie. Aber vor ein paar Wochen hatte er sie in der Klinik, in der sie arbeitete, aufgesucht, weil er Informationen über einen ihrer Patienten brauchte, und augenblicklich war die Faszination wieder da gewesen.
Alles an Garrett Gibson war … köstlich. Der sezierende Blick, ihre klare, helle Stimme, die so spröde sein konnte wie der Zuckerguss auf einem Zitronenkuchen. Das Mitgefühl, mit dem sie undankbare wie dankbare Patienten gleichermaßen behandelte. Ihre energischen Schritte, ihre unerschöpfliche Tatkraft, das Selbstvertrauen, mit dem diese Frau ihre Intelligenz weder verbarg, noch sich dafür entschuldigte. Sie war wie Sonnenlicht und Stahl, aus einem Stoff gemacht, den er nicht kannte.
Allein der Gedanke an sie brachte sein Blut in Wallung.
Dabei hatte er sich geschworen, nichts von ihr anzunehmen. Alles, was er wollte, war, sie bei ihren Besuchen im Arbeitshaus von Clerkenwell oder dem Waisenhaus von Bishopsgate oder wo immer ihre dienstäglichen Wege sie sonst hinführen mochten, zu beschützen. So viel würde er sich gestatten.
Es war ein Fehler gewesen, das nachmittägliche Treffen herbeizuführen. Ethan wusste nicht, wie es passiert war – er hatte die Worte gesagt, doch gleichzeitig schien jemand anderer sie ausgesprochen zu haben. Danach hatte er sie nicht mehr zurücknehmen können und sich dabei ertappt, dass er sehnlichst auf ihre Zustimmung hoffte.
Eine Stunde in Garrett Gibsons Gesellschaft, dann würde er sich ihr nie wieder nähern. Aber er wollte, er brauchte diese kurze Zeit allein mit ihr, verzehrte sich förmlich danach. Und für den Rest seines Lebens würde er sich mit der Erinnerung begnügen.
Das Warenhaus kam in Sicht, eine prächtige marmorverkleidete Gebäudefront mit riesigen Schaufenstern. Die berühmte Rotunde mit der Kuppel aus Bleiglas erhob sich über vier Stockwerken säulengetragener Arkaden. Es war eine eindrucksvolle Konstruktion, errichtet von einem Mann, der der Welt zeigen wollte, dass der Sohn eines walisischen Lebensmittelhändlers es zu etwas gebracht hatte.
Den kurzen Weg zu der Straße hinter dem Warenhaus ging Ethan zu Fuß. Dort befanden sich die Stallungen, der Anlieferungsbereich und die Ladezone. Winterbornes Privathaus stand am äußersten Ende der Straße. Es war über einen privaten Durchgang und ein Treppenhaus mit dem Geschäft verbunden. Ethan pflegte stets durch den Hintereingang zu kommen, durch die Tür, die für Diener und Lieferanten vorgesehen war.
Ein Lakai ließ ihn ein. „Mr. Ransom. Hier entlang bitte.“
Die Mütze in der Hand, folgte Ethan dem Bediensteten die Haupttreppe des fünfstöckigen Hauses hinauf. Die Flure wurden von Kristallleuchtern erhellt, an den Wänden hingen Seestücke und Gemälde mit Berglandschaften und Schäferszenen. Auf einem langen Tisch an der Wand standen kostbare Porzellanamphoren, die mit Farnen und Orchideen bepflanzt waren.
Sie kamen an einem Trio Zimmerpalmen vorbei, und auf dem Fußboden neben einem der Pflanzenkübel bemerkte Ethan ein paar dunkle Erdkrümel. Er blieb stehen und bückte sich unter die fedrigen grünen Wedel. In der Blumenerde war eine Prozession geschnitzter kleiner Holztiere, die auf dem Weg zu Noahs Arche zu sein schienen, um eine winzige Hütte aus Streichhölzern aufgebaut. Das Ganze sah nach dem Geheimversteck eines Kindes aus. Ethans Mundwinkel bogen sich belustigt nach oben, als ihm Lady Helens kleine Halbschwester einfiel, die etwa fünf Jahre alt war und bei den Winterbornes erzogen wurde. Als er sah, dass einer der Spielzeugelefanten umgefallen war, stellte er ihn vorsichtig wieder auf.
„Sir.“ Der Lakai war stehen geblieben und runzelte angesichts des unziemlichen Interesses des Fremden an der Topfpflanze missbilligend die Stirn.
Ethan kroch unter den Palmwedeln hervor und erwiderte den Blick des Bediensteten unschuldsvoll. „Ich habe nur die Palme bewundert.“ Er wischte die verräterischen Erdkrümel mit einer unauffälligen Bewegung seiner Mütze fort, dann folgte er dem Bediensteten.
Sie erreichten das Herrenzimmer, in dem Winterborne ihn auch bei vorherigen Gelegenheiten schon empfangen hatte. Ein angenehmes Duftgemisch von geöltem Leder, Zigarrentabak und exquisitem Cognac, dazu dem trockenen Geruch von Billardkreide, hing in der Luft.
Ethan trat in den Raum, blieb abrupt stehen und verengte die Augen.
Winterborne stand neben dem riesigen, in einem wuchtigen Gestell aus Walnussholz aufgehängten Globus, den er geistesabwesend drehte, während ein zweiter Gentleman das Wandregal nach einem passenden Billardqueue durchstöberte. Die beiden lachten leise miteinander, wie alte Freunde es zu tun pflegten.
Als Winterborne ihn bemerkte, sagte er leichthin: „Ransom. Treten Sie doch näher.“
Ethan blieb reglos stehen. Die Erkenntnis, dass er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen herbestellt worden war, brachte jede Faser in seinem Leib zum Vibrieren. Winterborne, dieser Bastard, hatte ihn glauben lassen, er sei allein.
Mit seinen ein Meter achtzig Körpergröße konnte Ethan kaum klein genannt werden, doch Winterborne überragte ihn um mindestens zehn Zentimeter. Er hatte eine kräftige Statur, breite Schultern und den Stiernacken eines Boxkämpfers. Seine Fäuste waren riesig und ließen eine gefährliche Reichweite vermuten. Als Winterborne entspannt auf ihn zukam, spielte Ethan unwillkürlich durch, mit welcher Bewegungsabfolge der Mann wirksam zu besiegen wäre. Seitlich ausweichen – bei der Schulter packen – ein paar linke Haken in den Solar Plexus und die unteren Rippen – ein Tritt in den Bauch – fertig …
„Ethan Ransom, gestatten Sie mir, Ihnen Mr. Weston Ravenel vorzustellen.“ Winterborne wies auf seinen Gast. „Er ist ein Verwandter meiner Gattin und bat mich, ein Treffen mit Ihnen zu arrangieren.“
Ethans Blick schoss zu dem Fremden, einem Mann Ende zwanzig mit dunkelbraunem Haar, tadellos gutem Aussehen und einem offenen Lächeln. Er war schlank und sportlich, seine Kleidung hervorragend geschneidert. Ein wenig verwundert nahm Ethan seine gebräunte Haut und die von Arbeit rauen Hände zur Kenntnis.
In der guten Gesellschaft Londons stand der Name Ravenel für aristokratische Privilegien und Macht. Gleichwohl hatte die Familie nie die solide Achtbarkeit errungen, wie sie etwa mit dem Namen der Cavendishs oder Grosvenors in Verbindung gebracht wurde. Die Ravenels waren ein heißblütiger Haufen, unbeherrscht und rücksichtslos in fast allem, was sie taten. Mit dem Tod des letzten Earls waren sie praktisch vom Aussterben bedroht gewesen, doch dann hatte sich ein entfernter Verwandter als Titelerbe gefunden.
„Bitte entschuldigen Sie die List.“ Weston Ravenel trat auf ihn zu. „Ich muss etwas Geschäftliches mit Ihnen besprechen, und ich wusste nicht, wie ich sonst mit Ihnen in Verbindung treten kann.“
„Kein Interesse.“ Ethan wandte sich zum Gehen.
„Warten Sie. Es ist in Ihrem eigenen Interesse, mir zuzuhören. Ich zahle dafür, wenn Sie wollen. Himmel, ich hoffe, ich kann Sie mir leisten.“
„Er ist teuer“, schaltete Winterborne sich ein.
„Ich nehme an, ich hätte …“ Ravenel verstummte, als er nahe genug war, um Ethan gründlich mustern zu können. „Verdammt“, sagte er leise und sah ihm in die Augen.
Ethan atmete langsam ein und wieder aus. Er richtete den Blick auf die Wand und fragte sich, welche Wahl er hatte. Es war zu spät, dem Bastard aus dem Weg zu gehen, also konnte er genauso gut herausfinden, was der Kerl wollte. „Zehn Minuten“, sagte er knapp.
„Wären Sie bereit, zwanzig daraus zu machen, wenn Winterborne einen anständigen Cognac spendiert?“ Ravenel warf seinem Freund einen Blick zu. „Und wenn ich anständig sage, meine ich einen Gautier ’64.“
„Hast du eine Ahnung, was der kostet?“ Winterborne runzelte entrüstet die Stirn.
„Ich bin den ganzen Weg von Hampshire hergekommen. Wie oft genießt du das Vergnügen meiner Gesellschaft?“
„Vergnügen würde ich es nicht nennen“, erwiderte Winterborne grollend und betätigte den Klingelzug.
Ravenel grinste und bedachte Ethan mit einem abwägenden Blick, dann war die Maske charmanter Freundlichkeit wieder an Ort und Stelle. „Möchten Sie sich nicht setzen?“ Er deutete auf die ledernen Sessel vor dem Kamin.
Mit regloser Miene nahm Ethan in einem von ihnen Platz. Die Hand leicht auf den Brustkorb gelegt, lehnte er sich zurück. Als die Stille sich dehnte, konzentrierte er sich auf die Stutzuhr aus Rosenholz und Messing, die den Kaminsims zierte.
„Zählen Sie etwa die Minuten?“ Ravenel nickte und setzte sich Ethan gegenüber. „Nun denn, ich komme so rasch wie möglich auf den Punkt. Vor drei Jahren erbte mein älterer Bruder unerwartet den Titel des Earls. Da er keine Ahnung von der Verwaltung von Grundbesitz, geschweige denn von Landwirtschaft hatte, ließ ich mich überreden, nach Hampshire zu ziehen und ihm unter die Arme zu greifen.“ Ravenel unterbrach sich, als es klopfte.
Auf Winterbornes Aufforderung hin betrat der Butler den Raum und brachte ein Silbertablett mit bauchigen Gläsern und einer Flasche Gautier. Feierlich servierte er den Cognac, und nachdem er den Raum verlassen hatte, ließ sich Winterborne auf der Armlehne eines Sessels nieder. Er hielt den Cognacschwenker in einer Hand, mit der anderen begann er den Globus zu drehen, als überlegte er, welche Teile der Welt er wohl als nächste in seinen Besitz bringen solle.
„Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie veranlasst haben könnte, Ihr Leben derart gravierend zu ändern.“ Ethan hob eine Braue. London gegen ein langweiliges Leben auf dem Lande zu tauschen war das, was er sich unter der Hölle auf Erden vorstellte. „Wovor sind Sie geflüchtet?“
Ravenel lächelte. „Vor mir selbst, nehme ich an. Auch Ausschweifungen werden irgendwann einmal langweilig. Und ich habe die Entdeckung gemacht, dass die Landwirtschaft mir zusagt. Die Pächter hören auf mich, und ich habe etwas übrig für Kühe.“
Ethan war nicht in der Stimmung für Geplänkel. Weston Ravenel erinnerte ihn an all das, woran zu denken er sich die achtundzwanzig Jahre, die er inzwischen alt war, verboten hatte. Das Hochgefühl, das die Begegnung mit Garrett Gibson ihm beschert hatte, war verblasst und hatte einem unbestimmten Ärger Platz gemacht. Er trank einen Schluck des hervorragenden Cognacs, ohne ihn wirklich zu schmecken, und sagte kurz angebunden: „Sie haben noch achtzehn Minuten.“
Ravenel hob die Brauen. „Ja doch, Sie fröhliches Plappermaul, ich komme zum Wesentlichen. Der Grund, weshalb ich hier bin, ist der, dass mein Bruder und ich beschlossen haben, ein Anwesen in Norfolk zu verkaufen. Es handelt sich um ein stattliches Herrenhaus in gutem Zustand, zu dem ungefähr zweitausend Acres Land gehören. Dummerweise habe ich gerade herausgefunden, dass uns die Hände gebunden sind. Ihretwegen.“
Ethan musterte ihn fragend.
„Gestern traf ich mich mit unserem ehemaligen Grundstücksverwalter und dem Familienanwalt, den Herren Totthill und Fogg. Sie erklärten mir, das Grundstück in Norfolk zu verkaufen sei unmöglich, weil Edmund – der vormalige Earl – es jemandem in Form eines geheimen Treuhandvermächtnisses hinterließ.“
„Geheimes Treuhandvermächtnis? Was ist das?“ Ethan hatte noch nie von einer solchen Nachlassregelung gehört.
„Eine in der Regel mündliche Erklärung, die das Vermächtnis von Grundbesitz oder Vermögen betrifft.“ In spöttischem Erstaunen riss Ravenel die Augen auf. „Selbstverständlich fragten wir uns, weshalb der Earl einem Menschen, den er nicht kannte, eine so großzügige Zuwendung gemacht haben sollte.“ Er verstummte und fuhr nach einem Moment des Schweigens in ernstem Ton fort: „Sofern es Sie nicht stört, mit mir darüber zu reden, so weiß ich, glaube ich, weshalb …“
„Nein“, unterbrach Ethan ihn unerbittlich. „Wenn die Erklärung nicht schriftlich niedergelegt ist, vergessen Sie sie.“
„Ich fürchte, das wird nicht gehen. Englischer Rechtsprechung zufolge ist eine mündliche Erklärung bindend, und es wäre ungesetzlich, sie zu ignorieren. Außerdem gibt es drei Zeugen: Totthill, Fogg und den langjährigen Kammerdiener des Earls, Quincy, der die Sache beeidet hat.“ Wieder machte Ravenel eine Pause und schwenkte den Cognac in seinem Glas. Er sah Ethan an. „Nach dem Ableben des Earls versuchten Totthill und Fogg Sie von dem Vermächtnis zu informieren, doch Sie waren nicht auffindbar. Nun fällt mir die Aufgabe zu, Ihnen die guten Neuigkeiten zu überbringen: Glückwunsch, Sie sind der stolze Besitzer eines Anwesens in Norfolk.“
Sehr vorsichtig beugte Ethan sich vor und stellte sein Glas auf den niedrigen Tisch. „Ich will es nicht haben.“ Doch sämtliche Kunstgriffe, die er kannte und mit denen er seine Gefühle für gewöhnlich unter Kontrolle brachte, langsames Atmen, bewusste Konzentration seiner Gedanken, funktionierten nicht. Entsetzt spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er stand auf, ging um die Sessel herum und zur Tür.
Ravenel sprang auf und folgte ihm. „Verdammt, Mann, warten Sie! Wenn wir diese Unterhaltung nicht zu Ende führen, muss ich mich wieder auf die Suche nach Ihnen machen.“
Ethan blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich jedoch nicht um.
„Ob Sie den Besitz haben wollen oder nicht“, fuhr Ravenel eilig fort, „er gehört Ihnen. Und wir zahlen Steuern dafür, selbst wenn wir mit dem verdammten Stück Land nichts anfangen können.“
Ethan griff in die Hosentasche, zog einen Packen Pfundnoten daraus hervor und warf ihn Ravenel vor die Füße. „Lassen Sie mich wissen, was ich Ihnen darüber hinaus noch schulde.“
Wenn Ethans Reaktion Ravenel verunsichert hatte, so musste man ihm zugutehalten, dass er es sich nicht anmerken ließ. Er wandte sich zu Winterborne um und sagte beiläufig: „Man hat mich noch nie mit Geld überhäuft, aber ich stelle fest, dass es eine Geste ist, die umgehend Zuneigung erweckt.“ Ohne den Geldscheinen zu seinen Füßen Beachtung zu schenken, lehnte er sich an den Billardtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Ethan abschätzend. „Anscheinend waren Sie Edmund Ravenel nicht sonderlich zugetan. Darf ich fragen, weshalb?“
„Er hat jemanden, den ich liebe, zutiefst verletzt. Ich werde das Andenken an diesen Menschen nicht beschmutzen, indem ich etwas von einem Ravenel annehme.“
Die Anspannung, die in der Luft gelegen hatte, schien sich zu lösen. Ravenel ließ die Arme sinken, dann hob er die Hand und rieb sich den Nacken. Er lächelte schief. „Reden wir jetzt ernsthaft? Dann bitte ich Sie für meine flapsigen Bemerkungen um Entschuldigung.“
Wäre der Kerl kein Ravenel gewesen, Ethan hätte ihn sogar sympathisch gefunden.
Winterborne stand auf und trat an das Büfett, wo der Butler das Silbertablett mit dem Cognac abgestellt hatte. „Sie könnten Ravenel den Besitz verkaufen“, sagte er an Ethan gewandt und schenkte sich nach.
Es war die perfekte Lösung, das musste Ethan zugeben. Er wäre das unerwünschte Stück Land mit einem Schlag los und könnte die Verbindung zu den Ravenels endgültig kappen. „Ich verkaufe es Ihnen für ein Pfund“, erklärte er knapp. „Machen Sie die Papiere fertig, ich unterschreibe sie.“
Ravenel runzelte die Stirn. „Nicht für ein Pfund. Ich erwerbe das Anwesen für einen vernünftigen Preis.“
Ethan bedachte ihn mit einem finsteren Blick, trat ans Fenster und starrte hinaus auf das Gewirr rußgeschwärzter Dächer. London bereitete sich auf die Nacht vor, schmückte sich mit Lichterketten, summte in Vorfreude auf Sünde und Vergnügen.
Er war in dieser Stadt geboren, in ihr aufgewachsen, und ihr gewalttätiger Pulsschlag hatte sich ihm tief eingeprägt. In seinem Blut kursierten ihre Bilder, ihre Geräusche und ihre Empfindungen. Er war überall in dieser Stadt zu Hause, in ihren schrecklichsten Elendsvierteln, ihren schlimmsten Lasterhöhlen, ihren finstersten, gefährlichsten Orten. Er fürchtete keinen davon.
„Ich bleibe den ganzen kommenden Monat in London“, unterbrach Weston Ravenel seine Gedanken. „Und ehe ich nach Hampshire zurückkehre, lasse ich einen Vertragsentwurf für den Verkauf des Anwesens in Norfolk anfertigen. Wenn Ihnen die Bedingungen zusagen, werde ich mich glücklich schätzen, es zu erwerben.“ Er zog eine blütenweiße Visitenkarte aus seiner Westentasche und hielt sie ihm hin. „Darf ich auch um Ihre bitten? Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung, sobald ich mit verlässlichen Zahlen aufwarten kann.“
Ethan sah ihn ausdruckslos an. „Winterborne kann Ihnen sagen, wie Sie mir eine Nachricht zukommen lassen. Ich besitze keine Visitenkarten.“
„Ich verstehe.“ Ravenel nickte. „Nehmen Sie meine trotzdem.“ Als Ethan schweigend den Kopf schüttelte, rief er gereizt: „Grundgütiger, sind Sie immer so anstrengend? Ich finde Ihre Gesellschaft nichts weniger als ermüdend, und das sagt jemand, der den größten Teil seiner Zeit mit Nutztieren verbringt. Zivilisierte Männer tauschen Visitenkarten aus, wenn sie sich kennengelernt haben. Nehmen Sie sie also.“
Ethan beschloss, Ravenel bei Laune zu halten, und steckte die Karte mit der glänzend schwarzen Schrift in die Geldbörse, die er in seiner Westentasche trug, dann wandte er sich zu Winterborne um. „Bemühen Sie sich nicht, ich kenne den Weg.“ Er nahm seine Mütze, setzte sie auf und tippte respektvoll an den Schirm. Es war seine Art, sich zu verabschieden. Wie alle Iren vermied er es, laut Lebwohl zu sagen.
Garrett trat aus der Umkleidekabine und schlenderte den Flur entlang, von dem die Übungs- und Unterrichtsräume des Fechtklubs von Monsieur Baujart abgingen. Sie trug die übliche Fechtuniform der Damen, eine eng sitzende Jacke mit hohem Kragen, einen weißen Rock, der knapp unter den Knien endete, dick gepolsterte weiße Beinkleider und weiche flache Lederschuhe.
Vertraute Geräusche drangen durch die geschlossenen Türen – das Klirren von Florett- und Säbelklingen, das Aufeinanderprallen von Stöcken, Salven schneller Schritte auf den Eichendielen, die Befehle der Ausbilder. „Lösen! Strecken Sie den Arm! En garde … longe … Lösen …“
Monsieur Jean Baujart, Sohn eines berühmten Fechtmeisters, hatte die Kunst der Selbstverteidigung an französischen und italienischen Akademien unterrichtet, ehe er seinen eigenen Fechtklub in London eröffnet und sich binnen zwei Jahrzehnten den Ruf unübertroffener Exzellenz erworben hatte. Seine öffentlichen Vorführungen erfreuten sich großen Zuspruchs, und in seinen Unterrichtsräumen tummelten sich Schüler jeden Alters. Im Gegensatz zu den meisten Einrichtungen, die Selbstverteidigung unterrichteten, waren Frauen in Monsieur Baujarts Klub nicht nur zugelassen, sie wurden auch ausdrücklich in ihren Bemühungen unterstützt und ermutigt.
Garrett nahm seit vier Jahren Gruppen- und Einzelunterricht bei Baujart und seinen beiden Assistenten, sowohl im Fechten als auch im Kampf mit dem Stock. Baujart lehrte eine klassische Kampftechnik. Abweichende Bewegungsabläufe und Regelverstöße waren verpönt. Wenn ein Fechter sich duckte, eine Drehung vollführte oder ein paar Schritte zurückwich, machte Baujart eine spöttische Bemerkung und korrigierte ihn. In seinem Fechtklub „hopste man nicht herum wie ein Affe“ oder „wand sich wie ein Aal“. Form bedeutete alles. Das Resultat war ein vollendeter, tadelloser Stil, der in anderen Fechtschulen sehr bewundert wurde.
Vor der Tür des Übungsraums blieb Garrett stehen. Bei den Geräuschen, die sie von drinnen hörte, runzelte sie die Stirn. Überschritt der Schüler vor ihr die Zeit? Vorsichtig öffnete sie die Tür ein Stück weit und spähte in den Raum.
Ihre Augen weiteten sich, als sie die vertraute Gestalt Monsieur Baujarts erblickte, der einen Gegner mit einer ununterbrochenen Serie von Phrases d’armes angriff.
Baujart war in die schwarze Fechtuniform gekleidet, die er und die anderen Lehrer zu tragen pflegten, wohingegen für Klubmitglieder und Schüler die klassische weiße Kleidung vorgeschrieben war. Drahtmasken verbargen die Gesichter der beiden Männer, ihre Hände steckten in Handschuhen, und sie hatten sich die schützenden Lederplastrons übergezogen. Ihre mit Boutons versehenen Klingen wirbelten blitzend durch die Luft.
Doch selbst wenn Baujart nicht die schwarze Uniform des Fechtmeisters getragen hätte, wäre er anhand seiner tadellosen Technik erkennbar gewesen. Er war ein außerordentlich sportlicher Mann von vierzig Jahren, ein Künstler, der seine Kunst vervollkommnet hatte. Jeder Vorstoß, jede Parade, jede Riposte war unübertroffen genau.
Sein Gegner auf der anderen Seite focht auf eine Art, die Garrett noch nie gesehen hatte. Statt das Duell in seinen herkömmlichen Abfolgen zu fechten, griff er unerwartet an und zog sich zurück, ehe Baujart ihn treffen konnte. Es lag etwas katzenhaft Geschmeidiges in seinen Bewegungen, eine gefährliche Anmut, bei der Garrett den Atem anhielt.
Gebannt trat sie in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
„Guten Tag, Doktor“, sagte der Mann in Weiß, ohne auch nur in ihre Richtung zu blicken.
Garrett schnappte nach Luft. Ethan Ransom! Plötzlich schien ihr Herz sich zu überschlagen. Er parierte einen Angriff, duckte sich tief und griff Baujart seinerseits von unten an.
„Arrêtez!“, verlangte Baujart scharf. „Das war kein erlaubter Schlag.“
Die beiden Männer traten zurück.
„Guten Tag“, grüßte Garrett höflich. „Bin ich zu früh für unsere Unterrichtsstunde, Mr. Ransom?“
„Nein. Monsieur Baujart hatte Vorbehalte dagegen, dass ich Ihnen etwas beibringe, und wollte sich erst ein Bild von meinen Fähigkeiten machen.“
„Es ist schlimmer, als ich dachte.“ Ohne die Drahtmaske abzunehmen, wandte der Fechtmeister sich zu Garrett um. „Dieser Mann ist nicht im Mindesten qualifiziert, Dr. Gibson. Ich kann nicht befürworten, dass er Ihnen Unterricht gibt – er wird alles an Technik, was Sie bei mir gelernt haben, ruinieren.“
„Das hoffe ich doch“, murmelte Ransom trocken.
Garrett presste die Lippen aufeinander, um nicht zu grinsen. Sie kannte niemanden, der es gewagt hätte, Baujart gegenüber derart dreist aufzutreten.
Der Fechtmeister wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ransom zu. „Allons“, befahl er kurz angebunden. Ein weiterer Kampf begann, so schnell und erbittert, dass die Klingen wirbelten.