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Seinen Reichtum hat er auch seiner Skrupellosigkeit zu verdanken! Bürgerlich geboren, ist Rhys Winterborne heute einer der vermögendsten Männer in London. Aber erst eine adelige Gattin wird ihm den Respekt der blaublütigen Gesellschaft sichern. Als er der unerfahrenen Lady Helen begegnet, will er alles daransetzen, um sie zum Altar zu führen. Doch der Standesunterschied scheint zu groß - bis ihn Lady Helen in aller Verschwiegenheit aufsucht. Die Sehnsucht in ihren Augen verrät Rhys, was er wissen will, und er macht ihr einen skandalösen Vorschlag: Wenn sie sich ihm jetzt sofort hingibt, müssen sie heiraten … »Eine großartige, unvergessliche Liebesgeschichte.« Romantic Times Book Reviews
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Seitenzahl: 462
Zur Autorin
Ihre preisgekrönten historischen Liebesromane, die in 20 Sprachen übersetzt sind und eine begeisterte Leserschaft gekonnt in vergangene Epochen entführen, haben Lisa Kleypas den Ruf einer Top-Autorin eingebracht. Regelmäßig finden sich ihre Bücher auf den Bestsellerlisten rund um den Globus. Mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern lebt die Autorin in Texas.
MIRA® TASCHENBUCH
Copyright © 2018 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, hamburg
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Marrying Winterborne Copyright © 2016 by Lisa Kleypas erschienen bei: Avon Books, an Imprint of HarperCollins Publishers, New York
Covergestaltung: büropecher, Köln Coverabbildung: Harlequin Books S.A., Kanuman / Shutterstock Redaktion: Bettina Lahrs E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783955768386
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Mr. Winterborne, eine Frau wünscht Sie zu sprechen.«
Rhys blickte mürrisch von den Papieren auf seinem Schreibtisch auf.
Mrs. Fernsby, seine Privatsekretärin, eine adrette, zur Fülle neigende Frau in mittleren Jahren stand auf der Türschwelle seines Büros und musterte ihn hinter runden Brillengläsern.
»Sie wissen, dass ich um diese Zeit keine Besucher empfange.« Als morgendliches Ritual verbrachte er die erste halbe Stunde des Tages damit, seine Korrespondenz ungestört zu lesen.
»Ja, Sir, aber es handelt sich um eine Dame, die …«
»Es ist mir einerlei, ob sie die verdammte Königin ist«, schimpfte er. »Schicken Sie sie weg!«
Mrs. Fernsby presste die Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander und verschwand. Die Absätze ihrer Schuhe klapperten im Stakkato auf dem Fußboden.
Rhys wandte sich wieder dem Schreiben in seiner Hand zu. Nur selten gestattete er sich, die Geduld zu verlieren, aber seit einer Woche war er von düsterer Schwermut befallen, und jeder, der es wagte, ihn zu stören, bekam seine schlechte Laune zu spüren.
Alles wegen einer Frau, an die er keinen einzigen Gedanken verschwenden sollte.
Lady Helen Ravenel … eine junge Dame, kultiviert, unschuldig, schüchtern und aristokratisch. All das, was er nicht war.
Ihre Verlobung hatte nur zwei Wochen gedauert, bis Rhys es vollbracht hatte, alles zu ruinieren. Bei seiner letzten Begegnung mit Helen war er ungeduldig und fordernd gewesen und hatte sie geküsst, wonach er sich lange gesehnt hatte. Sie hatte sich in seinen Armen verkrampft und ihn brüsk von sich gestoßen. Ihre Verachtung hätte nicht deutlicher sein können. Die Szene hatte mit Tränen ihrerseits und Zorn seinerseits geendet.
Am nächsten Tag hatte Lady KathleenTrenear, die Witwe von Helens verstorbenem Bruder, ihn aufgesucht und zur Rede gestellt. Helen sei so niedergeschlagen, dass sie einen Migräneanfall erlitten habe.
»Sie will Sie nie wiedersehen«, hatte Kathleen unverblümt erklärt.
Rhys konnte es Helen nicht verdenken, die Verlobung gelöst zu haben. Sie passten eindeutig nicht zueinander. Sein Wunsch, die Tochter einer aristokratischen Familie zur Frau zu nehmen, verstieß gegen alle Regeln der Gesellschaft, auch gegen den Willen Gottes. Bei all seinem Reichtum hatte Rhys weder die Manieren noch die Erziehung eines Gentlemans vorzuweisen. Mit seinem gebräunten Gesicht, der schwarzen Haarmähne und der Muskelkraft eines Arbeiters glich er auch im Aussehen nicht einem feinen Herrn.
Im Alter von dreißig Jahren hatte er aus dem kleinen Laden seines Vaters in der High Street das größte Warenhaus Großbritanniens gemacht. Er besaß Fabriken, Handelshäuser, Ländereien, Pferdegestüte, Wäschereien und Mietshäuser in der Stadt. Er saß im Vorstand von Reedereien und Eisenbahngesellschaften. So erfolgreich er auch sein mochte, die Grenze, die durch die Tatsache gezogen wurde, als Sohn eines Gemüsehändlers geboren zu sein, würde er nie überschreiten können.
Erneutes Klopfen holte ihn aus seinen Grübeleien. Mit finsterer Miene blickte er auf, als Mrs. Fernsby erneut eintrat.
»Was wollen Sie noch?«, fragte er ungehalten.
Die Sekretärin rückte ihre Brille gerade und antwortete resolut: »Falls Sie nicht wünschen, die Dame gewaltsam entfernen zu lassen, besteht sie darauf, so lange zu warten, bis Sie mit ihr sprechen.«
Rhys’ Ärger verwandelte sich in Verblüffung. Keine Frau seines Bekanntenkreises, ob respektabel oder nicht, würde es wagen, ihm Bedingungen zu stellen. »Ihr Name?«
»Will sie nicht nennen.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wie hatte es die Besucherin überhaupt geschafft, bis zu ihm vorzudringen? Er bezahlte eine kleine Armee von Wachleuten, die ihn vor lästigen Unterbrechungen schützten. Ein absurder Gedanke schoss ihm durch den Sinn, der seinen Puls beschleunigte.
»Wie sieht sie aus?«, fragte er beklommen.
»Sie trägt Trauer und einen Gesichtsschleier. Schlank, mit leiser Stimme.« Nach kurzem Zögern ergänzte Mrs. Fernsby trocken: »Ihre Ausdrucksweise ist ausgesprochen kultiviert.«
Als ihm die Erkenntnis dämmerte, spürte er einen Stich der Sehnsucht, der ihm die Brust verengte. »Yr Dduw«, knurrte er. Es schien unmöglich zu sein, dass Helen ihn aufsuchte. Aber irgendwie ahnte er, dass sie es war, spürte es bis ins Knochenmark. Wortlos stand er auf und eilte mit langen Schritten an Mrs. Fernsby vorbei.
»Mr. Winterborne«, entfuhr es der Sekretärin, die ihm folgte. »Sie sind in Hemdsärmeln. Ihr Gehrock …«
Rhys achtete nicht auf sie und betrat sein mit Ledersesseln ausgestattetes Vorzimmer.
Beim Anblick der Besucherin hielt er jäh inne und zog den Atem scharf ein.
Der Trauerschleier verbarg Helens Gesicht, aber er erkannte ihre aufrechte Haltung und ihre gertenschlanke Figur.
Er musste sich zwingen, näher zu treten. Unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, stand er vor ihr. Groll schnürte ihm die Kehle zu, und dennoch atmete er gierig ihren süßen Duft ein. Ihre Gegenwart erregte ihn, Hitze durchströmte ihn, sein Herzschlag trommelte gegen seine Rippen.
Aus einem der angrenzenden Büroräume drang das Klappern von Schreibmaschinen in die Stille.
Es war unverzeihlich von Helen, ihn ohne Begleitung aufzusuchen. Ihr Ruf könnte darunter leiden. Er musste sie unverzüglich nach Hause schicken, bevor jemand sie erkannte.
Aber zuvor wollte Rhys wissen, was sie zu ihm geführt hatte. Sie war zwar behütet und unschuldig, aber sie war nicht dumm und würde dieses enorme Risiko nicht ohne guten Grund eingehen.
Er wandte sich an Mrs. Fernsby. »Meine Besucherin bleibt nicht lange. Sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden.«
»Ja, Sir.«
Sein Blick richtete sich wieder auf Helen.
»Kommen Sie mit mir«, befahl er barsch und wandte sich zum Gehen.
Stumm tat sie, wie ihr geheißen, ihre Röcke streiften raschelnd die Wand des schmalen Flures. Ihre Kleidung war altmodisch und abgetragen, ein deutlicher Hinweis auf verarmte Verhältnisse. War das der Grund ihres Besuches? Befanden die Ravenels sich in dringenden Geldnöten, die sie trotz ihrer Abneigung dazu veranlassten, seine Frau werden zu wollen?
Bei Gott, dachte Rhys grimmig, er würde es genießen, wenn sie ihn bat, sie zurückzunehmen. Natürlich würde er ablehnen und sie mit Genugtuung leiden sehen, als Vergeltung für die Qualen, die er in der letzten Woche ausgestanden hatte. Jeder, der es gewagt hatte, sich mit ihm anzulegen, könnte ihr bestätigen, dass er weder Gnade noch Vergebung kannte.
Sie betraten sein weitläufiges Büro mit hohen Doppelfenstern und weichen, edlen Teppichen auf dem Parkett. Auf dem riesigen Schreibtisch aus poliertem Walnussholz stapelten sich Akten und Dokumente.
Rhys nahm ein Stundenglas zur Hand und drehte es mit ausladender Geste um. Der Sand würde in exakt fünfzehn Minuten die untere Hälfte des Glastrichters füllen. Sie sollte wissen, dass sie sich in seiner Welt befand, in der Zeit eine große Rolle spielte, über die nur er bestimmte.
Er wandte sich Helen mit spöttisch hochgezogenen Brauen zu. »Letzte Woche wurde ich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie …«
Er stockte mitten im Satz, als Helen ihren Schleier zurückschlug und ihn mit dem sanften Ernst ansah, der ihn schon bei ihrer ersten Begegnung fasziniert hatte. Ihre Augen glänzten wie silbriger Dunst im Mondlicht. Ihr feines hellblondes Haar war zu einem Chignon im Nacken geschlungen, nur eine seidig schimmernde Locke umschmeichelte ihr linkes Ohr.
Zum Teufel mit ihr! Und mit ihrer Schönheit!
»Bitte verzeihen Sie.« Helen fixierte ihn unverwandt. »Dies ist die erste Gelegenheit, die sich mir bot, um Sie aufzusuchen.«
»Sie dürften nicht hier sein.«
»Es gibt Dinge, die ich mit Ihnen besprechen muss.« Sie warf einen scheuen Blick zu einem Stuhl. »Wenn Sie nichts dagegen haben …«
»Setzen Sie sich.« Rhys machte keine Anstalten, ihr behilflich zu sein. Da Helen keinen Gentleman in ihm sah, würde er sich auch nicht so benehmen. Er setzte sich halb auf die Kante seines Schreibtischs und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie haben nicht viel Zeit«, sagte er kalt und nickte knapp zur Sanduhr. »Nutzen Sie sie.«
Helen nahm Platz, ordnete ihre Röcke und streifte die schwarzen Handschuhe ab.
Rhys wurde der Mund trocken beim Anblick ihrer zarten Finger. Sie hatte für ihn Klavier gespielt in Eversby Priory, dem Anwesen ihrer Familie. Fasziniert hatte er dem flinken Spiel ihrer Finger zugesehen, die wie kleine weiße Vogelschwingen über die Tasten flatterten. Aus einem unerfindlichen Grund trug sie noch immer seinen Verlobungsring, den lupenreinen Diamanten im Rosenschliff, der sich kurz an ihrem Handschuh verhakte.
Ihr schwarzer Schleier hing ihr wie eine Rauchwolke über den Rücken. Helen begegnete seinem Blick in dem knisternden Schweigen, ein rosiger Hauch überflog ihre Wangen. »Mr. Winterborne, ich hatte meine Schwägerin nicht gebeten, Sie letzte Woche aufzusuchen. Ich fühlte mich unpässlich, wusste jedoch, was Kathleen vorhatte …«
»Sie sagte, Sie sind krank.«
»Ich hatte nur Kopfschmerzen, mehr nicht …«
»Anscheinend war ich der Grund dafür.«
»Kathleen machte zu viel Aufhebens darum …«
»Sie sagte, Sie wollten mich nie wiedersehen.«
Ihr rosiger Hauch vertiefte sich. »Ich wünschte, sie hätte diese Worte nicht wiederholt«, entfuhr es ihr aufbrausend und beschämt. »Ich habe es nicht so gemeint. Mein Kopf schmerzte, und ich bemühte mich, die Dinge zu begreifen, die tags zuvor geschahen, als Sie mich aufsuchten und …« Sie senkte den Blick auf ihren Schoß. Das Licht vom Fenster ließ ihr hellblondes Haar aufleuchten. Ihre gefalteten Hände schienen etwas zu verbergen. »Ich muss mit Ihnen darüber sprechen«, fuhr sie leise fort. »Ich wünsche mir so sehr, zu … zu einem Einverständnis mit Ihnen zu gelangen.«
Etwas in ihm erkaltete. Rhys war von zu vielen Menschen um Geld gebeten worden, um nicht zu wissen, was ihn nun erwartete. Helen unterschied sich nicht von anderen Bittstellern. Obgleich er es ihr nicht verdenken konnte, wollte er ihre Beweggründe nicht hören, wie sehr er in ihrer Schuld stand und warum. Er wollte ihr lieber sofort eine Summe anbieten und die Sache hinter sich bringen.
Gott allein wusste, wieso er eine vage, törichte Hoffnung genährt hatte, sie hätte ein anderes Anliegen an ihn. Aber das war der Lauf der Welt seit jeher, daran würde sich nie etwas ändern. Männer begehrten schöne Frauen, und Frauen ließen reiche Männer dafür bezahlen. Er hatte Helen gedemütigt, weil er seine unwürdigen Pranken auf sie gelegt und sie geküsst hatte. Und nun forderte sie, dafür entschädigt zu werden.
Er begab sich hinter seinen Schreibtisch, zog eine Schublade auf, holte ein Scheckbuch hervor, griff zur Feder, stellte eine Zahlungsanweisung über zehntausend Pfund aus und reichte Helen den Scheck.
»Niemand muss erfahren, woher das Geld kommt«, erklärte er geschäftsmäßig. »Sollten Sie über kein Bankkonto verfügen, lasse ich ein Konto in Ihrem Namen eröffnen.« Keine Bank gestattete einer Frau, ein Konto in ihrem Namen zu eröffnen. »Seien Sie versichert, die Angelegenheit wird mit äußerster Diskretion behandelt.«
Helen sah ihn fassungslos an, bevor sie einen Blick auf den Scheck warf. »Warum sollten Sie …« Beim Anblick der Summe atmete sie hörbar ein. Ihr entsetzter Blick fiel wieder auf ihn. »Wieso?« Ihr Atem ging stoßweise.
Verwirrt über ihre Reaktion, furchte Rhys die Stirn. »Sie wünschen doch, zu einem Einverständnis mit mir zu kommen.«
»Nein, ich meinte … also ich wünsche mir, dass wir einander verstehen.« Mit fliegenden Fingern zerriss sie das Papier. »Ich brauche kein Geld. Selbst wenn, würde ich Sie niemals darum bitten.« Papierfetzen segelten wie Schneeflocken durch die Luft.
Verdutzt sah Rhys, wie sie ein kleines Vermögen vernichtete. In einer Mischung aus Ratlosigkeit und Verlegenheit erkannte er, dass er sie missverstanden hatte. Was zum Teufel wollte sie dann von ihm?
Helen holte mehrmals tief Luft, um ihre Fassung wiederzuerlangen, erhob sich und näherte sich ihm. »Meiner Familie ist so etwas wie … ein unverhoffter Glückstreffer zugefallen. Wir verfügen nun über die nötigen Mittel, um meine Schwestern und mich mit einer Mitgift auszustatten.«
Rhys sah sie mit versteinerter Miene an, während er sich bemühte, ihre Worte zu begreifen. Sie stand zu dicht vor ihm. Ihr Duft nach Vanille und Orchideen wehte ihm mit jedem Atemzug in die Nase. Sein Blut erhitzte sich. Er wollte sie auf den Rücken über seinen Schreibtisch werfen …
Er zwang sich, das lüsterne Bild zu verdrängen. Hier in der Sachlichkeit seines Büros, im Maßanzug und glänzenden Oxfordschuhen, war er sich noch nie wie ein primitiver Rohling vorgekommen. Verzweifelt darauf bedacht, Abstand zu gewinnen, sprang er auf die Füße und nahm seine Position auf der Schreibtischkante wieder ein, während Helen sich unbeirrt näherte, bis ihre Röcke seine Knie streiften.
Sie erinnerte ihn an eine Gestalt aus einem walisischen Märchen, an eine Nymphe, die dem Nebel über dem See entstiegen war. Es war etwas Überirdisches an ihrem zart schimmernden Porzellanteint, dem faszinierenden Kontrast ihrer dunklen Wimpern und fein geschwungenen Augenbrauen zum silberblonden Haar. Und diese Augen … kühle blaue Transparenz, umrandet von einem dunklen Wimpernkranz.
Sie hatte etwas von einem Glückstreffer gesagt. Was meinte sie damit? Eine unerwartete Erbschaft? Ein Geschenk? Eine lukrative Investition vielleicht? Was er für ausgeschlossen hielt, da die Familie für ihren Leichtsinn im Umgang mit Geld berüchtigt war. Was immer dieser Glücksfall bedeuten mochte, Helen schien zu glauben, die finanziellen Probleme ihrer Familie seien gelöst. Sollte dies der Wahrheit entsprechen, bot sich ihr in London eine reiche Auswahl an Heiratskandidaten.
Mit diesem Besuch setzte sie allerdings ihre Zukunft aufs Spiel. Ihr guter Ruf war in Gefahr. Er könnte ihr in seinem Büro Gewalt antun, und kein Mensch würde einen Finger rühren, um ihr beizustehen. Ihre einzige Rettung bestand darin, dass Rhys nicht den Wunsch hatte, etwas so Schönes und Zartes wie diese Frau zu zerstören.
Um ihretwillen musste er sie fortschaffen, so schnell und diskret wie möglich. Widerstrebend löste er den Blick von ihr und starrte auf einen Punkt an der holzgetäfelten Wand.
»Ich begleite Sie durch eine private Hintertür aus dem Gebäude«, murmelte er. »Sie fahren nach Hause, ohne dass jemand etwas bemerkt.«
»Ich entbinde Sie nicht aus unserer Verlobung«, erklärte Helen sanft.
Er musterte sie, während sich ein Pfeil in seine Brust bohrte. Ohne zu blinzeln, wartete Helen geduldig auf seine Antwort.
»Mylady, wir beide wissen, dass ich der letzte Mann bin, den Sie zu heiraten wünschen. Vom ersten Augenblick an habe ich Ihre Abneigung gegen mich verspürt.«
»Abneigung?«
Gekränkt von ihrer gespielten Überraschung, fuhr er wütend fort: »Sie zuckten bei jeder meiner Berührungen zurück. Sie richteten beim Dinner kein Wort an mich. Die meiste Zeit brachten Sie es nicht einmal über sich, mich anzusehen. Und als ich Sie letzte Woche geküsst habe, stießen Sie mich von sich und brachen in Tränen aus.«
Er hatte erwartet, Helen schäme sich, bei einer Lüge ertappt worden zu sein, stattdessen sah sie ihn ernsthaft und bekümmert an. »Ich bin einfach zu schüchtern«, gestand sie schließlich. »Ich muss mir größere Mühe geben, meine Hemmungen abzulegen. Mein Verhalten hatte nichts mit Abneigung zu tun. Um ehrlich zu sein, Ihre Nähe machte mich aufgeregt. Weil …« Eine tiefe Röte kroch vom Kragen ihres hochgeschlossenen Kleides über ihren Hals und übergoss ihr Gesicht bis zu den Haarwurzeln. »Weil Sie sehr attraktiv sind«, ergänzte sie leise, »und weltgewandt, und ich möchte nicht, dass Sie mich für töricht halten. Und was diesen Kuss betrifft, das … das war mein erster Kuss. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und fühlte mich … ziemlich überwältigt.«
Im Gewirr seiner Gedanken schoss es Rhys durch den Sinn, dass er froh sein konnte, am Schreibtisch zu lehnen, sonst hätten seine Beine gezittert. War es möglich, dass das, was er für Abneigung gehalten hatte, tatsächlich ihre Scheu gewesen war? Was er als Verachtung empfunden hatte, ihrer Unschuld zuzuschreiben war? Er hatte das Gefühl, das Herz würde ihm aufgerissen. Wie leicht hatte Helen ihm den Wind aus den Segeln genommen? Ein paar Worte von ihr, und er war bereit, vor ihr auf die Knie zu sinken.
Ihr erster Kuss, den er ihr, ohne sie darum zu bitten, geraubt hatte.
Er hatte es nie nötig gehabt, die Rolle des Verführers zu spielen. Frauen waren stets willig und schienen zu genießen, was immer er im Bett mit ihnen anstellte. Unter seinen Gespielinnen hatte es auch einige Ladys gegeben: die Frau eines Diplomaten; eine Countess, deren Gemahl eine ausgedehnte Reise auf dem Kontinent machte. Alle hatten ihn wegen seiner Vitalität, Ausdauer und seiner stattlichen Männlichkeit gepriesen und keine Forderungen an ihn gestellt.
Seine Statur und sein Charakter waren stark und hart wie der Schiefer, der aus den Flanken von Elidir Fawr geschlagen wurde – Snowdon, wie die Engländer ihn nannten – der Berg bei Llanberis, wo er geboren worden war. Er hatte keine feinen Manieren und keinen vornehmen Stammbaum vorzuweisen. Schwielen hatten sich wie Brandzeichen in seine Handflächen eingeprägt, aus seiner Zeit als Zimmermann und Lastenträger. Er war stark wie ein Stier, und wenn er über Helen hergefallen wäre, hätte er ihr gewiss wehgetan.
Zur Hölle! Was hatte er sich eigentlich gedacht? Er hätte niemals in Erwägung ziehen dürfen, sie zu heiraten. Zu sehr geblendet von seinen Ambitionen – und von Helens sanftmütiger Schönheit – hatte er nicht an Konsequenzen für sie gedacht.
In bitterer Erkenntnis seiner Unzulänglichkeiten erklärte er grollend: »Demnächst haben Sie Ihr Gesellschaftsdebüt und werden den Mann kennenlernen, der für Sie bestimmt ist. Und dieser Mann bin bei Gott nicht ich.«
Er machte Anstalten, sich von der Schreibtischkante zu erheben, doch Helen kam noch näher und stellte sich zwischen seine gespreizten Beine. Der zaghafte Druck ihrer Hand an seiner Brust befeuerte sein Verlangen. Rhys sank auf die Schreibtischkante, seine ganze Willenskraft auf seine schwindende Selbstbeherrschung konzentriert. Er war erschreckend nahe daran, sich mit ihr auf den Boden zu werfen. Sie zu verschlingen.
»Würden Sie … würden Sie mich noch einmal küssen?«, fragte sie.
Er schloss die Augen, Wut brodelte in ihm hoch. Welchen Streich spielte ihm das Schicksal, diesem zarten Wesen begegnet zu sein? Um ihn dafür zu bestrafen, höher hinauszuwollen als ihm gebührte?
»Ich kann kein Gentleman werden«, sagte er heiser. »Nicht einmal für Sie.«
»Sie müssen kein Gentleman sein … nur sanft mit mir umgehen.«
Niemand hatte ihn je darum gebeten. In ihm war nichts Sanftes. Seine Hände umklammerten die Schreibtischkante so fest, dass das Holz knackte.
»Cariad … an meinem Verlangen ist nichts Sanftes.« Er erschrak über das Kosewort, das ihm entschlüpft war, mit dem er keine Frau zuvor bedacht hatte.
Helen berührte seine Wange, unter ihren Fingern brannte seine Haut.
Seine Muskeln verkrampften, sein Körper versteinerte.
»Versuchen Sie es«, hörte er sie flüstern. »Für mich.«
Und ihre weichen Lippen pressten sich auf seinen Mund.
Zart und schüchtern strich Helen mit den Lippen über seinen Mund, ohne eine Reaktion zu erhalten. Nicht die geringste Ermunterung.
Nach einem Moment zog sie sich unsicher zurück.
Schwer atmend sah Rhys sie mit dem drohenden Blick eines Wachhundes an.
In ihrer Beklommenheit wusste Helen nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Sie wusste wenig über Männer. Eigentlich gar nichts. Seit ihrer frühen Kindheit hatten sie und ihre jüngeren Schwestern Pandora und Cassandra in der Abgeschiedenheit des Landsitzes ihrer Familie gelebt. Die Bediensteten in Eversby Priory waren stets ehrerbietig, die Pächter und Kaufleute aus der Stadt hielten respektvolle Distanz zu den drei Töchtern des Earls.
Von ihren Eltern vernachlässigt, von ihrem Bruder Theo ignoriert, der die meiste Zeit seines kurzen Lebens in Internaten und später in London verbracht hatte, hatte Helen sich in ihre Bücher und ihre Fantasiewelt vergraben. Ihre Helden waren Romeo, Heathcliff, Mr. Darcy, Edward Rochester, Sir Lancelot, Sydney Carton und eine Reihe goldblonder Märchenprinzen.
Allem Anschein nach würde sie nie von einem Mann aus Fleisch und Blut verehrt werden, nur in ihren Träumen von den Helden aus ihren Büchern. Doch vor zwei Monaten hatte Cousin Devon, der Theos Titel geerbt hatte, seinen Freund Rhys Winterborne eingeladen, das Weihnachtsfest mit der Familie zu verbringen – und damit hatte sich alles geändert.
Helen hatte Mr. Winterborne an dem Tag, an dem er mit gebrochenem Bein ins Herrenhaus gebracht worden war, zum ersten Mal gesehen. Während der Reise von London nach Hampshire war der Zug, in dem Devon und Mr. Winterborne saßen, mit einem Güterzug zusammengestoßen. Wie durch ein Wunder hatten beide Männer das Unglück überlebt, wenn auch mit einigen Verletzungen.
Demzufolge hatte Mr. Winterbornes kurzer Besuch sich zu einem vierwöchigen Aufenthalt in Eversby Priory ausgedehnt, bis sein Knochenbruch so weit verheilt war, um die Reise nach London antreten zu können. Selbst mit seiner Verletzung hatte er eine Willenskraft ausgestrahlt, die Helen ebenso interessant wie beunruhigend empfand. Gegen jede Regel der Sittsamkeit verstoßend, hatte sie bei seiner Krankenpflege geholfen. Tatsächlich hatte sie darauf bestanden, unter dem Vorwand reinen Mitgefühls. In Wahrheit war sie von diesem kraftvollen dunkelhaarigen Fremden mit dem rauen Akzent wie dunkle Musik unendlich fasziniert.
Als sein Zustand sich besserte, hatte Mr. Winterborne ihre Gesellschaft gefordert und verlangt, dass sie sich stundenlang mit ihm unterhielt und ihm vorlas. Nie zuvor in Helens Leben hatte ein Mensch solches Interesse an ihr gezeigt.
Mr. Winterborne war bemerkenswert gut aussehend, nicht wie ein edler Märchenprinz, aber von atemberaubender Männlichkeit, die ihr Herz in seiner Gegenwart schneller klopfen ließ. Kantig geschnittene Gesichtszüge, kräftige Nase, volle Lippen. Seine Gesichtsfarbe war nicht modisch bleich, sondern tief gebräunt, sein Haar rabenschwarz. An ihm war nichts aristokratisch Selbstsicheres, keine Spur lässiger Eleganz. Er war gebildet, ausgesprochen intelligent, aber er strahlte auch etwas Wildes aus. Ein Hauch von Gefahr, eine gezähmte Glut lauerte unter der Oberfläche.
Nach seiner Abreise war das Haus still und öde gewesen, die Tage monoton. Helen war von Gedanken an ihn verfolgt worden … an seinen Charme, verborgen hinter einer Maske … an sein seltenes Lächeln.
Zu ihrer Enttäuschung schien er nun keineswegs bereit, sie zurückzunehmen. Ihr Verhalten, das ihm als Zurückweisung erschienen war, hatte seinen Stolz tief verletzt, und sie wünschte sich sehnlichst, sich mit ihm auszusöhnen. Könnte sie nur die Zeit zurückdrehen bis zu dem Tag, als er sie in Ravenel House geküsst hatte. Sie würde die Situation völlig anders handhaben. Ihr Verhalten war nur darauf zurückzuführen, dass sie sich so sehr von ihm eingeschüchtert gefühlt hatte. Er hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt und sie geküsst, und sie hatte mit erschrockener Abwehr reagiert. Nach einigen barschen Worten war er gegangen. Seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.
Hätte es in ihren Jungmädchenjahren ein paar Flirts gegeben – ein paar heimliche Küsse von einem jungen Burschen –, wäre ihr die Begegnung mit Mr. Winterborne vielleicht nicht so bedrohlich vorgekommen. Aber sie hatte keinerlei Erfahrung, und Mr. Winterborne war kein grüner Schuljunge, sondern ein erwachsener Mann im besten Alter.
Das Seltsame daran – ein Geheimnis, das sie niemandem anvertrauen durfte – war, dass sie bei all ihrem Kummer über das, was geschehen war, jede Nacht davon träumte, von Mr. Winterborne geküsst zu werden. In manchen dieser Träume begann er, ihr das Kleid aufzuknöpfen, während er sie leidenschaftlich und wild küsste und seine Zärtlichkeiten in etwas Mysteriösem mündeten, das sie nicht benennen konnte. Sie erwachte jedes Mal atemlos und aufgewühlt, von heißer Scham erfüllt.
Ein Anflug dieses Aufruhrs keimte in ihr auf. »Zeigen Sie mir, wie Sie geküsst werden wollen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Bringen Sie mir bei, wie ich Ihnen Vergnügen bereiten kann.«
Zu ihrer Verblüffung verzog er die Mundwinkel zu einem verächtlichen Lächeln. »Sie wollen wohl auf Nummer sicher gehen, wie?«
Sie blickte verwirrt zu ihm auf. »Auf Nummer sicher …?«
»Sie wollen mich zappeln lassen«, erklärte er, »bis Sie sich Trenears Glücksfall gewiss sein können.«
Helen war bestürzt und gekränkt über den Zorn in seiner Stimme. »Wieso können Sie nicht begreifen, dass ich Sie nicht aus finanziellen Gründen heiraten will?«
»Sie haben meinen Antrag doch nur angenommen, weil Sie keine Mitgift zu erwarten hatten.«
»Das stimmt nicht …«
Er sprach weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Heiraten Sie einen Mann aus Ihren Kreisen, Mylady. Einen Mann vornehmer Herkunft mit guten Manieren. Er kann Ihnen bieten, was Sie sich wünschen. Sie werden in einem hübschen Haus auf dem Land leben, wo Sie Orchideen züchten und Bücher lesen …«
»Das ist genau das Gegenteil von dem, was ich mir wünsche«, widersprach Helen aufbrausend. Es war nicht ihre Art, anderen ins Wort zu fallen, aber in ihrer Verzweiflung vergaß sie ihre ansonsten vorbildlichen Manieren. Er wollte sie fortschicken. Was könnte sie nur tun, um ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn aufrichtig begehrte?
»Ich habe meine ganze Jugend damit verbracht, am Leben der Menschen in Büchern teilzunehmen«, fuhr sie fort. »Meine Welt war … eng und klein. Niemand hat je geglaubt, ich würde reüssieren, wenn ich nicht behütet und zurückgezogen lebe. Wie eine Treibhauspflanze. Wenn ich einen Mann aus meinen Kreisen heirate, wie Sie sich ausdrücken, wird er mich nicht als die Frau sehen, die ich wirklich bin. Nur als das Geschöpf, das ich zu sein habe.«
»Wieso denken Sie, ich könnte anders sein?«
»Weil Sie es sind.«
Sein durchdringender Blick ließ sie an eine Messerklinge denken. Nach einem knisternden Schweigen sagte er schroff: »Sie kennen zu wenige Männer. Gehen Sie nach Hause, Helen. Sie finden einen passenden Mann während der Saison und werden Gott auf Knien danken, dass Sie nicht mich geheiratet haben.«
Helen spürte ein verräterisches Brennen in den Augen. Wieso hatte sie ihn verloren? Krank vor Kummer und Trauer sagte sie tonlos: »Kathleen hätte nicht mit Ihnen über mich sprechen dürfen. Sie glaubte, mich beschützen zu müssen, aber …«
»Sie hatte recht.«
»Aber ich will nicht vor Ihnen beschützt werden.« Ihr war, als watete sie durch Treibsand, ohne einen Schritt voranzukommen. Zu ihrem Verdruss quollen ihr Tränen aus den Augen, ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. »Nur einen Tag hütete ich das Bett wegen meiner Migräne, und als ich am nächsten Morgen erwachte, war unsere Verlobung gelöst. Ich hatte Sie ver… verloren und konnte nicht einmal …«
»Helen, bitte nicht.«
»Ich hielt es nur für ein Missverständnis und dachte, wenn ich persönlich mit Ihnen spreche, wird alles wieder gut und …« Tränen erstickten ihre Stimme. In ihrem Gemütsaufruhr nahm sie kaum wahr, wie Rhys die Hand ausstreckte und brüsk zurückzog.
»Nein, nicht weinen. Um Himmels willen, Helen …«
»Ich wollte Sie nicht zurückweisen, wusste nur nicht, wie ich mich verhalten soll. Was kann ich tun, dass Sie mich wiederhaben wollen?«
Sie rechnete mit einer aufmunternden Bemerkung, vielleicht mit einem Wort des Trostes. Das Letzte, worauf sie gefasst war, war diese Antwort.
»Ich will dich, Cariad. Ich will dich mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Sie blinzelte ihn durch ihren Tränenschleier an, ihr Atem ging stoßweise, von einem Schluckauf befallen wie ein Kind. Im nächsten Augenblick hatte Rhys sie in seine Arme gezogen.
»Sch, sch.« Seine Stimme legte sich wie dunkler Samt um sie. »Still, Bychan, mein Täubchen. Nichts ist deiner Tränen wert.«
»Sie sind es.«
Winterborne wurde ganz still. Nach einer Weile wischte er ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgerollt wie ein Arbeiter. Seine Unterarme waren muskulös und dicht behaart, seine Handgelenke kräftig. Ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit hüllte sie ein. Sie atmete seinen Geruch nach frisch gestärkter Wäsche und Rasierseife.
Behutsam umfasste er ihr Kinn. Seinem Atem, der ihre Wange streifte, haftete ein Geruch nach Pfefferminze an. Sie hob ihm mit geschlossenen Augen ihr Gesicht entgegen, fühlte sich schwerelos, wie auf Wolken schwebend.
Wärme strich über ihre Lippen, ein sanfter Windhauch. Eine leichte Berührung an ihren empfindsamen Mundwinkeln, an ihrer Unterlippe.
Seine freie Hand stahl sich unter ihren Schleier und umfing ihren Nacken. Zart bedeckte er ihre Lippen mit den seinen. Mit seinem rauen Daumen fuhr er ihr über die Unterlippe, ein Kribbeln breitete sich in Helen aus. Sie fühlte sich plötzlich schwindlig, das Atmen fiel ihr schwer.
Sie reckte sich ihm entgegen, sehnte sich nach seinem tiefen Kuss wie in ihren Träumen. Er zwang sie vorsichtig, den Mund zu öffnen. Bebend gewährte sie seiner Zunge Einlass, kostete den Pfefferminzgeschmack, die Weichheit seiner Zunge, als er bedächtig anfing, die ihre zu umspielen. Eine Berührung, die sie mit prickelnden Schauern bis in die Zehenspitzen durchströmte. Sie schlang ihm die Arme um den Nacken und streichelte sein dichtes schwarzes Haar. Oh ja, danach hatte sie sich gesehnt, nach seinem leidenschaftlichen Kuss, während er sie in den Armen hielt, als wollte er mit ihr verschmelzen.
Sie hatte sich nie vorgestellt, von einem Mann geküsst zu werden, als wären Küsse wie Worte eines Gedichts, wie Honig, der ihre Zunge umschmeichelte. Er umfing ihr Gesicht mit beiden Händen, seine geöffneten Lippen wanderten ihren Hals entlang, knabberten an ihrer zarten Haut. Sie atmete scharf ein, als er eine besonders empfindsame Stelle fand. Die Knie drohten, ihr den Dienst zu versagen. Er zog sie enger an sich, sein Mund fand zu ihren Lippen zurück. Es gab keinen Gedanken mehr, keinen Willen, nur ein sinnlich dunkles Verlangen, während Mr. Winterborne sie mit rasender Glut küsste, und sie glaubte beinahe zu spüren, wie seine Seele nach ihr rief.
Und dann hielt er inne, entzog sich ihr jäh und löste ihre Arme von seinem Nacken. Ein Protestlaut entrang sich Helens Kehle, als er sie beinahe gewaltsam von sich schob. Verwirrt sah sie, wie Mr. Winterborne zum Fenster ging. Er hatte sich erstaunlich rasch von dem Zugunglück erholt, hinkte kaum noch. Mit dem Rücken zu ihr blickte er über die grüne Oase des Hyde Parks. Als er seine Faust gegen den Fensterrahmen stemmte, sah sie, dass seine Hand zitterte.
Schließlich stieß er den Atem stockend aus. »Das hätte ich nicht tun dürfen.«
»Es war mein Wunsch.« Helen errötete über ihre freizügige Rede. »Ich … wünschte nur, es wäre beim ersten Mal auch so gewesen.«
Er schwieg und zerrte gereizt an seinem steifen Hemdkragen.
Helen bemerkte, dass die Sanduhr durchgelaufen war, trat an den Schreibtisch, drehte sie um und sah zu, wie der dünne Sandstrahl die Sekunden zählte. »Ich hätte offener mit Ihnen sein müssen, aber es fällt mir schwer, das auszudrücken, was ich denke und empfinde. Und ich war betrübt über Kathleens Worte. Sie sagte, Sie hätten mich nur als … nun ja, als Preis gesehen, den Sie gewinnen wollten. Ich fürchtete, sie könnte damit recht haben.«
Mr. Winterborne wandte sich ihr zu und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. »Ja, sie hatte recht«, antwortete er zu ihrem Erstaunen. »Sie sind schön wie der Mondschein, Cariad, und ich bin kein Mann von hoher Gesinnung. Ich bin ein ungehobelter Rüpel aus North Wales, der Gefallen an schönen Dingen findet. Ja, Sie waren ein begehrter Preis für mich. Aber ich begehrte Sie nicht nur aus diesem Grund.«
Die Freude über sein Kompliment schwand am Ende seiner Worte. »Warum sprechen Sie in der Vergangenheit?« Sie blinzelte verstört. »Sie … Sie begehren mich noch immer, stimmt’s?«
»Das tut nichts zur Sache. Trenear wird niemals seine Einwilligung zu dieser Verbindung geben.«
»Er war es, der den Vorschlag zuerst machte. Solange ich klarstellte, dass es mein ausdrücklicher Wunsch ist, Sie zu heiraten. Ich bin sicher, dass er damit einverstanden ist.«
Es entstand eine bedrückend lange Pause. »Man hat Sie also nicht davon unterrichtet.«
Helen sah ihn fragend an.
Mr. Winterborne steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ich habe bei Kathleens Besuch einen Fehler gemacht. Nachdem sie mir sagte, Sie wollen mich nicht wiedersehen, habe ich …« Er verstummte mit zusammengepressten Lippen.
»Was haben Sie?«, hakte Helen stirnrunzelnd nach.
»Es hat nichts zu bedeuten. Trenear unterbrach uns, als er Kathleen abholen wollte. Wir gerieten uns beinahe in die Haare.«
»Was unterbrach er? Was haben Sie getan?«
Er wandte den Blick ab, seine Miene verhärtete sich. »Ich habe Kathleen gekränkt. Mit einem unsittlichen Angebot.«
Sie bekam große Augen. »War es Ihnen ernst damit?«
»Natürlich nicht«, lautete seine barsche Antwort. »Ich habe sie nicht einmal angefasst. Ich wollte Sie, Helen. Der kleine Zankteufel interessiert mich nicht. Ich war nur wütend wegen ihrer Einmischung.«
Helen bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. »Sie müssen sich bei ihr entschuldigen.«
»Sie sollte sich bei mir entschuldigen«, entgegnete er ungehalten, »mich um meine Ehefrau gebracht zu haben.«
Helen geriet in Versuchung, ihn auf seine mangelhafte Beweisführung aufmerksam zu machen. Aufgewachsen in einer Familie, berüchtigt für ihren Jähzorn und Eigensinn, wusste sie, wann es zu schweigen galt. Im Moment war Mr. Winterborne zu sehr in seinem Gemütsaufruhr gefangen, um für sein Fehlverhalten geradezustehen.
Aber offenbar hatte er sich schlecht benommen, und selbst wenn Kathleen ihm vergab, bestand kaum Aussicht, dass Devon ihm je verzeihen würde.
Devon war bis über beide Ohren in Kathleen verliebt, dazu kamen Eifersucht und Besitzansprüche, Wesenszüge, unter denen die Ravenels seit Generationen litten. Devon war zwar vernünftiger als seine Vorfahren, was allerdings nicht viel hieß. Ein Mann, der Kathleen verletzt oder gar bedroht hatte, war seiner ewigen Rache sicher.
Das war also der Grund, warum Devon seine Einwilligung zur Verlobung unverzüglich zurückgezogen hatte. Aber die Tatsache, dass weder er noch Kathleen Helen davon in Kenntnis gesetzt hatten, war empörend. Grundgütiger, wann würde diese Familie endlich damit aufhören, sie wie ein Kind zu behandeln?
»Wir könnten durchbrennen«, sagte sie zögernd, obwohl ihr die Idee nicht sonderlich behagte.
Mr. Winterborne knurrte finster: »Ich bestehe auf einer kirchlichen Trauung. Wenn wir durchbrennen, würde kein Mensch glauben, dass Sie freiwillig mit mir geflohen sind. Ich lasse mir verdammt nochmal nicht nachsagen, ich hätte meine Braut entführt.«
»Es gibt keine Alternative.«
Im bedeutungsschweren Schweigen spürte Helen, wie die feinen Härchen an ihren Armen sich sträubten.
»Es gibt eine.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, in seinem Blick lag etwas von einem Raubtier. Lauernd. Berechnend. Blitzschnell erkannte sie den Grund, warum die Menschen Mr. Winterborne mit Angst und Ehrfurcht begegneten: Er war ein Pirat in der Maske eines Geschäftsmannes.
»Für mich besteht die Alternative darin«, erklärte er sachlich, »mit Ihnen zu schlafen.«
Im Chaos ihrer Gedanken wich Helen zur Bücherwand zurück.
»Ich verstehe nicht«, murmelte sie, obwohl sie befürchtete, verstanden zu haben.
Mr. Winterborne folgte ihr bedächtig. »Trenear wird einwilligen, wenn er herausfindet, dass ich Sie kompromittiert habe.«
»Ich ziehe es vor, nicht kompromittiert zu werden.« Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Das Korsett schnürte ihr die Luft ab wie ein Eisenpanzer.
»Aber Sie wollen mich heiraten.« Er stand dicht vor ihr, legte eine Hand an das Bücherregal und hielt sie so gefangen. »Habe ich recht?«
Moralisch gesehen stellte Beischlaf vor der Ehe eine Todsünde dar. In praktischer Hinsicht bedeutete der Beischlaf mit ihm ein enormes Risiko für sie.
Ein grauenvoller Gedanke ließ sie erbleichen. Wenn Mr. Winterborne mit ihr schlief und sich danach weigerte, sie zu heiraten? Wenn er zu dieser Vergeltung imstande war, sie zu entehren und fallen zu lassen? Kein Gentleman würde ihr je einen Antrag machen. Jede Hoffnung, eine eigene Familie zu gründen, wäre zunichte gemacht. Sie wäre eine Last für ihre Verwandtschaft, verdammt zu einem Leben in Schande und Abhängigkeit. Sollte sie empfangen, würde die Gesellschaft sie mitsamt ihrem Kind verstoßen. Selbst wenn sie nicht empfing, würde ihre Schande auch die Heiratsaussichten ihrer jüngeren Schwestern erheblich schmälern.
»Wie kann ich mich darauf verlassen, dass Sie mich hinterher nicht sitzen lassen?«, fragte sie bang.
Mr. Winterbornes Miene verfinsterte sich. »Abgesehen von der Frage nach meinem Charakter, wie lange würde Trenear mich am Leben lassen, wenn ich so etwas Schändliches in Erwägung zöge? Er würde mir bei nächster Gelegenheit eine Kugel durch den Kopf jagen.«
»Das wäre ihm zuzutrauen«, murmelte Helen düster.
Er ignorierte ihren Einwurf. »Ich würde Sie niemals im Stich lassen. Wenn ich Sie in mein Bett nehme, sind Sie mein im Namen Gottes und der Menschen, so gewiss, als legten wir unser Gelübde vor einem Schwurstein ab.«
»Was ist das?«
»Ein Heiratsritual in Wales. Ein Mann und eine Frau legen ihr Hochzeitsgelübde ab mit einem Stein in ihren verschränkten Händen. Nach der Zeremonie gehen sie an einen See und werfen den Stein ins Wasser. Von diesem Moment an sind sie einander verbunden, so lange die Welt besteht.« Sein Blick verschmolz mit dem ihren. »Geben Sie mir das, worum ich Sie bitte, und es wird Ihnen nie wieder an etwas mangeln.«
Helen fühlte sich überwältigt. Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken«, sagte sie leise.
Mr. Winterbornes Entschluss schien sich durch ihr Zögern nur zu festigen. »Ich biete Ihnen Geld und Ländereien. Ein Pferdegestüt. Ein Palais in London, Bedienstete, die Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Mir ist kein Preis zu hoch. Alles, was Sie tun müssen, ist, mit mir zu schlafen.«
Helen rieb sich die pochenden Schläfen in der bangen Furcht, es kündigte sich wieder ein Migräneanfall an. »Könnten wir nicht einfach behaupten, Sie hätten mich kompromittiert? Devon wird mich beim Wort nehmen.«
Mr. Winterborne schüttelte den Kopf, noch ehe sie den Satz beendet hatte. »Ich brauche eine bindende Zusage. So sind die Gepflogenheiten bei Geschäftsabschlüssen.«
»Aber das ist kein Geschäftsvertrag«, protestierte sie.
Er blieb eisern. »Ich will eine Rückversicherung, falls Sie Ihre Meinung vor der Hochzeit ändern.«
»Das würde ich nicht tun. Vertrauen Sie mir nicht?«
»Ja. Aber ich vertraue Ihnen mehr, nachdem wir miteinander geschlafen haben.«
Dieser Mann war unmöglich. Helen suchte verzweifelt nach einer anderen Lösung, die sie ihm entgegensetzen könnte, spürte jedoch, wie er mit jeder Sekunde hartnäckiger auf seiner Forderung bestand.
»Es geht Ihnen um Ihren Stolz«, meinte sie ungehalten. »Sie waren gekränkt und verärgert, weil Sie dachten, ich hätte Sie zurückgewiesen, und nun wollen Sie mich bestrafen, obwohl mich keine Schuld trifft.«
»Bestrafen?« Spöttisch ließ er die dunklen Brauen in die Höhe schnellen. »Noch vor fünf Minuten erwiderten Sie meine Küsse voller Leidenschaft.«
»Ihr Vorschlag geht weit über Küsse hinaus.«
»Kein Vorschlag«, erklärte er sachlich. »Ein Ultimatum.«
Helen starrte ihn ungläubig an.
Entweder ging sie darauf ein oder sie lehnte ab. Irgendwann würde sie einen geeigneten Mann kennenlernen, den ihre Familie akzeptierte. Einen Landedelmann, verbindlich und höflich zurückhaltend, mit hoher Stirn. Er würde erwarten, dass sie seine Meinungen und Bedürfnisse teilte. Und ihr Leben würde planmäßig und geruhsam verlaufen, ein Jahr nach dem anderen.
Andererseits wäre eine Heirat mit Winterborne …
Es gab so viel, was sie nicht von ihm wusste. Was wurde von einer Frau verlangt, deren Ehemann die größte Warenhauskette der Welt besaß? Was für Menschen würde sie an seiner Seite begegnen, welche Beschäftigungen würden ihre Tage ausfüllen? Und Mr. Winterborne persönlich, der oftmals wirkte wie jemand, der ständig Kämpfe auszufechten hatte und nicht bereit war, Kompromisse einzugehen … Wie würde ihr Leben an seiner Seite aussehen? Die Vorstellung, in seinem Leben völlig unterzugehen, fiel ihr nicht schwer.
Sie ertrug seinen forschenden Blick nicht länger, der jede Nuance ihrer wirren Gedanken zu erspüren schien, kehrte ihm den Rücken und starrte auf die Bücherreihen, Kataloge, Fachliteratur verschiedener Wissensgebiete. Eine Reihe darunter entdeckte sie drei Bände über Botanik, die ihr Interesse weckten.
Bromeliengewächse: Handbuch zur Aufzucht von Orchidaceae Genera und verwandter Sorten
Verzeichnis bekannter Orchideengewächse
Orchideen: Kultivierung und Pflege
Diese Literatur über Orchideen befand sich nicht zufällig in seinem Büro.
Seit dem Tod ihrer Mutter, in deren Nachlass sich eine Sammlung von etwa zweihundert Orchideenpflanzen befand, hatte Helen ein reges Interesse an der Orchideenzucht entwickelt und zu ihrem Hobby gemacht. Da niemand sonst in der Familie sich dafür interessierte, hatte Helen die Pflege der Pflanzen ihrer Mutter übernommen. Orchideen forderten großen Aufwand und sorgsame Pflege, jede Pflanze schien ihren eigenen Charakter zu besitzen. Anfangs hatte Helen wenig Freude an ihrer verantwortungsvollen Aufgabe empfunden, jedoch bald große Begeisterung für die kapriziösen Pflanzen entwickelt.
Zaghaft strich sie über die kostbar gebundenen Einbände. »Wann haben Sie diese Werke erstanden?«, fragte sie.
Mr. Winterbornes Stimme war dicht hinter ihr. »Nachdem Sie mir einen Orchideentopf schenkten. Ich wollte etwas über ihre Pflege wissen.«
Vor einigen Wochen war er zum Dinner in Ravenel House eingeladen gewesen, und Helen hatte ihm spontan eine Orchidee geschenkt. Eine seltene blaue Vanda, ihre kostbarste und launenhafteste Pflanze. Er hatte ihr nicht gerade begeistert für das Geschenk gedankt und es mitgenommen. Nachdem ihre Verlobung gelöst worden war, hatte er sie umgehend zurückgeschickt. Zu Helens Erstaunen hatte die empfindsame Pflanze sich unter seiner Pflege prächtig entwickelt.
»Sie haben sie wohl selbst gepflegt«, sagte sie. »Darüber habe ich mich gewundert.«
»Selbstverständlich. Ich hatte nicht die Absicht, Ihre Prüfung nicht zu bestehen.«
»Es war keine Prüfung, nur ein Geschenk.«
»Wenn Sie es sagen.«
Aufgebracht wandte Helen sich ihm zu. »Ich hatte damit gerechnet, sie würde bei Ihnen eingehen, und trotzdem wollte ich Sie heiraten.«
Seine Lippen zuckten. »Aber sie ging nicht ein.«
Helen schwieg im Bestreben, ihre Gedanken und Gefühle in Einklang zu bringen, bevor sie die schwierigste Entscheidung ihres Lebens traf. War es wirklich so kompliziert? Eine Ehe stellte immer ein Risiko dar. Man wusste nie, wie ein Mann sich in der Ehe verändern würde.
Helen überlegte, ob sie das Gespräch beenden und sich verabschieden sollte. Sie malte sich aus, wie sie sein Büro verließ, in die Familienkutsche stieg und nach Ravenel House zurückkehrte. Damit wäre die Affäre endgültig vorbei gewesen. Ihre Zukunft würde sich in nichts von der aller jungen Frauen ihres Standes unterscheiden. Sie würde eine Londoner Saison haben, mit standesgemäßen Herren an Bällen und festlichen Soireen teilnehmen, und alles würde auf eine Heirat mit einem Mann hinauslaufen, für den sie höchstens Sympathien aufzubringen vermochte. Sie würde versuchen, nicht an diesen Moment zurückzudenken und sich zu fragen, was aus ihr geworden wäre, wenn sie Winterbornes Ultimatum akzeptiert hätte.
Sie dachte an das Gespräch, das sie mit der Haushälterin Mrs. Abbott heute früh geführt hatte. Die füllige Frau mit silbergrauen Haaren, die seit vier Jahrzehnten im Dienste der Ravenels stand, hatte heftige Einwände dagegen erhoben, dass Helen ohne Begleitperson das Haus verlassen wollte. »Der Herr wird uns alle rauswerfen«, hatte sie gejammert.
»Ich sage Lord Trenear, ich sei heimlich ausgegangen und niemand habe davon gewusst«, beruhigte Helen sie. »Und ich hätte den Kutscher gezwungen, mich zu Mr. Winterborne zu bringen, oder zu Fuß zu gehen gedroht.«
»Mylady, nichts auf der Welt ist ein solches Risiko wert!«
Als Helen ihr jedoch erklärte, sie besuche Rhys Winterborne in der Hoffnung, ihre Verlobung zu erneuern, schien die Haushälterin sich zu besinnen.
»Ich kann es Ihnen nicht verdenken«, gestand Mrs. Abbott. »Ein Mann wie er …«
Helen sah sie neugierig an und bemerkte ihren träumerischen Gesichtsausdruck. »Sie schätzen Mr. Winterborne also?«
»Oh ja, Mylady. Ich weiß, in Ihren Kreisen hält man ihn für einen Emporkömmling. Aber für die kleinen Leute, die Tag um Tag schuften müssen, um ein bescheidenes Auskommen zu haben, ist Mr. Winterborne ein Heiliger. Er hat das erreicht, wovon die meisten Menschen nicht einmal zu träumen wagen. Angefangen als kleiner Verkäufer, kennt heute jeder seinen Namen, von der Königin bis zum Bettler auf der Straße. Er gibt den Menschen Hoffnung, sich aus ihrem erbärmlichen Leben zu befreien und nach Erfolg zu streben.« Mit einem dünnen Lächeln hatte sie hinzugefügt: »Und niemand kann leugnen, dass er ein stattlicher, gut aussehender Bursche ist, auch wenn er braungebrannt wie ein Landarbeiter ist. Jede Frau, ob hochwohlgeboren oder einfacher Herkunft, würde in Versuchung geraten.«
Auch Helen konnte nicht leugnen, dass Mr. Winterbornes gutes Aussehen ihr nicht entgangen war. Ein Mann in den besten Jahren, der eine bemerkenswerte Energie ausstrahlte, eine animalische Vitalität, die sie gleichermaßen beängstigend und unwiderstehlich fand.
Aber es war noch etwas anderes an ihm … eine Verlockung, mächtiger als alles andere. In den Momenten seiner Zärtlichkeit war ihr, als flammte eine tief verborgene Trauer in ihrem Herzen auf. Er war der einzige Mensch, der diese geheime Stelle je berührt hatte, der eines Tages diese Einsamkeit in ihr sprengen und vertreiben könnte.
Vielleicht würde sie eine Heirat mit Mr. Winterborne eines Tages bereuen. Aber wesentlich schmerzlicher würde sie bereuen, wenn sie die Chance nicht ergriff.
Auf beinahe wundersame Weise klärten sich ihre Gedanken. Eine tiefe Ruhe kehrte in ihr ein, als sie ihren Weg deutlich vor sich sah.
Sie holte tief Luft und blickte ihn fest an. »Einverstanden«, sagte sie. »Ich nehme Ihr Ultimatum an.«
Einige Sekunden war Rhys zu keiner Antwort fähig. Entweder wusste Helen nicht, was sie sagte, oder er hatte sie nicht richtig verstanden.
»Hier und jetzt erklären Sie sich bereit …« Er suchte nach einer höflichen Umschreibung. »… sich mir hinzugeben«, fuhr er fort, »Sie zu nehmen wie ein Mann eine Frau nimmt.«
»Ja«, antwortete Helen gelassen und verblüffte ihn erneut. Ihr Gesicht war bleich, nur auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Aber sie wirkte keineswegs verlegen. Sie meinte es ernst.
Irgendwo musste es einen Haken geben, aber sie hatte Ja gesagt. In wenigen Minuten würde sie in seinem Bett liegen. Nackt. Der Gedanke versetzte sein Inneres in wilden Aufruhr, das Herz hämmerte ihm heftig gegen die Rippen, das Atmen fiel ihm schwer.
Ihm war klar, dass er sich mit ihr Zügel anlegen musste, er durfte sich nicht gehen lassen. Helen war unberührt und scheu.
Mit ihr musste es ein Liebesspiel sein, keine blinde Befriedigung seiner Lust.
Er hatte keine Ahnung von zärtlichem Liebesspiel.
Verfluchter Mist!
Wenn ihm gelegentlich eine Dame der Oberschicht ihre Gunst schenkte, wollte sie wild und entfesselt genommen werden. Rhys war stets erleichtert gewesen, keine Zärtlichkeiten vortäuschen zu müssen. Er war kein Byron, kein in der Kunst der Verführung bewanderter Poet. Ausgefallene Techniken und romantische Schwärmereien sollten besser den Franzosen vorbehalten bleiben.
Aber Helen war jungfräulich. Es würde Blut und vermutlich Tränen geben. Was, wenn er nicht sanft genug mit ihr umging? Wenn er sie zu hart hernahm? Was, wenn …?
»Ich stelle zwei Bedingungen«, ergriff Helen das Wort. »Ich muss vor dem Dinner zu Hause sein und zweitens …« Sie errötete bis unter die Haarwurzeln. »… wünsche ich einen anderen Verlobungsring.«
Er senkte den Blick auf ihre linke Hand. Am Abend seines Antrags hatte er ihr einen Verlobungsring überreicht, einen lupenreinen Diamanten im Rosenschliff von der Größe eines Wachteleis. Ein kostbarer Stein aus den Kimberley Minen in Südafrika, geschnitten von einem berühmten Pariser Edelsteinschleifer, von Winterbornes Hausjuwelier Paul Sauveterre in Platin gefasst.
Beim Anblick seiner verständnislosen Miene erklärte Helen verschämt: »Er gefällt mir nicht.«
»Sie sagten, er fällt Ihnen, als ich Ihnen den Ring ansteckte.«
»Genau genommen, stimmt das nicht. Ich sagte nur nicht, dass er mir nicht gefällt. Aber ich habe mir vorgenommen, von nun an ehrlich zu Ihnen zu sein, um künftige Missverständnisse zu vermeiden.«
Rhys bedauerte, dass Helen keinen Gefallen an dem Ring fand, den er sorgfältig für sie ausgewählt hatte. Aber er wusste ihren Wunsch zu schätzen, aufrichtig zu ihm zu sein.
Vielleicht hätte ich sie in die Entscheidung mit einbinden sollen, als Zeichen meiner Wertschätzung, überlegte Rhys. Er hätte sie fragen müssen, welcher Edelstein und welche Fassung ihr gefiel, statt eigenmächtig die Wahl zu treffen.
Er ergriff ihre Hand und betrachtete sinnend den glitzernden Ring. »Ich schenke Ihnen einen Diamantring von der Größe eines Hühnereis.«
»Grundgütiger, nein«, widersprach Helen heftig. »Genau das Gegenteil. Der Stein ist viel zu groß für meinen Finger. Er stört mich beim Klavierspiel und beim Schreiben. Ich würde einen wesentlich kleineren Stein vorziehen.« Sie legte eine Pause ein. »Etwas anderes als einen Diamanten.«
»Wieso keinen Diamanten?«
»Mir gefallen sie nicht. Gegen einen dezenteren hätte ich vielleicht nichts einzuwenden, einen, der aussieht wie ein Regentropfen oder ein winziger Stern. Aber große Steine sind so kalt und hart.«
»Diamanten sind hart.« Rhys bedachte sie mit einem spöttischen Blick. »Ich lasse ein Tablett mit Ringen hochbringen.«
Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Vielen Dank.«
»Was wünschen Sie noch?«, fragt er. »Eine Kutsche mit einem Vierergespann? Eine Halskette? Pelze?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie denn keinen Wunsch?« Er wollte sie mit kostbaren Geschenken überhäufen, um ihr begreiflich zu machen, wie viel ihm an ihr lag.
»Mir fällt nichts ein.«
»Ein Piano?« Er spürte, wie sie reflexartig die Finger krümmte, und fuhr fort: »Einen Brinsmead Konzertflügel mit doppeltem Resonanzboden und Schellack poliertem Mahagonikorpus?«
Sie lachte atemlos. »Welche Detailkenntnis. Ja. Ich würde gerne ein Piano besitzen. Nach unserer Hochzeit spiele ich jederzeit gerne für Sie.«
Die Vorstellung gefiel ihm ausgesprochen gut. In den Abendstunden würde er entspannt ihrem Klavierspiel lauschen. Hinterher würde er sie im Schlafzimmer bedächtig entkleiden und jedes Fleckchen ihrer nackten Haut küssen. Er konnte es kaum fassen, dass dieses überirdisch schöne Geschöpf aus Mondschein und Musik tatsächlich ihm gehören sollte. Angst stieg in ihm hoch, dass sie ihm in letzter Sekunde noch entrissen werden könnte.
Behutsam zog er ihr den Diamantring vom Finger und strich mit dem Daumen sanft über die leichte Einkerbung in ihrer Haut. Es war ein wunderbares Gefühl, sie zu berühren. Er musste sich zügeln, sonst würde er in seinem Büro über sie herfallen. Er musste klar denken. Er musste Arrangements treffen.
»Wo wartet Ihre Kutsche?«, fragte er.
»An den Stallungen hinter dem Warenhaus.«
»Ein Wagen ohne Wappen?«
»Nein, die Familienkutsche«, lautete ihre unschuldige Antwort.
So viel zur Diskretion, dachte Rhys besorgt und gab ihr einen Wink, ihm zum Schreibtisch zu folgen. »Schreiben Sie eine Notiz für den Kutscher.«
Helen nahm Platz. »Um welche Uhrzeit soll er wieder vorfahren?«
»Schreiben Sie, er wird heute nicht mehr gebraucht. Ich sorge dafür, dass Sie wohlbehalten nach Hause kommen.«
»Soll ich auch meinen Schwestern eine Botschaft überbringen lassen, damit sie sich keine Sorgen machen?«
»Ja. Wissen sie, dass Sie ausgefahren sind?«
»Ja, sie waren beide erfreut. Die Mädchen haben Sie gern.«
»Zumindest mein Warenhaus«, entgegnete er.
Helen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie einen Bogen Papier von einem Silbertablett nahm.
Die Familie hatte einmal eine Einladung zu einem Rundgang durch die Geschäftsräume nach Ladenschluss angenommen. Immer noch im Trauerjahr um den verblichenen Earl waren öffentliche Auftritte der Damen begrenzt. Im Zeitraum von zwei Stunden hatten die Zwillinge Cassandra und Pandora die Räume durchkämmt, außer sich vor Begeisterung über das Angebot neuester Modewaren, Vitrinen und Verkaufstische angefüllt mit Accessoires, Kosmetika und modischem Zierrat.
Er bemerkte, wie Helen das Schreibgerät auf seinem Schreibtisch verblüfft beäugte.
»Der Federhalter hat einen Tintenbehälter«, erklärte er und umrundete den Schreibtisch. »Wenn Sie leichten Druck auf die Metallfeder ausüben, beginnt die Tinte zu fließen.«
Vorsichtig ergriff sie den Federhalter, zog die Feder über das Papier und staunte über den Tintenstrich.
»Haben Sie so etwas noch nie gesehen?«, fragte er.
Helen schüttelte den Kopf. »Lord Trenear zieht Federkiel und Tintenfass vor. Er sagt, diese Dinger machen Kleckse.«
»Ja, das kann schon mal geschehen. Aber dieses neue Modell hat eine Nadel, die den Tintenfluss reguliert.«
Er sah zu, wie sie den Federhalter ausprobierte und ihren Namen säuberlich schrieb, das Ergebnis einen Augenblick studierte und dann den Nachnamen ausstrich. Rhys beugte sich von hinten über sie, als sie wieder schrieb.
Lady Helen Ravenel Winterborne
»Ein schöner Name«, hörte er Helen murmeln.
»Nicht so erhaben wie Ravenel.«
Helen drehte sich im Stuhl um und blickte ihn an. »Ich fühle mich geehrt, ihn in Zukunft zu tragen.«
Rhys war an Schmeicheleien gewöhnt von Menschen, die etwas von ihm wollten. Für gewöhnlich erriet er ihre Motive, als wären sie ihnen auf die Stirn geschrieben. Aber der Ausdruck in Helens Augen war klar und unschuldig. Sie wusste nichts von der Welt, hatte keine Ahnung, welchen Mann sie heiraten würde. Und sie würde ihren Fehler erst begreifen, wenn es zu spät war. Wäre nur ein Funken Anstand in ihm gewesen, hätte er sie auf der Stelle nach Hause geschickt.
Aber sein Blick fiel auf den Namen, den sie geschrieben hatte … Lady Helen Winterborne … und damit war ihr Schicksal besiegelt.
»Es wird eine große Hochzeit sein«, sagte er. »Ganz London soll darüber sprechen.«
Helen wirkte nicht sonderlich beeindruckt, erhob jedoch keinen Einspruch.
Den Blick immer noch auf den Schriftzug gerichtet, strich er ihr mit einem Finger sanft über die Wange. »Denken Sie an unsere Kinder, Cariad. Robuster walisischer Schlag, gemischt mit vornehmem Ravenel-Blut. Sie werden die Welt erobern.«
»Ich vermute eher, Sie erobern die Welt, bevor unsere Kinder die Chance dazu haben«, entgegnete Helen und griff nach einem neuen Blatt Papier.
Nachdem sie zwei Briefe geschrieben und versiegelt hatte, nahm Rhys sie an sich und rief nach Mrs. Fernsby.
Die Sekretärin erschien augenblicklich, als hätte sie bereits vor der Tür gewartet. Ihre haselnussbraunen Augen, die hinter den runden Brillengläsern neugierig blitzten, bemühten sich, einen Blick in den Raum zu erhaschen, den Rhys’ breite Schultern versperrten.
»Sie wünschen, Mr. Winterborne?«
Er übergab ihr die Briefe. »Lassen Sie diese Nachrichten zu den Stallungen bringen und dem Kutscher der Ravenels persönlich aushändigen.«
Mrs. Fernsby blinzelte heftig. »Es ist also Lady Helen.«
Er verengte die Augen. »Kein Wort zu niemandem.«
»Gewiss, Sir. Haben Sie noch einen Wunsch?«
»Übergeben Sie den Ring Mr. Sauveterre.« Er ließ den Diamantring in ihre ausgestreckte Hand gleiten. »Er soll eine Auswahl Ringe heraufbringen, passend für eine Verlobung. Ich erwarte ihn in einer halben Stunde.«
Mrs. Fernsby beäugte den glitzernden großen Stein staunend. »Falls er nicht erreichbar ist, darf ich einen anderen Juwelier heraufschicken?«
»Ich will Sauveterre«, befahl er. »In meinem Büro in einer halben Stunde.«
Mrs. Fernsby nickte zerstreut, das Räderwerk ihres Verstandes arbeitete offenbar auf Hochtouren, um sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen.
»Und«, fuhr Rhys fort, »streichen Sie sämtliche Termine für den heutigen Tag.«
Die Sekretärin sah ihn fassungslos an. So etwas hatte er noch nie verlangt. »Für den ganzen Tag? Wie soll ich das erklären?«
Rhys zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Lassen Sie sich etwas einfallen. Und geben Sie dem Hauspersonal Bescheid, ich wünsche einen ruhigen Nachmittag mit einem Gast zu verbringen und will nicht gestört werden, es sei denn, ich klingle.« Er fixierte sie mit strengem Blick. »Schärfen Sie der Belegschaft ein, dass ich allen fristlos kündige, wenn mir auch nur der geringste Klatsch zu Ohren kommt.«
»Ich würde ihnen persönlich kündigen«, versicherte sie. Da sie persönlich alle Vorstellungsgespräche geführt und die Mitarbeiter eingestellt hatte, verbürgte Mrs. Fernsby sich für deren Qualifikationen. »Allerdings steht ihre Diskretion außer Frage.« Sie krümmte die Finger um den kostbaren Ring. »Darf ich ein Teetablett vorschlagen? Lady Helen wirkt so zart, vielleicht braucht sie eine Stärkung, während sie auf den Juwelier wartet.«
Rhys furchte die Stirn. »Daran hätte ich denken müssen.«
Mrs. Fernsby konnte sich ein selbstzufriedenes Lächeln nicht versagen. »Keineswegs, Mr. Winterborne. Dafür stehe ich Ihnen zu Diensten.«
Während sie die Tür hinter sich schloss, überlegte Rhys, dass ihr dieser Anflug von Selbstgefälligkeit zu verzeihen war. Sie war die beste Sekretärin in ganz London, die ihre Aufgaben mit einer Tüchtigkeit meisterte, die ihre männlichen Kollegen bei Weitem übertraf.
Mehr als nur einer seiner Geschäftsfreunde hatte damals gemeint, ein Mann sei für diese Position wesentlich besser geeignet. Aber Rhys vertraute seinem Bauchgefühl und seiner Erfahrung. Er vermochte in Menschen Wesenszüge zu erkennen – Erfolgsstreben, Entschlusskraft, Durchsetzungsvermögen –, die ihn auf seinem langen, mühsamen Aufstieg vom Laufburschen zum Großindustriellen angetrieben hatten. Er gab keinen Deut auf Herkunft, Glaubensrichtung, Bildung und Geschlecht seiner Mitarbeiter. Ihn interessierten nur ihre Fähigkeiten.
Bald kehrte Mrs. Fernsby mit Tee zurück. Unauffällig platzierte sie das Tablett auf einen runden Beistelltisch, als Helen sie ansprach.
»Vielen Dank, Mrs. Fernsby.«
Die Sekretärin wandte sich ihr erfreut zu. »Gern geschehen, Mylady. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Helen lächelte. »Nein danke.«
Die Sekretärin deckte den Tisch, als würde sie einer Königin dienen. Mit einer Silberzange nahm sie winzige Sandwiches und Petit Fours aus einem mit weißer Schleife verzierten Körbchen und legte sie auf Helens Teller.
»Genug mit dem Scharwenzeln, Fernsby«, brummte Rhys. »Ihre Arbeit erledigt sich nicht von selbst.«
»Sehr wohl, Mr. Winterborne.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu und legte die Silberzange beiseite.
Rhys begleitete Mrs. Fernsby zur Tür und blieb auf der Schwelle stehen.
»Sie scheinen begeistert von ihr zu sein«, sagte Rhys spöttisch im Flüsterton.
Die Miene der Sekretärin ließ keine Spur von Heiterkeit erkennen. »Sie zerstören ihren Ruf, wenn Sie Stunden mit ihr allein verbringen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf, dass Sie hinterher Ihren Verpflichtungen nachkommen.«