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Die umwerfend schöne aber den meisten Männern leider ein wenig zu freigeistige Beatrix Hathaway hat die Hoffnung auf einen geeigneten Heiratskandidaten eigentlich schon aufgegeben. Bis Christopher auftaucht, der sich aus gesellschaftlichen Konventionen wenig macht und so ganz anders ist als all die verkrampften Gentlemen, die die Londoner Abendgesellschaften bevölkern. Sein einziger Fehler: Er ist eigentlich mit Prudence verlobt – Beatrix` bester Freundin. Wird Beatrix ihren Gefühlen nachgeben und alles aufs Spiel setzen?
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Seitenzahl: 421
Das Buch
Schon immer war es Beatrix Hathaway bedeutend lieber, durch die Wiesen und Wälder zu streifen, als auf langweiligen Tee- und Abendgesellschaften den Konventionen zu gehorchen. Der Nachteil: Ein potentieller Heiratskandidat will sich auf diese Weise nicht finden lassen und Beatrix sieht sich in ihren schlimmsten Alpträumen schon als alte Jungfer.
Bis Captain Christopher Phelan auftaucht, der Verlobte von Beatrix` Freundin Pru. Während Christopher auf dem Schlachtfeld König und Vaterland verteidigt, schreibt Beatrix ihm lange Briefe – in Prus Namen, versteht sich. Denn so sehr Pru auch für Chris-topher schwärmt, sobald sie die Feder zur Hand nimmt, weiß sie nicht so recht, was sie ihm mitteilen soll. Nicht so Beatrix, die in Christopher ihren Seelenverwandten entdeckt. Über die Folgen ihrer Täuschung machen sich die Freundinnen wenig Gedanken – bis Christopher eines Tages zurückkehrt …
Der herzerwärmende, fulminante Abschluss der großen Saga um die Hathaways!
Die Autorin
Lisa Kleypas ist eine Meisterin ihres Fachs: Mit ihren zahlreichen historischen Liebesromanen nimmt sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen für sich ein, sondern auch die internationalen Bestsellerlisten. Die Autorin schreibt und lebt mit ihrer Familie in Washington State.
Lisa Kleypas
Herzschlag der
Nacht
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Sabine Schilasky
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Meiner brillanten und sagenhaften Freundin Eloisa. Um es mit E.B. White zu sagen: »Es kommt nicht oft vor, dass man jemandem begegnet, der ein wahrer Freund und ein guter Autor ist. Eloisa ist beides.«
In Liebe
L.K.
Prolog
Captain Christopher Phelan
Erstes Bataillon Rifle Brigade
Cape Mapan
Krim
Juni 1855
Lieber Christopher,
ich darf Ihnen nie wieder schreiben, bin ich doch nicht die, für die Sie mich halten.
Wiewohl es nie meine Absicht war, Ihnen Liebesbriefe zu senden, wurden meine Schriften doch zu selbigen. Auf ihrem Weg zu Ihnen wandelten sich meine Worte zu papiernen Herzenswünschen.
Bitte, kommen Sie heim und suchen Sie nach mir.
(unsigniert)
Kapitel 1
Hampshire, England, acht Monate später
Alles begann mit einem Brief.
Um genauer zu sein: mit der Erwähnung eines Hundes.
»Was war mit dem Hund?«, fragte Beatrix Hathaway. »Wessen Hund?«
Ihre Freundin Prudence, die schönste junge Dame in ganz Hampshire County, blickte von dem Brief ihres Verehrers Captain Christopher Phelan auf.
Da es wider die guten Sitten war, dass ein Gentleman und eine unverheiratete Dame miteinander korrespondierten, hatten die beiden ein Arrangement getroffen, sich Nachrichten über Phelans Schwägerin zukommen zu lassen.
Prudence bedachte Beatrix mit einem übertrieben beleidigten Blick. »Also wirklich, Bea, du sorgst dich mehr um einen Hund als um Captain Phelan?«
»Captain Phelan bedarf meiner Sorge nicht«, antwortete Beatrix ungerührt. »Um ihn sorgen sich bereits sämtliche heiratsfähige Damen in Hampshire. Überdies hat er beschlossen, in den Krieg zu ziehen, und ich bin gewiss, dass er es weidlich genießt, in seiner eleganten Uniform umherzustolzieren.«
»Sie ist überhaupt nicht elegant«, erwiderte Prudence finster. »Eher würde man sagen, dass die Uniformen seines neuen Regiments geradezu abscheulich aussehen, so sehr schlicht, dunkelgrün mit schwarzen Aufschlägen und ohne jedes Gold oder sonstige Zier. Und als ich fragte, warum sie so sind, sagte Captain Phelan, es sollte den Schützen helfen, sich versteckt zu halten. Das wiederum ergibt überhaupt keinen Sinn, denn jeder weiß, dass ein britischer Soldat viel zu mutig und stolz ist, um sich während der Schlacht zu verstecken. Aber Christopher, also Captain Phelan, sagte, es hätte etwas mit … oh, wie hieß noch dieses französische Wort?«
»Camouflage?«, fragte Beatrix interessiert.
»Ja, woher wusstest du das?«
»Man beschreibt damit, was viele Tiere tun, um sich unsichtbar zu machen. Chamäleons zum Beispiel. Oder Eulen mit ihrem gefleckten Gefieder, das genauso aussieht wie die Rinde der Bäume, in denen sie hocken. Auf die Weise …«
»Du liebe Güte, Beatrix! Nun halt mir bitte nicht schon wieder einen Vortrag über Tiere!«
»Ich höre auf, wenn du mir von dem Hund erzählst.«
Prudence reichte ihr den Brief. »Lies selbst.«
»Aber, Pru«, protestierte Beatrix, als Prudence ihr die kleinen Blätter in die Hand drückte. »Captain Phelan könnte etwas Privates geschrieben haben.«
»Wenn es doch nur so wäre. Nein, sein Brief ist furchtbar düster. Nichts als Schlachten und schlechte Neuigkeiten.«
Auch wenn Christopher Phelan der letzte Mann war, den Beatrix verteidigen wollte, konnte sie nicht umhin zu sagen: »Er kämpft auf der Krim, Pru. Es ist anzunehmen, dass sich inmitten des Kriegstreibens wenig Hübsches zu berichten findet.«
»Nun, mich kümmern fremde Länder nicht, und ich habe niemals etwas anderes vorgegeben.«
Beatrix schmunzelte verhalten. »Pru, bist du dir sicher, dass du die Frau eines Offiziers sein möchtest?«
»Ja, natürlich. Die meisten Offiziere ziehen gar nicht in den Krieg und beschränken sich darauf, elegant auszusehen und vornehm zu sein. Sie können sogar auf halben Sold gehen, was sie von einem Großteil ihrer Pflichten entbindet, sodass sie kaum noch Zeit bei ihrem Regiment verbringen müssen. Captain Phelan war es, bis er in den Auslandsdienst berufen wurde.« Prudence hob eine Schulter. »Nun, Kriege kommen wohl immer zur falschen Zeit. Dem Himmel sei Dank, dass Captain Phelan bald wieder nach Hampshire zurückkehrt.«
»Wird er? Und woher weißt du das?«
»Meine Eltern sagen, dass der Krieg noch vor Weihnachten zu Ende ist.«
»Davon hörte ich auch. Man fragt sich allerdings, ob wir die russische Streitmacht nicht sträflich unterschätzen oder unsere eigene überschätzen.«
»Wie unpatriotisch«, rief Prudence mit einem schelmischen Funkeln in den Augen aus.
»Ich würde indes auch nicht von Patriotismus sprechen, wenn unser Kriegsministerium in seinem Übereifer dreißigtausend Mann auf die Krim schickt, ohne zuvor hinreichend zu planen. Weder verfügen wir über angemessene Kenntnis der örtlichen Bedingungen, noch gibt es eine vernünftige Strategie, wie die Krim einzunehmen ist.«
»Wie kannst du davon wissen?«
»Aus der Times. Jeden Tag wird über den Krieg berichtet. Liest du denn keine Zeitung?«
»Nicht die Artikel über Politik. Meine Eltern sagen, es ziemt sich nicht für eine junge Dame, sich für derlei Angelegenheiten zu interessieren.«
»Meine Familie spricht bei jedem Abendessen über Politik, in Anwesenheit meiner Schwestern und mir.« Beatrix machte absichtlich eine kurze Pause, ehe sie mit einem Grinsen hinzufügte: »Und wir dürfen sogar Meinungen haben.«
Prudence riss die Augen weit auf. »Du liebe Güte! Na, ich sollte mich nicht wundern. Jeder weiß, dass deine Familie … anders ist.«
»Anders« war ein weit freundlicher Ausdruck als jene, mit denen die Hathaway-Familie gewöhnlich beschrieben wurde. Die Hathaways waren fünf Geschwister: auf Leo, den Ältesten, folgten Amelia, Winnifred, Poppy und Beatrix. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sich das Schicksal der Kinder auf verblüffende Weise gewandelt. Sie waren als Bürgerliche geboren, allerdings entfernt verwandt mit einem adligen Zweig der Familie, und infolge einer Reihe von unerwarteten Ereignissen hatte Leo einen Vicomte-Titel geerbt, auf den er und seine Schwestern nicht im Mindesten vorbereitet waren. Diese Erbschaft verschlug sie aus ihrem kleinen Dorf Primrose Place auf das Ramsay-Anwesen in der südlichen Grafschaft Hampshire.
In den vergangenen sechs Jahren lernten die Hathaways gerade genug, um sich in die gehobenen Kreise einzufügen. Doch gelang es bisher keinem von ihnen, wie der Adel zu denken, geschweige denn sich die Werte oder Manieren der Aristokratie anzueignen. Sie besaßen Vermögen, aber dies war nicht annähernd so wichtig wie Erziehung und Verbindungen. Und während eine andere Familie in vergleichbaren Umständen bestrebt wäre, ihren gesellschaftlichen Rang mittels Heirat zu verbessern, hatten sich die Hathaways, die bislang in den Ehestand getreten waren, jeweils für eine Liebesheirat entschieden.
Was Beatrix betraf, war fraglich, ob sie jemals heiraten würde. Man konnte sie bestenfalls als halb-zivilisiert bezeichnen, verbrachte sie doch den Großteil ihrer Zeit im Freien und streifte zu Pferd oder zu Fuß durch die Wälder, Marschen und Wiesen von Hampshire. Die Gesellschaft von Tieren war Beatrix allemal lieber als die von Menschen. Immerfort sammelte sie verletzte oder verwaiste Kreaturen auf und pflegte sie gesund oder zog sie groß. Diejenigen, die nicht allein in der Wildnis überleben könnten, behielt sie als Haustiere, und mit ihrer Hege beschäftigte Beatrix sich beinahe ausschließlich. So kam es, dass sich Beatrix in der Natur glücklich und erfüllt fühlte; wohingegen sie dem Leben in geschlossenen Räumen sehr wenig abgewinnen konnte.
In jüngster Zeit überkam Beatrix zusehends häufiger ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit, gleich einer unbenennbaren Sehnsucht. Das Problem war, dass Beatrix noch nie einem Mann begegnet war, der für sie in Betracht kam. Von den blassen, überheblichen jungen Herren, auf die sie in den Londoner Salons traf, fühlte sie sich eher abgestoßen, und auch wenn die robusteren Männer auf dem Lande schon eher ihren Vorstellungen entsprachen, fehlte ihnen schlicht das gewisse Etwas, nach dem Beatrix sich sehnte. Sie träumte von einem Mann, dessen Willenskraft ihrer eigenen ebenbürtig war, und sie wünschte sich, leidenschaftlich geliebt, herausgefordert und überwältigt zu werden.
Beatrix blickte auf den zusammengefalteten Brief in ihren Händen.
Nicht dass sie gegen Christopher Phelan eingenommen war; vielmehr schien er alles abzulehnen, was sie verkörperte. Gebildet und von privilegierter Geburt, wusste er sich mit einer Geschmeidigkeit in vornehmer Gesellschaft zu bewegen, die Beatrix vollkommen fremd war. Er war der zweite Sohn einer angesehenen hiesigen Familie, konnte einen Earl als Großvater mütterlicherseits vorweisen und väterlicherseits ein beträchtliches, durch Schifffahrt erworbenes Vermögen.
Die Phelans hatten keine Aussicht auf ein Titelerbe, aber immerhin würde John, der Älteste, nach dem Tod des Earls das Riverton-Anwesen in Warwickshire erben. John war ein ernster, nachdenklicher Mann und liebte seine Frau Audrey hingebungsvoll.
Der jüngere Bruder Christopher war von gänzlich anderem Charakter. Wie so oft bei zweiten Söhnen üblich, hatte Christopher sich mit zweiundzwanzig ein Offizierspatent gekauft. Zunächst diente er als Fahnenjunker der Kavallerie, was eine ideale Beschäftigung für solch einen formidablen jungen Burschen war. Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, bei Paraden und Übungen die Regimentsfahne zu schwingen. Auch bei den Damen in den Londoner Salons erfreute Christopher sich größter Beliebtheit; dort nämlich hielt er sich fortwährend auf – häufig ohne beurlaubt zu sein – und verbrachte seine Zeit tanzend, spielend, feine Kleider aussuchend oder skandalösen Liebesaffären frönend.
Beatrix hatte Christopher Phelan zweimal getroffen: das erste Mal bei einem Ball hier in Hampshire, wo sie zu dem Schluss kam, dass er der arroganteste Mann im ganzen County sein dürfte. Das zweite Mal begegnete sie ihm bei einem Picknick, auf dem sie ihre Meinung revidierte: Er war der arroganteste Mann auf der ganzen Welt.
»Dieses Hathaway-Mädchen ist ein eigenartiges Geschöpf«, hatte Beatrix ihn zu seinem Begleiter sagen gehört.
»Ich finde sie charmant und originell«, entgegnete sein Gefährte. »Und sie kann mit Pferden umgehen wie keine Frau sonst, die ich kenne.«
»Wen wundert’s? Sie passt auch besser in einen Stall als in einen Salon«, hatte Phelan trocken bemerkt.
Von da an mied Beatrix ihn, wo immer sie konnte. Nicht dass ihr der implizite Vergleich mit einem Pferd etwas ausmachte, denn Pferde waren reizende Tiere von edlem, freundlichem Gemüt. Und Beatrix wusste, dass sie keine große Schönheit sein mochte, sehr wohl jedoch ihre eigenen Reize besaß. Manch ein Mann hatte ihr schon Komplimente wegen ihres dunkelbraunen Haars und ihrer blauen Augen gemacht.
Diese bescheidenen Vorzüge jedoch verblassten angesichts von Christopher Phelans goldenem Glanz. Er war wie Lancelot, wie Gabriel, ja, vielleicht wie Luzifer, sofern man glaubte, dass jener einst der schönste aller Engel gewesen war. Phelan war groß, hatte silberne Augen und Haar von der Farbe dunklen sonnengeküssten Winterweizens. Seine Gestalt war stark und soldatisch, die Schultern gerade und breit, die Hüften schmal. Selbst wenn er sich mit lässiger Eleganz bewegte, strahlte er eine unübersehbare Kraft aus, die an ein einzelgängerisches Raubtier gemahnte.
Unlängst war Phelan als einer von wenigen Auserwählten aus mehreren Regimentern zum Mitglied der »Rifle Brigade« ernannt worden. Die »Rifles«, wie sie überall hießen, waren eine außergewöhnliche Gruppe von Soldaten, die man dazu ausbildete, auf eigene Faust zu agieren. Sie wurden angehalten, Stellungen vor den eigenen Frontlinien zu beziehen und berittene Offiziere in den hinteren Linien der Feinde niederzuschlagen. Aufgrund seiner überragenden Fertigkeit als Schütze war Phelan bald zum Captain der Rifle Brigade avanciert.
Beatrix amüsierte der Gedanke, dass diese Ehre ihn alles andere als erfreut haben dürfte. Immerhin war er genötigt gewesen, seine schöne Husarenuniform aus dem schimmernd schwarzen und über und über mit Goldtressen verzierten Stoff gegen eine sehr schlichte dunkelgrüne einzutauschen.
»Lies nur«, sagte Prudence, während sie sich an ihren Frisiertisch setzte. »Ich muss mein Haar richten, bevor wir spazieren gehen können.«
»Dein Haar sieht reizend aus.« Beatrix konnte keinen noch so kleinen Makel an den kunstvoll aufgesteckten blonden Zöpfen entdecken. »Und wir gehen doch nur ins Dorf. Dort würde es niemand erkennen oder gar kümmern, ob deine Frisur tadellos ist.«
»Mich würde es kümmern. Außerdem weiß man nie, wem man begegnet.«
Der überbordende Hang ihrer Freundin, sich immerfort herauszuputzen, entlockte Beatrix nur ein Grinsen und ein Kopfschütteln. »Na schön. Wenn es dir sicher nichts ausmacht, dass ich Captain Phelans Brief ansehe, lese ich nur den Abschnitt über den Hund.«
»Bis du zu dem Hund kommst, wirst du schon eingeschlafen sein«, meinte Prudence, die geübt eine Haarnadel in ihre aufgesteckten Zöpfe fädelte.
Beatrix sah auf die eng beschriebenen Zeilen. Die Worte wirkten zusammengedrängt wie straffe Federn, die dem Leser jederzeit entgegenspringen könnten.
Teure Prudence,
hier sitze ich in diesem staubigen Zelt und bemühe mich, mir Eloquentes einfallen zu lassen, das ich Ihnen schreiben möchte. Allein, es mag mir keine Idee kommen. Sie verdienen wunderschöne Worte, doch die einzigen, die mir bleiben, sind: Ich denke ohne Unterlass an Sie. Ich stelle mir vor, wie Sie diesen Brief in Ihrer Hand halten und eine süße Note von Parfum von Ihrem Handgelenk aufsteigt. Ich wünsche mir Stille und klare Luft, ein Bett mit einem weichen weißen Kissen …
Beatrix bemerkte, wie sich ihre Augenbrauen hoben und ihr unter dem hohen Kragen ihres Kleides warm wurde. Sie hielt inne und blickte zu Prudence. »Dies findest du langweilig?«, fragte sie, während sie spürbar errötete.
»Der Anfang ist das einzig Hübsche«, antwortete Prudence. »Lies weiter.«
… Vor zwei Tagen kämpften wir auf dem Marsch hinunter nach Sewastopol an der Alma gegen die Russen. Mir wurde erzählt, es wäre ein Sieg für unsere Seite gewesen, doch leider fühlt er sich nicht so an. Wir verloren mindestens zwei Drittel unserer Regimentsoffiziere und ein Viertel der Männer. Gestern hoben wir Gräber aus. Die letzte Zählung der Toten und Verwundeten nennen sie »die Schlachterrechnung«. Dreihundertundsechzig Briten sind bisher tot, und es werden noch weitere ihren schweren Wunden erliegen.
Captain Brighton, einer der Gefallenen, hatte einen Rauhaarterrier namens Albert bei sich, der zweifellos der ungebärdigste Hund von allen sein dürfte. Nachdem Brighton ins Grab hinabgelassen wurde, setzte sich der Hund neben die Grube, winselte über Stunden und drohte, jeden zu beißen, der sich ihm näherte. Ich beging den Fehler, ihm etwas Zwieback anzubieten, und nun folgt mir die umnachtete Kreatur auf Schritt und Tritt. In diesem Moment sitzt sie in meinem Zelt und glotzt mich mit einem halb wahnsinnigen Blick an. Das Winseln hört so gut wie nie auf, und komme ich dem Hund näher, will er mir sofort die Zähne in den Arm schlagen. Ich würde ihn erschießen, wäre ich des Tötens nicht so gründlich müde.
Familien trauern um jene Leben, die ich nahm, um Söhne, Brüder, Väter. Mit den Dingen, die ich tat, habe ich mir einen Platz in der Hölle verdient, und der Krieg hat kaum begonnen. Ich verändere mich, und das nicht zum Besseren. Der Mann, den Sie kannten, ist auf immer fort, und ich fürchte, Ihnen könnte jener, der an seine Stelle trat, viel weniger gefallen.
Der Gestank des Todes, Pru, ist überall.
Auf dem Schlachtfeld liegen unzählige Gliedmaßen, Kleider, Stiefelsohlen verstreut. Malen Sie sich eine Explosion aus, deren Wucht die Sohlen von Stiefeln abreißt. Man sagt, dass im Jahr nach großen Schlachten die Wildblumen auf den Feldern um ein Vielfaches üppiger blühen – die Erde ist so aufgewühlt und blutgetränkt, dass die Samen leichter wurzeln. Ich möchte trauern, aber dies ist weder der Ort noch die Zeit dafür. Meine Gefühle muss ich vorerst verschließen, wo, weiß ich selbst nicht.
Gibt es noch einen friedlichen Ort auf der Welt? Bitte schreiben Sie mir. Erzählen Sie mir von der Handarbeit, die Sie gerade machen, oder von Ihrem Lieblingslied. Regnet es in Stony Cross? Hat das Laub angefangen, die Farbe zu wechseln?
Ihr Christopher Phelan
Als Beatrix den Brief zu Ende gelesen hatte, wurde sie einer eigenartigen Regung in ihrem Inneren gewahr, einer seltsamen Verwunderung, verquickt mit Mitgefühl, die ihr auf die Brust drückte.
Es schien undenkbar, dass solch ein Brief von dem arroganten Christopher Phelan kam. Er war so gänzlich anders als das, was sie erwartet hatte. Aus seinen Zeilen sprachen Verwundbarkeit, ein stilles Bitten, das Beatrix berührte.
»Du musst ihm schreiben, Pru«, sagte sie und faltete den Brief sehr viel sorgsamer zusammen, als sie ihn zuvor behandelt hatte.
»Ich werde nichts dergleichen tun. Mit einer Antwort würde ich ihn höchstens ermuntern, mir weitere Klagen zu schicken. Ich werde stillschweigen und ihn auf die Weise hoffentlich anregen, das nächste Mal von Angenehmerem zu berichten.«
Beatrix runzelte die Stirn. »Wie du weißt, hege ich keine besondere Vorliebe für Captain Phelan, doch dieser Brief … Er verdient dein Mitgefühl, Pru. Schreib ihm einfach ein paar Zeilen, einige Worte des Trostes. Es würde dich kaum Zeit kosten, und was den Hund betrifft, hätte ich einen Rat …«
»Ich schreibe gewiss nicht über diesen verflixten Hund!« Prudence seufzte ungeduldig. »Schreib du ihm.«
»Ich? Er möchte keinen Brief von mir. Mich hält er für eigenartig.«
»Ich wüsste nicht, warum. Nur weil du Medusa zum Picknick mitgebracht hast?«
»Sie ist ein sehr wohlerzogener Igel«, verteidigte Beatrix sich.
»Der Gentleman, dessen Hand durchbohrt wurde, würde dir widersprechen.«
»Was nur geschah, weil er sie vollkommen falsch angefasst hat. Wenn man einen Igel hochhebt …«
»Nein, es ist sinnlos, mir das zu erklären, denn ich werde niemals einen Igel hochheben wollen. Was nun Captain Phelan angeht, also, wenn dir so sehr daran liegt, schreib ihm eine Antwort und unterzeichne in meinem Namen.«
»Wird er nicht erkennen, dass die Handschrift eine andere ist?«
»Nein, weil ich ihm noch nicht geschrieben habe.«
»Aber er ist nicht mein Verehrer«, sagte Beatrix. »Ich weiß nichts über ihn.«
»Genau genommen weißt du so viel wie ich. Du bist mit seiner Familie bekannt, und du stehst seiner Schwägerin sehr nahe. Überdies würde ich nicht behaupten, dass Captain Phelan mein Verehrer ist, zumindest nicht mein einziger. Ich werde ihm auf keinen Fall versprechen, ihn zu heiraten, ehe er nicht vollkommen unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Schließlich will ich keinen Gemahl, den ich für den Rest meines Lebens in einem Invalidenstuhl umherschiebe.«
»Meine liebe Pru, deine Empfindsamkeit reicht nicht tiefer als eine Pfütze.«
Prudence grinste. »Wenigstens bin ich ehrlich.«
Beatrix musterte sie skeptisch. »Du willst mir allen Ernstes die Aufgabe übertragen, einen Liebesbrief an einen deiner Freunde zu schreiben?«
Prudence winkte ab. »Keinen Liebesbrief. Es war auch keine Spur von Liebe in seinem Brief an mich. Schreib ihm etwas Erheiterndes und Ermutigendes.«
Beatrix tastete nach der Tasche ihres Ausgehkleids und steckte den Brief hinein. Innerlich rang sie mit sich, überlegte, dass es nie gut ausging, etwas moralisch Fragwürdiges zu tun, auch wenn es aus den richtigen Gründen geschah. Andererseits beherrschte das Bild des Soldaten ihre Gedanken, der erschöpft in der Abgeschiedenheit seines Zelts einen eiligen Brief hinkritzelte, die Hände voller Blasen vom Graben der letzten Ruhestätten seiner Kameraden. Und in der Ecke ein winselnder Hund.
Der Aufgabe, ihm zu schreiben, fühlte sie sich alles andere als gewachsen.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es für Christopher sein musste, sein vornehmes Leben hinter sich zu lassen und sich in einer Welt wiederzufinden, in der ihm täglich das Ende drohte. Minütlich. Es war unmöglich, sich einen verwöhnten, schönen Mann wie Christopher Phelan auszumalen, der Gefahr und Entbehrung, Hunger und Einsamkeit erduldete.
Beatrix sah nachdenklich ihre Freundin an, und ihre Blicke begegneten sich im Spiegel der Frisierkommode. »Was ist dein Lieblingslied, Pru?«
»Ich habe keins. Nenn ihm deins.«
»Sollten wir uns vielleicht mit Audrey besprechen?«, fragte Beatrix. Gemeint war Phelans Schwägerin.
»Gewiss nicht. Audrey hat ein Problem mit Aufrichtigkeit. Sie würde den Brief nicht weiterschicken, wüsste sie, dass ich ihn nicht geschrieben habe.«
Beatrix entfuhr ein Laut, der ein Lachen wie ein Stöhnen hätte sein können. »Ich würde das nicht ein Problem mit Aufrichtigkeit nennen. Ach, Pru, bitte überleg es dir und schreib ihm. Das wäre so viel einfacher.«
Aber Prudence zierte sich besonders, bedrängte man sie, etwas zu tun, und diese Situation bildete keine Ausnahme. »Einfacher für alle außer für mich«, erwiderte sie spitz. »Ich weiß ganz und gar nicht, was ich auf solch einen Brief antworten soll. Wahrscheinlich hat er schon vergessen, dass er ihn überhaupt geschrieben hat.« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu und trug etwas Rosenblütensalbe auf ihre Lippen auf.
Wie liebreizend Prudence mit ihrem herzförmigen Gesicht und den schmalen Brauen über den großen grünen Augen war. Doch wie wenig Persönliches war an ihrem Abbild im Spiegel zu erkennen. Es ließ sich nicht einmal erraten, was sie wirklich für Christopher Phelan empfinden mochte. Eines nur war sicher: Es war besser, seinen Brief zu beantworten, ganz gleich wie unpassend, als ihm eine Antwort zu versagen. Denn bisweilen riss Nichtbeachtung ebensolch tiefe Wunden wie eine Kugel.
Beatrix saß allein in ihrem Zimmer in Ramsay House am Sekretär und tauchte ihre Schreibfeder in das Fässchen mit blauer Tinte. Eine dreibeinige Katze namens Lucky lag auf der Ecke des Schreibtisches und beobachtete Beatrix aufmerksam. Beatrix’ Igel Medusa besetzte die andere Ecke. Lucky war ein überaus vernünftiges Wesen, weshalb sie nicht auf die Idee käme, dem kleinen Igel zu nahe zu treten.
Nachdem sie den Brief von Phelan ein weiteres Mal gelesen hatte, schrieb Beatrix:
Captain Christopher Phelan
Erstes Batallion Rifle Brigade
Zweites Divisionslager, Krim
17. Oktober 1854
Beatrix hielt inne und streichelte Luckys verbliebene Vorderpfote mit der Fingerspitze. »Wie würde Pru einen Brief beginnen?«, fragte sie sich laut. »Würde sie ihn ›Liebster‹ nennen? ›Teuerster‹?« Sie rümpfte die Nase.
Briefe zu schreiben zählte nicht zu Beatrix’ Stärken. Obwohl sie einer überaus redegewandten Familie entstammte, hatte sie Instinkt und Handeln stets mehr geschätzt als Worte. Ja, sie fand sogar, dass man einen Menschen deutlich besser kennenlernte, indem man mit ihm einen kurzen Spaziergang machte, als es in Stunden höflicher Konversation zu erreichen wäre.
Nachdem sie mehrere Dinge erwogen und verworfen hatte, die man einem vollkommen Fremden unter der Vorgabe, selbst jemand anderer zu sein, schreiben könnte, gab Beatrix es schließlich auf. »Ach, zum Teufel damit! Ich schreibe eben, wie es mir gefällt. Wahrscheinlich wird er ohnedies viel zu müde und abgekämpft sein, um zu merken, dass der Brief nicht nach Pru klingt.«
Lucky legte ihr Kinn neben die Pfote und schloss die Augen halb, wobei sie schnurrend seufzte.
Beatrix begann zu schreiben.
Lieber Christopher,
ich habe die Berichte über die Schlacht an der Alma gelesen. Wie Mr. Russell in der Times schrieb, sind Sie und zwei andere der Rifle Brigade den Coldstream Guards vorausgegangen und haben mehrere feindliche Offiziere erschossen, womit Sie deren Züge auflösten. Mr. Russell bemerkte überdies bewundernd, dass die Rifles sich nie zurückzogen oder auch nur die Köpfe einzogen, als die Kugeln flogen.
Während ich seine Wertschätzung teile, möchte ich Ihnen dennoch sagen, dass es meiner Meinung nach Ihren Mut nicht schmälerte, den Kopf einzuziehen, wenn auf Sie geschossen wird. Ducken Sie sich nur, weichen Sie zur Seite aus oder verstecken Sie sich vorzugsweise hinter einem Felsen, und ich verspreche Ihnen, es wird meine Achtung für Sie nicht schmälern!
Ist Albert noch bei Ihnen? Beißt er noch? Meiner Freundin Beatrix gemäß (die den Igel zum Picknick mitbrachte) ist der Hund überreizt und ängstlich. Da Hunde im Herzen Wölfe sind und einen Rudelführer brauchen, müssen Sie sich ihm dominant zeigen. Wann immer er versucht, Sie zu beißen, umklammern Sie seine Schnauze mit der Hand, üben leichten Druck aus und sagen mit fester Stimme Nein.
Mein Lieblingslied ist »Over the Hills and Far Away«. Gestern regnete es in Hampshire. Es war ein mildes Herbstunwetter, das kaum Blätter von den Bäumen wusch. Die Dahlien blühen nicht mehr, und der Frost hat die Chrysanthemen welken lassen, aber die Luft duftet herrlich nach altem Laub, feuchter Rinde und reifen Äpfeln. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass jeder Monat seinen eigenen Geruch hat? Für mich duften der Mai und der Oktober am schönsten.
Sie fragten, ob es einen friedlichen Ort auf der Welt gibt, und ich bedaure, sagen zu müssen, dass es nicht Stony Cross ist. Unlängst brach Mr. Mawdsleys Esel aus seinem Stall aus, rannte die Straße hinunter und verschaffte sich Zutritt auf eine eingezäunte Weide. Mr. Cairds preisgekrönte Stute graste dort nichtsahnend, als der ungezogene Verführer sie sich zu Willen machte. Nun scheint es, als hätte die Stute empfangen, und es entbrennt eine Fehde zwischen Caird, der finanzielle Entschädigung fordert, und Mawdsley, der darauf besteht, dass ein weniger stümperhafter Weidezaun eine solche heimliche Begegnung gar nicht erst ermöglicht hätte. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, wurde hie und da laut, dass sich die Stute als schamlos erwiesen haben soll und nicht annähernd die Gegenwehr leistete, die man von ihr erwartete.
Glauben Sie wirklich, dass Sie einen Platz in der Hölle verdienen? Ich glaube nicht an die Hölle, zumindest nicht im Leben nach dem Tode, sondern denke, dass die Hölle hier auf Erden bereitet wird, und zwar von Menschen für andere Menschen.
Sie sagen, der Gentleman, den ich kannte, wurde zu einem anderen. Wie sehr wünschte ich, ich könnte Ihnen angemesseneren Trost spenden als den, dass es mir gleich ist, wie Sie sich verändern, und Sie bei Ihrer Rückkehr so oder so willkommen sind. Tun Sie, was Sie tun müssen. Wenn es Ihnen durchzuhalten hilft, schließen Sie Ihre Gefühle fort. Vielleicht können wir sie eines Tages gemeinsam wieder aus ihrem Verlies befreien.
Ihre Prudence
Beatrix hatte noch nie absichtlich jemanden hinters Licht geführt. Und ihr wäre unendlich wohler, könnte sie Phelan in ihrem eigenen Namen schreiben. Doch leider entsann sie sich auch allzu gut seiner Bemerkungen über sie. Er würde keinen Brief von dieser »eigenartigen Beatrix Hathaway« wollen. Nein, er hatte um einen Brief der wunderschönen Prudence Mercer mit dem güldenen Haar gebeten. Und war ein vermeintlich von Prudence stammender Brief nicht besser als gar keiner? Ein Mann in Christophers Lage brauchte jede Ermutigung, die irgend zu haben war.
Er musste erfahren, dass er anderen Menschen nicht gleichgültig war.
Und erstaunlicherweise stellte Beatrix fest, dass er ihr, nachdem sie seinen Brief gelesen hatte, nicht gleichgültig war.
Kapitel 2
Der September brachte trockenes, klares Wetter, und die Pächter wie Arbeiter auf dem Ramsay-Anwesen fuhren eine Ernte ein, wie sie in dieser Üppigkeit noch nicht da gewesen schien. Wie jeder andere auf dem Anwesen war auch Beatrix mit der Ernte und den darauffolgenden Festen beschäftigt. Es wurde ein großes Abendessen mit kalten Speisen ausgerichtet und danach ein Tanz auf dem Anwesen von Ramsay House, zu dem über tausend Gäste, einschließlich Pächtern, Bediensteten und Dörflern geladen waren.
Zu Beatrix’ Verdruss war Audrey Phelan nicht imstande, den Festlichkeiten beizuwohnen, da ihr Gemahl von einem hartnäckigen Husten geplagt wurde, sodass sie daheimblieb, um ihn zu umsorgen. »Der Arzt hat uns einige Medizin gegeben, die John bereits sehr gut half«, schrieb Audrey, »aber er mahnte, dass unausgesetzte Bettruhe zwingend für eine Aussicht auf vollständige Genesung wäre.«
Ende November wanderte Beatrix nach Phelan House, wobei sie den kürzesten Weg durch den Wald mit seinen knorrigen Eichen und wild gestikulierenden Buchen nahm. Die dunklen kahlen Äste wirkten wie mit Puderzucker bestäubt. Als die Sonne durch die Wolken lugte, brachte sie alles so zum Glitzern, dass es beinahe blendete. Beatrix’ feste Schuhe knarzten auf dem trockenen Laub und dem gefrorenen Moos.
Sie näherte sich Phelan House, ehedem eine königliche Jagdhütte. Es war ein großer, efeuberankter Bau inmitten von zehn Morgen bewaldetem Land. Sowie Beatrix die Einfahrt erreichte, lief sie auf den Eingang zu.
»Beatrix!«
Auf den Klang der leisen Stimme hin drehte Beatrix sich um und sah Audrey Phelan, die allein auf einer Steinbank saß.
»Oh, guten Tag!«, rief Beatrix fröhlich. »Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen, also dachte ich, ich …« Sie verstummte, als sie ihre Freundin näher betrachtete.
Audrey trug ein schlichtes Tageskleid. Das Grau ihres Kleides verschmolz beinahe mit dem der Baumstämme hinter ihr. Sie war so still und reglos gewesen, dass Beatrix sie gar nicht bemerkt hatte.
Seit drei Jahren waren die beiden Freundinnen, seit Audrey John geheiratet und nach Stony Cross gezogen war. Beatrix hatte solche Freundinnen, mit denen sie unverfänglich plauderte – dazu zählte Prudence –, und jene, an die sie sich mit Sorgen wandte – das war Audrey.
Beatrix stutzte, weil Audrey so ungewöhnlich blass war, ihre Augen und ihre Nase hingegen ziemlich gerötet.
»Du trägst weder einen Umhang noch einen Schal.«
»Mir geht es gut«, murmelte Audrey, obwohl ihre Schultern bebten. Sie schüttelte den Kopf, als Beatrix ihren schweren Wollumhang abnahm und ihn ihr umlegen wollte. »Nein, Bea, nicht …«
»Mir ist warm vom Gehen«, sagte Beatrix. Sie setzte sich neben die Freundin auf die eiskalte Steinbank. Es verging eine Weile, und Beatrix sah, wie Audrey angestrengt schluckte. Furchtbares musste vorgefallen sein. Beatrix zwang sich, Geduld zu haben, doch vor Angst begann ihr Herz schneller zu schlagen. »Audrey«, fragte sie schließlich, »ist Captain Phelan etwas zugestoßen?«
Audrey sah sie mit einem Blick an, als würde Beatrix in einer fremden Sprache reden. »Captain Phelan«, wiederholte sie leise und schüttelte matt den Kopf. »Nein, soweit ich weiß, ist Christopher wohlauf. Erst gestern kamen mehrere Briefe von ihm. Einer ist für Prudence.«
Beatrix war schwindelig vor Erleichterung. »Ich kann ihn ihr bringen, falls es dir recht ist«, bot sie an und bemühte sich, möglichst gleichgültig zu klingen.
»Ja, das wäre eine Hilfe.« Audrey rang die blassen Hände in ihrem Schoß.
Vorsichtig streckte Beatrix eine Hand aus und legte sie über Audreys. »Ist der Husten deines Mannes schlimmer geworden?«
»Der Arzt war heute hier.« Sie holte tief Luft und flüsterte: »John hat die Schwindsucht.«
Beatrix drückte Audreys Hand.
Beide schwiegen, während der kalte Wind an den Bäumen rüttelte.
Eine solch maßlose Ungerechtigkeit war schwer zu begreifen. John Phelan war ein anständiger Mann, stets als Erster zur Stelle, wenn er hörte, dass jemand Hilfe brauchte. Er hatte die medizinische Behandlung einer Pächtersfrau bezahlt, die sich das Paar nicht leisten konnte, stellte das Piano in seinem Haus zur Verfügung, damit die hiesigen Kinder Musikunterricht bekamen, und hatte sich an den Baukosten für den Kuchen-Laden beteiligt, nachdem er beinahe vollständig niedergebrannt war. All das tat er mit größtmöglicher Diskretion, als wäre es ihm peinlich, bei einer guten Tat ertappt zu werden. Warum musste jemand wie John so gestraft werden?
»Es ist kein Todesurteil«, sagte Beatrix. »Manche Leute überleben die Schwindsucht.«
»Einer von fünfen«, stimmte Audrey zu.
»Dein Mann ist jung und stark. Und jemand muss der eine von fünfen sein, also wird es gewiss John sein.«
Audrey nickte, sagte aber nichts.
Sie beide wussten, dass die Schwindsucht eine besonders tückische Erkrankung war. Sie führte zu schweren Schäden an der Lunge, dramatischem Gewichtsverlust und Ermattung. Das Schlimmste war der Husten, der beständig zunahm und blutiger wurde, bis die Lunge am Ende so voller Wasser und Blut war, dass der Kranke nicht mehr atmen konnte.
»Mein Schwager Cam weiß viel über Kräuter und Medizin«, sagte Beatrix. »Seine Großmutter war eine Heilerin.«
»Zigeunermedizin?«, fragte Audrey misstrauisch.
»Ihr müsst alles versuchen«, beharrte Beatrix. »Auch Zigeunermedizin. Die Roma leben in der Natur und wissen alles über deren Heilkräfte. Ich werde Cam bitten, ein Tonikum für Mr. Phelans Lunge zu mischen, und …«
»John würde es nicht nehmen«, fiel Audrey ihr ins Wort. »Und seine Mutter wäre dagegen. Die Phelans sind sehr konventionelle Menschen. Was nicht aus dem Glasfläschchen eines Arztes oder Apothekers kommt, heißen sie nicht gut.«
»Ich bringe euch dennoch etwas von Cam.«
Audrey legte den Kopf an Beatrix’ Schulter. »Du bist eine gute Freundin, Bea. In den kommenden Monaten werde ich dich brauchen.«
»Ich bin da.«
Noch eine Windböe blies über sie hinweg und zerrte an Beatrix’ Ärmeln. Audrey schüttelte sich, stand auf und gab Beatrix ihren Umhang zurück. »Gehen wir ins Haus, dann gebe ich dir den Brief für Pru.«
Im Haus war es anheimelnd warm. Die großen Zimmer hatten niedrige Holzdecken, und durch die hohen Kassettenfenster fiel fahles Winterlicht herein. Es schien, als wären sämtliche Kaminfeuer entzündet worden, denn sanfte Wärme durchströmte die aufgeräumten Zimmer. Alles im Haus war geschmackvoll und gedeckt, und das stattliche Mobiliar hatte ein Alter erreicht, in dem es gleichermaßen ehrwürdig wie bequem wirkte.
Ein scheues Hausmädchen kam und nahm Beatrix den Umhang ab.
»Wo ist deine Schwiegermutter?«, fragte Beatrix, als sie Audrey zur Treppe folgte.
»Sie hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Die Nachricht traf sie besonders hart.« Audrey verstummte kurz. »John ist von je her ihr Liebling.«
Das wusste Beatrix, ebenso wie ganz Stony Cross. Mrs. Phelan betete beide Söhne an, hatte sie doch nur noch die zwei, denn ihre anderen Kinder, ebenfalls Jungen, waren schon im Säuglingsalter gestorben und die einzige Tochter tot zur Welt gekommen. John jedoch war Mrs. Phelans ganzer Stolz. Folglich war in ihren Augen keine Frau gut genug für ihn. In den drei Jahren ihrer Ehe hatte Audrey reichlich Kritik von ihrer Schwiegermutter hinnehmen müssen, vor allem weil sie bislang keine Kinder bekommen hatte.
Beatrix und Audrey stiegen die Treppe hinauf, vorbei an Familienporträts in wuchtigen Goldrahmen. Zumeist waren es Beauchamps, vom adligen Zweig der Familie. Man kam nicht umhin zu bemerken, dass die Beauchamps außergewöhnlich schöne Menschen mit schmalen Nasen, leuchtenden Augen und dichtem, fließendem Haar waren.
Oben an der Treppe hörten sie gedämpftes Husten aus einem Zimmer weit hinten. Der raue, rasselnde Klang war beängstigend.
»Würdest du bitte einen Moment warten?«, fragte Audrey. »Ich muss zu John. Es ist Zeit für seine Medizin.«
»Ja, natürlich.«
»Christophers Zimmer – das, in dem er wohnt, wenn er zu Besuch ist – ist gleich dort. Ich habe den Brief auf die Kommode gelegt.«
»Ich hole ihn.«
Audrey ging zu ihrem Ehemann, während Beatrix in Christophers Zimmer trat, wobei sie zuerst vorsichtig durch die Tür lugte.
Drinnen war es halb dunkel. Beatrix zog einen der schweren Vorhänge auf, sodass Tageslicht hereinfiel und ein helles Viereck auf den Teppich malte. Der Brief lag auf der Kommode, wie Audrey gesagt hatte, und eilig griff Beatrix danach. Zu gern hätte sie das Siegel gleich hier aufgebrochen.
Doch das durfte sie nicht, also steckte sie den Umschlag in die Tasche ihres Kleids. Unschlüssig blieb sie vor der Kommode stehen und betrachtete die Sachen, die säuberlich auf einem Holztablett ausgelegt waren.
Ein Rasierpinsel mit silbernem Griff, ein klappbares Rasiermesser, eine leere Seifenschale sowie eine Porzellandose mit silbernem Deckel. Beatrix konnte nicht widerstehen, in die Dose zu schauen. Vorsichtig hob sie den Deckel hoch. Drinnen lagen drei Paar Manschettenknöpfe, zwei in Silber, eines in Gold, eine Uhrkette und ein Messingknopf. Beatrix schloss den Deckel wieder, nahm den Rasierpinsel und strich sich damit über die Wange. Die Borsten waren seidig weich, und ein angenehmer Duft von würziger Seife stieg aus den feinen Haaren auf.
Beatrix hielt sich den Pinsel dichter an die Nase und atmete das maskuline Aroma von Zedern, Lavendel und Lorbeer ein. Sie stellte sich vor, wie Christopher den Seifenschaum auftrug, dabei den Mund mal in die eine, mal in die andere Richtung verzog, so wie Beatrix es bei ihrem Vater und ihrem Bruder gesehen hatte. Diese männlichen Verrichtungen, um die Stoppeln von den Wangen zu schaben, hatten etwas Faszinierendes.
»Beatrix?«
Schuldbewusst legte sie den Rasierpinsel wieder hin und lief hinaus auf den Flur. »Ich habe den Brief gefunden«, sagte sie, »und die Vorhänge geöffnet. Ich kann sie wieder schließen und …«
»Nein, schon gut, es soll ruhig etwas Licht hereinkommen. Ich kann dunkle Zimmer nicht leiden.« Audrey rang sich ein Lächeln ab. »John hat seine Medizin genommen. Sie macht ihn schläfrig. Solange er ruht, gehe ich nach unten und spreche mit der Köchin. John denkt, dass er vielleicht ein wenig Hafergrütze essen kann.«
Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter.
»Danke, dass du den Brief zu Prudence bringst«, sagte Audrey.
»Es ist sehr freundlich von dir, dass du es ihnen möglich machst zu korrespondieren.«
»Ach, das ist keine Mühe. Und ich tue es um Christophers willen. Allerdings gebe ich zu, dass ich überrascht bin. Ich hätte nicht erwartet, dass Prudence sich die Zeit nimmt, Christopher zu schreiben.«
»Warum wundert es dich?«
»Ich glaube nicht, dass sie sich etwas aus ihm macht. Tatsächlich habe ich Christopher vor ihr gewarnt, bevor er fort ist. Aber er war so hingerissen von ihrem Aussehen und ihrer Lebhaftigkeit, dass er sich einredete, zwischen ihnen wäre es ernst.«
»Ich dachte, du magst Prudence.«
»Das tue ich auch. Oder zumindest versuche ich es, schon dir zuliebe.« Audrey lächelte, als sie Beatrix’ Miene sah. »Ich habe beschlossen, mehr wie du zu sein, Bea.«
»Wie ich? Oh, das würde ich nicht empfehlen. Ist dir nie aufgefallen, wie seltsam ich bin?«
Audreys Lächeln wurde zu einem Grinsen, und für einen Moment sah sie wie die unbekümmerte junge Frau aus, die sie vor Johns Krankheit gewesen war. »Du nimmst die Menschen, wie sie sind. Ich denke, du betrachtest sie wie deine Kreaturen, bist geduldig, beobachtest ihre Gewohnheiten und Wünsche, doch du urteilst nicht über sie.«
»Über deinen Schwager urteilte ich recht harsch«, entgegnete Beatrix. Deswegen plagte sie ihr Gewissen.
»Es sollten ruhig mehr Leute streng mit Christopher sein«, erwiderte Audrey lächelnd. »Möglicherweise bessert es seinen Charakter.«
Der ungeöffnete Brief in Beatrix’ Tasche war eine Qual für Beatrix. Sie eilte zurück nach Hause, sattelte sich ein Pferd und ritt nach Mercer House, einem sehr vornehmen Herrenhaus mit Türmen, aufwendig geschnitzten Verandapfosten und Buntglasfenstern.
Da sie bis drei Uhr morgens auf einem Ball getanzt hatte, war Prudence eben erst aufgestanden und empfing Beatrix in einem Samtmorgenkleid mit üppigem weißem Spitzenbesatz.
»Oh, Bea, du hättest gestern Abend auf dem Ball sein müssen! Dort waren so viele gut aussehende junge Herren. Sogar ein ganzes Kavallerieregiment war dort, das in zwei Tagen auf die Krim geschickt werden soll, und in ihren Uniformen sahen sie alle so prächtig aus …«
»Ich war gerade bei Audrey«, sagte Beatrix atemlos und schloss die Tür des kleinen Salons hinter ihnen. »Dem armen Mr. Phelan geht es nicht gut und – nun, davon erzähle ich dir gleich, aber – hier ist ein Brief von Captain Phelan!«
Prudence lächelte und nahm den Brief. »Danke, Bea. Also, die Offiziere, die ich gestern Abend kennenlernte … Unter ihnen war ein dunkelhaariger Leutnant, der mich um einen Tanz bat, und er …«
»Willst du den Brief nicht öffnen?«, fragte Beatrix, die unglücklich mit ansah, wie Prudence den Brief auf einen Beistelltisch legte.
Prudence schmunzelte. »Meine Güte, bist du heute ungeduldig. Möchtest du, dass ich ihn umgehend öffne?«
»Ja.« Beatrix setzte sich auf einen Stuhl mit geblümtem Polster.
»Aber ich möchte dir von dem Leutnant erzählen.«
»Dieser Leutnant ist mir vollkommen einerlei. Ich will von Captain Phelan hören.«
Prudence kicherte. »So aufgeregt habe ich dich nicht mehr gesehen, seit du den Fuchs gestohlen hast, den Lord Campdon letztes Jahr aus Frankreich mitbrachte.«
»Ich habe ihn nicht gestohlen, sondern gerettet. Einen Fuchs für die Jagd einzuführen und hier aussetzen zu wollen, nenne ich höchst unsportlich.« Beatrix zeigte auf den Brief. »Öffne ihn!«
Prudence brach das Siegel, überflog den Inhalt und schüttelte ungläubig den Kopf. »Nun schreibt er über Maultiere.« Sie verdrehte die Augen und reichte Beatrix den Brief.
Miss Prudence Mercer
Stony Cross
Hampshire, England
7. November 1854
Meine liebe Prudence,
ungeachtet der Berichte, die britische Soldaten als furchtlos beschreiben, versichere ich Ihnen, dass wir uns unter Feindbeschuss sehr wohl ducken und in Deckung gehen. Ihrem Rat folgend, habe ich das seitliche Ausweichen und Hinter-einem-Felsen-Verstecken zusätzlich in mein Repertoire aufgenommen, und das mit beachtlichem Erfolg. Meine Erfahrung widerlegt die alte Fabel, denn es gibt Zeiten im Leben, in denen man eindeutig der Hase sein möchte und nicht die Schildkröte.
Am vierundzwanzigsten Oktober kämpften wir im südlichen Hafen Balaklawa. Die Leichte Brigade erhielt den unerklärlichen Befehl, geradewegs in eine Batterie russischer Gewehrstellungen zu stürmen. Fünf Kavallerieregimenter wurden ohne Unterstützung niedergepflügt. Innerhalb von zwanzig Minuten verloren wir zweihundert Männer und annähernd vierhundert Pferde. Am fünften November folgte eine weitere Schlacht bei Inkerman.
Wir wollten die Verwundeten vom Feld holen, bevor die Russen bei ihnen waren. Albert ging mit mir hinaus in den Kugelhagel und half mir, die Verwundeten zu identifizieren, damit wir sie aus der Schusslinie schaffen konnten. Mein engster Freund im Regiment wurde getötet.
Bitte richten Sie Ihrer Freundin Beatrix meinen Dank für ihren Rat mit Albert aus. Er beißt seltener und schnappt überhaupt nicht mehr nach mir, auch wenn manche Besucher in meinem Zelt durchaus noch seine Zähne zu spüren bekommen.
Mai und Oktober sind also die am schönsten duftenden Monate? Ich möchte den Dezember hinzunehmen, wenn es nach Immergrün, Frost, Holzrauch und Zimt duftet. Was Ihr Lieblingslied angeht: Wussten Sie, dass »Over the Hills and Far Away« die offizielle Melodie der Rifle Brigade ist?
Es scheint, dass beinahe jeder von einer Krankheit geplagt wird, mit Ausnahme von mir. Bei mir zeigen sich weder Anzeichen für Cholera noch für eine der anderen Plagen, die über beide Divisionen hinwegfegen. Mir kommt es vor, als sollte ich anstandshalber wenigstens eine beeinträchtigte Verdauung vortäuschen.
Zur Eselsfehde: Bei allem gebührenden Mitgefühl für Caird und dessen wenig tugendhafte Mähre möchte ich dringend darauf hinweisen, dass die Geburt eines Maulesels fürwahr kein Übel ist. Maultiere sind schrittfester als Pferde, gemeinhin von robusterer Gesundheit und, was das Beste ist: Sie haben sehr ausdrucksstarke Ohren. Obendrein sind sie nicht übermäßig sturköpfig, solange sie gut geführt werden. Falls Sie sich über meine offenkundige Vorliebe für Maultiere wundern, sollte ich wohl erklären, dass ich als Junge ein Maultier namens Hector hielt, benannt nach dem Muli aus der Ilias.
Ich will mich auf keinen Fall erdreisten, Sie zu bitten, dass Sie auf mich warten, Prudence, aber ich bitte Sie herzlich, mir wieder zu schreiben. Ihren letzten Brief las ich mehr Male, als ich zählen kann. Auf wundersame Weise sind Sie mir hier, zweitausend Meilen entfernt, näher denn je.
Herzlichst
Ihr Christopher
Während Beatrix las, war sie abwechselnd besorgt, gerührt und unsagbar bezaubert. »Lass mich ihm antworten und mit deinem Namen unterzeichnen«, bettelte sie. »Einen Brief noch. Bitte, Pru! Ich zeige ihn dir, ehe ich ihn abschicke.«
Prudence lachte laut. »Nein, wirklich, das ist das Albernste, was ich je gehört habe. Ach, na schön, schreib ihm, wenn es dir Spaß macht.«
In der nächsten halben Stunde ergab sich Beatrix dem belanglosen Geplauder über den Ball, die Gäste, die dort waren, und den neuesten Klatsch aus London. Sie schob den Brief von Christopher Phelan in ihre Tasche und erstarrte, als sie etwas Unbekanntes ertastete. Ein metallischer Griff und … die seidigen Borsten eines Rasierpinsels. Sie merkte, wie sie erblasste, als sie begriff, dass sie unabsichtlich den Rasierpinsel von Christophers Kommode eingesteckt hatte.
Ihr Problem war wieder da.
Irgendwie gelang es Beatrix, weiterzulächeln und ruhig mit Prudence zu schwatzen, während in ihrem Innern der reinste Tumult herrschte.
Hin und wieder, wenn sie sehr nervös war oder Kummer hatte, steckte Beatrix kleine Gegenstände in einem Laden oder einem Haus ein. Sie tat es, seit ihre Eltern gestorben waren. Manchmal bemerkte sie gar nicht, dass sie etwas mitnahm, bei anderen Gelegenheiten war die Verlockung so unwiderstehlich, dass sie zu schwitzen und zu zittern begann, bis sie ihr endlich nachgab.
Dinge zu stehlen war nie schwierig; das Zurückgeben war es, das ihr große Schwierigkeiten bereitete. Beatrix und ihre Familie hatten es bislang immer geschafft, die Gegenstände wieder an ihren richtigen Platz zurückzubringen, doch erforderte es mitunter extreme Maßnahmen: Besuche zu unziemlichen Tageszeiten, das Erfinden von wilden Ausreden, um durch jemandes Haus zu stromern. Jedenfalls trug es dazu bei, den Ruf der Hathaways, exzentrisch zu sein, noch zu untermauern.
Zum Glück würde es nicht schwer sein, den Rasierpinsel wieder an seinen Platz zu schaffen. Das könnte Beatrix bei ihrem nächsten Besuch bei Audrey tun.
»Ich denke, ich sollte mich jetzt ankleiden«, sagte Prudence endlich.
Beatrix nahm den Wink dankbar an. »Gewiss. Es ist Zeit, dass ich heimgehe und einigen Pflichten nachkomme.« Sie lächelte und fügte munter hinzu: »Und noch einen Brief schreibe.«
»Aber schreib nichts Wunderliches hinein«, bat Prudence. »Ich habe einen Ruf zu wahren, wie du weißt.«
Kapitel 3
Captain Christopher Phelan
Erste Battalion Rifle Brigade
Home Ridge Camp
Inkerman, Krim
3. Dezember 1854
Lieber Christopher,
heute Morgen las ich, dass über zweitausend Männer in einer jüngsten Schlacht getötet wurden. Es hieß, dass ein Rifle-Offizier von einem Bajonett verwundet wurde. Das waren nicht Sie, oder? Sind Sie verwundet? Ich habe solche Angst um Sie. Und es tut mir sehr leid, dass Ihr Freund getötet wurde.
Wir schmücken für die Feiertage, hängen Ilex und Mistelzweige auf. Ich lege Ihnen eine Weihnachtskarte von einem hiesigen Künstler bei. Beachten Sie das Band mit der Troddel unten: Wenn Sie daran ziehen, dudeln die Herren links ihre Weinkelche leer. (»Dudeln« ist ein merkwürdiges Wort, nicht wahr? Aber ich mag es.)
Ich liebe die alten vertrauten Weihnachtslieder und dass jedes Weihnachten gleich ist. Mir gefällt es, Plumpudding zu essen, obgleich ich ihn eigentlich nicht einmal besonders mag. Aber Rituale haben so etwas Beruhigendes, finden Sie nicht auch?
Albert scheint ein entzückender Hund und ein treuer Bursche mit einer guten Seele zu sein.
Ich sorge mich, dass Ihnen etwas zugestoßen sein könnte, und hoffe sehr, es geht Ihnen gut. Jeden Abend zünde ich eine Kerze am Baum für Sie an.
Antworten Sie mir, sobald Sie können.
Ihre Prudence
P.S.: Ich teile Ihre Zuneigung zu Maultieren. Diese Kreaturen sind kein bisschen eingebildet, prahlen nie mit ihrer Herkunft. Man wünschte, gewisse Leute wären in dieser Beziehung etwas mehr wie Maultiere.
Miss Prudence Mercer
Stony Cross
Hampshire
1. Februar 1855
Meine liebe Pru,
leider war ich doch der Offizier, den ein Bajonett verwundete. Wie kamen Sie darauf? Es geschah, als wir einen Hügel hinaufstiegen, um eine russische Schützenstellung einzunehmen. Doch es handelte sich lediglich um eine kleinere Schulterwunde, die wahrlich nicht wert war, in der Zeitung erwähnt zu werden.
Am vierzehnten November gab es einen Sturm, der die Lager verwüstete und mehrere französische und britische Schiffe im Hafen zum Kentern brachte. So verloren wir abermals viele Leben und betrüblicherweise auch einen Großteil der Wintervorräte sowie dringend benötigte Ausrüstung. Ich glaube, dies ist es, was man gemeinhin einen »barbarischen Feldzug« nennt. Ich habe Hunger. Letzte Nacht träumte ich von Essen. Für gewöhnlich träume ich von Ihnen, doch zu meinem Bedauern muss ich gestehen, dass Sie letzte Nacht von Lammbraten mit Minzsauce verdrängt wurden.
Es ist bitterkalt. Seit Neuestem teile ich mein Nachtlager mit Albert. Wir sind recht mürrische Bettgefährten, jedoch beide gewillt, es zu ertragen, um nicht zu erfrieren. Albert ist unentbehrlich für die Kompanie geworden. Unter Beschuss bringt er Nachrichten hin und her und läuft sehr viel weiter, als es ein Mann könnte. Überdies ist er ein hervorragender Wach- und Spürhund.
Und einige Dinge, die ich von Albert gelernt habe, wären:
1. Jedes Essen kann meines sein, solange es noch kein anderer heruntergeschluckt hat.
2. Man sollte, sooft man kann, ein Nickerchen machen.
3. Man bellt nicht, solange es nicht wichtig ist.
4. Manchmal ist es unvermeidlich, den eigenen Schwanz zu jagen.
Ich hoffe, dass Sie ein schönes Weihnachtsfest verlebt haben. Vielen Dank für die Karte, die am vierundzwanzigsten Dezember eintraf. Sie wurde in meiner Kompanie herumgereicht, denn die meisten der Männer hatten noch nie eine Weihnachtskarte gesehen. Bis sie schließlich wieder bei mir ankam, hatten die Herren an der Troddel eine Menge gedudelt.
Auch ich mag das Wort »dudeln.« Überhaupt habe ich mich schon immer für ausgefallene Wörter begeistern können. Zum Beispiel für »Ferrieren«, womit das Beschlagen eines Pferdes gemeint ist. Oder »Nidifikation« für Nisten. Hat Mr. Cairds Stute schon gefohlt? Vielleicht bitte ich meinen Bruder, ein Angebot zu machen. Man weiß nie, wann man ein gutes Maultier gebrauchen kann.
Lieber Christopher,
es erscheint mir viel zu prosaisch, Ihnen einen Brief per Post zu schicken. Könnte ich doch eine aufregendere Transportweise finden … Eine kleine Papierrolle an ein Vogelbein binden oder Ihnen eine Nachricht in einer Flasche zukommen lassen. Doch im Interesse der Verlässlichkeit werde ich vorerst bei der Königlichen Post bleiben.
Ich habe eben in der Times gelesen, dass Sie noch weitere Heldentaten vollbringen mussten. Warum gehen Sie solche Wagnisse ein? Die gewöhnlichen Pflichten des Soldaten sind bereits hinreichend gefährlich. Achten Sie auf Ihre Sicherheit, Christopher – wenn schon nicht um Ihretwillen, dann für mich. Meine Bitte ist gänzlich eigennützig, gestehe ich, denn ich könnte es nicht ertragen, sollten keine Briefe mehr kommen.
Ich bin so weit weg, Pru. Mir ist, als würde ich außerhalb meines Lebens stehen und es aus der Ferne betrachten. Inmitten all dieser Brutalität habe ich die einfachen Freuden entdeckt, die das Streicheln eines Hundes, das Lesen eines Briefes oder ein Blick auf den Nachthimmel bescheren können. Heute Nacht glaubte ich beinahe, die uralte Sternenkonstellation Argo zu sehen, benannt nach dem Schiff, mit dem Jason und seine Männer segelten, um das Goldene Flies zu suchen. Eigentlich sollte man Argo nur von Australien aus sehen, und dennoch war ich mir fast sicher, dieses Sternenbild erkannt zu haben.
Bitte vergessen Sie nicht, was ich Ihnen zuvor schrieb: Ich möchte, dass Sie auf mich warten. Heiraten Sie niemanden, ehe ich heimkomme.
Warten Sie auf mich.
Lieber Christopher,
dies ist der Duft des März: Regen, Lehm, Federn, Minze. Jeden Morgen und jeden Nachmittag trinke ich frischen Minzetee, mit Honig gesüßt. In jüngster Zeit unternehme ich viele Spaziergänge, und es erscheint mir, als könnte ich draußen besser nachdenken als drinnen.
In der letzten Nacht war es erstaunlich klar. Ich sah hinauf zum Himmel, ob ich Argo sehen könnte. Leider bin ich furchtbar schlecht darin, Sternenkonstellationen zu erkennen, ausgenommen Orion und dessen Gürtel. Doch je länger ich nach oben sah, umso mehr kam mir der Himmel wie ein Ozean vor, und dann erblickte ich eine ganze Flotte von Schiffen, aus Sternen gemalt. Ein Schiff ankerte nahe dem Mond, während die anderen von ihm fortstrebten. Ich stellte mir vor, Sie wären auf einem dieser Schiffe und segelten auf dem Mondschein.