Die Wärme, die wir teilen - Phillippa Penn - E-Book

Die Wärme, die wir teilen E-Book

Phillippa Penn

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Beschreibung

"Was glaubst du? Warum kommen die Leute zum Glühweinstand?" "Um sich zu betrinken?" "Nein. Sie kommen, um sich zu wärmen." Es ist nicht der Traum. Aber es ist schon in Ordnung. Seit der Druck in ihrem früheren Job zu groß wurde, hält sich die 25-jährige Luzia als Putzfrau über Wasser. Mit ihrer ehrgeizigen Mutter liegt sie im Streit und von ihren Freundinnen hört sie nichts mehr, also stellt sie sich auf ein einsames Weihnachten ein. Dann begegnet ihr Phil. Er führt pflichtbewusst den Stand seiner Familie auf dem Weihnachtsmarkt weiter, obwohl ihn das Schaustellerleben so gar nicht in Festtagslaune bringt. In einer verschneiten Dezembernacht funkt es zwischen Luzia und Phil. Sie spüren, dass sie einander etwas geben können, das ihnen gerade schmerzlich fehlt. Doch reichen ihre Gefühle aus, um warm durch den Winter zu kommen?

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Über die Autorin

Phillippa Penn bewohnt mit ihrem Mann ein Blockhaus, in dem es zur Weihnachtszeit besonders gemütlich zugeht. Wenn sie nicht gerade Kekse backt oder nach neuen Positionen für den Mistelzweig sucht, findet man sie mit einer Tasse Kaffee am Schreibtisch. Schon zwei Jugendbücher hat sie sich dort von der Seele geschrieben. Mit "Die Wärme, die wir teilen" veröffentlicht sie ihren ersten romantischen Kurzroman für junge Erwachsene.

Erfahre hier mehr über Phillippa:

instagram.com/phillippapenn

phillippapenn.de

Für alle, denen im Herzen kalt ist.

Für alle, die ihre Wärme teilen.

Über dieses Buch

Vielen Dank, dass du Die Wärme, die wir teilen liest! Dieser romantische Kurzroman soll ein Wohlfühlbuch für eine breite

Leserschaft sein. Gleichzeitig ist mir als Autorin bewusst, dass sich nicht alle Menschen mit denselben Inhalten wohlfühlen.

Um dein Leseerlebnis so angenehm wie möglich zu gestalten, folgt hier deswegen der Hinweis auf potenziell belastende Themen:

Leistungsdruck und Überlastung

rauer Umgangston, unfaire Behandlung sowie Sticheleien am Arbeitsplatz

Einsamkeit

konfliktbeladene Eltern-Kind-Beziehung

Konsum von alkoholischen Getränken und Süßigkeiten

Liebeskummer

Diese Liste wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt, sie erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Ich wünsche dir angenehme Lesestunden! Deine Phillippa

Inhaltsverzeichnis

Flecken auf Glas

Käfer und Riesen

Eine Handvoll Wärme

Schritt ins Leere

Schlingen und Hünen

Ein Schlückchen Feuer

Funkenflug mit Folgen

Rat und Tat

Ein kleiner Kreis

Katzenhaare auf Pullovern

Schmuck und Schnee

Ein ungeplanter Besuch

Worte der Warnung

Schnäpse und Schönheit

Ein doppeltes Nein

Kopfüber ins Herz

Verstecken und Verwundern

Ein Becher Liebe

Epilog Ein gemeinsamer Weg

1 – Flecken auf Glas

Ich wünschte wirklich, die Leute würden aufhören, ihre Gesichter gegen die Fenster zu drücken. Die bis zur Hälfte verschmierten Scheiben sind in einem Bus zwar normal und auch, dass auf dem beschlagenen Glas kleine Herzen gemalt oder Runden von Vier gewinnt ausgetragen werden, ist nichts Ungewöhnliches.

Aber muss man die Fenster küssen und ablecken?

Wirklich?

Ich wringe meinen Lappen aus und widme mich dem nächsten Schmatzer. Übergroß, wie von aufgespritzten Lippen, und ziemlich schmierig. Vermutlich irgendein ultralanganhaltender Lipgloss.

„Luzi, mach mal hin!“ Marita ist mit dem Abzieher schon in der Sitzreihe hinter mir. „Ich hab Weihnachten noch was vor!“

Hektisch wische ich über die Scheibe. Ich muss mich auf das Sitzpolster stellen, um auch bis ganz nach oben zu kommen. Als ich fertig bin, sehe ich, dass ich den Lipgloss über das ganze Glas verteilt habe.

Mist.

Ich steige vom Sitz, tauche das Fenstertuch wieder ins Wasser und will nochmal ansetzen.

„Lass mal.“ Marita drängt sich an mir vorbei. „Ist gut genug. Morgen kannste weiterwienern.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, zieht sie das verbliebene Wasser von der Scheibe ab und hinterlässt dabei gerade, aber nicht weniger irritierende Schmierspuren.

„Okay …“ Ich bin nicht so überzeugt von diesem Arbeitsergebnis, gehe aber weiter zur nächsten Sitzreihe und dem nächsten Fensterabschnitt.

Mit Marita lege ich mich nicht an.

Die kann richtig unangenehm werden, wenn sie nicht pünktlich ihre Zigarettenpause oder Feierabend machen darf. Wenn ich mit ihr zum Putzen eingeteilt bin, muss ich meinen Perfektionismus zu Hause lassen.

„Cindy, wischst du jetzt noch, oder was?“, keift sie in diesem Moment in die Richtung meiner anderen Kollegin, die in einer der hinteren Reihen sitzt und auf ihrem Smartphone herumtippt. „Kein Handy bei der Arbeit!“

Cindy antwortet mit einem Achselzucken. „Dann putzt halt schneller! Ich wische erst da vorne weiter, wenn ihr nicht mehr so rumtropft!“

Marita schnaubt. Sie weiß, dass Cindy recht hat. Es hat keinen Sinn, den Boden zu wischen, wenn die Fenster noch nicht fertig sind. Aber Marita kann es einfach nicht leiden, wenn nicht alles genau so läuft, wie sie sich das vorstellt, und nicht jeder nach ihrer Pfeife tanzt.

Ich könnte jetzt über meine herrische Kollegin den Kopf schütteln, aber ich mache diesen Job bereits anderthalb Jahre und bin über diesen Punkt längst hinaus.

Ich komme. Ich putze die Busse. Ich ertrage Marita. Ich gehe wieder. Schluss. Aus. Feierabend.

Mir geht es hier nicht um Selbstverwirklichung oder Spaß an der Arbeit.

„Mädels, die Nummer 8 und die 12 sind jetzt auch bereit für euch.“ Julio steckt den Kopf durch die offene Tür vorne am Fahrerhaus. „Ich habe durchgesaugt und die Griffe desinfiziert.“

„Was ist mit der 10? Kommt die auch irgendwann mal rein?“, beschwert sich Marita.

„Ist noch in der Werkstatt wegen der kaputten Achse. Kommt heute vielleicht gar nicht zum Putzen rein, sagt der Chef.“ Julio grinst. „Wir können wahrscheinlich alle ein bisschen früher heim.“

„Tsss!“ Marita sieht mich an. „Wenn Luzia in dem Tempo weitermacht, sind wir noch um Mitternacht hier!“

Wieder drücke ich meinen Lappen aus. Als ich den Mikrofaserstoff in gegensätzliche Richtungen verdrehe, stelle ich mir ganz kurz vor, er wäre Maritas Hals.

„Lass sie in Ruhe, Mecker-Rita“, tadelt Julio meine Kollegin. „Zünde dir eine Fluppe an und entspann dich.“

Er wirft mir einen kurzen, mitfühlenden Blick zu.

Ich lächle dankbar.

Julio ist der Einzige, den ich hier wirklich mag. Er ist auch der Dienstälteste von uns allen. Schon während seiner Schulzeit hat er angefangen, für das städtische Busunternehmen zu putzen. Er hat einen guten Draht zum Chef und kann sich erlauben, Marita in ihre Schranken zu weisen.

Wütend schmeißt meine Kollegin den Gummiabzieher und das fleckige Tuch zum Nachtrocknen auf den nächstbesten Sitz.

„Du hast fünf Minuten“, zischt sie mir im Vorbeigehen zu und stürmt aus dem Bus.

„Lass dir Zeit, Marita!“, flötet Cindy und schlägt die Beine übereinander. Mit einem Blick auf mich fügt sie hinzu: „Süß, wie dir der Liebling vom Chef immer zur Hilfe kommt.“

Ich ignoriere die Bemerkung. Ich bin mir sicher, dass Cindy genauso gut wie ich weiß, dass Julio keine Hintergedanken hat. Er ist ein anständiger Kerl.

Und einer, der auf andere Kerle steht.

Ich beeile mich, voranzukommen. Nicht weil ich Angst vor Marita habe. Sondern, weil ich es heute wirklich kaum erwarten kann, aus dem Werkhof herauszukommen. Ich bin an diesem speziellen Abend einfach nicht in Stimmung für … alles, irgendwie.

Wieder ist ein Jahr um.

Die Weihnachtsfeiertage stehen kurz bevor und die fröhlichste Zeit des Jahres zeigt mir wieder, was in meinem Leben gerade fehlt: Familie, Freunde, ein Ziel vor Augen …

Vor anderthalb Jahren habe ich es aufgegeben, mit meinem Irgendwas-mit-Medien-Abschluss eine Anstellung finden zu wollen. Obwohl ich das Studium so gut und in Rekordzeit geschafft hatte, lief jedes Jobangebot nur auf Praktika oder Mädchen-für-alles-Stellen hinaus. In der Regel sehr stressig und sehr schlecht bezahlt.

Der Putzjob sollte erst einmal nur eine Notlösung sein. Ein kleines, sicheres Einkommen, bis ich mich in der Medienbranche bewiesen und endlich die nächste Sprosse auf der Karriereleiter erklommen hätte.

Aber dann war meine Motivation und Begeisterung für dieses Berufsfeld ganz plötzlich verflogen.

Als hätte man ein Gummiband gespannt und gespannt, in der freudigen Erwartung, dass es im richtigen Augenblick davon schnellen würde. Nur dass mein Gummiband doch schon zu spröde war, um das Zerren auszuhalten.

Es ist einfach gerissen.

Und die ganze Spannung, meine ganze Kraft, war weg.

Ich konnte es erst gar nicht begreifen, dass ich nach Jahren, in denen ich immer die Beste, die Schnellste und Klügste sein wollte, von heute auf morgen keinen Antrieb mehr hatte. Und weil es auch sonst niemand in meinem Leben begreifen konnte, musste ich einen anderen Weg für mich finden.

Ich bin beim Putzen geblieben.

Ich hatte die Stelle schon, verdiente mit dem Job sogar beinahe genauso viel wie mit meinen kläglichen Versuchen, es in der Medienwelt „zu was zu bringen“.

Also habe ich daran festgehalten. Und habe noch weitere Putzjobs, hauptsächlich für Privatleute, angenommen.

Viermal die Woche sauge und wische ich morgens bei Menschen durch, die so erfolgreich und eingebunden in ihren Karrieren sind, dass zum Putzen keine Zeit bleibt. Und an drei Abenden in der Woche putze ich die Stadtbusse.

Es ist nicht der Traum.

Aber es ist schon in Ordnung.

Meistens bin ich damit zufrieden.

Ich finde nicht, dass Putzen unter meiner oder unter irgendjemandes Würde ist. Trotzdem ist im Moment die Sehnsucht nach etwas Anderem, nach etwas Neuem, groß. Wenn ich nur wüsste nach was …

Ich bin gerade am Cockpit angelangt, als Marita wieder in den Bus stiefelt. Überraschenderweise hat sie mir nichts zu sagen; dafür gibt sie direkt einen Schuss in Cindys Richtung ab: „Hey, Prinzessin, schnapp dir deinen Mopp!“

Cindy erhebt sich seufzend, ordnet betont langsam ihre Frisur und ihre – für diese Tätigkeit – viel zu schicken Klamotten.

Beinahe genüsslich zieht sie die Putzhandschuhe über ihre perfekt manikürten Finger, ehe sie den Stiel des Wischmopps in die Hand nimmt.

Bei diesem Ritual zuzusehen, bringt Marita zum Kochen. Ihr Gesicht ist hochrot, als sie sich Tuch und Abzieher greift, und ich befürchte, sie könnte gleich explodieren. Doch sie lässt ihren Ärger still weiter brodeln und macht sich an die Arbeit.

Ich atmete tief durch. Erleichtert, dass gerade kein Gezeter durch den Passagierraum dröhnt. Mit dem Fahrerfenster und der Innenseite der Frontscheibe bin ich schnell fertig. Den Bus von außen zu reinigen, gehört nicht zu unseren Aufgaben.

„Ich gehe weiter in die 8!“, rufe ich, als ich im Begriff bin, aus dem Fahrzeug zu steigen.

„Nein, geh in die 12!“, weist mich Marita an.

Es ist eigentlich egal, welchen Bus wir als Nächstes in Angriff nehmen. Aber meiner Kollegin geht es ums Prinzip.

Ich tue ihr den Gefallen und folge ihrem Befehl.

„Okay, bis gleich!“, sage ich schulterzuckend und bin draußen, ehe sie mir weitere Anweisungen geben kann.

Bevor ich in den nächsten Bus steige, lege ich einen Halt am Waschbecken ein. Die riesige Garage, in der die Busse geparkt werden, hat eine Art lange Küchenzeile entlang der Wand. Hier sind die Putzsachen, eine bunte Sammlung Kaffeebecher für die Pausen und eine kleine Auswahl Werkzeuge, für schnelle Reparaturen, verstaut.

Ich fülle frisches Wasser und scharf riechendes Putzmittel in meinen Eimer. Dann strecke ich mich nach dem Hängeschrank, um einen sauberen Lappen herauszuholen.

„Bitte schön, Madame!“ Julio tritt neben mich, greift in das hohe Schrankfach und hält mir ein frisch gewaschenes und gefaltetes Tuch hin.

Manchmal würde ich viel geben, um auch mal einen Tag 1,90 zu sein. Dankend nehme ich das Tuch entgegen.

„Wohin hat dich die Herrin zitiert?“, fragt mein Kollege.

„Nummer 12.“ Ich lache hohl. „Muss wohl heute meine Glückszahl sein.“

„Wieso?“ Julio betrachtet mich mit einem interessierten Blick, als er mir durch die Werkshalle zu Bus Nummer 12 folgt.

„Ach, na ja, es sind noch 12 Tage bis Weihnachten …“ Ich werde mit jedem Wort leiser. „Und ich habe heute Geburtstag.“

Er stolpert fast über seine langen Beine. „Geburtstag?“, ruft er aus. „Heute? Am 12.12.? Und das sagst du jetzt?“

„Schhh“, mache ich. „Ich will nicht, dass das jeder weiß.“

Julio lacht. „Wieso nicht?“ Er stößt mich neckend in die Seite. „Es ist doch immer so lustig anzusehen, wenn sich Marita zwingt, eine Schicht lang ganz nett zum Geburtstagskind zu sein.“

Ich seufze. „Und genau das finde ich noch schwerer zu ertragen als ihre übliche Stimmung: diese vorgetäuschte Freundlichkeit.“ Flehend schaue ich zu meinem hochgewachsenen Arbeitskollegen auf. „Bitte behalte es für dich, ja?“

Julio zieht die Stirn kraus und streicht sich eine seiner weiß gebleichten Strähnen hinters Ohr. „Na gut!“, lenkt er schließlich ein. „Was hast du dann heute noch vor?“

„Ähm … Nach Hause gehen?“ Ich trage meinen überschwappenden Putzeimer weiter und schüttele den Kopf.

Was für eine absurde Frage!

„Bis wir fertig sind, ist es schon spät. Und morgen früh putze ich bei Dr. Krenz“, gebe ich zu bedenken.

„Oha, Dr. Krenz.“ Ohne zu fragen, ob ich die Hilfe möchte, nimmt mir Julio den Eimer ab. „Klingt ja sehr prestigeträchtig, dein Side Hustle“, schnurrt er. „Ist der gute Doktor reich?“

„Ziemlich“, bestätige ich nickend.

„Gut aussehend?“, hakt mein Kollege weiter nach.

Ich wackele mit dem Kopf. „Jaaaa … Doch, ich denke schon. Wenn man auf ältere Männer abfährt, die schon vollständig ergraut sind.“

„Single?“ Er folgt mir, als ich in den Bus steige, stellt das Putzzeug ab und hockt sich lässig auf den nächstbesten Sitz.

„Soweit ich weiß.“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe bisher keine zweite Zahnbürste gesehen. Aber, Julio … Hast du nicht einen Special Someone?“, erkundige ich mich.

Er schnaubt. „Nicht mehr. Das hat nur ein paar Wochen gehalten.“ Seine Mundwinkel zieht er bedauernd nach unten.

„Oh.“ Ich knete das noch trockene Putztuch in meiner Hand. „Das tut mir leid.“

Julio winkt ab. „Wir wollten unterschiedliche Dinge.“

Ich schlucke. „Das ist hart. Entschuldige, dass ich es angesprochen habe.“

„Ja, du könntest wirklich sensibler sein.“ Für einen Moment sieht er tatsächlich tief betroffen aus und mein Herz zieht sich vor Scham und Reue zusammen.

Dann macht sich plötzlich ein Lächeln auf seinen Lippen breit. „Du kannst das natürlich wiedergutmachen“, schlägt er vor. „Indem du mir nach Feierabend einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt ausgibst!“

So viel zur Betroffenheit.

„Hey!“, rufe ich empört und werfe den Lappen nach ihm. „Du Schauspieler!“

„Nicht Schauspieler! Ich bin ein angehendes Model!“ Er lacht, weicht dem Putztuch aus und wirft sich in Pose. Er sieht dabei sehr viel besser aus, als irgendjemand auf einem Bussitz aussehen sollte.

Ich ziehe in Erwägung, den Putzeimer über ihm und seinen Modelmaßen auszuschütten.

„Okay, okay!“, keucht Julio, als er meinem Blick in Richtung Wischwasser folgt. Er hebt beschwichtigend beide Hände. „Ich gebe dir einen aus! Aber nur, weil heute dein Geburtstag ist!“

2 – Käfer und Riesen

Als wir nach Feierabend den Weihnachtsmarkt betreten, haben die Buden schon ihre Fensterläden zugeklappt. Nur ein paar im Zickzack gespannte Lichterketten erleuchten noch den Platz. Angetrunkene Menschen stolpern zwischen den kleinen Holzhütten hin und her, singen mal lauter und mal leiser ein kitschiges Weihnachtslied.

„Da sind wir wohl zu spät dran.“ Julio seufzt und rückt seine Beanie-Mütze zurecht. „Sorry, Geburtstagskind.“

„Macht nichts.“ Ich winke ab und schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach elf. „Mein Geburtstag ist demnächst sowieso vorbei.“ Dann versenke ich meine Hände schnell wieder in den Taschen. Der Wind, der zwischen die Reihen der kleinen Häuschen bläst, ist eiskalt.

„Ich hätte trotzdem gern ein kleines Bisschen mit dir gefeiert.“ Julio legt einen Arm um mich. „So als Aufheiterung.“

„Aufheiterung?“, frage ich überrascht.

„Ja, du schaust heute so … betrübt.“ Julio drückt mich freundschaftlich an sich. „Wie ein Basset Hound, weißt du?“

Mir war nicht klar, dass ihm oder irgendjemandem in der Arbeit auffällt, wie es mir gerade geht.

Irgendwie ist mir das peinlich.

Nicht nur, weil er mich mit einem Hund vergleicht.

„Basset Hound, ja? Na, danke.“ Ich vergrabe mein Gesicht in meinem gelb gestreiften Schal.

Julio springt vor mich, geht rückwärts, während er mich forschend ansieht. Er greift nach einer meiner schulterlangen Strähnen. „Ja, mit deinen braunen Haaren und den großen Augen schaust du aus wie ein Hündchen. Total niedlich!“ Er seufzt. „Aber auch so, so traurig.“

„Hm“, mache ich.

„Fast schon mitleiderregend“, führt Julio weiter aus.

Ich murre in mich hinein.

Er nimmt zwei Bündel meines Haars und hält sie wie Schlappohren in die Luft. „Man möchte dir, ich weiß auch nicht, ein Leckerli oder eine Streicheleinheit geben.“

„Okay, ich hab’s verstanden!“ Ich reiße mich und meine Haare von ihm los.

„Hey, hey, hey!“ Julio geht mir nach. „Entschuldige, wirklich, tut mir leid. Das war nicht böse gemeint!“ Er versucht, mich am Arm neben sich zu ziehen.

„Ich weiß“, gebe ich seufzend zu, erlaube ihm aber trotzdem nicht, sich bei mir unterzuhaken.

Unabhängig davon, wie er es gemeint hatte … Er hat bei mir einen Nerv getroffen. Mir ist bewusst, dass ich im Moment keine besonders fröhliche Gesellschaft bin.

Ich ertrage mich ja selbst kaum.

Um nicht zu weinen, lege ich den Kopf in den Nacken und starre hoch in den dunklen Nachthimmel. Mein Atem bildet kleine Wölkchen, als er über mir ins Himmelszelt schwebt.

„Wie wär’s mit einem Bier? Drüben im Eulenspiegel?“ Man hört Julio an, dass er unbedingt etwas gutmachen möchte.

Ich blocke ab. „Nein, ist schon okay. Ich gehe lieber nach Hause.“ Ganz kurz sehe ich ihn an, dann richte ich meinen Blick auf meine Stiefeletten.

Mir ist die Lust auf einen Drink vergangen und ich möchte mich nicht von seinen großen, blauen Augen umstimmen lassen. „Mikesch wartet bestimmt schon und hat Hunger.“

„Dein Kater hält bestimmt noch ein wenig durch“, versucht es Julio weiter. „Nur auf ein Getränk.“

„Nein!“, sage ich lauter und gereizter als beabsichtigt. Kurz hallt es zwischen den Marktbuden, die uns umgeben, nach.

„O-okay. Ich bin schon ruhig.“ Mein Kollege bringt ein wenig Abstand zwischen uns. „Es tut mir leid.“

Ich schweige einen Moment. „Schon okay.“ Meine Finger graben sich tiefer in meinen Jackentaschen. Die Anstrengung des Tages und die Kälte beginnen an mir zu nagen. „Ich will heute einfach ein bisschen für mich sein. Ausruhen und so.“

Es dauert einen Augenblick, ehe Julio antwortet. „Dann solltest du auch genau das tun.“ Er atmet tief durch. „Sorry, dass ich dich zu etwas anderem überreden wollte. Ich bin manchmal ein bisschen pushy.“

Ich schaue zu ihm und seinem entschuldigenden Lächeln auf. „Das stimmt.“ Ich erlaube mir, mich kurz über seinen bestürzten und schuldbewussten Gesichtsausdruck zu amüsieren. „Aber du bist trotzdem mein Lieblingskollege.“

Wir brechen beide in Kichern aus. Es ist wie ein Schwall Wärme und Erleichterung.

„Na, wie gut …“ Julio stupst mir mit dem Finger an die Stirn, „dass du auch meine Lieblingskollegin bist!“

Nun kann ich doch nicht anders, als mich von ihm in die Arme schließen zu lassen.

„Und du willst sicher kein Geburtstags-Bier?“, fragt er, ohne mich loszulassen. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Scheitel.

„Ich mache mir zu Hause eins auf!“, lüge ich.

Tatsächlich habe ich weder Bier noch etwas Ähnliches daheim. Und selbst wenn ich etwas Derartiges im Kühlschrank hätte … Ich trinke nie allein.

Ich trinke nur, wenn andere mit mir trinken.

Wenn es wirklich etwas zu feiern gibt.

„Okay, dann proste ich dir aus der Ferne zu.“ Julio lässt mich los und schaut auf sein Handy. „Sieht so aus, als wären ein paar Freunde von mir noch zu einer Party aufgelegt.“

„Na, dann …“ Ich schlucke. Keine meiner sogenannten Freundinnen hat sich heute zwecks einer Party – oder auch nur einer Gratulation – bei mir gemeldet. Die Enttäuschung schmeckt bitter. „Viel Spaß mit deiner Truppe“, zwinge ich mich trotzdem zu sagen.

„Werde ich haben!“ Julio hat sich schon halb von mir weggedreht, als er die Hand zum Abschied hebt.

Ich sehe zu, wie seine schlanke, hohe Gestalt unter den Lichterketten hindurchgeht und sich aus meinem Sichtfeld entfernt. Für einen Moment habe ich das Bedürfnis, ihm doch noch hinterherzurennen. Dann aber drehe ich mich herum und schlage die Richtung, in der meine Wohnung liegt, ein.

Auf dem feuchten Pflaster kommen meine Absätze ein wenig ins Schlittern. Der Regen der letzten Tage könnte heute Nacht zu einer Eisschicht werden.

Konzentriert mache ich einen Schritt nach dem anderen, um nicht auszurutschen. Plötzlich höre ich ein lautes Rumpeln gefolgt von einem Aufschrei.

Erschrocken reiße ich meinen Blick vom Boden los.

Was war das?

Oder vielmehr: Wer war das?

Die Buden links und rechts von mir sind dunkel und verschlossen. Ich kneife die Augen zusammen und schaue ein Stück den Weg hinunter. Ein schwacher Lichtschein bringt das nasse Pflaster dort zum Glänzen.

Ich haste darauf zu.

Als ich die Stelle erreiche, kann ich es sehen: In einer der Hütten brennt noch Licht. Es scheint durch die Ritzen der Fensterläden und die offene Hintertür. Wieder höre ich ein dumpfes Rumpeln, dann ein Ächzen.

„Hallo?“ Ich trete näher. „Brauchen Sie Hilfe?“

Zuerst sehe ich die alte Frau gar nicht. Dann wird zwischen zwei umgefallenen Kisten eine faltige Hand mit unzähligen Ringen in die Höhe gestreckt.

„Wenn Sie so nett wären“, krächzt eine Stimme. „Ich bin hier drunter.“

Ich mache einen Satz nach vorne und hieve erst den einen, dann den anderen Karton aus dem Weg. Sie sind nicht ganz so schwer, wie sie aussehen, aber unhandlich groß. Bei einem Blick hinein, sehe ich hunderte kleine Beutel, die mit getrockneten Blättern und buntem Pulver befüllt sind. Mir strömen so viele verschiedene Gerüche gleichzeitig entgegen, dass mir einen Moment schummrig wird.

„Verflixt nochmal!“, erklingt es neben mir.

Blinzelnd lenke ich meinen Blick und meine Aufmerksamkeit zurück zu der Frau. Wie ein schillernder Käfer liegt sie auf dem Dielenboden der kleinen Holzhütte und hat sichtlich Schwierigkeiten, sich aufzurappeln.

„Moment, ich helfe Ihnen!“ Schnell reiche ich ihr meinen Arm, den sie sofort umklammert.

Im Gegensatz zu den Kartons ist sie deutlich schwerer, als sie aussieht. Dabei wirkt sie unter den unzähligen Lagen an Tüchern und Röcken, so schmächtig.

Vielleicht ist es der ganze Schmuck, den sie trägt. Sie ist dekoriert wie ein Weihnachtsbaum. Neben einem oder zwei Ringen an jedem Finger trägt sie dicke Armbänder aus Edelsteinperlen. Klobige Kristalle baumeln an unterschiedlich langen Goldketten um ihren dünnen Hals. Es klirrt und klimpert, als ich ihr aufhelfe.

„Danke, Fräulein“, keucht sie und richtet ihre Kleidung. „Ein Glück, dass Sie in der Nähe waren, sonst hätte ich hier gelegen bis …“

„Tante Edda?“