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Verrat, Intrigen, Liebe und Tod. Carl Janson, ein Profikiller wird von einem Geheimbund westlicher Geheimdienste in die geteilte Stadt geschickt. Sein Auftrag: Ein Agentenaustausch. Doch die junge Republik ist nicht nur zum Spielplatz der Spione und zur Frontstadt zwischen Ost und West zur Zeit des Kalten Krieges geworden, sondern sie hat auch mit ihrer eigenen braunen Vergangenheit zu kämpfen ...
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Seitenzahl: 297
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swb media publishing®
Kai Bliesener
Die Watson-Legende
Ein Carl-Janson-Thriller
swb media publishing®
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist rein fiktiv und hat sich so nicht ereignet. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen waren aufgrund der Natur der Sache nicht immer vermeidbar. Sie sind nicht beabsichtigt, aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfasst.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2018
ISBN 978-3-964380-01-2
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.
© 2018 Südwestbuch Verlag
SWB Media Publishing, Gewerbestr. 2, 71332 Waiblingen
Printed in Germany
Umschlaggestaltung: Dieter Borrmann
Lektorat: Catrin Stankov
Satz: Julia Karl / www.juka-satzschmie.de
Druck und Bindung: Rosch-Buch Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
www.swb-verlag.de
Wenn man die Wahrheit verschweigt, wird die Wahrheit zur Lüge.
John Le Carré
Die Mauer war ohne jeden Zweifel das widerlichste Symbol politischen Versagens, das ich je gesehen hatte.
John Le Carré
Keiner von ihnen war sentimental. Ihre Bindung war eng, und doch waren Abschiede etwas Normales. Nur heute war es anders. Es war so ein unbestimmtes Gefühl, durch nichts zu belegen.
Carl wurde von seinen Eltern vergöttert. Er war ein Wunschkind, auf das sie lange hatten warten müssen. Und als sie den Kleinen endlich in den Armen hielten, war ein Traum für sie in Erfüllung gegangen.
Sie standen zusammen vor dem Eingang des Flughafens Heathrow in London – das moderne, weiß getünchte Gebäude mit seiner großen Glasfront zum Flugfeld im Rücken. Seine Mutter hatte ihre Arme um ihn geschlungen. Klara Janson war eine deutschstämmige, hochgewachsene Frau mit strengen Gesichtszügen, aber gütigen Augen. Das dunkle Kostüm betonte ihre frauliche Figur. Ihr blondes Haar war modisch geschnitten und schulterlang. Carl überragte sie inzwischen ein paar Zentimeter. Er hatte seinen Kopf mit den dichten dunklen Haaren an ihre Schulter gelegt.
Abschiede gehörten dazu, seit er denken konnte, aber er mochte sich nicht so recht daran gewöhnen. Ihm wäre lieber, seine Eltern müssten nicht ständig irgendwohin reisen, wo sie ihn nicht mitnehmen konnten. Sicher, er war gut in dem großen Landhaus aufgehoben und Maria, die Haushälterin, verwöhnte ihn nach Strich und Faden mit ihren Kochkünsten, die sich eher jenseits der britischen Küche bewegten. Auch sonst schaute sie zusammen mit ihrem Mann Joshua nach dem Rechten auf dem Anwesen der Jansons.
Als Diplomatenehepaar im Dienst der britischen Regierung waren sie viel auf Reisen. Das war während des mörderischen Krieges gegen Nazi-Deutschland so gewesen und hatte sich in den Monaten seit der verdienten und längst überfälligen Niederlage Hitlers gegen die Übermacht der Alliierten nicht geändert. Im Gegenteil: Carl hatte sogar das Gefühl, als wären seine Mum und sein Dad mehr unterwegs als zu der Zeit, in der in Europa die Bomben vom Himmel fielen.
Was genau seine Eltern machten, war ihm immer ein Rätsel. Carl hatte keine Ahnung, was es bedeutete, Diplomat zu sein, und warum seine Eltern so viel reisen mussten. Insgeheim stellte er sich in seinen Träumen gerne vor, seine Eltern wären als Spione in Abenteuer verwickelt, wie sie Joseph Conrad am Anfang des Jahrhunderts in seinem Roman Der Geheimagent oder William Somerset Maugham in den Ashden-Erzählungen zu Papier gebracht hatten. Carl hatte im Kino mit seinen Helden gefiebert, denn Alfred Hitchcock hatte beide Geschichten vor wenigen Jahren mit seinen Filmen Geheimagent und Sabotage äußerst erfolgreich in die Lichtspielhäuser rund um den Globus gebracht. Carl liebte Abenteuergeschichten und verschlang sie, wann immer sie ihm in die Hände kamen, und seine Eltern gingen oft mit ihm ins Kino. Hin und wieder wurden sie zu privaten Filmvorführungen eingeladen, so wie es bei den beiden Filmen von Hitchcock gewesen war. Freunde seiner Eltern waren reich genug, um ein eigenes kleines Kino auf ihrem Landsitz zu besitzen. Carl freute sich immer, wenn sie dort zu Besuch waren.
Aber Carl, der nächsten Monat sechzehn Jahre alt werden würde, vermutete inzwischen, dass die Realität wesentlich banaler ausfallen dürfte – langweilige Tagungen, erfüllt von endlos langweiligen Reden und anschließenden Dinnern. So stellte er sich die Reisen und Termine seiner Eltern vor, zumindest wenn er ihren Beschreibungen und Erzählungen Glauben schenkte, die sie ihm immer präsentierten. Aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt und stellte nur selten Fragen. Früher hatte er vor allem seinen Vater, den er regelrecht vergötterte, immer gelöchert, wenn er von einer Reise zurückgekehrt war. Aber außer einem Geschenk für Carl hatten die Eltern meist wenig im Gepäck – schon gar keine spannenden Erzählungen.
Edward Janson lächelte Carl immer an, wenn er zusammen mit seiner Frau von einer Reise zurückkam. Er präsentierte aber letztlich nur ausweichende Antworten auf die im Raum stehenden Fragen. Immer waren die Konferenzen plötzlich einberufen worden und immer an Orten außerhalb Englands. Einige Male wunderte sich Carl darüber, dass seine Eltern scheinbar Verletzungen auf den Reisen erlitten hatten. Eine Beule am Kopf, ein blauer Fleck am Rücken oder eine Schürfwunde im Gesicht. Die Erklärungen klangen meist banal: Man sei im Bad ausgerutscht oder habe im Dunkeln des Hotelzimmers eine Tür übersehen. Carl hatte es irgendwann akzeptiert, aber eben nie geglaubt. Waren sie doch Geheimagenten?
Während er sich von seiner Mutter verabschiedete, nahm er sich deshalb vor, sie nach deren Rückkehr weiter auszufragen. Egal, ob es wichtig oder unwichtig, gefährlich oder langweilig war. Er wollte Antworten und er war der Meinung, er sei längst alt genug, um sie endlich zu bekommen.
Nun stand sein Vater, ein schlanker Mann beeindruckender Größe von beinahe zwei Meter, was ihm zu einer schier unglaublichen körperlichen Präsenz verhalf, hinter seiner Frau.
Carl sah ihm in die stahlblauen Augen, während er Mum kräftig drückte. Ed, wie ihn Freunde und Verwandte nur nannten, sah wie einem Modemagazin entsprungen aus. Der maßgeschneiderte dunkle Anzug ließ einen athletischen Körper erahnen, das Gesicht war kantig und die markante Nase teilte es in zwei symmetrische Hälften. Die einstmals dunklen, fast schwarzen Haare waren inzwischen von Grau durchzogen. Für Carl wirkte er dadurch nicht unbedingt alt, sondern er sah aus wie einer der Helden aus den Büchern, die er so gerne las, und er hätte auch auf der Leinwand eine gute Figur gemacht.
»Wir kommen in nicht mal zwei Wochen zurück, Carl, und dann machen wir ein paar Tage Urlaub, fahren an die Küste nach Brighton und genießen die Ruhe«, sagte sein Vater und strich ihm über den Kopf. »Na, wie findest du das?«
»Ja … schon schön«, stammelte Carl. Ein Gefühl, das er nicht zuordnen konnte und bisher nicht kannte, war dafür verantwortlich. Ein leicht unangenehmes Brennen und Ziehen in seinem Magen. Ein Gefühl, das ohne Vorwarnung eine unbegründete Traurigkeit in ihm hochspülte.
Seine Mutter drückte ihn ein letztes Mal an sich, dann nahm sein Vater ihre Hand und zog sie mit in Richtung Abflughalle. Sie hatten nur jeder eine Tasche bei sich, die Koffer waren bereits verladen. Carl winkte ihnen hinterher und seine Mutter winkte zurück, während sein Vater ihm ein Lächeln über die Schulter zuwarf. Dann schritten beide durch die Glastür.
Hinter Carl trat James, der Fahrer seiner Eltern, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. James war Ende zwanzig, hatte einen durchtrainierten Körper und war mit brennender Leidenschaft als Soldat beim Kampf gegen die Nazis dabei gewesen.
Sein Sakko war unter der linken Schulter ausgebeult, und Carl wusste, dass es von der Waffe kam, die er immer in einem Schulterhalfter trug. Warum ein Fahrer eine Waffe tragen musste, konnte Carl nur ahnen, aber auch dazu stellte er keine Fragen. Die beiden schlenderten zum schwarzen Bentley Mark VI, der direkt gegenüber parkte. Es war das erste Bentley-Modell, das nach dem Krieg in Crewe in Cheshire gefertigt wurde. Carl war begeistert von dem Wagen.
Plötzlich schien die Luft zu beben und ein ohrenbetäubender Knall erschütterte den Boden. Carl Janson zuckte vor Schreck zusammen. Über dem Flughafen tauchte ein Feuerball auf, der wie eine zusätzliche Sonne in der Luft hing. Die Scheiben der Abflughalle zitterten.
Carl duckte sich instinktiv weg und suchte neben der massigen Karosserie des Bentleys Schutz. James war augenblicklich bei ihm, die gezogene Beretta feuerbereit in der Hand, und suchte mit den wachsamen Blicken die Gegend nach möglichen Gefahren oder Angreifern ab.
»Bist du in Ordnung?«, wollte er von Carl wissen.
»Ja, mir ist nichts passiert«, antwortete dieser knapp und mit zittriger Stimme. »Was ist los? Was war das für ein Knall?« Carl wurde unruhig. James antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und zog Carl nach oben. Der war von Sekunde zu Sekunde verunsicherter. Tränen schossen ihm in die Augen und verwässerten seinen Blick. »W… w… war das ihr Flugzeug?«
»Ich weiß es nicht, Carl. Aber ich fürchte ja.« Er zögerte einen Moment, verfrachtete Carl dann in den Wagen und machte die Tür zu. »Du wartest hier. Ich sehe nach, was geschehen ist.«
Carl nickte. James verstaute rasch die Waffe in seinem Schulterholster und verschwand in Richtung Flughafen.
Mit sich alleine spürte Carl einen Stich in der Brust. Es war ein Gefühl der Leere, des Schmerzes und der Gewissheit. Plötzlich wusste er, dass er seine Eltern nie mehr wiedersehen würde. Er wollte James hinterherrufen, er brauche nicht nachschauen, es sei das Flugzeug seiner Eltern gewesen, das vor wenigen Minuten am Himmel explodiert war. Doch er konnte sich nicht bewegen. Er wartete, beobachtete reglos die Rauchschwaden, die hinter dem Flughafengebäude aufstiegen, und das inzwischen hektische Treiben um ihn herum. Menschen liefen durcheinander, Sirenen heulten, Feuerwehrmänner sprangen von den herankommenden Wagen und rannten zusammen mit Sanitätern Richtung Absturzstelle. Polizisten versuchten, etwas Ruhe und Ordnung in die von Panik getriebenen Flughafenbesucher und Passagiere zu bringen, die alle aus dem Gebäude ins Freie strömten. Alles wirkte wie im Film.
Carl saß noch immer im Wagen, als James mit eiligen Schritten auf ihn zukam. Behutsam öffnete der Fahrer seiner Eltern die Tür und ging neben dem Bentley in die Hocke. Carl drehte langsam den Kopf und sah ihn an. Tränen liefen ihm über die Wangen wie Sturzbäche.
»Es gibt keine Überlebenden«, sagte James. »Tut mir leid.«
Carl Janson trat ins Freie. Sein Blick wanderte über die gezackten, zerklüfteten und rauen Gipfel der zahlreichen Dreitausender um ihn herum, über denen sich ein klarer und strahlend blauer Himmel erstreckte. Eine mächtige und zugleich bedrohliche Kulisse.
Obwohl es längst Sommer war, umwehte kühle Morgenluft sein Gesicht. Er genoss die Stille und sog die klare und gute Luft mit tiefen Zügen in seine Lungen. Carl mochte die Kälte. Er war sie gewohnt und hatte fast den ganzen Winter durch in seinem abseits gelegenen Chalet im Uri keine Heizung an, duschte sich mit eisigem Bergwasser und ging zu jeder Jahreszeit im nahegelegenen Bergsee schwimmen.
Carl sprang jeden Morgen um Punkt sieben Uhr aus dem Bett, um die Ruhe des Morgens genießen zu können und um eine Runde von etwa zehn Kilometer im lockeren Dauerlauf mit mehreren Sprintintervallen zu absolvieren.
Die darauf folgende Stunde gehörte dem Viêt Võ Dao, besser bekannt als Vovinam, einer Sportart, die ihre Wurzeln in Vietnam hat und Thai Chi oder Kung Fu nicht unähnlich war. Wer sie beherrscht, ist in der Lage, einen Angreifer blitzschnell und mit bloßen Händen gezielt auszuschalten, selbst wenn ihn dieser mit einer Waffe bedroht.
Nachdem er zuerst einige Minuten unter der heißen Dusche und dann unter dem eiskalten Wasserstrahl gestanden hatte, bereitete sich Carl sein Frühstück aus einer speziellen Müslimischung und viel Obst zu. Dazu trank er Wasser und eine kleine Kanne Schwarztee. Die spezielle Mischung wurde ihm extra aus England geliefert und bestand aus verschiedenen Ceylon-, Assam- und Kenia-Sorten, denen ein genau bemessener Anteil des edlen fruchtig-blumigen Keemun-Schwarztees aus China beigemischt wurde.
Er genoss es, so seine innere Balance zu wahren, während die Welt um ihn herum in ständiger Unruhe war. Es war für ihn die optimale Vorbereitung auf seine Einsätze, von denen wieder einer anzustehen schien.
Als Kleidung hatte er eine dunkle Baumwollhose, ein schwarzes Poloshirt und eine ebenfalls schwarze Windjacke gewählt. Er bevorzugte grundsätzlich bequeme Kleidung und dunkle, gedeckte Farben. Das half dabei, möglichst unsichtbar zu sein und untertauchen zu können. Eine wichtige Eigenschaft in seinem Beruf.
Carl hatte gestern einen Anruf aus London erhalten. Eine weibliche Stimme hatte ihn höflich, aber bestimmt darum gebeten, sich am nächsten Tag um 14 Uhr in Andermatt vor dem Hotel Bergidyll einzufinden. Er kannte das unscheinbare und von außen typisch schweizerische Hotel mit seinem kleinen Restaurant. Es lag recht zentral in der malerischen Gemeinde mit eintausendfünfhundert Einwohnern, eingerahmt von massiven Bergen auf einem Hochplateau am Fuß des Oberalppasses. Mehr als den Ort und die Uhrzeit hatte die Frau, die sich als Mitarbeiterin der Osterman Insurance International vorgestellt hatte, nicht gesagt. Er sah die schicke Fassade des unauffälligen Altbaus in der Londoner Innenstadt in der Nähe der Themse vor sich. Ein Haus, in dem Versicherungen und Behörden sonst ihre Büros hatten. In ihm residierte ein mächtiger Krake, der allerorts nur die Organisation genannt wurde und mit seinen Tentakeln tief im Geschäft der internationalen Geheimdienste steckte.
Carl ging zur Garage. Dort stand sein schnittiger Porsche 356 GS Carrera 2, mit dem er sich im letzten Jahr vom Honorar eines gefährlichen Auftrags selbst belohnt hatte und den er seither hegte und pflegte wie seinen Augapfel. Er mochte es, diesen Flitzer mit Verve durch die Kurven der Gebirgspässe zu jagen. Carl startete den Boxermotor und der grummelnde Sound des Sportwagens erfüllte seine Ohren mit Freude. Gekonnt lenkte er den Wagen durch die Serpentinen des Furkapasses in Richtung Andermatt. Im Autoradio, das ihm seine Wekstatt für teures Geld extra eingebaut hatte, spielten sie die Beatles.
Knapp fünfundvierzig Minuten später parkte er den Wagen vor dem Hotel an der Straße. Nur wenige Meter weiter vor dem Eingang stand ein anderer Sportwagen, ein silberner Aston Martin DB 5.
Carl stieg aus. Vor dem Hotel hielten sich zahlreiche Menschen auf. Sie schienen auf etwas zu warten, redeten miteinander oder rauchten. Carl mochte keine Menschenaufläufe und die Situation behagte ihm nicht. Er hielt Ausschau nach seinem Kontaktmann, konnte aber niemanden entdecken. Je länger er sich umschaute, umso mehr kam eine gewisse innere Nervosität in ihm auf und seine Muskeln spannten sich, um jederzeit auf einen möglichen Angriff reagieren zu können. Für einen von der Organisation gewählten Treffpunkt war ihm zu viel Leben an diesem Ort. Das war ungewöhnlich und er fürchtete, womöglich in eine Falle geraten zu sein. Carl beschloss deshalb, nicht lange zu warten. Sein Blick kreiste ein letztes Mal den Bereich rund um das Hotel ab. Aus dem schlichten Eingangsbereich kam ein großer, schlanker Mann in einem maßgeschneiderten grauen Anzug. Im Mundwinkel hing lässig eine Zigarette, das dunkle Haar war sauber und ordentlich gescheitelt und zurückgekämmt. Carl kam das Gesicht bekannt vor, er wusste nur nicht, wo er dem Mann schon einmal begegnet war. Nur einen Augenblick nach dem Mann schritt eine attraktive blonde Frau ins Freie, die gut und gerne ein Modell für einen namhaften französischen oder italienischen Modemacher sein konnte.
Mit seinen dreiunddreißig Jahren war Carl vermutlich jünger als der Mann und etwas kleiner, aber eine mindestens ebenso sportliche Erscheinung. Seine grauen Augen blickten wachsam umher. An den Seiten des kurzgeschnittenen Haares schimmerte erstes Grau. Das Gesicht war kantig und die gerade Nase stand eine Idee zu lang über den schmalen Lippen.
Dann erspähte er endlich seinen Kontaktmann auf der gegenüberliegenden Seite und strich sich eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht. Eine Hand in der Tasche der schwarzen Hose vergraben, steuerte Carl mit kräftigen und weit ausholenden Schritten, die ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein demonstrieren sollten, auf den Mann zu. Er tat dies bewusst, um einen möglichen Gegner einzuschüchtern. Das schien in diesem Fall unnötig. Vor ihm stand ein grauer Mann in einem grauen Anzug mit einem grauen Hut auf ergrauten Haaren mit einer schwarzen Aktentasche in der Hand, die schon bessere Tage gesehen hatte. Man schien ihn nicht oft aus dem Büro zu lassen, vermutete Carl. Anders konnte er sich die fahle Gesichtsfarbe nicht erklären.
»Haben Sie Feuer?«, sprach Carl den Mann an und holte als vereinbartes Zeichen eine Packung Gauloises aus der Tasche, schüttelte eine Zigarette heraus, schob sie sich zwischen die Lippen und sah seinem Gegenüber erwartungsvoll in die Augen.
»Tut mir leid. Ich rauche nicht. Habe vor zwei Jahren damit aufgehört. Ein schlimmes Laster«, antwortete der Mann und wirkte dabei sehr müde.
»Das macht nichts, dann gewöhne ich es mir heute auch ab«, schloss Carl das Erkennungsritual ab. »Sie haben eine Nachricht für mich?«
»Ja. Aber wollen wir nicht an einen Ort mit weniger Trubel gehen? Ich hatte ja keine Ahnung, dass eine internationale Filmproduktion in das beschauliche Schweizer Städtchen eingefallen ist. Die drehen hier gerade den nächsten James-Bond-Film. Haben Sie nicht darüber gelesen? Es stand groß in allen Zeitungen.«
»Nein«, antwortete Carl knapp. Er las jeden Tag mehrere Tageszeitungen. Neben der Neuen Züricher legte der Postbote täglich außer am Sonntag die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine in Jansons Postfach. Allerdings beschränkte er die Lektüre meist auf die Politik, auf den Wirtschaftsteil und bei ausreichender Zeit auf das Feuilleton. Lokales sowie Klatsch und Tratsch interessierte ihn dagegen überhaupt nicht. Doch sein Kontaktmann überging Jansons Desinteresse großzügig.
»Haben Sie letztes Jahr Liebesgrüße aus Moskau gesehen? Spannender Film. Jetzt drehen sie einen neuen. Die ganze Filmcrew ist in dem Hotel abgestiegen, auch Connery und seine Partnerin Tania Mallet. So stand es in der Zeitung.« Der Brite schien aufgrund dieser Tatsachen regelrecht aufgeregt zu sein.
Carl sah ihn fragend an. »Was wird das hier? Ein Film-Rätsel?«
»Sie haben natürlich recht, ich schweife ab. Aber die Zentrale hat diese kleine aktuelle Besonderheit bei der Organisation wohl offensichtlich übersehen. Nun gut.« Der graue Mann faltete mit etwas ratlosem Gesicht die Hände zusammen und sah sich um. Carl ließ ihn bewusst etwas schmoren.
»Machen wir, dass wir wegkommen. Ich habe gesehen, Sie haben einen Wagen dabei. Den können wir sicher nehmen«, stellte Carls Kontaktmann fest. Schon während er sprach, hatte er sich in Richtung des Porsches bewegt. Sein Gang wirkte dabei ebenso müde wie seine Stimme.
»Steigen Sie ein, fahren wir«, antwortete Carl, der dies einkalkuliert hatte. Da hatte jemand in der Zentrale ordentlich geschlafen, oder es war Absicht gewesen. Das würde sich zeigen, wenn er dem grauen Mann auf den Zahn fühlen würde.
Carl schnallte sich an, startete den Wagen und fuhr mit röhrendem Motor davon. Sobald die Häuser hinter ihnen lagen, beschleunigte er und jagte in halsbrecherischem Tempo die Serpentinen hoch, verringerte die Geschwindigkeit erst kurz vor den Kurven mit einem heftigen Tritt auf die Bremse und beschleunigte frühzeitig wieder. Seinem Mitfahrer gefielen scheinbar weder die Fahrweise noch die Geschwindigkeit. Er krallte sich verzweifelt an den Sitz, sagte keinen Ton.
An einer Ausbuchtung mit Blick in ein verlassenes Tal hielt Carl den Wagen abrupt an, stieß die Fahrertür auf, sprang heraus, eilte um das Heck, riss die Beifahrertür auf und zerrte den Mann aus dem Porsche.
Eine Hand legte er um den Hals des Mannes und sein rechter Daumen drückte leicht auf die Halsschlagader auf Höhe der Carotis. Ein festerer Druck würde innerhalb weniger Augenblicke zur Ohnmacht führen und Schädigungen des Gehirns nach sich ziehen. Wenn er den Nervenknoten des Carotissinuspunktes drückte, konnte er sogar einen Herzstillstand auslösen. Aber im Moment schien das nicht notwendig zu sein. Dem Mann war offensichtlich aufgrund der feindseligen Behandlung unwohl. Er schien Angst zu haben und wirkte verunsichert. Genau das hatte Carl erreichen wollen. Er tastete den erschrocken dreinschauenden Mann ab, dessen graue Gesichtsfarbe langsam zurückkehrte, fand bei ihm jedoch keine Waffen. Dann ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück, um für alle Fälle außerhalb der Reichweite zu sein, denn Carl wusste nur zu gut, wie gefährlich ein Mann auch ohne Waffe sein konnte. Der schlaksige Körper des grauen Mannes schlotterte im kühlen Wind.
Janson lächelte versöhnlich, obwohl er sich eher amüsierte. »Bitte entschuldigen Sie. Aber ich musste auf Nummer sicher gehen. Ich kenne Sie nicht. Normalerweise kenne ich alle, die mir Station Z vorbeischickt. Das ist eine meiner Bedingungen zur eigenen Sicherheit. Warum hat man das nicht vorher erwähnt?« Der Brite zuckte ratlos mit den Schultern.
Das Z stand in diesem Fall für die Abteilung Zielerfassung. Ein besonders geheimnisvoller Bereich der Organisation. Dort wurden die Ziele identifiziert und dann die Aufträge an die Mitarbeiter verteilt, die in der Folge ihren tödlichen Aufgaben nachgingen.
»Sie müssen wissen, ich bin ein sehr skeptischer Mensch und vorsichtig obendrein. Besonders dann, wenn sich Unbekannte in meinem Revier tummeln, beginnt meine Nase immer verdächtig zu jucken, denn das riecht meist nach Gefahr. Also, was haben Sie für mich?«
»Nun, Mister Janson, ich komme direkt aus der Zentrale in London, aber nicht die Station Z schickt mich, sondern Morrisson höchstpersönlich.« Der Mann aus London richtete seinen Körper kerzengerade auf. Vielleicht hoffte er so, etwas mehr Selbstbewusstsein auszustrahlen.
Morrisson war der Chef der Organisation. Nur wenige kannten sein Gesicht und es gab vermutlich nur eine Handvoll Menschen, denen er sein Vertrauen schenkte. Dieser graue Kerl behauptete, einer davon zu sein. Janson musterte ihn skeptisch.
»Eigentlich gehöre ich zur Abteilung M, also der Sektion für Mitteleuropa. Morrisson schickt mich, da die Organisation Ihre Dienste benötigt. Die Sache ist extrem heikel, und wenn herauskommen sollte, wer die Aufträge erteilt hat, gerät die Diplomatie der westlichen Welt womöglich in schwere See. Aber genau für solche Angelegenheiten, bei denen die Auftraggeber nicht selbst in Erscheinung treten können, gibt es ja Männer wie Sie.«
Es schwang etwas Verachtung in der Stimme des Mannes in Grau.
Janson stand regungslos da, hörte zu und wartete ab. Ihm gefielen weder der leicht überhebliche Ton des Briten, der ihm sehr wohl aufgefallen war, noch die Situation an sich. Der Kerl hatte fast etwas zu schnell wieder Selbstsicherheit gefunden und trat mit der typischen Arroganz der Engländer auf, die das Ende ihres weltumspannenden Empire nach dessen Zusammenbruch noch immer nicht verwunden hatten. Es waren Bürohengste wie er, für die Männer wie Carl ihre Köpfe hinhielten, ihr Leben riskierten und die Kohlen aus dem Feuer holten. Alles dafür, damit Männer wie der Brite ihm gegenüber mit ihren Familien nachts gut schlafen konnten. Doch als der Mann keine Anstalten machte weiterzusprechen, fragte Janson nach seinem Namen.
»Nennen Sie mich Smith. Das ist natürlich nicht mein richtiger Name.«
»Nein? Darauf wäre ich vermutlich nicht gekommen«, erwiderte Carl süffisant und irritierte sein Gegenüber damit. »Für mich sehen Sie aus wie Smith und Sie hören sich an wie Smith. Ein durchschnittlicher Mann mit einem durchschnittlichen Namen in einem durchschnittlichen Anzug. Aber genau deshalb verwundert es mich umso mehr, dass mir Morrisson so jemanden schickt. Ich weiß noch nicht, ob ich Ihnen trauen kann. Überzeugen Sie mich, ist alles gut. Bleiben meine Zweifel, dann lernen Sie womöglich heute noch fliegen.«
Sein Blick wanderte in Richtung des Abhangs hinter Smith. Dessen Augen weiteten sich vor Schreck, als er den Kopf drehte und sorgenvoll hinter sich blickte.
Carl verband Gesichter gerne mit Namen, egal ob sie echt waren oder gefälscht. Doch dieses Schauspiel überzeugte ihn bisher nicht. Er trat einen kleinen Schritt auf den Mann zu, der automatisch einen großen Schritt zurückwich und dem Abhang ein gutes Stück näher kam.
»Also gut, Smith, dann kommen Sie doch jetzt mal zum Punkt. Was ist so wichtig, um mich an diesem herrlichen Tag nach Andermatt zu bestellen. Sagen Sie mir, was die Organisation von mir will, oder lassen Sie es bleiben. Aber vergeuden Sie bitte nicht noch mehr meiner kostbaren Zeit.« Carls Stimme war sanft, doch ein kaum hörbarer schneidender Unterton verriet, dass er es ernst meinte.
Smith antwortete hektisch und die vor Augenblicken selbstsichere Stimme wirkte plötzlich wieder leicht brüchig. »Sie sollen nach Deutschland. Genau genommen nach West-Berlin. Dort werden Sie einen Austausch arrangieren. Ein Russe gegen einen unserer Männer. Das ist alles.«
Carl war überrascht, zeigte es jedoch nicht. Üblicherweise wurde er dann losgeschickt, wenn es galt, jemanden zu liquidieren. Die Aufträge waren dann immer möglichst geräuschlos und ohne großes Aufsehen und Spuren zu erfüllen.
»Einen Austausch? Was soll der Unfug? Dafür sind andere zuständig, dafür gibt es Experten in der Organisation. Außerdem wird so etwas üblicherweise über die offiziellen Kanäle vorbereitet. Machen das nicht miefige Beamte wie Sie? Oder schmierige Anwälte, die im Vergleich zu mir ein offizielles Mandat haben? Tut mir leid, ich habe andere Fachgebiete.« Carl sah Smith herausfordernd an.
»Nein. Das heißt, ja. Eigentlich schon. Aber eben in diesem Fall nicht.« Es verstrichen ein paar Sekunden, ehe er weitersprach. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, warum gerade Ihnen dieser Auftrag zugeschanzt werden soll. Und eigentlich ist es mir auch egal. Aber ich bin mir ganz sicher, es gibt fähigere Leute, um ein solches Vorhaben erfolgreich umzusetzen. Die Aktion muss unterhalb des Radars der offiziellen Stellen und auch der Öffentlichkeit bleiben. Es scheint eine sehr sensible Angelegenheit zu sein. Die bisherigen Austauschaktionen sind ja zu einem Spektakel für die Presse verkommen. Das soll dieses Mal um jeden Preis verhindert werden. Sie bestimmen Ort und Zeit, Hauptsache die Zeitungen bekommen keinen Wind davon. Das war es, was Morrisson mir mit auf den Weg gegeben hat.«
Carl ahnte sofort, dass die Wahrheit womöglich nicht so einfach war, wie Mister Smith sie darstellte. Es gab mit Sicherheit Gründe, warum man ihm einen solchen Auftrag zukommen ließ und ihn auf das gefährliche Pflaster der Hauptstadt der Spione schickte. In Berlin tummelten sich momentan so viele Agenten der einzelnen Geheimdienste und überwachten sich gegenseitig, dass sie sich auf die Füße traten. Er beschloss aber, es zunächst einmal dabei zu belassen. Er würde sich später genauer mit den Hintergründen befassen. Carl war sich sicher, dass Smith ihm nicht mehr dazu zu sagen hätte, selbst wenn er ihn kräftig durch die Mangel drehen würde. Es konnte sein, dass Morrisson ihn nur mit den Informationen versorgt hatte, die er benötigte, um ihn mit dem Auftrag zu ködern. Das würde dem Alten ähnlich sehen. Jeder erfuhr nur so viel, wie unbedingt nötig, und er behielt alle Fäden in der Hand. Manchmal kam es auch vor, dass er die Leinen, an denen seine hilflosen Puppen hingen, ohne Vorwarnung durchtrennte.
»Na gut, nehmen wir mal an, ich würde den Auftrag annehmen und erfolgreich über die Bühne bringen. Das ist ja, was von mir erwartet wird. Warum sonst sollte mir die Organisation den Marschbefehl geben? Aber was dann? Sie müssen mir schon etwas mehr erzählen. An den Knochen, die Sie mir als Köder hinwerfen, ist kein Fleisch. Ich muss aber wissen, was ich den Roten anbieten kann. Wenn Sie weiter meine Zeit verschwenden, steige ich in meinen Porsche und Sie können zu Fuß zurück, während ich den Rest des Tages genieße. Es dauert dann etwa zwei bis drei Stunden, ehe sie wieder in der Stadt sind, je nachdem, wie gut Sie zu Fuß sind. Aber es wird früh dunkel um diese Jahreszeit. Und auch richtig kalt.« Janson setzte ein mitleidiges Lächeln auf, als er Smith in seinem grauen Anzug betrachtete. »Also, was haben Sie zu bieten? Wie sieht der Köder aus, den wir ins Wasser werfen und der dem fetten Fisch schmecken soll?«
Smith sah ihn aus den grauen Augen an: »Sie werden Ihrem Ruf voll und ganz gerecht. Morrisson hat mich mehrfach vor Ihnen gewarnt. Er sagte, ich solle mir jedes Wort überlegen, denn Sie hätten einen schnellen und scharfen Verstand und seien gnadenlos – nicht nur mit der Waffe.« Smith starrte ihn an, als warte er auf eine Bestätigung dieser Feststellung. Janson starrte zurück, was den Mann aus der Zentrale erneut verunsicherte.
Nach einigen Sekunden sprach Smith weiter: »Also gut, dann kommt hier der Rest der Skizze Ihres Auftrages: In Ost-Berlin lebt ein Mann, ein Attentäter, ein Mörder wie Sie. Er hat in den letzten Monaten zahlreiche unserer Agenten kaltblütig ermordet. Das gefällt uns natürlich überhaupt nicht, wie Sie sich wahrscheinlich unschwer vorstellen können. Allerdings wurde er unvorsichtig, übermütig. Er fühlte sich wahrscheinlich zu sicher. Deshalb ist es unseren Leuten gelungen, ihn bei einem seiner Streifzüge zu schnappen. Sie haben ihn in Nizza in eine Falle gelockt, als er gerade einem einflussreichen amerikanischen Bankier das Licht ausblasen wollte, der mit seiner Familie an der Cote d’Azur ein paar Tage Urlaub verbrachte. Zumindest haben seine Frau und seine Kinder das geglaubt. Doch eigentlich sollte er sich mit dem Kopf einer antikommunistischen Kommandoeinheit aus der Ukraine treffen. Sie wissen ja, die Ukrainer hassen sowohl die Bolschewiki als auch die Russen an sich. Das Volk hat unter Stalin beinahe noch mehr gelitten als unter der deutschen Besatzung.«
Smith erkannte die aufblitzende Ungeduld in Jansons Augen und kürzte seine Erzählung ab.
»Seither befindet er sich jedenfalls in unserem Gewahrsam. Wo, das ist streng geheim, denn wie unschwer zu erraten ist, würden die Russen viel tun, um ihn zu befreien oder wenigstens für immer mundtot zu machen. Dass wir ihn haben, gefällt weder der Stasi noch dem KGB, denn er ist eine ihrer besten Tötungsmaschinen. Sie wollen ihn unbedingt zurückhaben – um jeden Preis. Er kennt Zusammenhänge und Verbindungen, die für unsere Dienste sehr aufschlussreich wären. Wenn er anfangen würde zu singen, könnte es für einige Agenten, die der Ostblock bei uns eingeschleust hat und die nun die wunderbar freiheitliche Luft unserer kapitalistischen Welt schnuppern dürfen, kritisch werden. Von mir aus könnten sie den Mann liquidieren. Ich würde ihm sicher keine Träne hinterherweinen. Er ist ein Schwein. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum man den Kerl nicht einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden lässt. Und zwar möglichst lautlos und nachdem er wie eine Zitrone ausgequetscht wurde. Die Roten wären da nicht so zimperlich wie unsere Moralapostel und Bedenkenträger. Aber Morrisson hat andere Pläne. Er stellt ihn als Joker im Austausch gegen den Mann, den wir gerne zurückhaben möchten. Schaffen Sie das, zwei Menschen lebendig gegeneinander auszutauschen? Oder verstößt das gegen Ihre Berufsehre?«
Carl schwieg. Er ging auf die Provokation nicht ein. Seine Gedanken schossen aber umher. Der Auftrag gefiel ihm nicht. Er mochte es, wenn er seinen Beruf lautlos und unspektakulär ausüben konnte, und besudelte sich nur ungern mit Blut. Daran erkannte man die wahren Profis. Zu töten war nicht so schwer, und doch war es eine Kunst. Eine Kunst, die nur wenige auf der Welt so beherrschten wie er. Er war ein Killer – und einer der besten. Aber er versuchte, seinen Opfern ihre Würde zu lassen. Obwohl er jung war, war er ein alter Hase in dem Geschäft. Ein schmutziges Gewerbe, das man nicht allzu lange ausüben konnte, weshalb sich Männer wie er frühzeitig Gedanken darüber machen mussten, wann und wie sie aus der Spirale des Todes aussteigen wollten. Carl beschäftigten diese Gedanken seit einiger Zeit.
Es gab viele, die ihm gerne einen Sarg bestellt hätten, und in Berlin würden sich einige darüber freuen, wenn sie ihn in ihren dunklen Kellern verhören dürften. Er stand nicht grundlos oben auf der Abschussliste von KGB, Staatssicherheit und der Chinesen. Auch die Organisationen, in denen sich viele ehemalige Nazis zusammenrotteten, würden ihn gerne aus dem Weg räumen. Denn ihren dreckigen Geschäften war er schon mehrfach in die Quere gekommen. Er hatte einige ihrer führenden Köpfe aus dem Weg geräumt.
Carl starrte in die Ferne und suchte mit wachem Blick die Gegend ab. Schließlich konnte man nie wissen. Aber es war weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen, keine Bewegung zu erkennen, keine Gestalt wahrzunehmen.
Er brauchte Zeit, musste nachdenken. Wenn Morrisson ihn nach Berlin schickte, um einen läppischen Austausch zu arrangieren, dann steckte vermutlich etwas anderes dahinter. Eine geheime Absprache, eine offene Rechnung oder ein strategischer Schachzug. Seine Agenten waren für Morrisson nur Figuren auf einem persönlichen Spielbrett. Das hatte Janson am eigenen Leib erfahren. Morrisson schob sie wie Bauern von Feld zu Feld, obwohl er selbst schon einige Züge weiter dachte und immer eine Strategie hatte, wie er seine Gegner Schachmatt setzen konnte.
Carl lenkte das Gespräch auf zwei andere Teilaspekte. Das Geld und die Zeit. »Was springt für mich dabei raus? Und wann soll es losgehen?«
»Sofort. Sie dürfen keine Zeit verlieren, die Uhr tickt. Sie brechen gleich morgen nach Berlin auf. Max Werner, unser Kontaktmann beim BND, erwartet Sie. Er kann Ihnen bei den Vorbereitungen helfen und alles Notwendige arrangieren. Der Austausch soll so schnell wie möglich über die Bühne gehen. Möglichst sogar bereits in der kommenden Woche. Das heißt, Sie müssen schleunigst mit den Russen verhandeln und Ort und Zeit festlegen.«
Janson hasste es zu verhandeln. Er war jemand, der Fakten schuf und handelte und nicht ewig hin und her palaverte. Aber er sagte nichts. Er wartete ab.
Smith fuhr nach einigen Sekunden Stille fort: »Sie bekommen von mir, sollten Sie den Auftrag annehmen, die notwendigen Papiere, Reisepass, Führerschein, Kreditkarten und einen ordentlichen Vorschuss für die Spesen.«
»Na das hört sich doch gut an. Und wer ist das, wen soll ich über die Grenze holen? Und vor allem wie?«
»Um wen es sich handelt, erfahren Sie von mir ebenfalls, wenn Sie die Angelegenheit für die Organisation erledigen. Alles wie immer. Sie wissen doch wie es läuft.«
»Da haben Sie recht. Ich weiß, wie es läuft. Und genau das gefällt mir nicht. Die Informationen sind selbst für Morrissons Verhältnisse mehr als dürftig. Ich kann erst einschätzen, wie gefährlich der Auftrag für mich ist, wenn ich alle Details kenne. Davon hängt meine Entscheidung und letztlich mein Preis ab. Schließlich bin ich es, der sich in Gefahr begibt, und womöglich setze ich mein Leben aufs Spiel.« Carl wusste nicht genau warum, aber er spuckte die letzten Worte Smith regelrecht vor die Füße.
Der offizielle Name von Carls Auftraggeber lautete Central Secret Operation Service. Aber sie wurde von den wenigen Menschen, die überhaupt von ihrer Existenz wussten, meist nur die Organisation genannt. Dieser unabhängige Geheimdienst, der keiner Regierung direkt unterstand und deshalb auch keiner Regierung Rechenschaft schuldig war, kam immer dann ins Spiel, wenn es selbst für CIA, MI6 und die anderen Geheimdienste zu schmutzig wurde.
Die Alliierten hatten den Dienst kurz nach dem Krieg unter strengster Geheimhaltung und praktisch über Nacht aus der Taufe gehoben. Er sollte die Schlagkraft gegenüber dem neuen Feind im Osten bündeln und verstärken. Die Gründungsväter wollten den langsamen Mühlen der Behörden und Ministerien mitsamt den dort vorhandenen Bedenkenträgern entgehen. Während die Sowjets nach dem Krieg mit dem Spiel des Aktendiebstahls und dem Fotografieren aller ihnen in die Finger kommenden Unterlagen begonnen hatten, dauerte es eine gewisse Zeit, bis sich der Westen wieder auf das Spielfeld wagte. Ungehemmt und rücksichtslos wie sie agierte, konnte die Organisation schon bald erste Erfolge aufweisen, jagte dem Gegner wichtige Akten ab, schaltete Agenten aus, entlarvte Verräter in den Reihen der offiziellen Dienste.
Nebenbei wurden so viele Daten zahlreicher einflussreicher Politiker, Firmenpatriarchen und anderer hochrangiger Persönlichkeiten westlicher Demokratien gesammelt. Dazu gehörten finanzielle Abhängigkeiten, Machenschaften oder Verstrickungen ebenso wie sexuelle Vorlieben und außereheliche Affären. Alles was es bedurfte, um in bestimmten Fällen notwendigen Druck aufzubauen.
Es dauerte nicht lange und die auf riesigen Computern gespeicherten Datensätze, die in einem streng geheimen, gewaltigen und hermetisch abgeriegelten Raum in der Schweiz standen, hatten alarmierende Ausmaße angenommen. Es gab Politiker, die sich nicht ohne Grund von dem unaufhörlich wachsenden Datenberg bedroht fühlten.
Der stetige Wissensdurst machte die Organisation unangreifbar und sicherte ihre Eigenständigkeit, ließ ihre Macht und ihren Personalbestand sowie die finanziellen Mittel immer weiter wachsen. Eine Art Krake in einem nahezu rechtsfreien Raum.
Seit ihrer Gründung vor fünfzehn Jahren wurde die Organisation von James Morrisson regiert. Er hatte am Anfang das uneingeschränkte Vertrauen. Inzwischen war er einigen zu mächtig und einflussreich, denn er scheute nicht davor zurück, sein gewonnenes Wissen über eine Persönlichkeit zu seinem Vorteil zu nutzen.
Morrison war ein General, der im Zweiten Weltkrieg geheime Operationen des US-Geheimdienstes OSS, der direkten Vorläuferorganisation der CIA, hinter den feindlichen Linien befehligt hatte. Bei einigen Einsätzen war er sogar selbst dabei gewesen, allerdings meist im Hintergrund geblieben. Nur selten hatte er sich die Hände schmutzig gemacht, die Drecksarbeit hatte er anderen überlassen und viel lieber dafür gesorgt, dass er sich den Erfolg einer Operation ans Revers heften konnte.