Brand. Wein. Tod. - Kai Bliesener - E-Book

Brand. Wein. Tod. E-Book

Kai Bliesener

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Beschreibung

Auf dem Tisch vor JJ Schwarz liegt eine verkohlte Frauenleiche. Die Bestatterin aus Fellbach soll den Leichnam für die Beisetzung vorbereiten. Nachdem Grete Bürkle einige Tage vermisst wurde, hat man sie in den Trümmern eines Hauses gefunden. JJ erhält Druck von vielen Seiten, ihre Arbeit schnell abzuschließen. Niemand scheint sich dafür zu interessieren, wo sich Grete Bürkle aufgehalten hat und warum sie in dem fremden Haus gefunden wurde. Die Bestatterin beschleicht das Gefühl, dass irgendetwas faul ist, und geht der Sache nach …

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kai Bliesener

Brand. Wein. Tod.

Kriminalroman

Zum Buch

Spiel mit dem Feuer Das Schicksal der seit einigen Tagen vermissten Grete Bürkle hält Fellbach in Atem. Die Polizei sucht mit Hochdruck nach der beliebten Frau. Dann wird die Feuerwehr zu einem Brand gerufen. Ein Einfamilienhaus steht in Flammen und brennt bis auf die Grundmauern nieder. In den Trümmern stoßen die Feuerwehrleute auf eine verkohlte Frauenleiche. Es wird angenommen, dass es sich dabei um die unter dieser Adresse gemeldete Josefine Arenz handelt. Da die Polizei von einem Unfall ausgeht, landen die Überreste bei Bestatterin JJ Schwarz. Doch dann nehmen die Ermittlungen eine dramatische Wendung und JJ wird in einen Fall verstrickt, der voller Geheimnisse und gefährlicher Verwicklungen steckt. Als sie beschließt, der Angelegenheit selbst auf den Grund zu gehen, ahnt JJ nicht, in welche Gefahr sie sich und ihre Freunde bringt.

Der 1971 in Waiblingen (Remstal) geborene Kai Bliesener ist vor den Toren der Landeshauptstadt Stuttgart in Fellbach aufgewachsen. Inzwischen wohnt er mit seiner Familie in Weinstadt. Bliesener ist Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Theaterhaus Stuttgart sowie freiberuflicher Autor und Texter.

Impressum

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Simon / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3172-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Mai 1938

Jetzt waren sie also auf der Flucht. Berend Lehmann sah nacheinander seine Frau Johanna und dann seine Kinder Robert, Heinz und Margot an.

Er konnte die Furcht in ihren Augen erkennen. Aber es blieb ihnen keine andere Wahl. Wenn sie jetzt nicht versuchen würden, aus dem Land zu kommen, wäre es womöglich zu spät. Und Lehmann selbst hatte große Sorge vor dem, was dann kommen würde. Er gab nichts auf die Hoffnung derer, die mit den Herrschenden, die im Februar 1933 die Macht an sich gerissen hatten, nichts zu tun haben wollten. Das waren vielfach rechtschaffene Menschen, die glaubten, die Regentschaft Hitlers und seiner Vasallen sei nur von kurzer Dauer. Er war da von Anfang an skeptisch gewesen. Und doch war auch er überrascht, wie schnell sich die Entwicklungen Bahn gebrochen hatten und plötzlich von zunehmenden Übergriffen auf jüdische Mitmenschen die Rede war. Ihn hatten sie noch einige Zeit in Ruhe gelassen. Doch jetzt, fünf Jahre nach der Machtübernahme, zogen sie die Schlinge immer enger, verschärften den Druck und nahmen sich immer offener, was sie wollten.

Und jetzt, jetzt wollten sie seinen Betrieb und sein Vermögen. Also den Teil, den sie sich nicht ohnehin schon einverleibt hatten.

Berend Lehmann saß in seinem Büro im ersten Stock in Schmiden und sah aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Das BeLLe-Werk war sein Leben. Auf die Produktion von Weinbränden spezialisiert, war es neben einigen kleinen Handwerksbetrieben der größte Arbeitgeber am Ort. Das Bauerndorf Schmiden lag in einer kleinen Vertiefung auf der Hochebene zwischen Neckar und Rems, gehörte damit zur Waiblinger Bucht und war nach dem Schmidener Feld benannt. Etwas nördlich befand sich Oeffingen, südlich die wesentlich größere Stadt Fellbach. Der 1861 als einzige Station zwischen Waiblingen und Bad Cannstatt errichtete Fellbacher Bahnhof war in Sichtweite. Zur Zeit seiner Erbauung hatte er genau zwischen den Gemeinden Fellbach und Schmiden gelegen, mit jeweils etwa eineinhalb Kilometern Entfernung. Damals war Fellbach mit knapp dreitausend Einwohnern eines der größten Dörfer des Landes gewesen. Inzwischen lebten dort über zehntausend Menschen.

Sein Büro war mit schweren Holzmöbeln ausgestattet, an den Wänden hingen nur noch wenige Bilder. Kunst zu präsentieren, war in den letzten Monaten und Jahren mehr und mehr zur Gefahr geworden. Er hatte schon seit Monaten ihre Flucht vorbereitet und einige seiner Kunstwerke weit unter Wert verkauft. Viele nutzten die Situation schamlos zu ihrem Vorteil aus. Darunter waren auch welche, die er für echte Freunde gehalten hatte. Mit jedem Tag, der vorüberzog, wurde es zusehends schwerer, das Land zu verlassen. Es war von einem Ausreiseverbot die Rede.

Vor wenigen Tagen war sein Betrieb BeLLe an einen Kandidaten des Gauwirtschaftsberaters veräußert worden. Gegen seinen ausdrücklichen Willen. Jetzt gab es keinen Grund mehr, sich und seine Familie der herrschenden Willkür weiter auszusetzen. Zwar hatten die Nazis Lehmann sofort nach der Machtübernahme bereits aus dem Vorstand gedrängt. Aber das Unternehmen war dennoch bis vor wenigen Tagen zumindest von einigen Freunden Lehmanns und somit mehr oder weniger noch in seinem Sinne geführt worden. Das war nun endgültig vorüber. Die BeLLe AG war arisiert worden und sollte alsbald in Weinbrennerei Dehm umbenannt werden. Der Gedanke daran schmerzte.

Lehmann riss sich von seinen Gedanken los, die ihn für einige Minuten fortgetragen hatten. Das passierte ihm in letzter Zeit immer öfter. Zu unwirklich schien ihm all das zu sein, was in sein Leben hereingebrochen war wie ein schweres Gewitter, mit dem ein nimmer enden wollender Sturm aufgezogen war.

Er blinzelte, drückte seinen Rücken durch, zog die maßgeschneiderte Jacke seines Anzugs gerade und wandte sich wieder seiner Familie zu.

»Kommt, wir müssen los. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren«, sagte er ruhig, obwohl es in ihm drin ganz anders aussah. Mit jedem Tag war die Sorge gewachsen, unaufhaltsam größer geworden, die Sorge, den richtigen Moment für eine Flucht verpasst zu haben. Sollten sie es nicht mehr rechtzeitig herausschaffen, ahnte er, was ihnen drohte. Dann war es womöglich ihr aller Todesurteil.

»Wo gehen wir denn hin?«, fragte seine Tochter Margot, die er gerne als naseweis neckte. Sie wollte immer alles genau wissen, hatte ihren Eltern schon mehr als einmal regelrechte Löcher in den Bauch gefragt. Doch in ihren Augen glänzte keine Neugier, vielmehr glaubte er dort Unsicherheit zu sehen. Oder war es Angst?

Lehmann beugte sich zu dem Mädchen hinunter und strich ihr über die Wange. »Wir verreisen für einige Zeit«, beantwortete er die Frage so knapp wie möglich. Er hätte ihr gern gesagt, dass die Reise sie zuerst nach Frankreich und von dort weiter nach Lissabon führen würde. Mit dem Schiff wollten sie dann nach Südamerika. Aber je weniger sie wusste, desto besser war es für alle.

»Nehmt eure Sachen, unser Wagen wartet.«

Im Hof, durch den auch die Anschlussgleise für die Güterwaggons zum Fellbacher Bahnhof führten, stand sein Mercedes. Lehmann öffnete die Türen, und nacheinander verschwanden seine Frau und seine Kinder im Inneren. Dann setzte er sich hinters Steuer. Allerdings erst, als er einen letzten Blick auf die Gebäude um ihn geworfen hatte, die den Hof umrahmten. Es war eine Art Abschied, bei dem ihn ein Gefühl beschlich, diesen Ort, an dem er in den letzten dreißig Jahren fortgeführt hatte, was sein Vater seit 1875 alles aufgebaut hatte, nie wiederzusehen. Dann startete er den Wagen und fuhr durch das geöffnete Stahltor hinaus. Im Rückspiegel sah er, wie ein Mann in Uniform es hinter ihnen schloss. Trotz der Dunkelheit konnte er die rote Binde mit dem Symbol der Nationalsozialisten am rechten Oberarm erkennen. Berend Lehmann wusste, sie hatten gewonnen und er alles verloren.

2

Mitte September 2024

Sie liebte den Ausblick von hier oben. Es war ein erhabenes Gefühl, nahezu unendlich in die Weite schauen zu können. Links konnte man das Neckartal erahnen, dann den Blick langsam über den Stuttgarter Talkessel und Richtung Ludwigsburg schweifen lassen. Und wäre da nicht dieser hässliche Turm, der wie ein Symbol längst vergangener und unfertiger Männlichkeit in den ansonsten klaren Himmel des Spätsommers aufragte, dann wäre der Kappelberg wahrscheinlich der nahezu perfekte Aussichtspunkt, um den Blick ohne Hindernis über Waiblingen und das Remstal hinaufwandern zu lassen.

Was das höchste Wohngebäude in Baden-Württemberg hätte werden sollen, war nun die größte Bauruine des Landes und sorgte immer wieder für bundesweite Schlagzeilen. Julia Judith Schwarz bezweifelte inzwischen, dass jemals ein Mensch in das bisher lediglich von Turmfalken bewohnte Gebäude einziehen würde. Den Betonklotz wieder loszuwerden, stellte sich als schwierig heraus. Angeblich war es nicht so leicht, ihn zu sprengen, sondern man müsste ihn wieder in seine Einzelteile zerlegen und Stück für Stück abtragen. Das hatte ihr ein befreundeter Architekt gesagt. Der erst vor Kurzem verstorbene Oberbürgermeister der Stadt, Peter Weber, hatte immer lauthals krakeelend jede Verantwortung von sich gewiesen. Doch selbst wenn er fachlich oder juristisch damit recht gehabt haben mochte, so fand JJ, dass dieses Ding ein absolut negatives Aushängeschild der Stadt war. Letztlich konnte es ihr auch egal sein. Wenn die Stadtoberen sich mit dem hässlichen und halb fertigen Turm abfanden, musste sie das nicht verstehen, konnte es aber akzeptieren.

Sie schob den Gedanken beiseite und erfreute sich vielmehr an der Landschaft um sie herum. Der Herbst stand vor der Tür, er drängte herein, auch wenn die Tage noch überraschend warm und sonnig waren. Die ersten Blätter färbten sich längst in feinstem Dunkelrot oder sattem Gelb, während andere das Grün nicht lassen wollten. So erstrahlten die sanften Hügel, die man von hier oben weithin sehen konnte, in bunten Farben. Die schönste Zeit des Jahres, dachte JJ und probierte einen Schluck ihres vorzüglichen Weißburgunders. Sie hatten eine Flasche mit zum Aussichtspunkt genommen, geöffnet und in ihre Gläser gegossen.

Es war noch angenehm warm, obwohl JJ wusste, dass der hereinbrechende Abend eine gewisse Kühle mit sich bringen würde. Dennoch hatten sie und Vera Weber keine Jacken an. Sie froren nicht.

Um sie herum reihte sich Weinberg an Weinberg, Rebe an Rebe. Die Trauben sahen voll und gesund aus.

»Wegen dem saumäßig verregneten Frühjahr wird der Ertrag in diesem Jahr nicht sonderlich gut sein«, meinte Vera Weber. Die Witwe des erst vor wenigen Monaten verstorbenen ehemaligen Vorzeigewinzers der Stadt verzog das Gesicht. Ihr Ausdruck zeigte Bedauern über den Umstand. Doch aus ihrer Miene sprach die Erkenntnis, nichts an der klimabedingten Situation ändern zu können. So hatte JJ Vera inzwischen kennen- und schätzen gelernt. Als eine pragmatische Frau.

»Durch die Wetterkapriolen in der ersten Jahreshälfte und dann durch Frost und Nässe sowie den massiven Druck durch die Pilzkrankheiten wie Falscher Mehltau, die sich dieses Jahr in den Weinbergen besonders ausgebreitet haben, hab ich schon Schlimmes erwartet. Doch was an den Reben hängt, das stimmt mich eigentlich ganz positiv. Es wird viel gejammert und mit einem geringen Ertrag gerechnet. Der sieht sogar ziemlich vielversprechend aus. Das ist doch was. Gerade dann, wenn man auf Qualität statt Quantität setzen möchte. Daher schauen die meisten von uns eigentlich ganz optimistisch der anstehenden Lese entgegen«, beschrieb Vera die aktuelle Situation.

Beide Frauen waren ganz in Schwarz gekleidet. JJ, da ihr Kleiderschrank kaum etwas anderes hergab. Seit ihrer Jugend war Schwarz ihre bevorzugte Kleiderfarbe. Auch die Haare waren schwarz und die Augen meist dunkel geschminkt. Bei Vera lag es wohl eher an der Trauer. Früher hatte sie gern Farben getragen, das wusste JJ, die sie ja von früher kannte. Doch seit dem Tod ihres Mannes trug sie meist Schwarz oder zumindest gedeckte Farben. In einem großen Dorf wie Fellbach gab es durchaus noch genügend traditionsbewusste Einwohner, die auf solche Details achteten. Vera selbst war das egal, hatte sie JJ einmal gesagt. Und sie gab nichts auf Traditionen, was JJ sympathisch fand. Allerdings hatte sie einmal auch gesagt, Schwarz zu tragen, fühle sich derzeit irgendwie richtig an. Da hatte JJ nur zustimmend nicken können, und beide waren in ein Lachen ausgebrochen. Das war in etwa der Beginn gewesen, als aus der mehr oder minder fast rein geschäftlichen Beziehung der beiden Frauen eine Art Freundschaft erwachsen war.

JJs Blick fiel auf das terrassenartige Gebäude des Weinhauses Weber, das sich trotz seiner Größe geradezu elegant und sanft in die Landschaft schmiegte.

Vera Weber hatte anfangs gezögert, später dennoch das Weingut ihres verstorbenen Mannes übernommen, das sie nun als alleinige Inhaberin bewirtschaftete.

»Klar«, nahm sie den Faden wieder auf, und JJ lauschte gespannt. »Die Witterungsbedingungen haben dieses Jahr einiges an Unruhe gebracht. Und Markus hat ja viel im Weinberg gearbeitet. Er hat mir schon früh gesagt, dass er mit deutlichen Einbußen durch den Frost rechnet. Allerdings war er noch wenige Tage vor seinem Tod der Meinung, dass sich alles, was erfroren war, eigentlich ganz gut erholt hat.«

»Ich bin echt total beeindruckt, wie du das alles wegsteckst«, antwortete JJ.

Sie hatte Vera vorhin abgeholt und ihr noch dabei geholfen, die Weinflaschen in die wiedereröffnete Vinothek des Weinhauses Weber in die Regale zu drapieren. Dann waren sie gemütlich über die Weinbergpfade nach oben spaziert und genossen nun die letzten wärmenden Strahlen der Sonne auf dem Kappelberg.

Vera zuckte nur mit den Schultern, als wolle sie sagen, dass sie ja keine andere Wahl hatte, als zu funktionieren.

»Ach, weißt du, ich bin froh, dass ich so viel Unterstützung bekomme. Alle helfen mit. Aus den anderen Weingütern und von der Fellbacher Weinmanufaktur. Es sieht gerade so aus, als wäre die Konkurrenz untereinander plötzlich weit in den Hintergrund getreten. Das ist schon irre.«

»Was meinst du? Welche Unterstützung und Hilfe?«

»Na, ich hätte es nie geschafft, unsere Weinberge allein zu bewirtschaften. Wie hätte ich das denn machen sollen? Da haben das die anderen einfach mitgemacht, wenn sie in ihren Weinbergen waren. Rebschnitt, Biegen und Binden sowie die Weinlese machen besonders viel Arbeit. Das haben die Leute aus den anderen Weingütern einfach mitübernommen, wenn es etwas zu tun gab. Daneben müssen der Boden bearbeitet, der Rebstock und seine Trauben gepflegt und das Laub geheftet und geschnitten werden. Sogar darum haben sie sich gekümmert.«

»Und wie schaut es jetzt aus? Die nächste Lese steht ja quasi schon vor der Tür«, sagte JJ und wollte zugleich noch wissen, wann es losginge.

»Wir wollen nächste Woche mit der Vorlese anfangen …«

JJ machte ein fragendes Gesicht, sie war lediglich Konsumentin; obwohl sie in der Nähe zu Weinbergen aufgewachsen war, hatte sie keine Ahnung, wie viel Arbeit dahintersteckte, bis sie sich etwas davon in ein Glas schenken konnte.

Vera holte zu einer weiteren Erklärung aus. »Was wir zuerst aus dem Berg holen, ist für die Grundweine, aus denen dann unser Sekt gemacht wird. Und dann brauchen wir natürlich in erster Linie Material für neuen Wein, für die anstehenden Events, an denen wir uns beteiligen wollen. Noch nicht einmal da wollen sie mich im Regen stehen lassen, haben sie mir versprochen. Das ist schon großartig. Da sind einige echt in der Lage, beinahe selbstlos den Konkurrenzgedanken zur Seite zu schieben. Sie könnten ja auch von der Schwäche durch Markus’ Tod profitieren. Stattdessen helfen sie, obwohl sie selbst genug zu tun haben.«

JJ nickte. Da hätte sie von selbst draufkommen können.

Nach einem Moment Pause plapperte Vera weiter, während sie anfingen, ihre Sachen in ihre Rucksäcke zu verstauen, sich ihre Jacken anzogen und sich dann langsam auf den Rückweg machten.

»Was jetzt an den Reben hängt, sieht echt sehr gesund aus«, sagte sie, und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Da bin ich wirklich froh drum. Nach den trockenen Jahren gab es diesmal genügend Wasser für die Reben. In unteren Lagen allerdings, etwa beim Chardonnay, haben wir teils Totalverlust zu beklagen. Bei Weiß- und Grauburgunder oder Zweigelt ist wahrscheinlich am Ende vielleicht noch ein Viertel von der üblichen Menge übrig. Aber in den höheren Lagen entwickelt sich der ebenfalls frostanfällige Lemberger andererseits sehr schön. Also würde ich sagen: kein leichtes Jahr. Aber man sollte nicht zu viel klagen.«

Dass es alles andere als ein einfaches Jahr war, das ahnte JJ. Unerwartet den Mann zu verlieren. Und dann noch durch Mord, das brachte natürlich das ganze bisherige Leben durcheinander. Und wenn dann wenig später darauf auch noch der Liebhaber umgebracht wurde, war das Leben komplett auf den Kopf gestellt und einiges aus den Fugen geraten. Dass Vera mit Peter Weber, ihrem Schwager und damaligem Oberbürgermeister von Fellbach, eine Affäre hatte, wusste JJ. An die Öffentlichkeit war es seltsamerweise nie gedrungen, obwohl eine solche Nachricht sicher für einen kleinen Aufschrei gesorgt hätte. Doch irgendwie war es gelungen, diesen Teil der Geschichte aus den Medien herauszuhalten. Daran hatten sicher auch Simon und Vinzent ihre Verdienste. Alles in allem war sich JJ sicher, nicht alle Frauen hätten diese Ereignisse so schnell und gut verarbeitet wie Vera.

Während JJ das geschäftige Treiben in den Weinbergen beobachtete, schien Vera ihr Interesse bemerkt zu haben.

»Jetzt geht es gerade darum, den passenden Zeitpunkt für den Beginn der Lese zu bestimmen. Wann genau der ist, lässt sich nicht vorbestimmen. Und er ist für jede Rebsorte individuell, denn die Pflanzen entwickeln sich unterschiedlich schnell.«

Warum hatte sie eigentlich nie selbst geholfen, fragte sich JJ mit einem Mal. Zu ihrer Schulzeit waren die Kinder alteingesessener Winzerfamilien der Kappelbergstadt in ihre Klasse gegangen. Und auch heute hatte sie hin und wieder Kontakt zu Wengertern. Allerdings war sie bis eben nie auf die Idee gekommen, sich aktiv in die Lese einzubringen. Sie kannte diese nur von Bildern und aus Erzählungen. Es sah zwar nach anstrengender Arbeit aus und hörte sich auch so an, doch spätestens beim Vesper am Ende schaute man nur in zufriedene Gesichter. Sie würde es ausprobieren. Entweder gleich diesen Herbst oder ansonsten spätestens im kommenden Jahr.

Als sie an einem etwas tiefer gelegenen Aussichtspunkt vorbeispazierten, sah JJ eine blonde Frau auf der Bank sitzen. Sie schien etwas nervös und wirkte, als würde sie auf etwas warten. Sie hatte Vera und JJ noch nicht bemerkt. Sie kam JJ irgendwie bekannt vor.

Vera beugte sich zu JJ und flüsterte verschwörerisch leise: »Sag mal, war das nicht die Grete?«

»Welche Grete?«

»Na, die Bürkle. Grete Bürkle. Die von der Feuerwehr. Ihr Bild ist doch erst neulich wieder im Stadtanzeiger gewesen.«

JJ zuckte mit den Schultern. »Möglich. Aber ich kenne sie nicht, sie lag noch nicht bei mir.« Sie grinsten beide um die Wette und prusteten zwei Schritte später los.

Die beiden Freundinnen schlenderten angeregt plaudernd weiter und leerten Schluck um Schluck ihre Weingläser, als von unten ein dunkler Mercedes um die Ecke bog. Eine V-Klasse. JJ erkannte das Modell sofort, da sie für ihr Beerdigungsinstitut das gleiche hatte. Der Fahrer war etwas zu schnell unterwegs. Als er zu nah an ihnen vorbeischoss, klopfte sich Vera an die Stirn, um ihm zu zeigen, dass er wohl einen an der Klatsche habe. JJ zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger, während sie einen Schritt zu Seite sprang.

»Idiot«, schimpfte Vera.

»Wichser«, rief JJ dem Van hinterher.

Den Fahrer hatten sie nicht sehen können, jedoch gingen sie beide unabhängig voneinander von einem Mann aus.

Als sie sich wieder umdrehte, um weiterzugehen, sah JJ aus dem Augenwinkel die blonde Frau von der Bank aufstehen. Hatte die etwa auf den Fahrer gewartet, fragte sich JJ und schüttelte leicht den Kopf. Zusammen mit Vera gingen sie Richtung Kelter der Fellbacher Weinmanufaktur.

Margarete »Grete« Bürkle war nervös. Sie war verabredet. Das an sich war für sie noch nichts Besonderes. Sie hatte immer wieder Verabredungen. Seit sie und ihr Mann getrennt lebten, fühlte sie sich hin und wieder einsam. Daher hatte sie sich irgendwann auf einer Dating-App angemeldet. Sie war stets nervös vor den Treffen. Heute war es das erste Mal, dass sie sich mit jemandem aus Fellbach hier verabredet hatte. Bisher hatte sie darauf geachtet, dass die Männer nicht aus ihrer Stadt kamen, und sie hatten sich jedes Mal irgendwo außerhalb getroffen. Doch diesmal war es anders. Das Match schien perfekt zu sein. Sie hätte ihn womöglich zu sich in die kleine Wohnung einladen können. Er hatte sogar angeboten, dass sie zu ihm kommen könnte. Aber beides hatte sie nicht gewollt. Ein erstes Treffen bei einem von beiden zu Hause, das konnte sie sich nicht vorstellen. Und das wollte sie so früh nicht. Sie wollte erst wissen, ob es wirklich ein Match war und was sich daraus entwickelte. Also hatten sie sich hier oben, auf halbem Weg zum Restaurant Waldschlössle, verabredet. Sie war zu früh da gewesen und wartete beinahe eine halbe Stunde, obwohl er noch keine fünf Minuten zu spät kam. Aber selbst das fand sie doof und unhöflich und wäre am liebsten gegangen.

Der Motor des heranschießenden Wagens war kaum zu hören, nur das leise Quietschen der Reifen, als er um die Ecke fuhr. Grete sah, wie die beiden Frauen, die kurz zuvor an ihr vorbeigelaufen waren, zur Seite springen mussten. Wären die beiden Frauen nicht gewesen, wäre sie längst verschwunden. Aber sie hatte keine Lust, direkt vor oder hinter den beiden herzutrotten, weshalb sie ihnen einen kleinen Vorsprung lassen wollte.

Der Van blieb mit einem Ruck vor ihr stehen. Sie bewegte sich von der Bank weg auf den Wagen zu und versuchte, ins Innere zu spähen, aber es war zu dunkel. Sie konnte nicht erkennen, ob dort jemand saß. Dann wurde mit einem Mal die seitliche Schiebetür aufgerissen. Grete zuckte vor Schreck zusammen, spürte, wie sie im selben Moment gepackt und mit einem gewaltigen Ruck ins Innere des Wagens gezogen wurde. Zeit zum Schreien blieb ihr keine. Sie versuchte, sich zu wehren, nahm wahr, wie die Tür geschlossen wurde, und bemerkte plötzlich einen kleinen Stich zwischen Hals und Schulter. Ihre Kraft ließ nach, Arme und Beine erschlafften. Das Letzte, was sie mitbekam, war, wie sie auf die Rückbank sank. Ihr Date war ganz anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte.

JJ drehte sich um, als sie hörte, wie der Van mit quietschenden Reifen anfuhr. Was für ein Idiot, schoss es ihr durch den Kopf.

Vera hatte sich auch umgedreht und sagte nur: »Na, die haben es aber eilig.«

Sie sahen, wie der dunkle Wagen davonbrauste, schauten ihm noch einen Augenblick hinterher. Von der blonden Frau war nichts mehr zu sehen. Sie war wohl bei dem kurzen Halt, den der Fahrer eingelegt hatte, eingestiegen. Dann wandten sie sich beide wieder dem Weg zu, nachdem sie die halb leere Flasche Grauburgunder mit dem edlen Etikett aus Veras Rucksack gezogen, den Inhalt auf ihre Gläser verteilt und die Flasche wieder verstaut hatten.

3

Vinzent Elsässer stand eingerahmt von drei Ziegelsteingebäuden im Hof der ältesten Gewerbeeinheit von Schmiden. Schmiden war seit 1973 ein Teilort der Großen Kreisstadt Fellbach, ein Jahr später war mit Oeffingen noch ein weiterer Ortsteil dazugekommen und die Gesamteinwohnerzahl damals auf über vierzigtausend geklettert. Vinzent hatte die Zahlen parat, weil das für einen Reporter des Fellbacher Tagblatts dazugehörte. Aber auch, weil er sie aktuell für die Recherche zu einer größeren Artikelserie heranziehen musste, die er für die Zeitung schreiben sollte. Darin ging es um die traditionsreichen Unternehmen der Stadt, ihre Gründer, ihre Geschichte und Geschichten und was aus ihnen geworden war. Einige existierten inzwischen nicht mehr. Andere waren von Unternehmen oder Konzernen einverleibt worden. Und dann gab es die Firmen, die vielleicht noch einen klangvollen Namen trugen, von denen jedoch wenig übrig geblieben war. So wie hier, wo über viele Jahre der weit über den Landstrich und die damaligen Grenzen des Deutschen Reichs hinaus bekannte BeLLe-Weinbrand hergestellt worden war. Ein Unternehmen, das 1876 von Bertrand Leonard Léman ins Leben gerufen worden war, einem aus dem Elsass stammenden Unternehmer, der sich mit der eigenen Spirituosenfabrik einen lang gehegten Traum erfüllte. Zwar war der erste amtliche Unternehmenssitz laut Urkunde in Stuttgart, doch auf der Suche nach einer geeigneten Fabrikationsanlage war man bald auf das kleine Schmiden ausgewichen, wie Vinzent der Firmenchronik entnommen hatte. Die stetig wachsende Nachfrage hatte BeLLe bald zu einem der erfolgreichsten Produzenten von Weinbränden und Cognac und später sogar Brandy werden lassen, dessen Produkte in ganz Europa äußerst begehrt waren. Insbesondere der Weinbrand »BeLLe Epoche 1876« war zu einem Erfolgsschlager im In- und Ausland mutiert, insbesondere im Nachbarland Frankreich, aber auch in England und Italien. Und hatte so das Firmengelände immer weiter anwachsen lassen. Einige Jahre später war sogar ein Eisenbahnanschluss dazugekommen, der durch ein seitliches Tor ins Innere der zu einem U angeordneten Gebäude geführt hatte.

Heute war hier nicht mehr viel vom alten Glanz und dem Erfolg der Weinbrände aus dem Hause Lehmann zu bestaunen. Inzwischen teilten sich die Räumlichkeiten ein Zentrum für Start-ups, eine Kunstgalerie, ein Rechtsanwalt und eine Werbeagentur. Außerdem beherbergte es noch eine winzige Kaffeerösterei, zu der auch ein Café gehörte. Hier war er seit einigen Minuten mit Andreas Lehmann verabredet. Ein junger Mann, der behauptete, mit dem einstigen Gründer verwandt zu sein und die Traditionsmarke BeLLe erwerben und wieder mit Leben erfüllen zu wollen. Wer genau er war, was er vorhatte und mit welchem Geld, das wollte Vinzent im Detail aus ihm herauskitzeln und in der Zeitung erzählen. Das wäre dann eine schöne und runde Geschichte, wie sie nicht viele Traditionsmarken erlebten.

Vinzent, dessen dunkelblaues Hemd aus der Jeans gerutscht war und unter seinem grauen Sakko hervorblitzte, schaute sich in aller Ruhe um, als hoffte er, durch die alten Gemäuer etwas Inspiration atmen zu können. Er war bei einer Recherche schon vor einiger Zeit über Lehmann gestolpert. Ein erfolgreicher Geschäftsmann, der schon einige Unternehmen in der Lebensmittelbranche gegründet und groß gemacht hatte, bevor sie mit jeweils ordentlich Gewinn veräußert worden waren. Dabei war er noch keine vierzig. Und jetzt schickte er sich an, BeLLe wieder Leben einhauchen zu wollen. Das hatte er zumindest Vinzent in ihrem kurzen Telefonat gesagt, bei dem sie den heutigen Termin vereinbart hatten.

Doch Lehmann war bereits eine gute Viertelstunde zu spät, wie ihm der Blick auf seine Uhr verriet. Aber das störte ihn nicht. Es war wieder ein schöner Herbsttag, und so beschloss er, sich an einen der wenigen Tische des Cafés zu setzen. Kaum hatte er einen kleinen, runden Bistrotisch ausgesucht und den Stuhl zu sich hergezogen, da sah er Lehmann aus einem Treppenhaus ins Freie treten. Leger gekleidet, mit Jeans und Sweatshirt, dazu weiße Sneakers und Dreitagebart, eilte er mit einem entwaffnenden Lächeln und wehenden Haaren auf Vinzent zu.

»Entschuldigen Sie, Herr Elsässer, ich wurde aufgehalten. Business eben, Sie wissen schon.«

Vinzent wusste nicht, ahnte aber und nickte zustimmend. Sie bestellten beide einen doppelten Espresso, Lehmann grinste erwartungsvoll und fragte, nachdem die Kellnerin gegangen war, was er für Vinzent tun könne. Der wiederholte geduldig sein Anliegen, das er eigentlich schon am Telefon vorgebracht hatte. Lehmann wackelte mit dem Kopf, das Lächeln weiter ins Gesicht gestanzt, sank bequem in seinen Gartenstuhl, legte die Fingerspitzen aneinander und wartete, bis Vinzent sein digitales Aufnahmegerät auf dem Tisch platziert und eingeschaltet hatte.

4

Sie wusste im ersten Moment nicht, ob sie überhaupt noch lebte. Erst mit den nächsten Sekunden, die wie zäher Schleim verrannen, drang die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass sie nicht tot sein konnte.

Sie war am Leben.

Zumindest hörte sie ihr Herz pochen, und das Blut pulsierte in ihren Adern. Womöglich wäre der Tod die bessere Alternative gewesen, schoss es ihr durch ihren vernebelten Kopf, der sich anfühlte, als wäre er schwer und leer zugleich. Sie hatte keinerlei Gefühl für die Zeit. Doch sie blieb in dieser dämmrigen Schleife gefangen, der Nebel lichtete sich nicht, wie es normalerweise der Fall war, wenn man langsam aufwachte und die Welt um einen herum immer schärfere Konturen gewann. Doch ihre Wahrnehmung blieb unscharf. Sie hing hilflos in einem Zwischenzustand, nicht wach, aber auch nicht schlafend. Es fühlte sich an, als lichtete sich der Nebel für einen winzigen Wimpernschlag, dann hüllte er ihre Gedanken wieder ein, umschloss sie wie ein schwerer Mantel. Es war dunkel und sie hatte keine Ahnung, wo sie war.

Doch nicht nur das. Ihre Erinnerungen waren ein Bild voller Lücken, voller dunkler Stellen, die einzelne Blitzlichter des Zurückblickens gewährten. Es war, als spiele ihr Kurzzeitgedächtnis ihr einen miesen Streich, denn an ihre Kindheit und Jugend, an ihr weiteres Leben, an all das konnte sie sich gut erinnern. Nur nicht daran, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Oder auch daran, was die letzten Tage geschehen war. Vielleicht waren es auch nur Stunden oder Minuten, die ihr fehlten. Sie wusste es nicht. Ihre Erinnerung war so voll blinder Flecken.

Was sie fühlte, waren Schmerzen. Nicht heftig, aber es pochte unablässig in ihren Beinen und Armen. Und in ihrem Kopf. Oder bildete sie sich das nur ein? Nein, diese Schmerzen bildete sie sich nicht ein. Obwohl, sogenannte Phantomschmerzen führten dazu, dass selbst längst abgetrennte Gliedmaßen noch Schmerzen verursachten. Aber ihre Pein war real.

Mit einem Mal nahm sie modrigen Geruch wahr, der ihr in die Nase stieg. Es muffelte nach Keller oder Gartenhaus und war kühl. Sie fror. Sie zitterte, aber sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper. Er gehorchte ihr nicht. Sie war nicht in der Lage, ihm Befehle zu geben. Er verweigerte die Zusammenarbeit. Es war, als gehöre er ihr nicht.

Verzweiflung machte sich breit, brach sich immer mehr Bahn. Was machte sie hier?

Ihr fehlten die Erinnerungen an die letzten … ja, was eigentlich? Tage, Stunden oder Minuten? Nicht einmal das konnte sie mit Gewissheit sagen. Ein ungutes Ziehen fuhr ihr in die Magengrube. Dann dämmerte sie wieder weg.

5

Julia Judith Schwarz mochte ihren Job. Und auch heute hatte sie wieder ganze Arbeit geleistet und gezeigt, warum sie inzwischen zu den Branchenbesten gehörte. Eine ältere Frau war in einen schweren Lkw-Unfall verwickelt gewesen. Der Laster hatte ihren kleinen Corsa regelrecht überrollt – und die Fahrerin gleich mit. Laut Notarzt war es wenigstens rasch vorbei gewesen, und die arme Frau hatte nicht leiden müssen. Obwohl sie nicht wirklich gut ausgesehen hatte, hatte ihr Mann partout darauf bestanden, dass der Sarg an der Trauerfeier offen sein müsse, damit man sich von seiner Frau, die auch Mutter und Großmutter war, angemessen verabschieden könne. Mit Engelszungen hatte JJ versucht, der Familie dies auszureden. JJ, wie sie fast ausschließlich von Freunden und Bekannten genannt wurde, hielt ohnehin nicht viel von dieser Tradition, tote Menschen im geöffneten Sarg aufzubahren. Aber sie war nun mal Bestatterin, und auch hier galt der alte Spruch, wonach der Kunde König ist. Tot oder lebendig.

Und doch hätte sie ihn gern von dem Wunsch abgebracht. Nicht, weil sie sich selbst die Arbeit ersparen wollte, nein, das war es nicht. Sondern weil sie eben genau wusste, wie rasch sich tote Menschen verändern konnten. Nein, wie sie sich veränderten, nachdem ihr Herz unabänderlich aufgehört hatte zu schlagen und das Leben aus ihrem Körper gewichen war. Ab diesem Moment setzte unweigerlich der Zerfallsprozess ein. Und JJ war der Überzeugung, Menschen sollten den Verstorbenen so in Erinnerung behalten, wie er zu Lebzeiten ausgehen hatte, und nicht seine starre, leblose Hülle, die sie zwar mit viel Fingerspitzengefühl ansehnlich herrichten konnte, die aber in keinem Fall dem Antlitz des Verstorbenen zu Lebzeiten gerecht werden konnte.

Nun stand sie da, neben dem geöffneten Eichensarg mit seiner schlichten Verzierung. Darin lag die Frau in einem dunklen Kleid und war auf ein purpurrotes Tuch gebettet, der Kopf ruhte auf einem weißen Kissen. Die Hände hatte sie über den Bauch gefaltet. JJ war zufrieden, wirklich zufrieden mit ihrer Arbeit. Das Gesicht kam dem Foto der lebenden Frau sehr nahe.

Sie klappte den Sarg zu und freute sich auf ein Glas kühlen Weißwein. Den hatte sie sich verdient, wie sie fand. Ein Blick auf die Uhr ließ sie zusammenzucken. Es war spät, und sie war mit ihrem Freund in der Vinothek in der Alten Kelter verabredet – gegenüber dem ehemaligen Freibad der Stadt, das längst einem moderneren Spaßbad neben dem Max-Graser-Stadion hatte weichen müssen. Dort wollte sie Vinzent treffen, denn das Restaurant sollte zum Jahreswechsel schließen. »Aus Altersgründen«, hatte ihr Vinzent erzählt. »Weil es niemanden gibt, der es übernehmen möchte. Und weil wohl die Stadtverwaltung so verbohrt auf die exakte Fortführung des bisherigen Konzeptes besteht, soweit ich höre.« Und Vinzent hörte viel und hatte gute Quellen. »Jetzt wird es wohl bestenfalls noch einen Cateringservice geben.«

JJ hatte ungläubig den Kopf geschüttelt. Denn die Stadt, die gemessen an der Einwohnerzahl noch vor ein paar Jahren eine erstaunliche Dichte an Sternegastronomie hatte, wurde immer mehr zum gastronomischen Brachland, was sie sehr bedauerte. Im Rathaus selbst stand seit Jahren die Fläche leer, wo früher ein Restaurant seine Gäste bewirtet hatte. Eine Bar, ebenfalls im Rathaus, wurde lediglich im Sommer betrieben. Und momentan hatte gerade noch ein Restaurant in Schmiden einen Stern. Alle anderen hatten aufgehört oder die Köche waren abgewandert.

Und nun also auch noch die Vinothek, hatte sie gedacht.

Sie fühlten sich dort wohl, auch wenn sie meist die jüngsten Gäste waren. Beide mochten das Essen und schätzten die Auswahl an regionalen und internationalen Weinen. Quasi eine Art Rundum-sorglos-Paket, wie sie fand. Und einfach eine sichere Bank.

JJ musste sich beeilen, wollte sie nicht zu spät kommen. Es war zwar nicht weit, aber sie mochte nicht abgehetzt ankommen. Also sprang sie rasch unter die Dusche, schlüpfte in eine graue Jeans und ein schwarzes Sweatshirt und entschied sich dann kurzerhand für das Fahrrad, das unten im Hof an einen Metallständer angeschlossen stand.

6

Nur langsam verzog sich die Dämmerung in ihrem Kopf, und ihr wurde schleichend bewusst, dass sie sich weiterhin nicht bewegen konnte. Nein, sie war nicht gefesselt so wie die entführten Frauen in den Fernsehkrimis, die sie ab und zu schaute. Sie war gelähmt, nicht in der Lage, sich zu rühren. Sie lag einfach da, während die Kälte des Bodens durch ihre dünnen Kleider drang. Aller Anstrengung zum Trotz und egal, wie sehr sie sich konzentrierte, ihr Hirn versuchte, Signale an ihre Arme und Beine, an die Finger und Zehen zu senden, aber es geschah nichts. Die Befehle gingen auf dem Weg zu ihrem Ziel verloren.

Und mit einem Mal bekam sie Angst.

Eine unbeschreibliche Angst fuhr in sie wie ein Blitz. Furcht schoss durch ihre Glieder, wie sie sie noch nie in ihrem Leben verspürt hatte. Furcht vor dem, was da kommen mochte.

Sie war allein, hilflos und an einem ihr unbekannten Ort.

Wie war sie hierhergekommen? Warum war sie hier? Warum war sie nicht in der Lage, sich zu bewegen? War sie gefangen, hatte jemand sie entführt? Wenn ja, warum, was wollte man von ihr?

Fragen, die sie sich inzwischen unablässig und immer wieder aufs Neue stellte, wenn sie wache Momente hatte. Doch meist hielten diese Phasen der geistigen Klarheit nicht lange genug an, um sich mit den Antworten zu beschäftigen. Zu schnell hatte sich ihr Denken wieder getrübt.

Das war diesmal anders. Ihr Kopf fühlte sich klarer an. Der Nebel in ihrem Kopf hatte sich zwar nicht verzogen, aber doch zumindest etwas gelichtet.

Wieder versuchte sie, ihre Arme und Beine zu bewegen. Wieder und wieder. Doch es gelang ihr nicht. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht rühren.

Unablässig trommelten daher wieder dieselben Fragen auf sie ein: Wo verdammt noch mal war sie? Und warum? Sie kam sich vor wie in einem dieser Fernsehkrimis, wo entführte Frauen Opfer von Vergewaltigern und Mördern wurden. Und mit einem Mal schoss die Erkenntnis durch ihren Kopf wie eine wild gewordene Flipperkugel. Umrisse eines Lieferwagens tauchten auf, eine Schiebetür, durch die sie hineingeschoben wurde. Dann wurde es wieder dunkel. Sie war entführt worden. So musste es sein. Aber wer? Der Fahrer des Lieferwagens? Ja, das klang logisch. Aber wer war er?

Sie wurde in ihrem unbeweglichen Kopfgefängnis beinahe wahnsinnig.

Wenn es ein Typ war, der sie entführt hatte und gefangen hielt. Warum? War sie in einer viel zu realen Tatort-Folge gelandet? Warum wurde sie hier festgehalten? Hatte er sie schon vergewaltigt? War es überhaupt ein Er gewesen? Ja, doch, in einer entfernten Region ihrer Erinnerung dämmerte es, blitzte für einen Moment ein Bild. Ein Gesicht im Schatten. Nur Konturen, keine klaren Linien. Und dann Augen. Augen, die wütend starrten.

Je mehr die Fragen zu ihr durchdrangen, desto größer wurde ihre Panik. Sie war ein Mensch, der gern die Kontrolle hatte. Niemand, der sich treiben und alles dem Zufall überließ. Sie brauchte immer Klarheit und Struktur. Ihre aktuelle Situation war das genaue Gegenteil. Sie hatte die Kontrolle komplett verloren. Und womöglich würde sie auch bald noch ihr Leben verlieren. Die traurige Erkenntnis darüber kroch langsam in ihr Bewusstsein.

Nun war blankes Chaos in ihrem Kopf eingezogen wie ein unliebsamer Mitbewohner, den man nicht mehr loswurde.

Ihre Augen wanderten unruhig zuckend durch den dunklen, fensterlosen Raum. Mehr konnte sie nicht tun, um sich zumindest einen kleinen Überblick zu verschaffen. Doch es war zu dunkel. Ihre in der Dunkelheit geweiteten Pupillen zuckten unruhig hin und her. Sie konnte kaum etwas wahrnehmen. Dagegen nahm sie den fauligen Geschmack in ihrer trockenen Mundhöhle sehr genau wahr. Es fühlte sich an, als hätte man ihr einen alten Lappen zwischen die Kiefer gesteckt. Auch die unangenehmen Gerüche um sie herum drangen mehr als deutlich in ihre Nase. Beißender Schweiß mischte sich mit den Ausscheidungen ihres Körpers, die sie nicht mehr hatte zurückhalten können. Und mit zunehmender Panik schossen ständig neue Fragen durch ihren Kopf. War sie allein? Wurde sie beobachtet? Gleichzeitig spürte sie, wie die Kälte immer mehr in ihre Glieder kroch, sich langsam in den letzten Winkel ihres Körpers fraß und ihr mit jeder verrinnenden Sekunde mehr und mehr die Kraft aussaugte, die ihr noch verblieben war.

Nicht einmal den Kopf konnte sie drehen, trotz aller Anstrengungen, die sie unternahm. Sie war wie paralysiert. Daher war der Bereich, den sie einsehen konnte, sehr beschränkt, und es gab kaum Licht, es war praktisch dunkel. Lediglich ein schmaler Streifen fiel von irgendwoher ein, an dem sie sich etwas orientieren konnte, doch wenn sie alle verbliebene Kraft aufbrachte, um ihn zu erspähen, jagten ihre Sehnerven einen stechenden Schmerz durch ihren Kopf, weil sie ihre Augen so stark verdrehen musste. Obwohl ihr Verstand sagte, sie müsse damit aufhören, wiederholte sie die Versuche. Aber das, was sie erkennen konnte, sah nach Holzlatten aus, wie sie zur Abtrennung zwischen Kellerräumen verwendet wurden. Ja, eigentlich wirkte ihre Umgebung wie ein Kellerraum. Das würde zu dem modrigen Geruch passen, der zwischen den anderen Gerüchen immer wieder in ihre Nase wehte.

Sie erkannte einen Umriss, der vielleicht von alten Möbelstücken stammte. Eines davon erinnerte sie schmerzhaft an das Büfett, das im Wohnzimmer ihrer Eltern gestanden hatte. Aber das konnte nicht sein, sie selbst hatte es vor Jahren nach Winnenden auf den Schuttplatz gebracht und in einen der bereitstehenden Container geworfen.