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Julia Judith Schwarz, genannt JJ, ist Bestatterin in Fellbach und mit dem Tod vertraut. Aber als eines Tages ein Ex-Liebhaber vor ihr auf dem Tisch liegt, ist das doch eine schräge Situation. Markus Weber ging mit ihr zur Schule und war einer der erfolgreichsten Winzer der Region. Und Erfolg schafft bekanntlich Neider. JJ hegt Zweifel an der natürlichen Todesursache. Sie taucht ein in die Welt des Weines und wirbelt viel Staub auf. Dabei bringt sie nicht nur sich, sondern auch ihren Freund Vinzenz in Gefahr.
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Seitenzahl: 332
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Kai Bliesener
Wein. Berg. Tod.
Kriminalroman
Dunkle Seele Der Tod ist ihr Geschäft. Als Bestatterin hat Julia Judith Schwarz, genannt JJ, in ihrem Betrieb in Fellbach jeden Tag Leichen auf dem Tisch. Schon früh hat sie sich für die »dunkle Seite« interessiert. Neben einem Ferienjob auf dem Stadtfriedhof blickt sie auf eine Vergangenheit in der Gothic-Szene zurück. Eines Tages landet mit Markus Weber nicht nur ein alter Schulkamerad bei JJ, sondern zugleich auch einer der erfolgreichsten Winzer aus dem Remstal. Angeblich ist er an einem plötzlichen Herztod gestorben. Einfach umgekippt. Das kann sie nicht glauben, Misstrauen regt sich. Aber weder bei der Polizei noch bei dem Arzt, der den Tod festgestellt hat, findet sie Gehör. Niemand scheint an der offiziellen Todesursache zu zweifeln. JJ beginnt zusammen mit ihrem Freund, dem Journalisten Vinzent, unbequeme Fragen zu stellen. Sehr zum Missfallen einiger Leute – und der Polizei. Doch je tiefer die Bestatterin gräbt, desto mehr wird sie hineingezogen in die Welt des Weins, der Lokalpolitik, der persönlichen Interessen – und der familiären Abgründe …
Der 1971 in Waiblingen (Remstal) geborene Kai Bliesener ist vor den Toren der Landeshauptstadt Stuttgart in Fellbach aufgewachsen. Inzwischen wohnt er mit seiner Familie in Weinstadt. Bliesener ist Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Theaterhaus Stuttgart und freiberuflicher Autor und Texter.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Ulrich Kolb / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7870-3
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Abendhimmel glühte rot über der hügeligen Landschaft. Sein Blick folgte dem Remstal in Richtung Schwäbische Alb, glitt über die welligen Hügel und die gardemäßig aufgereiht wirkenden Reben. Den ganzen Tag hatte sich keine Wolke am Himmel gezeigt. Unerbittlich hatte die Sonne auf die Weinberge geschienen, an deren Fuß sich Markus Webers Heimatstadt erstreckte. Auch jetzt fand sich entlang seiner Laufstrecke kaum ein schattiges Plätzchen. Er war von Fellbach kommend Richtung Sieben Linden gelaufen. Von dort hinüber zum Rotenberg, einem westlichen Ausläufer des Schurwaldes, auf dem die Grabkapelle des Württemberger Königshauses thronte und einen fantastischen Blick auf die Landeshauptstadt, das Neckartal und ins Remstal gewährte, wohin er wieder unterwegs war.
Der Schweiß war ihm bereits aus den Poren gedrungen, bevor er losgelaufen war, so ein Dampf hatte sich über Fellbach gelegt. Aber Markus hatte rausgemusst, musste sich bewegen. Die Wut brauchte ein Ventil, und die Laufschuhe waren seine Therapie gegen die immer wieder aufwallende Aggression. Er hasste sich selbst dafür, wenn er die Kontrolle über sich verlor. Aber Vera ging ihm manchmal einfach auf die Nerven. Diese ständige Eifersucht, die Schnüffeleien hinter seinem Rücken. Früher war sie anders gewesen. Doch seit einiger Zeit schien sie sich für eine Art weiblicher Sherlock Holmes zu halten, und Markus kam sich zusehends eingeengt und kontrolliert vor. Kein Wunder also, wenn es häufig Streit gab.
Aber für eine Aussöhnung nach dem heutigen Scharmützel war am Abend Zeit. Bis dahin hatte sie sich wieder eingekriegt und beruhigt. Sie würde ihm verzeihen und ihre Nestwärme nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht würde er eine seiner besten Flaschen aus dem Keller holen und für sie entkorken. Er würde sie ein wenig verwöhnen und milde stimmen. Mit etwas Glück würde es sogar eine kurze, aber reizvolle Nacht werden. Doch so weit war es noch nicht.
Mit starrem Blick war er vor einer guten Stunde durch die Terrassentür, hatte die Schuhe angezogen, die EarPods in den Gehörgang gesteckt, eine Playlist von Metallica aufgedreht und war losgelaufen. Ohne konkretes Ziel. Hauptsache raus und sich bewegen. In die Weinberge, die sich scheinbar endlos vor seiner Haustüre hinzogen, in ihrem kräftigen Grün, mit den Trieben, die bald zu saftigen roten und weißen Trauben reifen und die Basis für erlesene Weine bildeten.
Er beschleunigte weiter seine Schritte. Ein rascher Blick auf die Trainingsuhr am Handgelenk. Sein Puls lag bei 145. Das war hoch für seine Verhältnisse. Aber sicher ein Tribut an die Wetterlage. Es war einfach zu heiß. Und vielleicht war er emotional doch aufgewühlter, als er es sich eingestehen wollte.
Markus war groß gewachsen und sein kräftiger Körperbau zeugte von der Arbeit, die er verrichtete. Er wirkte stabil, hatte aber kaum Fett auf seinen Rippen. Obwohl er inzwischen immer mehr trainieren musste, um den kleinen Bauchansatz, der sich gebildet hatte, wieder in die Schranken zu verweisen. Insgesamt war er mit seinem Körper zufrieden. War immer noch voller Tatendrang und Energie. Und voller Bedürfnisse. Bedürfnisse, die ihm Vera schon lange verweigerte. Immer wieder war es zu spät, zu heiß oder sie zu müde.
Ja, er hatte sich mit Vera schon die richtige Frau ausgesucht. Sie war nicht nur sehr attraktiv und auf ihre Art recht gescheit, sondern auch offen für die Gestaltung ihrer Beziehung. Sie hatte gewusst, wen sie heiratete. Es wäre ja blauäugig gewesen, wenn sie ernsthaft geglaubt hätte, mit der Trauung würden plötzlich alle Frauengeschichten Episoden der Vergangenheit sein. Nein, so naiv war sie nicht.
Umso irritierender war dieser Stimmungsumschwung, den er schon vor einigen Wochen festgestellt hatte.
Inzwischen war Markus komplett nass geschwitzt, seine Funktionskleidung triefte, als hätte er sie vor dem Schleudern aus der Waschmaschine gezogen. Und doch setzte er weiter stoisch einen Fuß vor den anderen, versuchte die Geschwindigkeit bei fünfeinhalb Minuten je Kilometer zu halten. Der Schweiß tropfte ihm von den lockigen blonden Haaren, quoll aus jeder Pore, durchnässte sein weißes Funktionsshirt, das schwer an seiner Haut klebte.
Der Puls war inzwischen auf über hundertsechzig geklettert. Er fühlte die Belastung bei jedem Atemzug. Das Blut pulsierte durch seinen Körper, hämmerte in seinem Kopf, klopfte in den Schläfen wie ein Stanzwerk. Die Schritte wurden schwerer und ein undefinierbarer Druck breitete sich in seiner Brust aus, zog sich von der Mitte zur linken Seite, wo er in einen konstant stechenden Schmerz überging.
Heute war irgendwie nicht sein Tag, dachte er noch. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und sein Körper verweigerte jede weitere Zusammenarbeit. Die Beine sackten schlagartig unter ihm weg, wurden mit einem Mal weich wie Pudding und er stürzte ungebremst auf den Asphalt. Den Aufschlag bekam Markus Weber bereits nicht mehr mit. Seine Uhr zeigte jetzt einen Puls von null Schlägen an. Der Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr.
Sein Todeskampf war so schnell vorbei wie sein Leben.
Das Telefon riss Kommissar Simon Kalt aus dem Aktenstudium. Eine neue Einbruchserie hielt das Polizeirevier Fellbach momentan ordentlich auf Trab. Seit Wochen trieb eine bandenmäßig organisierte Gruppe ihr Unwesen und ihm wurde fast täglich ein weiterer Einbruch gemeldet. Obwohl der Außenposten des Polizeipräsidiums Aalen seit einigen Jahren Zeit und Personal in die Prävention gegen derlei Raubzüge investierte, wurde die Stadt vor den Toren Stuttgarts von einer regelrechten Welle überrollt. Und Simon Kalt und seine Kollegen tappten noch immer im Dunkeln. Die Hochzeit für Einbrüche lag eigentlich im Winter, bot doch die dunkle Jahreszeit den idealen Schutz für die unwillkommenen Eindringlinge. Alle Spuren hatten sich bislang derweil als Sackgasse erwiesen. Es war frustrierend. Und dazu schlug noch die seit Wochen anhaltende Hitze aufs Gemüt.
Zwar hatte er nicht die Leitung der Ermittlungen inne, denn Simon Kalt war für Todesfälle zuständig. Aber da momentan zum Glück in der Stadt wenig gestorben wurde und die Stadtoberen ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger immer nervöser wurden, hatte der neue Revierleiter Günter Harms angeordnet, alle verfügbaren Kapazitäten auf die Einbruchserie zu verwenden. Dem hatte Simon sich nicht widersetzen können, schließlich kam er in den Ermittlungen eines über fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden Cold Case nicht voran. Im September 1996 war in einem Haus im Stadtteil Schmiden ein Mann mit siebenundzwanzig Messerstichen getötet worden. Den Täter hatte man nie gefasst. Alle Spuren verliefen im Sande. Dennoch gab es wenig Interesse, diesen spektakulären Fall zu den Akten zu legen. Die Ermittlungen hatte man Simon übertragen, der als geduldig und hartnäckig galt. Einige aus dem Revier neideten ihm den Fall. Alle wussten, wenn es gelang, den Cold Case zum Hot Case werden zu lassen und nach einem Vierteljahrhundert zu lösen, würde das automatisch einen Karriereschub bedeuten. Doch das war nicht Simons Antrieb. Er hatte schon als Kind knifflige Puzzles gemocht und konnte sich wie ein Terrier in einen Fall verbeißen. Und dieser hatte es ihm angetan. Damals hatte er nur ein paar Hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Bahngleise in der Esslinger Straße einen Teil seiner Jugend verbracht und war angelockt von den Sirenen der Einsatzkräfte zum Haus gelaufen. Seine Eltern hätten es ihm verboten, wenn sie davon gewusst hätten. Denn eigentlich war die Unterführung die unsichtbare Grenze für seine Streifzüge. Aber die Anziehungskraft und Faszination war seinerzeit zu groß gewesen. Das Aufgebot an Polizei und Notarzt, heulende Sirenen und blitzende Blaulichter. Genau genommen war das sein erster Kontakt mit dem Verbrechen und vielleicht der Auslöser für den Start seiner Polizeikarriere. Er war vierzehn gewesen, als der geheimnisvolle und heimtückische Mord die Stadt elektrisiert hatte. Später hatte er ihn vergessen, aber sofort zugesagt, als Harms ihm den Fall zugeteilt hatte. Zum Glück gab es nur wenige Kapitalverbrechen in seinem Zuständigkeitsbereich. Und die konnten meist rasch aufgeklärt werden. Aber nun würde er sich zunächst um den Anruf kümmern müssen, ehe er sich wieder dem Cold Case oder den Einbrechern widmen würde. Daher war Simon beinahe ein wenig erfreut über die Abwechslung, als er zum Fundort einer Leiche gerufen wurde.
Ein Rentnerehepaar hatte bei einem abendlichen Spaziergang durch die Weinberge am Kappelberg den leblosen Körper eines Mannes gefunden und sofort den Notarzt alarmiert. Mehr war nicht bekannt. Die Polizei wurde in solchen Fällen immer automatisch informiert.
Simon klappte die Akte zu, trank einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche, bereits seine vierte an diesem Tag, und machte sich auf den Weg. Es war Freitagabend im Juli. Hinter dem Gebäude in der Cannstatter Straße war der Parkplatz für die Einsatz- und Dienstfahrzeuge der Dienststelle, die seit der letzten Reform als Außenstelle nun zum Polizeirevier im gut siebzig Kilometer entfernten Aalen gehörte. Bis Mitte der 1980er-Jahre war hier ein Teil der Stadtverwaltung untergebracht, die dann in den viel bewunderten, mit Architekturpreisen überhäuften und nur wenige Meter entfernten Neubau gewechselt war. Er selbst war viel zu jung und noch nicht einmal in der Ausbildung für den gehobenen Dienst, als das Revier von der Stuttgarter Straße an seinen heutigen Standort im Stadtkern umgezogen war. Es gab wesentlich schlimmere Arbeitsorte, wie er fand.
Sein Partner Sven Hartung war seit ein paar Tagen arbeitsunfähig, und Simon hatte gehört, dass Sven wohl noch einige Zeit im Krankenstand verbringen würde. Was genau der Grund war, wusste er allerdings nicht. Also brach Simon allein zum Fundort auf. Er steuerte den blauen Passat auf die Pfarrstraße und von dort in die Waiblinger Straße, die in die Vordere Straße mündete, passierte den Kreisverkehr, der ihn weiter Richtung Neue Kelter brachte. Den genauen Standort hatte man ihm auf sein Handy geschickt, sodass er bequem dem Navi folgen konnte. Über den Wanne genannten Weg steuerte Simon seinen Wagen den vierhundertsechzig Meter hohen nordwestlichsten Ausläufer des Schurwaldes nach oben, an dessen nördlicher Flanke sich Fellbach erstreckte. Der Kappelberg war in seinen höchsten Lagen bewaldet, während sich an seinen Hängen Reben befanden. Seinen Namen, das hatte Simon noch aus der Schule behalten, hatte der Berg von einer Wallfahrtskirche, die allerdings bereits 1819 abgerissen wurde. Ebenfalls gelernt hatte er, dass Teile am Fuß des südlichen Bergkamms sogar unter Naturschutz standen. Unterhalb seiner Nordflanke führte der eineinhalb Kilometer lange Kappelbergtunnel hindurch, der das Remstal mit dem angrenzenden Neckartal verband und über die Bundesstraße eine direkte Anbindung nach Stuttgart war.
Simon war einmal mehr froh um die funktionierende Klimaanlage, während er zwischen den Weinbergen hindurchfuhr, an deren Bergseite Schrebergärten und ganze Wochenenddomizile grenzten. Über Funk wurde gerade die Information über eine Massenkarambolage am Teiler der Bundesstraße 14 und 27 Richtung Stuttgart durchgegeben. Kein Wunder, die Hitze sorgte für Mattheit in den Köpfen, die zu Unkonzentriertheit und in der Folge zu erhöhtem Unfallrisiko führte.
Als Simon über eine kleine Kuppe fuhr, sah er vor sich einen Notarztwagen und einen Krankenwagen auf dem Weg stehen. Er stellte den Passat so ab, dass genügend Raum für die Durchfahrt anderer Fahrzeuge blieb, stieg aus und trat zu den Notfallsanitätern. Die hatten sich in ihren orangenen Hosen und weißen Polo-Shirts über einen leblos wirkenden Körper gruppiert, von dem Simon zuerst nur die Beine mit Laufschuhen sehen konnte. Daneben befanden sich die typischen Rettungsrucksäcke. Der Notarzt hatte sich über den männlichen Körper gebeugt, in einiger Entfernung hielten sich ein älterer Herr und eine Frau an den Händen und beobachteten stumm. Wahrscheinlich hatten sie den Toten gefunden, vermutete Simon. Er würde gleich zu ihnen hinübergehen und mit dem Paar sprechen. Doch zuerst wollte er sich einen Überblick verschaffen.
Simon grüßte in die Runde und stellte sich vor.
»Dr. Kaltenbach«, sagte der Arzt am Boden und erhob sich etwas schwerfällig. Es sah ganz danach aus, als habe der bärtige Mann, der in seinen Fünfzigern sein durfte, Knieprobleme. »Da ist leider nichts mehr zu machen. Wir haben es mit Reanimation versucht, aber erfolglos. Wir bringen ihn nach Winnenden für die weitere Untersuchung. Ich würde auf Tod durch Herzversagen tippen.« Er sah kurz Richtung Himmel, wo die Sonne noch immer brannte, und kniff die Augen zusammen.
Simon hatte vor dem Aussteigen einen Blick auf die Temperaturanzeige geworfen. Vierunddreißig Grad, obwohl es fast neunzehn Uhr war. Wahnsinn.
»Kein Wunder bei dem Wetter«, sagte Kaltenbach kopfschüttelnd. »Wer ist auch so bescheuert und rennt bei dieser Hitze durch die Gegend.«
Simon nickte verständnisvoll. Es war wohl eine klare Sache und eine Spurensicherung war nicht notwendig.
»Ich muss dann auch weiter«, meinte Kaltenbach entschuldigend und griff sich seinen Arztkoffer. Dann fügte er eine knappe Erklärung für seinen eiligen Aufbruch hinzu. »Es hat wohl einen großen Unfall auf der Bundesstraße gegeben.« Er grüßte, indem er den Zeigefinger an die Stirn hob, eilte zu seinem weiß-roten Audi, verstaute seine Utensilien im Kofferraum und fuhr davon.
Erst jetzt konnte Simon ungehindert das Gesicht der Leiche sehen.
War das möglich?
Er drehte den Kopf einen Moment weg und warf dann wieder einen Blick auf den Toten.
Nein, es war keine optische Täuschung und es bestand auch nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit. Trotzdem zwang er sich, zweimal hinzuschauen. Doch das Gesicht blieb dasselbe, und er erkannte zweifelsfrei, wer da vor ihm lag: Markus Weber, einer der bekanntesten Einwohner Fellbachs und momentan der vielleicht angesagteste Winzer aus dem ganzen Remstal und dem Weinland Württemberg.
Die Überraschung traf ihn mit voller Wucht, auch wenn er Weber nicht wirklich gut gekannt hatte. Weber war zwar etwas älter als er. Aber ohne dass er dessen genauen Jahrgang wusste, definitiv zu jung, um vor ihm zu liegen.
Als sie mit ihrem schwarzen Vito, der lediglich mit einer dezenten Werbeaufschrift versehen war, am Fundort der Leiche eintraf, warteten zwei Rettungssanitäter und Simon Kalt auf sie. Simon, der als Polizist gerufen worden war, hatte sie direkt angerufen und gefragt, ob sie den Transport übernehmen könne. Mehr hatte er nicht gesagt. Zum Glück war Holger Rose, einer ihrer Mitarbeiter, noch im Haus gewesen, der nun neben ihr saß und beim Verladen des Körpers helfen würde. Sie waren sofort losgefahren, nachdem Simon den Fundort der Leiche mitgeteilt hatte. Angeblich hatte der Tote schon etwas länger in der Sonne gelegen.
Simon und sie kannten sich seit ihrer Jugend. Und ab und zu war sie sogar etwas neidisch auf ihn, da er Polizist geworden war. Ein Beruf, für den sie sich durchaus auch erwärmt hatte. Aber es war anders gekommen.
Auf seinem T-Shirt zeichneten sich kleine dunkle Flecken ab. Ein Tribut an die Hitze dieser Tage. Als sie ausstiegen, kam er auf sie zu. Julia Judith Schwarz, von den meisten einfach »JJ« genannt, da sie beide Vornamen hasste wie die Pest, winkte zu den Sanitätern hinüber. Man kannte sich, denn so dicke war die Personaldecke in der Region weder bei den Rettungskräften noch bei den Bestattern, als dass man sich nicht mehrmals über den Weg laufen würde.
Simon bedeutete ihr kurz, zu ihm auf die Seite zu kommen.
»Bevor wir hingehen, muss ich dir was sagen«, meinte er in gedämpftem, aber ernstem Tonfall.
JJ warf ihm einen fragenden Blick zu, sagte jedoch nichts.
»Du kennst den Toten. Es ist Markus Weber.«
Mit vielem hätte sie gerechnet, aber damit nicht. Wobei sie nicht genau wusste, warum Simon glaubte, sie extra darauf vorbereiten zu müssen. Sicher, es war eine Überraschung, aber nichts, was drohte, sie aus der Bahn zu werfen.
»Was?«, entfuhr es ihr dennoch fast einen Tick zu laut und sie hob instinktiv ihre Hand vor den Mund. »Was ist passiert?«
»Der Notarzt meint, es war ein plötzlicher Herztod. Markus ist wohl beim Joggen zusammengebrochen. Wahrscheinlich war die Anstrengung bei der Hitze zu hoch. Vielleicht auch eine nicht auskurierte Sommergrippe oder so was. Hört man ja immer wieder.« Simon zuckte die Schultern zum Zeichen, dass er noch keine Erklärung liefern konnte.
JJ wiegte den Kopf. Das konnte natürlich gut sein. Aber bei vermeintlich kerngesunden Menschen rechnete man dennoch nie damit. Und Markus hatte immer topfit gewirkt. Umso stärker traf sie der Schock, dieses seltsame Gefühl, das einen immerfort einnahm, wenn jemand starb, den man gekannt hatte. Oder zumindest glaubte, denjenigen gekannt zu haben.
»Shit. Sagst du es der Familie?«
»Ja, muss ich wohl. Sven ist krank und der Rest setzt gerade alles daran, die Einbrecherbande zu schnappen. Also bleibt es wohl an mir hängen«, meinte Simon und versuchte erst gar nicht, seinen Missmut, den er bei dieser Aufgabe hegte, zu verbergen. »Das wird nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig. Eine Frau und Kinder haben die beiden doch auch, soweit ich weiß. Ich hasse so was. Und dann auch noch sein Bruder, der meint, Bürgermeister spielen zu müssen. Zum Glück war es kein Verbrechen, sonst würde er uns wahrscheinlich die Hölle heißmachen, bis wir den Täter oder die Täterin geschnappt haben. Wir wissen ja, wie er ist und wie er sein kann.«
JJ kommentierte die Aussage Simons nicht. Sie kannte Peter Weber und hatte eine Meinung zu ihm, aber die wollte sie hier und jetzt lieber für sich behalten.
»Du packst ihn bitte ein und bringst ihn nach Winnenden. Dort gibt es dann die Zweituntersuchung. Und wenn er freigegeben ist, dann holst du ihn wieder. Ich bin sicher, Vera wird ohnehin wegen der Beerdigung zu dir kommen. Das gibt wahrscheinlich einen ziemlich großen Bahnhof.«
Vera Weber war die Frau von Markus.
JJ gab Simon in Gedanken recht. Die Annahme war offenkundig. Denn ein Fellbacher, insbesondere ein so prominenter, der würde naturgemäß auf dem Kleinfeldfriedhof, dem großen Friedhof der Stadt, seine letzte Ruhestätte finden. Da war es dann schon nahezu ein Automatismus, dass die ganzen Formalitäten vom führenden Beerdigungsinstitut übernommen wurden.
»Julia J. Schwarz« stand auf ihrer Visitenkarte, und ihr Name prangte auch auf den dunklen, blickdichten Scheiben des Leichenwagens. Sie war Bestatterin. Bis heute zählte ihr Bestattungsinstitut zur ersten Adresse, an die man sich wandte, wenn in Fellbach jemand das Zeitliche gesegnet hatte – und das schon in der dritten Generation.
Einen passenderen Beruf vermochte man sich bei dem Nachnamen kaum vorstellen. Schwarz war der Farbton des Todes und der Trauer.
Ihr Großvater, Robert Schwarz, hatte das Bestattungsunternehmen Schwarz nach dem Krieg aus den Resten der zerstörten Schreinerwerkstatt im sogenannten Oberdorf der Stadt gegründet. Statt Wohnzimmerschränke zimmerte er nun eben Holzsärge, hatte er ihr immer mit ernster Miene erzählt. Doch die humorvollen Augen leuchteten schelmisch dabei. JJ hatte ihn gemocht, ihren Opa. Ein Großvater und Schwabe wie aus dem Bilderbuch. Harte Schale und ein butterweicher Kern, den er aber nur wenigen Menschen gezeigt hatte. JJ war eine davon. Er hatte seine Enkelin vergöttert, und sie hatte nicht mehr leben wollen, als ihr Großpapa gegangen war. Aber das Leben kannte keine Pause-Taste, es folgte unaufhaltsam seinem Lauf. Das tat es ja immer.
Und siehe da, die Bestatterbranche erwies sich bald als einträgliches Geschäft. Irgendwann war JJs Vater eingestiegen. Er hatte den Betrieb mit drei Angestellten von seinem Vater übernommen und das bald in »Bestattungsinstitut Schwarz« umfirmierte kleine Unternehmen Schritt für Schritt zum Branchenführer der Stadt ausgebaut.
Kaum jemand wusste, dass Reinhold Schwarz auch das Bestattungsinstitut Krämer im Unterdorf führte. Er hatte es kurzerhand aufgekauft, als der kinderlose alte Krämer selbst das Zeitliche gesegnet hatte, aber den Namen ebenso belassen wie die dortigen Beschäftigten. Eine kluge und weitsichtige Entscheidung. Mit der überschaubaren Investition hatte er zugleich einen strategischen Schachzug vollzogen. Dadurch hatte die Familie Schwarz praktisch ein Monopol und quasi den Komplettzugriff auf alle in der Kernstadt verstorbenen Bürgerinnen und Bürger. Denn ein echter Fellbacher würde sich nur von einem ortsansässigen Unternehmen bestatten lassen, da war man schon sehr eigen. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um eine Erd- oder eine Feuerbestattung handelte. In den beiden anderen zu Fellbach gehörenden Teilorten gab es jeweils kleine Traditionsbetriebe. Doch die betrachtete Reinhold Schwarz nicht als ernst zu nehmende Konkurrenz. Man kannte sich, man half sich aus, und bei fünfzigtausend Einwohnern starben genügend für alle.
Und so kam JJ Jahre später zu einem gut laufenden Familienbetrieb, den sie ursprünglich nie haben wollte. So wie sie ihre Familie gleichsam nie haben wollte. Und andersherum. Ihren geliebten Großvater einmal ausgenommen. Aber manchmal schlug das Leben eben Purzelbäume. Seit fast zehn Jahren ging sie mittlerweile ihrer erst verhassten Arbeit nach, die sie inzwischen lieb gewonnen hatte. Obwohl sie sich hin und wieder selbst die Frage stellte, ob Bestatterin ein Job war, den man lieb gewinnen konnte. Es mochte perfide klingen, aber bis auf wenige Ausnahmen hatte sie sich die Frage an fast allen Tagen mit einem klaren Ja beantwortet.
JJ ging mit Simon zu dem leblosen Körper hinüber, den die Sanitäter abgedeckt hatten. Wie immer waren heute Abend Spaziergänger unterwegs. Einige blieben stehen und versuchten, einen Blick auf den Toten zu erhaschen. Ehe sie womöglich ihre Handys hervorzogen, wurden sie von Simon freundlich, aber bestimmt fortgeschickt. Als JJ dies einige Male mitangesehen hatte, verstand sie auch, warum Simon so grimmig wirkte.
Während sie Sekunden später einen kurzen Blick auf die ausdruckslosen Gesichtszüge des Toten warf, durchzuckte sie für einen Moment ein seltsames Gefühl. Selbst nach so vielen Jahren im Handwerk war es ein Unterschied, ob der Verstorbene jemand war, den man persönlich gekannt hatte oder nicht. In der Tat war bisher nur selten jemand aus ihrem Bekanntenkreis oder gar ein Klassenkamerad auf ihrem Tisch gelandet, obwohl sie so etwas wie ein alter Hase im Gewerbe war. Ein weiblicher Platzhirsch in einer männerdominierten Welt. Letztendlich hatte sie selbst die vierzig nicht übersprungen. Das war noch viel zu jung, um zu sterben. Im Normalfall.
Bisher war nur Justus aus ihrer Abiturklasse als Kunde beim Institut Schwarz gelandet. Kunde war ein seltsamer Begriff, aber letztlich passte er eigentlich gut. Doch Justus zählte nicht. Zumindest nicht so richtig. Denn den hatte damals ihr Vater auf die Feuerbestattung vorbereitet. Justus war der Sohn eines alten Landwirts. Und so groß wie sein Leibesumfang war sein Ego gewesen. Das hatte ihm freilich nicht geholfen, als er mit seinem Buggy um eine Ecke gebogen und in den langen Messern eines Mähdreschers gelandet war.
Und Sonja, eine alte Schulfreundin aus einer Klassenstufe darunter. Sie war nach einer langen Krebserkrankung hier gelandet. Damals war JJ noch im Ausland gewesen und hatte erst später davon erfahren.
Und Christoph, der hatte es übertrieben mit den Partys und Drogen. Ein Cocktail mit allerlei illegalen Substanzen hatte ihn aus dem Leben geschleudert. Da war JJ gerade erst wieder hier in ihrer Heimatstadt angelandet, weshalb Toni aus dem Unterdorf den Job übernommen hatte. Die Polizei hatte lange ermittelt. Und am Ende war nie zweifelsfrei geklärt, ob er selbst sein Leben beendet hatte oder ob ihm jemand dabei behilflich gewesen war.
In den kommenden Jahren würden sich unweigerlich ein paar alte Bekannte dazugesellen. Aber bislang war sie froh, nicht allzu oft in Gesichter schauen zu müssen, die sie zu Lebzeiten näher gekannt hatte. JJ wäre beruhigt, wenn Markus Weber für längere Zeit der Letzte wäre. Spätestens übermorgen dürfte er auf ihrem Metalltisch liegen. Ein seltsames Gefühl.
Während sich die beiden Rettungssanitäter verabschiedeten und Richtung Bundesstraße fuhren, wo der Unfall weiterhin für eine beidseitige Vollsperrung sorgte, machten sich JJ und Holger Rose daran, den Abtransport von Markus Weber vorzubereiten.
Bereits am nächsten Vormittag konnte sie Markus Webers Leichnam in den Rems-Murr-Kliniken in Winnenden abholen. JJ erreichte den in fünf quadratische Blöcke aufgeteilten und dreihundert Millionen Euro teuren Bau durch eine gesonderte und untertunnelte Zufahrt. Die beweglichen gelben Verblendungen strahlten ebenso eine moderne Freundlichkeit aus wie der lichtdurchflutete Eingangsbereich mit seinen großen Glasfronten.
Die Klinik verfügte über eine Chest Pain Unit, also eine Spezialstation zur Diagnostik von Herzinfarkten, und war als Cardiac Arrest Center ausgewiesen. Daher war der Tote zur rechtsmedizinischen Untersuchung und verbindlichen Feststellung der Todesursache in die Klinik überführt worden.
Dort hatte ein Gerichtsmediziner den Leichnam erneut untersucht. Erst nachdem auch dieser jegliche Fremdeinwirkung ausgeschlossen hatte, wurde der Tote zur Bestattung freigegeben.
Vera Weber, Markus’ Ehefrau, hatte sich gleich am Morgen telefonisch gemeldet, und wie Simon Kalt vorhergesagt hatte, den Bestattungsauftrag an das Institut Schwarz vergeben. Es galt, jede Menge Formalitäten zu erledigen, denn selbst das Sterben war ein höchst formaler Akt.
JJ stieg aus, um sich anzumelden, damit Markus aus dem Kühlraum zu ihrem Wagen gebracht wurde. Unwillkürlich nahm sie die Hektik in der angrenzenden Notaufnahme wahr. Sie war schon öfter hier gewesen, aber das war nicht normal, selbst für eine Notaufnahme in einem Kreiskrankenhaus dieser Größe.
»Was ist denn heute los?«, fragte sie eine Schwester, während sie vor dieser mit den notwendigen Papieren zur Überführung wedelte.
»Totales Chaos, sag ich Ihnen. Seit gestern Abend. Ich weiß gar nicht genau, wie viele durch den Unfall seither eingeliefert worden sind. Sie haben sicher von der großen Karambolage gehört? Wahnsinn. Nur weil ein Idiot bei hundert am Handy spielen musste. Kinder, Familien, Wahnsinn, ich sag’s Ihnen.«
Die Frau regte sich sichtlich auf und strahlte trotz der um sie herum herrschenden Aufregung Ruhe aus. Sie war offensichtlich gewillt, sich nicht anstecken zu lassen.
JJ wusste, dass so jemand in derartigen Situationen Gold wert war. Hektische Betriebsamkeit schadete nur.
»Das bringt uns echt an die Grenzen. Und darüber hinaus«, sagte die Frau, auf deren Namensschild an der Brust »Dagmar Händel« stand. Plötzlich wirkte sie sehr mitgenommen. »So was wäre schon vor Corona eine Herausforderung gewesen. Aber jetzt, wo uns so viele Leute einfach davongelaufen sind, können wir so was kaum noch bewältigen.«
»War das nur der Virus?«, fragte JJ nach, während sie die Menschen beobachtete, die mit ernsten Gesichtern konzentriert Patienten betreuten, Betten durch die Gänge schoben und sich mit den Rettungssanitätern austauschten.
»Nein. Natürlich nicht. Das war bestenfalls das i-Tüpfelchen. Dauerbelastung und die bescheidene Bezahlung machen den Job nicht gerade attraktiv. Und wenn die Pflegekräfte im Burn-out enden, werden sie zum Dank vor die Tür gesetzt. Schaffen, bis sie zusammenklappen. Aber wenigstens ham sie’s dann nicht weit in die Notaufnahme.« Sie seufzte und setzte eine entschuldigende Miene auf, so als sei ihr diese Meinungsäußerung jetzt unangenehm.
JJ schaute verständnisvoll. Sie hatte größten Respekt vor der Arbeit aller Menschen im sozialen Bereich. Deren Engagement war durch die Kommerzialisierung des Sozialsystems nun um einen noch höheren Leidensdruck getrübt. Meist stand nicht mehr das Wohl der Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt, sondern die Bilanzen der Kliniken.
Die Schwester deutete mit einer Handbewegung an, dass JJ mitkommen sollte, und nahm während des Gehens den Faden ihrer kleinen Exkursion wieder auf. »Obwohl wir ja eigentlich genau für so was da sind. In andere Kliniken kann man nicht ausweichen, ist ja überall dasselbe.« Sie blieb stehen und sah JJ beinahe entschuldigend an. »Ich mache meinen Job gerne und weil ich es will. Aber ab und zu quillt das Frustpotenzial aus allen Poren.«
JJ nickte zustimmend. Sie beobachtete die um sich greifende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens seit Jahren mit wachsender Skepsis. Kranke Menschen wurden zur Ware und Gesundheit zum Gewinnbringer für die Privatwirtschaft. Und so gab es Menschen, deren Konten wuchsen, je mehr Not unter anderen Menschen herrschte. Eine Ungerechtigkeit, die sie nie verstanden hatte, die jedoch immer größer wurde.
Die Frau redete unterdessen weiter. »Aber da hilft alles Jammern nichts. Da müssen wir durch. Es gibt Menschen, die brauchen unsere Hilfe.« Plötzlich war die Betretenheit verschwunden und unter den müden Zügen blitzte Elan und Kraft auf. »Na, dann will ich mal sehen, ob ich Ihren Kunden finde«, sagte die Schwester und ging mit den Unterlagen wedelnd davon.
Keine Viertelstunde später war der Leichnam von Markus Weber verladen und konnte ins Institut überführt werden. JJ verabschiedete sich und sah zu, dass sie fortkam, damit die Ärzte, Schwestern und Pfleger ungehindert ihren Job machen konnten.
Das Fellbacher Tagblatt hatte seine Büros am Cannstatter Platz, entlang der Wiesenstraße, also beinahe in Wurfweite der ehemaligen Redaktion der Fellbacher Zeitung. Doch anders als die inzwischen im Stuttgarter Zeitungsverlag aufgegangene und nicht mehr selbstständig existierende Fellbacher Zeitung war das Fellbacher Tagblatt eine der wenigen überlebenden regionalen Blätter, die ihre Eigenständigkeit bis heute wahren konnten. Grund war eine stabile Eignerstruktur. Die drei Eignerfamilien waren zwar alle selbst Unternehmer. Doch allesamt legten sie großen Wert auf gute Berichterstattung, und den unabhängigen Journalismus wollten sie nicht auf dem Altar der Marktwirtschaft opfern.
Vinzent Elsässer war zwar kein fest angestellter Redakteur, verdiente aber einen Großteil seines Lebensunterhalts mit Artikeln und Fotos für die einzig verbliebene Zeitung der Stadt. Den Rest bestritt er mit Fotokunst und einem eher ungewöhnlichen Nebenjob, der sich jedoch als krisensicheres Gewerbe entpuppt hatte. Vinzent war seit mehr als zehn Jahren Sargträger. Der Stundenlohn war zwar nicht gewaltig, aber auch nicht schlecht. Und über den Monat verteilt kam so zumindest ein nettes Zubrot für überschaubaren Aufwand zusammen. Die meisten seiner Kollegen auf dem Friedhof waren längst im Rentenalter und besserten damit ihre oft karge Rente etwas auf.
Obwohl der Tag noch jung und das Thermometer zum Glück noch nicht über dreißig Grad geklettert war, hatten sich die Ereignisse für Vinzents Verhältnisse beinahe überschlagen. Zuerst war die Anfrage eingegangen, ob er übermorgen eine Beerdigung übernehmen könne. Keine halbe Stunde später hatte sein Telefon erneut geklingelt. Diesmal war es die Redaktion des Tagblatts, die bis heute Abend einen Artikel zu einem überraschend verstorbenen prominenten Stadtkind benötigte. Gemein war beiden Anfragen, dass es sich um dieselbe Person handelte: Markus Weber.
Vinzent setzte sich an einen der freien Schreibtische, feste Redaktionsplätze gab es schon lange nicht mehr. Er klappte seinen Laptop auf und beschloss, sich zuerst einen Kaffee aus der angrenzenden Kaffeeküche zu besorgen. Dann machte er sich an die Recherche. Er stieß im Archiv des Fellbacher Tagblatts auf zahlreiche Beiträge über den Verstorbenen.
Sein Artikel würde einschlagen wie eine Bombe. Vielleicht hatte er Glück und überregionale Blätter würden daraus zitieren oder sogar dpa würde seinen Text übernehmen. Ja, das wäre was. Aber dazu musste er schnell sein. Verdammt schnell. Sonst würde ihm jemand den Scoop wegschnappen. Es war seine Chance und die wollte er nutzen. Sicher machten jetzt schon Gerüchte die Runde, aber die offizielle Pressemeldung der Polizei war erst für den Abend zu erwarten, das hatte ihm der Pressesprecher des Reviers versichert, den er seit der Schulzeit kannte und mit dem er sich regelmäßig auf einen Kaffee traf. Bis dahin beschränkte man sich darauf, den Fund eines toten Joggers bekannt zu geben.
Schnell wurde klar, dass Weber fast ausschließlich wohlwollende Presse erhalten hatte. Er war so was wie der Sunnyboy unter den Jungwinzern, obwohl er ja eigentlich gar nicht mehr so jung gewesen war. Und ja, er war jemand in Fellbach. Jemand, an dem man nicht vorbeikam. Jemand mit unverschämt viel ehrlich verdientem und hart erarbeitetem Geld und jeder Menge Einfluss auf allen Ebenen. Aber zum Glück ohne politisches Amt. Für die Zeit stehlenden Sonntagsreden hatte er offensichtlich nie viel übriggehabt. Weber war ein Pragmatiker, ein Macher. Während andere laberten und sich Konzepte aus dem Kopf quetschten, war er schon mitten in der Umsetzung. Das war den Artikeln zu entnehmen, und so hätte Vinzent ihn auch selbst beschrieben, obwohl er ihn nicht wirklich gut gekannt hatte. Oft hatte man Markus Weber angetragen, für den Gemeinderat oder den Kreistag zu kandidieren, zumindest tauchten solche Angebote immer wieder in den Archiven auf. Sogar ein Landtagsmandat hatte man ihm schmackhaft machen wollen. Aber Markus hatte stets freundlich abgelehnt und auf den Betrieb verwiesen, den er zu führen habe und der seine volle Aufmerksamkeit beanspruche. »Ich habe Verantwortung für die Menschen, die mit mir für den Erfolg des Weinhaus Weber arbeiten«, wurde er an einer Stelle zitiert.
Das Feld der Politik hatte er klugerweise seinem Bruder überlassen, dachte sich Vinzent, während er weitere Artikel überflog und sich einige Notizen machte. Dieser Bruder, Peter Weber, hatte es immerhin zum Oberbürgermeister seiner Heimatstadt gebracht. Da er sich aber geweigert hatte, einer Partei beizutreten, hatte er bisher den Sprung in den Landtag nicht geschafft, obwohl einige seiner Vorgänger genau diese Doppelrolle innegehabt hatten.
Verheiratet war der verstorbene Markus Weber seit zwanzig Jahren mit seiner fast gleich alten Frau Vera, die sich offensichtlich konsequent aus der Öffentlichkeit fernhielt, in der sich ihr Gatte dafür umso lieber sonnte. Gesonnt hatte, korrigierte sich Vinzent in Gedanken. Aber das konnte er sich irgendwie auch leisten, fand Vinzent, als er die biografischen Eckdaten überflog, denn er hatte schon einiges vorzuweisen. Dabei sah Weber nicht aus, wie man sich gemeinhin den Prototypen des erfolgreichen Weinbauern aus dem Schwabenland vorstellte. Die Bilder im Archiv sprachen eine andere Sprache.
Mit seinen langen, meist zu einem Zopf gebundenen, strohgelben und von der Sonne gebleichten Haaren, dem etwas zu langen und nicht immer sauber gestutzten Vollbart sah er meist lässig in Jeans und T-Shirt gekleidet eher wie ein klassischer Aussteiger aus. Irgendwie erinnerte er Vinzent entfernt an den Schauspieler Sebastian Ströbel aus der Fernsehserie »Die Bergretter«, als er einige Fotos von Markus Weber betrachtete.
Dazu kam, dass er trotz seiner exklusiven Weine persönlich wenig Wert auf den damit verbundenen Chic zu legen schien. »Um gute Weine zu machen, die auch ihren Preis haben, muss ich weder dicke Autos fahren noch edles Tuch tragen. Mein Job ist der Wein und nicht das Cover eines Modemagazins«, stand in einem älteren Beitrag einer bekannten Weinzeitschrift. Kurzum, Markus Weber war so was wie ein kleines Unikum in der hiesigen Weinwelt und hatte in relativ kurzer Zeit Großes geschaffen.
Das Weinhaus Weber war nach eigenen Angaben das größte Ökoweingut der Region. Und dahinter steckte die Tradition aus hundertfünfzig Jahren kreativer Weinunternehmer im Remstal. In einem Porträt über Markus Weber fand Vinzent den viel zitierten Satz: »Wein war nie alles, ohne Wein wäre aber alles nichts.« So beschrieb er verkürzt die Remstäler Familiengeschichte, deren bekannte Wurzeln bis ins achtzehnte Jahrhundert reichten. Damals war von Weinbau und Winzertum allerdings noch keine Rede. Metzger waren sie gewesen. Vieles der Familiengeschichte ist nicht bekannt, nur dass ein gewisser Ferdinand Weber 1845 in Fellbach ein zweistöckiges Haus mit Stallungen und Kelter erworben hat. Genau dort, wo heute der gewaltige Neubau des Weinhaus Weber stand. Eine Weinwirtschaft hat er darin eröffnet und eine Metzgerei untergebracht. Beides wurde 1850 eingetragen. Seine Unternehmungen waren gut gelaufen und hatten Ferdinand Weber genügend Geld eingebracht, um zusammen mit seinem Sohn Jacob 1870 ein leer stehendes Haus zu erwerben und als Hotel umzubauen. Eine Entscheidung, die Markus Weber immer als »sehr klug« gelobt hatte. »Das war die Basis für die weitere Expansion. Ohne die Weitsicht meiner Urväter wäre der heutige Betrieb kaum vorstellbar. Bis in die späten 1970er-Jahre war das Hotel und das kurz darauf eröffnete Weinhaus Weber in Familienbesitz, ehe man beschloss, es zu veräußern und den Wein mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Der Weinbau hatte bis dahin bei all den Unternehmungen immer nur eine untergeordnete Rolle gespielt und nach dem Zweiten Weltkrieg keine drei Hektar betragen, war aber dann stetig gewachsen. Nachdem Markus Ende der 1990er eingestiegen war, hatte sich einerseits die Expansion massiv beschleunigt, aber auch die qualitativen Sprünge waren gewaltig, wenn man den Veröffentlichungen der Fachpresse Glauben schenkte. Inzwischen umfasste der Betrieb über fünfzig Hektar Rebfläche, eine Weinbar in Stuttgart und die Vinothek in Fellbach. Seit 2012 setzte Markus außerdem auf rein ökologischen Weinbau und hatte sich auch drei schicke VW-Busse Baujahr 1972 (sein Geburtsjahr) als Hingucker gekauft, mit denen er überall in der Region bei Festen gut sichtbar vertreten war.
Allein die Tatsache warf bei Vinzent allerdings die Frage auf, wie der Mensch Markus Weber wirklich gewesen sein mochte. Und ob er sich vom Geschäftsmann Markus Weber unterschied. Dem würde er noch nachgehen müssen.
Vinzent brauchte unbedingt für seinen Nachruf einige Stimmen. Da er jedoch nicht bei der Bild-Zeitung arbeitete, scheute er sich aus ethischen Gründen, bei der Familie des Verstorbenen anzuklopfen.
Jedoch bot sich Sabine an. Sie war so was wie das weibliche Pendant zu Markus Weber. Etwas älter als er, aber mindestens ebenso eloquent, zielstrebig und vor allem erfolgreich. Und wo Markus Weber wenigstens den Weinbaubetrieb der Eltern im Kreuz gehabt hatte, war sie erst vor wenigen Jahren komplett neu gestartet. Und inzwischen nicht minder erfolgreich. Sie würde er anrufen und versuchen, ein kurzes Statement zu bekommen. Und auch im Büro des Oberbürgermeisters hinterließ er eine Nachricht und bat um Rückruf.
Doch sein erster Anruf galt der Polizei.
Selbstverständlich kannte Vinzent Simon Kalt, denn sie hatten eine gemeinsame Freundin: Julia Judith Schwarz, kurz JJ. Und obwohl sie gut miteinander auskamen, gab es hin und wieder kleine Anflüge von Eifersucht zwischen den beiden Männern, obwohl dafür eigentlich gar keine Notwendigkeit bestand. Simon war inzwischen längst verheiratet. Und Vinzent hatte sich JJ angeln können. Oder war es andersherum gewesen und sie hatte sich ihn geangelt? Letztlich war dieses kleine Detail aber auch egal. Sie waren seit einigen Jahren ein Paar. Auch wenn eine Beziehung mit der Bestatterin kein leichtes oder einfaches Unterfangen war.
JJ war speziell. Sie übte sich meist in Distanz, und die Momente, in denen sie Nähe zuließ, waren fast ausnahmslos ebenso schnell vorbei, wie sie gekommen waren, einem flüchtigen Windhauch gleich. Daher wohnten sie auch noch immer getrennt voneinander.
»Hallo Simon, Vinz hier.«
»Hi. Ich hab so eine leise Ahnung, welcher Umstand mir deinen Anruf verschafft«, meinte der Kommissar nicht unfreundlich.
»Da liegst du wahrscheinlich richtig. Der Tote, den ihr gestern in den Weinbergen gefunden habt, das soll Markus Weber sein. Kannst du das bestätigen?«
»Ja, das kann ich. Aber du solltest warten, bis unsere Presseinfo raus ist.«
»Das ist kein Problem, habe ich mit eurem Sprecher bereits abgestimmt. Ich soll für die morgige Ausgabe einen Nachruf schreiben. Und wenn eure Meldung und damit die offizielle Bestätigung da ist, schieße ich die Online-Meldung raus.«
Vinzent vernahm zustimmendes Brummen am anderen Ende und hörte Geräusche, als würde sich sein Gesprächspartner nebenbei mit anderen Dingen beschäftigen.
»Simon, kannst du mir noch etwas mehr erzählen? Irgendwas zur Todesursache vielleicht? Unsere Leserinnen und Leser werden sicher überrascht sein von der Meldung.«
»Ach, die zwei alten Damen, die euer Blatt noch lesen, werden schon nicht vor Neugierde sterben.« Simon hatte nie einen Hehl daraus gemacht, was er vom Fellbacher Tagblatt und seiner journalistischen Qualität hielt. Doch seinem Freund zuliebe knickte er ein. »Es sieht ganz so aus, als sei er einfach beim Joggen umgekippt. Die Pumpe. Und kurz darauf war es vorbei. Zwei Rentner haben ihn gefunden. Und nein, die Namen bekommst du nicht von mir.«
»Wie hat seine Frau reagiert? Und die Kinder?« Vinzent war davon ausgegangen, dass Simon die Nachricht an die Familie überbracht hatte.
»Wie würdest du es aufnehmen, wenn dein Lebensgefährte zum Joggen geht und nicht mehr wiederkommt?«
Vinzent spürte instinktiv, dass aus Simon nicht mehr herauszubekommen war. Er wirkte inzwischen etwas genervt von den Fragen des Journalisten, und so beendeten sie das Gespräch.