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Dieses Buch enthält folgende Romane: Alfred Bekker: May Harris - Das Böse lebt Alfred Bekker: May Harris und der Magier Alfred Bekker: May Harris und das Grauen von Tanger Alfred Bekker: May Harris und die Diener des Satans Mark Tate ist der Geister-Detektiv. Mit seinem magischen Amulett, dem Schavall, nimmt er es mit den Mächten der Finsternis auf und folgt ihnen in andere Welten und wenn es sein muss, bis in die Hölle. Ihm zur Seite steht May Harris, die weiße Hexe.
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Seitenzahl: 374
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Die weiße Hexe von London: Sammelband 4 Romane
Copyright
May Harris - Das Böse lebt
May Harris und der Magier
May Harris und das Grauen von Tanger
May Harris und die Diener des Satans
Dieses Buch enthält folgende Romane:
Alfred Bekker: May Harris - Das Böse lebt
Alfred Bekker: May Harris und der Magier
Alfred Bekker: May Harris und das Grauen von Tanger
Alfred Bekker: May Harris und die Diener des Satans
Mark Tate ist der Geister-Detektiv. Mit seinem magischen Amulett, dem Schavall, nimmt er es mit den Mächten der Finsternis auf und folgt ihnen in andere Welten und wenn es sein muss, bis in die Hölle. Ihm zur Seite steht May Harris, die weiße Hexe.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author / COVER Werner Öckl
© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Alles rund um Belletristik!
Mein Name ist May Harris. Ich bin die Lebensgefährtin von Mark Tate. Aber uns verbindet mehr als die große Liebe zueinander – sogar viel mehr: Wir sind vereint im ewigen Kampf des Guten gegen das abgrundtief Böse!
Manche nennen mich die weiße Hexe.
Sie haben Recht.
Ich bin eine Hexe…
Allerdings verwende ich meine Kräfte im Sinne des Guten und gehöre nicht zu jenen Schwarzmagiern und Dämonenbeschwörern, die nichts anderes als ihre eigenen Ziele im Kopf haben.
Ganz zu schweigen von jenen, die gar nicht mehr Herr ihrer selbst, sondern Sklaven der Hölle sind.
Der Großteil der Menschheit ahnt es nicht, weil sie es vielleicht gar nicht wahrhaben WOLLEN.
Aber wir sind in einem Zustand ständiger Bedrohung.
Die Mächte der Hölle lauern nur auf ihre Chance, unsere Welt in Besitz nehmen und ihrer eigenen Sphäre der Verdammnis einverleiben zu können.
Die meisten Menschen begnügen sich damit, die Oberfläche dessen zu sehen, was wirklich vor sich geht.
Die Fassade.
Ich gehöre nicht dazu.
Ich suche nach der Wahrheit, wage den Blick hinter den Vorhang.
Und was ist dort zu sehen?
Ein grausamer Kampf.
Ein Krieg, der im Verborgenen geführt wird.
Ein Krieg zwischen dem Licht und der Dunkelheit und die meisten von uns wissen nicht, dass sie in diesem Krieg willfährige Schachfiguren sind.
Bewegt auf einem überdimensionalen Schachbrett. Bewegt von Mächten, über deren Kräfte sie keine Vorstellung besitzen.
Die meisten Menschen glauben, selbst Herr ihrer Taten, ihres Geschicks und ihres Lebens zu sein.
Aber das ist eine Illusion. Einfach nur eine Illusion. Eine Seifenblase, die zerplatzt, wenn man sie der geringsten Wahrheitsprobe unterzieht.
Ich werde davon berichten.
Von den Blicken hinter den Vorhang, die ich gemeinsam mit einigen wenigen Eingeweihten gewagt habe.
Es ist mir gleichgültig, ob ich für verrückt gehalten werde. Ich weiß, dass meine Hexenkräfte Realität sind.
Und ich weiß, dass die Mächte der Hölle Realität sind, so wie mein Freund Mark Tate und ich erst vor kurzem bei unserem Kampf gegen ein Höllenwesen namens ASMODIS erfahren mussten. Vorläufig war Asmodis in seine Schranken verwiesen worden.
Aber er war keineswegs besiegt.
Das war uns beiden klar.
Wir gingen davon aus, dass unser höllischer Gegner sich geschwächt in jene Sphäre zurückgezogen hatte, der er angehörte. Und wir hofften, dass diese Schwächung noch lange anhielt. Lange genug, bis wir ein magisches Mittel gefunden hatten, das ihn vielleicht länger dorthin verbannte, sodass er seinen schädlichen Einfluss nie wieder auszuüben in der Lage war.
Aber Mark Tate und mir war vollkommen klar, wie trügerisch diese Hoffnung sein konnte.
WIE trügerisch sie war, das sollten wir schon bald merken.
Die erhoffte Atempause im Kampf gegen die Hölle war nicht mehr als ein flüchtiger Augenblick.
Aber Zeit ist ja auch ein relativer Begriff.
*
Mark Tate und ich saßen beim Frühstück. Allerdings nicht zu Hause in meiner Wohnung im Londoner Stadtteil Bayswater oder gar in der von magischen Artefakten nur so wimmelnden Bleibe meines Lebensgefährten.
Nein, wir befanden uns im Dachgarten des Kaufhauses Derry & Toms in der Londoner Ladbroke Grove Road.
Natürlich waren unsere Erlebnisse in Finnland unser Hauptgesprächsthema. So ganz hatten wir noch nicht verdaut, was uns dort widerfahren war. Wir hatten das Geheimnis um Fred Stein lösen und ASMODIS in die Schranken verweisen können.
Aber uns beiden war klar, dass das nichts weiter als ein Etappensieg im Kampf gegen das Böse war.
»Das Böse lebt«, sagte Mark Tate, jener Privatdetektiv, den manche auch fast ehrfürchtig den Teufelsjäger nannten. »Daran musst du immer denken, May. So sehr wir auch auf unsere Erfolge stolz sein können - sie sind letztlich doch nicht mehr als ein Wassertropfen auf heißen Ofenplatten.« Mark berührte dabei leicht den Schavall, jenes augenförmige Amulett, das er stets bei sich trug und das ihm die Anwesenheit magischer Energien anzeigte.
Ich lächelte.
Vielleicht etwas verkrampft, denn innerlich verfluchte ich an diesem heißen Tag den String-Tanga, für den ich mich entschieden hatte, weil alle anderen Slips bei dem enganliegenden Kleid, das ich trug, hässliche Abdrücke verursachten.
Machen sich Männer eigentlich auch Gedanken über solche Dinge?
Wahrscheinlich tragen sie einfach, was praktisch ist. Gleichgültig, wie sehr es das Auge beleidigt.
Und es regt sich auch niemand darüber auf. Ein Blick über die männlichen Passanten, die zur gleichen Zeit wie wir den Dachgarten von Derry & Toms bevölkerten, legte davon ein beredtes Zeugnis ab. Aber so ist die Welt. Geteilt in männlich und weiblich. Und ungerecht.
Ich fragte: »Wann fährst du in dieses... Wie heißt dieses kleine Kaff noch mal?«
»Kerryhill«, sagte Mark.
»Klingt ja aufregend.«
»Wahrscheinlich nur Routine. Es gibt da ein paar eigenartige Todesfälle. Ein gewisser Garnett wandte sich an mich. Er ist Verwalter auf Rathbone Manor, einem adeligen Landsitz und meinte, mir etwas Wichtiges mitteilen zu müssen...«
»Ist denn etwas dran an der Sache?«
»Das weiß ich erst, wenn ich zumindest einen der Toten gesehen habe. Natürlich habe ich unseren Freund Chief Inspector Tab Furlong von Scotland Yard kontaktiert, aber der konnte mir auch nichts sagen, was mich irgendwie weiter gebracht hätte.« Mark lächelte und fuhr dann fort: »Wart's ab, wahrscheinlich bin ich schon heute Abend oder spätestens morgen wieder zurück.«
»Na, hoffentlich.«
Es kam immer wieder vor, dass wir uns für einige Zeit nicht sahen. Das war zwar schwer zu ertragen, musste aber wohl in Kauf genommen werden in Anbetracht der Tatsache, dass mein Lebensgefährte ein Privatdetektiv war.
Noch dazu ein Privatdetektiv, der sich vorzugsweise nicht mit gewöhnlichen Kriminalfällen beschäftigte, sondern mit Tatbeständen, die der Großteil der Menschheit schlichtweg leugnete.
Man nannte ihn schließlich nicht umsonst den TEUFELSJÄGER.
Ich blickte auf den Schavall um seinen Hals. Das Amulett begann aufzuleuchten.
»Sieh nur!«, flüsterte ich.
Aber Mark hatte es längst selbst bemerkt. Er blickte an sich herab, hob den Schavall leicht an. »Ja, hier muss irgend etwas in der Nähe sein, was...«
Mark sprach nicht weiter.
Er blickte sich um, scheinbar suchend. Tiefe Furchen hatten sich auf seiner Stirn gebildet.
Ich versuchte indessen, meine magischen Sinne zu aktivieren. Eine Sache der Konzentration.
Inzwischen musste ich keine Brille mehr tragen, außer um zu verhindern, dass man die magische Aktivität durch ein Leuchten in meinen Augen sofort erkennen konnte.
Zumindest jene, die Bescheid wussten und die Wirksamkeit solcher Kräfte als gegebene Naturerscheinung einfach akzeptierten.
Auch, wenn sie vielleicht keine befriedigende Erklärung zur Hand hatten.
Für alle anderen war es lediglich eine eigenartige Erscheinung. Um damit nicht die ungewollte Aufmerksamkeit meiner Umgebung auf mich zu ziehen, hatte ich eine Art „Sonnenbrille“.
Nur filterte sie kein UV-Licht, sondern magische Kräfte.
Inzwischen konnte ich auch darauf weitgehend verzichten, wenngleich ich die Brille trotzdem noch häufig bei mir trug.
So auch jetzt.
Sie befand sich in meiner Handtasche.
Mark starrte mich an.
»Deine Augen...«
»Man sieht es?«
»Ja...«
Ein Mann an einem Nachbartisch sah mich direkt an.
Er schien es dennoch nicht zu bemerken.
Niemand schien es zu bemerken.
Der Schavall leuchtete jetzt pulsierend auf.
Dieses Pulsieren wurde immer schneller.
Ich spürte einen leichten Kopfdruck.
Mir war etwas schwindelig.
»Was geht hier nur vor sich?«, flüsterte ich.
>Weißt du es nicht?<, meldete sich eine Stimme in meinem Hinterkopf. Eine Art Gedankenstimme, denn ich war mir sicher, nichts gehört zu haben. Niemand hatte einen Laut von sich gegeben. >Weißt du es nicht? Erkennst du mich nicht?<
»Asmodis!«, sagte ich laut.
Mark zog die Augenbrauen zusammen.
»Was meinst du?«
»Ich habe seine Stimme gehört.«
»Aber...«
»In meinem Kopf!«
»Und du bist dir sicher?«
»Vollkommen sicher. Ich kann nicht sagen warum, aber ich weiß es einfach. Ich hatte Kontakt zu Asmodis...«
»Dann nichts wie weg hier! Der führt doch irgendwas im Schilde.«
»Ja...«
Ich erhob mich ebenfalls.
»Der Schavall!«, stieß ich hervor.
Das Amulett schien jetzt regelrecht zu glühen!
Die Intensität magischer Kräfte musste eine Art vorläufigen Höhepunkt erreicht haben.
Mark umfasste das Amulett mit der linken Faust.
Das Leuchten drang durch Haut und Knochen hindurch und schimmerte gespenstisch. Die Handknochen waren zu sehen.
Ich habe selten den Ausdruck von Ratlosigkeit auf Mark Tates Gesicht gesehen. Etwas anderes war bei einem Mann, der sich dem Kampf gegen die Höllenmächte verschrieben hatte, auch kaum anzunehmen.
Aber in diesem Augenblick war Mark zweifellos ratlos.
Ich hatte das Gefühl, die Zeit würde sich auf eine seltsame Art und Weise dehnen.
Die Gäste des Dachgartens von Derry & Toms, schätzungsweise also etwa hundert Personen, schienen uns zu ignorieren. Sie bewegten sich in zeitlupenhafter Langsamkeit, während Mark und ich uns mit normaler Geschwindigkeit bewegten. Aber ich ahnte schon, dass es genau umgekehrt war.
>Wir sind aus der Zeit gefallen!<, ging es mir durch den Kopf. Irgendetwas Furchtbares war geschehen.
Etwas, für das es keine andere Erklärung geben konnte als Magie.
Schwarze Magie.
Dann öffnete sich plötzlich ein Schlitz.
Wie ein Türspalt.
Es war so, als ob man durch diesen Spalt in eine andere Wirklichkeitsebene hineinsehen konnte.
Ein Arm langte heraus.
Die Hand umklammerte den Griff eines Säbels.
Mark wich einen Schritt zurück, doch der Säbel sirrte blitzschnell durch die Luft.
Es war für Mark Tate vollkommen unmöglich, dem furchtbaren Hieb auszuweichen, der im nächsten Augenblick geführt wurde.
Das Blut spritzte.
Marks Kopf wurde durch den Säbelhieb vom Rumpf getrennt.
Ich hörte einen furchtbaren Laut, der sich in einer Art grausigem Echo immer und immer wieder in meinem Inneren wiederholte. Das Knacken und Zerbrechen von Wirbelknochen. Der Kopf fiel auf den Boden, Marks Körper brach in sich zusammen, der Schavall hing ihm dabei noch um den Stumpf, der einst sein Hals gewesen war.
Ich schrie.
»Mark!«
Wie von Sinnen war ich.
Zu furchtbar war das, was ich mit ansehen musste.
Angst, Furcht und Wut drangen bis in den letzten Winkel meiner Seele vor, obgleich ich wie angewurzelt da stand.
Ich wollte zu Mark, auch wenn das gegen jede Vernunft war. Schließlich konnte der Säbelarm, der so plötzlich aus dem Nichts gekommen war, auch mich vernichten.
Ich merkte, dass ich mich nur noch in Zeitlupe bewegen konnte.
Meine Geschwindigkeit schien sich immer mehr jener der anderen Gäste im Dachgarten von Derry & Toms anzugleichen.
Marks Körper und sein Kopf verblassten, wurden zu etwas, das man mit einer schlechten Dia-Projektion vergleichen konnte.
Mit unendlicher Langsamkeit bewegte ich mich die zwei oder drei Schritte auf ihn zu, die zwischen uns lagen. Ich wurde immer zeitlupenhafter dabei.
In meinem Hinterkopf dröhnte ein höhnisches Lachen, das sich ebenfalls immer mehr dehnte und um Oktaven absackte, bis es schließlich zu einem dumpfen Grollen wurde.
Zu einem Laut, die eine Maschine hätte hervorbringen können.
Ich hatte das instinktive Gefühl, Mark irgendwie FESTHALTEN zu müssen.
Aber in meinem Innersten wusste ich, dass ich das nicht konnte.
Ich versuchte, meine magischen Energien einigermaßen zu bündeln.
Es war nicht möglich.
Auf eine Weise, die mir bis dahin unbekannt war, wurden diese Kräfte offenbar neutralisiert.
Außerdem war da die Verzweiflung, die mich zusätzlich mental vollkommen lähmte.
In mir schrie es.
Ich konnte es nicht glauben, wollte es einfach nicht wahrhaben. Der Mann, den ich liebte, war tot, war auf eine grässliche Weise gestorben, die ich meinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte.
Nicht einmal seine sterblichen Überreste würden in DIESER WELT zurückbleiben, so wurde mir klar.
Mark Tate - oder besser: das, was von ihm geblieben war - verschwand einfach.
Löste sich buchstäblich in nichts auf. Und auch der Schavall machte da keine Ausnahme.
Wie war es der angreifenden Macht überhaupt gelungen, IHN zu neutralisieren? Und wohin war er... verschwunden? Dorthin, wo sich Mark jetzt befand? Oder?
Ich war unfähig, diesen Fragen länger nachzugehen. Mein Inneres war zu sehr in Aufruhr. Kein Wunder...
Die Hand mit dem Säbel zog sich zurück.
Die Öffnung, die ich zu sehen geglaubt hatte - konnte ich mir da noch sicher sein? - schloss sich wieder.
Augenblicke später stand ich da, die Blicke aller Dachgartenbesucher auf mich gerichtet.
»Warum haben Sie geschrieen?«, fragte ein Mann.
Und ein Kellner fragte: »Sind Sie verletzt, Madam? Was ist geschehen?«
»Ich bin Arzt!«, meldete sich ein anderer Mann, der zusammen mit seiner Frau an einem der kreisrunden Tische platzgenommen hatte.
Ich dachte: Was ist das für ein Albtraum, in dem du gelandet bist? Am besten kneifst du dich erst einmal. Und hoffentlich stellst du dann fest, dass alles nichts weiter als eine Vision war. Ein Tagtraum...
Aber es war sinnlos, etwas anderes zu tun, als sich der Wirklichkeit zu stellen.
Ich begriff erst einige Augenblicke später, warum ich nach einer Verletzung gefragt wurde.
Der Boden war mit Blut besudelt.
Mark Tates Blut, wie mir klar wurde.
Offenbar hatte aber niemand im Raum wahrgenommen, was tatsächlich passiert war.
Ein Unterschied im Niveau der Zeitgeschwindigkeit hatte das offenbar möglich gemacht.
Die Menschen im Dachgarten von Derry und Toms sahen nur das Ergebnis dessen, was sich ereignet hatte.
Blut...
»Es ist nichts«, behauptete ich.
»Sie müssen Nasenbluten haben«, beharrte der Arzt und trat auf mich zu. Er wollte sich offenbar nicht davon abhalten lassen, mir zu helfen. Ganz gleich, ob ich diese Hilfe auch in Anspruch nehmen wollte oder nicht.
»Es ist wirklich nichts«, behauptete ich.
Er trat auf mich zu.
Ein großgewachsener Mann mit grauem, aber immer noch sehr dichtem Haar.
Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
Im besten Praxisalter also. Genug Erfahrung, um alles zu kennen, aber noch nicht so gestresst vom Job, dass man am liebsten die Klamotten hinwerfen wollte oder sich Erscheinungen von Überforderung einstellten. Er sah mich misstrauisch an, hob mein Kinn, schaute mir in die Nase. Seine Stirnfalten wurden tiefer. Ich ging an ihm vorbei zum Kellner, gab ihm ein paar Scheine. Als Erbin von Harris-Industries gehörte ich nicht zu den Notleidenden in der Bevölkerung. Es war daher selbstverständlich, dass ich den Schaden beglich. Außerdem wollte ich so schnell wie nur irgend möglich von hier fort.
Nur fort, fort...
Ich war Zeuge geworden, wie Mark Tate getötet worden war.
Und doch glaubte ich nicht daran, dass dies das endgültige Ende des Teufelsjägers war. Tausendfach schon war Mark wiedergeboren worden und so hatte ich die Hoffnung, dass zumindest seine Seele irgendwo erhalten geblieben war. Jenseits von Raum und Zeit, in einer anderen Existenzebene vielleicht.
Und so lange nur die geringste Hoffnung bestand, würde ich nicht ruhen, ehe ich nicht alles getan hatte, um Mark zu helfen.
Selbst wenn es aussichtslos erscheinen mochte.
Ich erzählte Tab Furlong, was passiert war. Und er bestätigte mich in dieser Auffassung.
»Ich tu, was ich kann«, sagte der Chief Inspector von Scotland Yard, mit dem Mark und ich gut befreundet waren. »Aber du weißt so gut wie ich, dass meine Mittel eher in der diesseitigen Welt greifen, wenn du verstehst, was ich meine!«
»Sicher!«, gestand ich zu. »Trotzdem - es könnte ja sein, dass du irgendetwas erfährst.«
»Dann melde ich mich.«
»Mark wollte nach Kerryhill. Das ist ein kleiner Ort, der in letzter Zeit sehr unangenehme Schlagzeilen gemacht hat.«
»Ja, richtig«, sagte Tab Furlong etwas gedehnt. »Und du meinst, dass diese...« Er suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich nach reiflicher Überlegung. »...diese Erscheinung oder was immer auch das war, was euch zugestoßen ist...?«
»Eine durchaus passende Bezeichnung, Tab«, fand auch ich.
»Na siehst du!«
»Tab, die Sache muss etwas damit zu tun haben!«
»Also ich kann es dir kurz zusammenfassen. Da kamen einige Leute unter höchst merkwürdigen Begleitumständen ums Leben. Alle in der Nähe von Kerryhill. Die Opfer waren Erwachsene beiderlei Geschlechts. Eine Sonderkommission beißt sich seit einer geraumen Weile die Zähne daran aus. Wird vielleicht mal Zeit, dass frischer Wind in die Sache kommt!«
»Den wollte Mark ja wohl bringen...«, murmelte ich.
*
In der Nacht quälten mich Albträume.
Mark erschien vor dem inneren Auge meiner Träume.
Ich wollte ihn erreichen, ihn ansprechen.
Aber da war eine unsichtbare Mauer, die uns trennte. Er bemerkte mich nicht...
»Mark!«
>Was für eine Art Traum ist das?<, ging es mir durch den Kopf. >Die Art, die in Wahrheit nur der Blick in eine andere Welt ist? In eine andere Dimension des Daseins?<
Ich sah ein Schiff.
Aber kein gewöhnliches Schiff.
Ein Schiff, das ein Meer aus glühender Lava durchpflügte.
»Weißt du wirklich nicht, an welchem Ort sich Mark Tate jetzt befindet?«, fragte eine Gedankenstimme.
Ich vernahm ein Lachen und wusste, mit welchem Gegner ich es zu tun hatte.
Ich wusste es einfach, gleichgültig, ob nun ein Instinkt oder die Erfahrung oder einfach meine weißmagischen Hexenkräfte dafür verantwortlich waren.
ASMODIS...
Der Höllische...
Und Mark Tate stand an Deck jenes verkohlten Schiffes, dessen Segel verbrannt waren.
Inmitten einer Flut aus Höllenfeuer.
»Das ist die SAADRA, das Schiff der Verdammten!«, wisperte die Stimme Asmodis'. »Hast du nicht in den Schriften des Abdul von Cordoba davon gelesen?« Wieder ein Kichern. »Die SAADRA befährt das Meer des Feuers. Und die Höllischen ergötzen sich an der Pein der Besatzung. Immer und immer wieder genießen sie ihre Todesangst. Kein passender Ort für deinen Geliebten?«
Ein weiteres Kichern folgte.
Ein Kichern, dessen Klang mir kalte Schauder über den Rücken jagte.
Die riesenhaften Wellen aus geschmolzenem Gestein schaukelten die SAADRA hin und her.
Ich war in meinem Traum zum Zuschauen verdammt, hatte keine Möglichkeit, wie es schien, einzugreifen.
Ich sah Mark Tate wie in einem Film, zusammen mit Dutzenden anderer Männer und Frauen, deren Kleidung aus unterschiedlichsten Jahrhunderten zu stammen schien.
Das waren sie, die Verdammten.
Es waren auch Wesen darunter, die mit Sicherheit keine humanoiden Lebensformen waren. Eigenartige Mischwesen insektoider oder reptiloider Herkunft. Verdammte ferner Welten, so ging es mir durch den Kopf.
Asmodis' Gedankenstimme meldete sich mit einem höhnischen Gelächter.
»Einfältige Närrin!«
»Was berechtigt dich zu deinem Hochmut?«
»Eine Vorstellung der Hölle existiert im gesamten Universum - auch wenn sie im Einzelfall dann eine eher persönlich gefärbte Angelegenheit ist!«
»Warum quälst du mich, Asmodis?«
»Aus purem Vergnügen, May. Aus purem Vergnügen.«
»Du Teufel...«
»Wie wahr!«
»Ich werde dich vernichten, Asmodis! Eines Tages werde ich dich vernichten!«
»Ist das nicht ein Zug von Genie, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken darf? Indem ich dir die Hölle zeige, in die ich dein Geliebten geschickt habe, bereite ich auch dir so etwas wie eine Höllenqual. Ah, die mentalen Energien, die dabei frei werden, sind ein wahrer Hochgenuss. Ein Labsal, wie es nicht allzu oft zu finden ist...«
»Mark...«, rief ich.
Der Wind zerrte an seinen Kleidern. Ein richtiger Höllenwind musste das sein, heiß wie der Atem Satans.
Ich versuchte zu erkennen, ob der Schavall bei ihm war: Natürlich nicht! Natürlich? Ja, wo war das Amulett denn eigentlich abgeblieben?
Zähneknirschend haderte ich mit der Erkenntnis, dass dieses Amulett mit Namen Schavall wahrlich absolut unzuverlässig war. Es hätte auf jedenfall alles verhindern müssen. Hätte!
Ich konzentrierte mich wieder auf das Gescheen, denn es war sinnlos, noch weiter auf den Schavall zu hoffen. Soviel war immerhin klar.
Das Schiff rang verzweifelt darum, nicht unterzugehen. Wellen aus glühendem Gestein, auf denen es daher schaukelte.
»Willst du ihre Stimmen hören, May?«, fragte Asmodis' Gedankenstimme in einem Tonfall der Vertraulichkeit. Mir war das unangenehm. Kalte Schauder überliefen mich. Das Grauen kroch mir in den tiefsten Winkel meiner Seele.
Ja, auch mir waren diese Empfindungen nicht fremd, obgleich ich im Umgang mit der Welt des Übernatürlichen und Magischen durchaus vertraut war.
»Ja!«, hörte ich mich sagen. »Ja, ja....«
Es klang wie ein Bitten. Ein Flehen. Worte, die die Schwäche offenbarten, die ich fühlte.
Und so drangen die Stimmen an mein Ohr. Oder in meine Gedanken. Ich vermochte es nicht zu sagen.
Die Stimmen der Verdammten.
Sie redeten in Sprachen durcheinander, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Und doch verstand ich sie.
Es war eigenartig.
Offenbar war es dem magischen Einfluss des Höllischen Asmodis zu verdanken.
»Dort! Seht!«, war einer von ihnen zu hören.
Er trug Kleider, die an einen normannischen Seefahrer des elften Jahrhunderts erinnerten.
Der Normanne deutete mit der flachen Hand auf das Lavameer hinaus. »Ein Höllenwurm...«
Entsetzensschreie gellten.
Ein amorpher, glutäugiger Schuppenkopf ragte aus dem Wasser heraus.
»Ja, ein Höllenwurm!«, entfuhr es einem anderen der Verdammten. Seine Züge verrieten Angst.
»Diese Ungeheuer haben uns gerade noch gefehlt!«, zischte der Normanne.
»Du hast von ihnen gehört?«, fragte Mark Tate.
»Ja, die Geschichten unserer Alten erzählen von ihnen...«
Die Männer des Langschiffes waren für ein paar Augenblicke wie erstarrt, während das Monstrum sich auf die SAADRA zu bewegte. Der Normanne wandte sich an Mark.
»Wir müssten schneller werden!«, rief er.
Aus der Stimme des Normannen sprachen nackte Furcht und ein hohes Maß an Verzweifelung.
»Das wird nichts nützen! Dieses Biest ist auf jeden Fall schneller als die SAADRA!«, stellte Mark sachlich fest.
Der Normanne zog Axt und Schwert.
Die Axt warf er Mark zu.
Dieser fing sie auf.
»Wahrscheinlich ist es unser Tod!«, sagte er.
»Unser Tod?«, fragte Mark. »Sind wir nicht schon in der Hölle?«
Einer der anderen Verdammten meldete sich zu Wort. Ein Mann mit Dreispitz, der seiner Kleidung nach dem 17. Jahrhundert entstammte. »Ich hatte gehofft, nach meinem Ableben gnädiges Vergessen zu finden. Aber das war ein Irrtum.«
»Und ich hatte gedacht, in Ihrer Zeit wäre der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod noch eine Selbstverständlichkeit gewesen!«, sagte eine Frau in grauem Kostüm, die aussah, als wäre sie direkt vom Parkett der Londoner Börse in den Höllenschlund gefahren.
Indessen war der Höllenwurm wieder untergetaucht.
Die Lava zischte.
Wenn es ihm einfiel, direkt unter dem Bauch der SAADRA wieder hervorzukommen, konnte das schon das Ende bedeuten...
Ende?
Was bedeutete das unter diesen Umständen schon.
Vielleicht nur den Auftakt zu neue Foltern, neuem Leiden.
Dies war schließlich die Hölle.
»Wir müssen den Kampf aufnehmen!«, rief Mark entschlossen. Einige quälend lange Augenblicke hindurch geschah überhaupt nichts. Dann endlich tauchte das Monstrum - dicht bei der SAADRA - wieder auf.
Das markerschütternde Brüllen des Höllenwurms ließ die Verdammten zusammenfahren.
»Es ist ein Riese von einem Wurm!«, flüsterte der Normanne. In seiner Stimme klang in diesem Moment sogar so etwas wie Ehrfurcht mit.
Mark musste sich an der Reling festhalten.
Das Schiff schwankte zu stark, als dass man noch hätte freihändig auf den rutschigen Planken hätte stehen können.
Indessen türmte der Wind die Lavawellen jetzt zu meterhohen Gebirgen auf.
Mark sah, wie das Ungeheuer mit seinen riesenhaften Pranken darin versank.
Das Wasser um ihn herum zischte auf.
Die reptilienartigen Facettenaugen des Wurms glänzten fiebrig und kalt, ehe er versank.
Die SAADRA hatte unterdessen etwas Abstand gewonnen.
»Ich hoffe, er verfolgt uns nicht!«, meinte der Normanne. »Sonst sind wir verloren!«
Mark stand wortlos an der Reling und hielt sich krampfhaft fest, um nicht über Bord gerissen zu werden.
Seine Züge waren düster, aber nicht verzweifelt.
Er hielt nach dem Höllenwurm Ausschau. Aber das Ungeheuer war nicht mehr zu sehen.
Es folgte dem Schiff!
Ich dachte: Wenn dieses echsenartige Monstrum nun genau unter dem Bauch der SAADRA wieder emportaucht...
Aber ich war nichts weiter als eine Beobachterin. Stumm und zur Untätigkeit verurteilt.
Ohne die Möglichkeit einzugreifen.
Wenn der Höllenwurm das Schiff anhob und wieder niederstürzen ließ, war die SAADRA verloren.
Ich wagte kaum, daran zu denken.
Der heiße Höllensturm wütete immer heftiger, aber das Schiff der Verdammten hielt ihm erstaunlicherweise stand.
Das Schiff schwankte.
Ich hörte einen Schrei, aber konnte nicht sagen, wer ihn ausgestoßen hatte.
Dann spürten die Verdammten, wie die SAADRA von der unruhigen Wasseroberfläche abgehoben wurde.
>Der Höllenwurm!<, durchfuhr es mich.
Ich sah das Entsetzen in den Augen der Schiffsmannschaft.
»Mark!«, rief ich.
Aber es war sinnlos.
Er konnte mich nicht hören.
Ein Abgrund der Dimensionen lag zwischen uns.
Nur der gehässigen Laune eines leibhaftigen Satans war es zu verdanken, dass ich ihn sah, dass ich mit ihm litt, ohne eingreifen zu können.
Es war so gekommen, wie zu befürchten gewesen war. Das Monstrum war dem Schiff unter der Lava gefolgt und jetzt wieder aufgetaucht.
Ein plötzlicher Ruck ging durch die SAADRA und Mark rutschte auf den nassen Planken.
Furcht breitete sich unter den Verdammten aus.
Sie wurden hin- und hergewirbelt und schrieen laut durcheinander. Die Planken splitterten und der mächtige Mast ächzte.
Im Hintergrund war das Brüllen des Höllenwurms zu hören.
Dann donnerte die SAADRA wieder auf die heiße Lava nieder.
Mark rappelte sich rasch wieder auf und sah, wie neben der SAADRA die riesige Gestalt des Höllenwurms aufragte.
Mark blickte sich hastig um.
Der Normanne hatte eine klaffende Wunde am Arm.
Vermutlich hatte er einen Schlag mit dem Mastbaum abbekommen. Der Mann mit dem Dreispitz lag reglos am Boden.
Mark Tate fasste die schwere Streitaxt fester.
Er schloss kurz die Augen, schien Kraft zu sammeln.
>Ich bin bei dir, Mark!<, dachte ich.
>Spürst du es?<
Nichts sprach dafür, dass etwas von meiner Kraft ihn erreichte, ihn überhaupt erreichen konnte. Trotzdem versuchte ich, meine mentalen Kräfte zu sammeln und auf ihn zu konzentrieren. Selbst die Quantenphysik kannte inzwischen das Phänomen der Fernwirkung. Warum sollte es also nicht möglich sein, dass meine Gedanken und Energien den Mann, den ich liebte, erreichten, ihm vielleicht in seinem aussichtslosen Kampf gegen die Mächte der Hölle zu helfen vermochten?
Der Höllenwurm kam unterdessen näher und näher.
Er schien den Verdammten der SAADRA nun endgültig den Garaus machen zu wollen.
Arme mit sechsfingerigen Pranken bildeten sich aus dem Leib des Wurms heraus, wuchsen innerhalb von Augenblicken zu monströser Größe. Das Monstrum streckte diese Pranken begierig nach dem Schiff aus.
Dann packte der Höllenwurm die SAADRA schließlich am Heck, während fast gleichzeitig eine geradezu mörderische Welle aus Lava über ihn hereinbrach. Doch diese Urgewalten konnten dem Höllenwesen offenbar nichts anhaben.
Der Wurm öffnete für einen Moment sein Maul und gab fast mannshohe Zähne frei. Die schwertgroßen Krallen seiner Pranken hakten sich in den Wandungen der SAADRA fest, während die Besatzung aus Verdammten den Atem anhielt.
Auf einmal umgab Mark eine Lichtaura. Sie umflimmerte ihn. Grünlich leuchtete sie. Eine geheimnisvolle Kraft schien ihn zu durchdringen.
Mark ging mit weit ausholenden Schritten zum Heck. Aus seinen Lippen drang ein barbarisch klingender Ruf, während er mit den Händen die furchtbare Axt schwang.
Die Klinge schien förmlich zu glühen.
Mit dieser monströsen Waffe, die Mark mit geradezu gespenstischer Leichtigkeit zu führen in der Lage war, hieb er auf das Monstrum ein.
Die Axt drang tief in die Pranke des Wurms. Aus der klaffenden Wunde kam eine Flüssigkeit, die sofort verdampfte.
Ein wahres Höllenblut musste das sein.
Mark zog seine Waffe wieder zurück. Die Pranke bewegte sich und ließ die SAADRA frei.
Wahnsinn und Schmerz leuchteten in den Facettenaugen des Höllenwurms. Er warf sich verzweifelt herum und wirbelte dabei das Lavameer noch mehr auf, so dass die Verdammten der SAADRA alle Mühe hatten, sich zu halten. Dann versank das Wesen im glühenden Höllenmeer.
Fassungslos blickte Mark auf die Axt des Normannen.
Er blickte sich suchend um, so als spürte er, dass die Kraft aus einer anderen Welt ihm geholfen hatte.
>MARK, SPÜRST DU ES NICHT?<
>DOCH, ICH SPÜRE ES, MAY!<
Das Meer begann, sich jetzt zu verändern. Es erstarrte. Das geschmolzene Höllengestein wurde fest. Innerhalb von Augenblicken geschah das. Ein Ruck ging durch die SAADRA, die auf einmal in der erstarrten Lava fest steckte. Ein Schiff auf dem Trockenen.
Eine trockene, aufgesprungene Ebene erstreckte sich bis zum Horizont.
Am Himmel schimmerte eine kalte, bläulich schimmernde Sonne.
Mark Tate blinzelte, kniff die Augen zusammen.
Da war etwas, das wie ein steinernes Hinweisschild aussah - oder ein Grabstein. Ganz wie man wollte.
»Siehst du das auch?«, wandte sich Mark an den Normannen, der sich seine Wunde inzwischen notdürftig verbunden hatte.
»Was?«
»Die Schriftzeichen auf dem Stein.«
»Thors Hammer soll mich erschlagen, wenn ich jemals schreiben und lesen lernen sollte.«
Mark Tate kletterte vom Schiff herunter.
Die anderen riefen ihm nach, warnten ihn.
Aber Mark ließ sich nicht abhalten.
Er erreichte den Stein mit der Inschrift.
In verwitterten Buchstaben stand dort ein Wort.
>KERRYHILL!<
Darunter eine Entfernungsangabe:
5 Meilen.
Ich erwachte schweißgebadet.
Rang nach Atem.
Ein Traum. Aber wahrscheinlich auch ein Blick in die Hölle...
Ich brauchte einige Augenblicke, um zu realisieren, dass ich mich in London befand. Es war so real gewesen... >Was ist nur geschehen? Auf jeden Fall kann es sich nicht nur um einen gewöhnlichen Albtraum gehandelt haben.
Kerryhill... 5 Meilen... Mark!<
Gedankensplitter zuckten wie Blitze durch mein Hirn.
Die SAADRA...
Die Verdammten...
Der Höllenwurm...
...und Asmodis!
Schließlich stand ich auf, zog mich an.
Schlaf würde ich in dieser Nacht ohnehin nicht mehr finden.
Kerryhill... Der Ort, der mit Marks Auftrag zu tun hatte. Ich würde herausbekommen, was er mit Asmodis' Auftritt im Dachgarten von Derry & Toms und Marks Verschwinden zu tun hatte.
Es ließ mir einfach keine Ruhe.
Ich wälzte magische Bücher, alte Schriften, begab mich sogar in Marks Wohnung, zu der ich einen Zweitschlüssel hatte.
Sie war gefüllt mit magischen Artefakten und alten Schriften. Mark war ein leidenschaftlicher Sammler solcher Dinge.
Allerdings war das bei ihm weit mehr als ein Hobby. Es stellte gewissermaßen sein Handwerkszeug dar.
Ich suchte nach Spuren, Hinweisen.
Aber ich fand nichts.
Es gab nur eine Sache, die für mich feststand:
Ich war entschlossen herauszufinden, was mit dem Mann geschehen war, den ich liebte.
Und wenn ich dafür in die Hölle selbst hinabsteigen musste.
Im Traum war ich schließlich schon dort gewesen.
*
Am Morgen bekam ich eine E-Mail.
Absender war ein gewisser Asmodis.
>Vielleicht irgend so ein Satanisten-Spinner!<, ging es mir durch den Kopf. Mit dem Leibhaftigen musste so etwas nicht unbedingt etwas zu tun haben. Genauso gut war es möglich, dass es sich nur um eine sogenannte Spam-Mail handelte, die die elektronischen Briefkästen überschwemmte. Vornehmlich wurden da Bilder von nackten Frauen angeboten, hin und wieder auch Viagra zum halben Preis, eine Penisvergrößerung, Brustimplantate oder eine traumhafte Anlage mit garantiertem Supergewinn.
Und so mancher Satanist tummelte sich da ebenfalls.
Da gab es ja schließlich die absonderlichsten Typen.
>Belüg dich nicht selbst!<, meldete sich eine Stimme in mir. >Du weißt genau, woher diese Mail kommt... Es ist eine Botschaft. Eine Botschaft aus der Hölle!<
Ich musste schlucken.
Meine magischen Sinne waren sofort aktiv.
Ich öffnete die Mail.
Die Mail lautete:
»Wie viel ist es Ihnen wert, mehr über das Schicksal Ihres Gelieben zu erfahren? Interessieren Sie sich vielleicht auch für die Toten von Kerryhill - so wie ER? Asmodis wird sich nicht noch einmal so leicht davon jagen lassen... Nicht noch einmal, May Harris!«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Wusste dieser Emailschreiber, der sich des Namens eines Höllenfürsten bediente, von den Ereignissen, die Mark Tate und ich in Finnland durchlitten hatten?
Oder...?
Ich wagte gar nicht daran zu denken.
War dies doch eine Botschaft von Asmodis selbst?
In Finnland hatte er die Gestalt eines Mannes mit dem Namen Fred Stein angenommen. Aber das war gewiss nicht seine einzige Inkarnation hier auf Erden.
Kerryhill... Will er mich am Ende nur dorthin locken?
Ich dachte an den Traum.
Eine Möglichkeit, die ich nicht außer Acht lassen durfte.
Und was immer auch hinter den eigenartigen Todesfällen stecken mochte, die dort seit längerem zu beobachten waren - es schien ein Zusammenhang zu Asmodis zu bestehen.
Was lag also näher, als diese Herausforderung anzunehmen?
>Mark, ich werde dich finden!<, durchzuckte es mich. Mein Freund war verschwunden. Spurlos verschwunden als Folge einer übernatürlichen Attacke. Und ich würde mich auf seine Fährte setzen.
Schließlich war Mark kurz davor gewesen, dort hinzufahren.
Ich würde herausfinden, was dahinter steckte.
Ein weiterer Blick hinter den Vorhang.
Ich war bereit dafür, gleichgültig, welcher Anblick sich mir dahinter auch präsentieren mochte.
Ich schluckte, schloss die Augen und sogleich waren die Bilder wieder vor meinem inneren Auge. Die Szene im Dachgarten von Derry & Toms stand mir so deutlich vor Augen, als würde sie sich genau in diesem Augenblick erst ereignen.
Der Säbel, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
>Als ob eine Hand aus einer anderen Welt in die unsere hineinreichte!<, ging es mir schaudernd durch den Kopf.
Ja, genau so hatte es ausgesehen.
Dann der schnelle Streich mit der Säbelklinge...
Ich musste schlucken.
Der Mann, den ich liebe, war zuerst enthauptet worden und dann entmaterialisiert. Wohin auch immer. War das Asmodis' Rache? Aber warum hatte er sich nicht auch mich vorgeknöpft? Fürchtete er meine Hexenkräfte?
Oder reichten seine Kräfte einfach noch nicht wieder aus, um es gleichzeitig mit zwei Gegnern aufnehmen zu können?
Am nächsten Morgen rief ich noch einmal bei Scotland Yard an. Diese Ungewissheit machte mich furchtbar unruhig. Ich hatte erneut schlecht geschlafen und war die ganze Nacht von schrecklichen Albträumen geplagt worden. Einer davon war eine Art Wiederholung jenes Traumes gewesen, in dem ich Mark gegen einen Höllenwurm hatte kämpfen sehen.
»Ja, bitte«, meldete sich Tab Furlong, der Chefinspektor.
»Ich bin's noch einmal - May. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich schon wieder anrufe, aber ich wollte mich nur erkundigen, ob du vielleicht schon irgendetwas gehört hast, das mir bei der Suche nach Mark helfen könnte.«
»Nein, bisher leider nicht. Ich habe mich umgehört, aber weder in den Krankenhäusern noch bei der Gerichtsmedizin sind männliche Personen mit dieser Art von Verletzung aufgetaucht. Ich denke, keine Nachricht ist in diesem Fall ja schon eine gute Nachricht, oder?«, versuchte er mich aufzumuntern.
»Nichts für ungut«, erwiderte ich. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Was willst du als nächstes machen?«, fragte Tab.
»Ich weiß es noch nicht genau. Am Liebsten würde ich nach Kerryhill fahren, mein Instinkt sagt mir, dass das das einzig richtige ist.«
»Dann halte mich auf dem Laufenden, May.«
»Sicher. Du mich aber auch.«
Ich legte auf.
Im selben Moment stieg mir ein modriger Geruch in die Nase.
Ich schaute im Zimmer umher, doch das schien vor meinen Augen zu verschwimmen, wurde konturenlos.
Stattdessen sah ich einen dunklen Gang vor mir.
Alles um mich herum fühlte sich klamm an. Der modrige Geruch raubte mir fast den Atem.
Ich tastete mich langsam voran.
Der Gang endete in einer Gruft.
Dort stand ein Steingrab.
Ich ging darauf zu.
Es herrschte ein Halbdunkel; woher das wenige Licht kam, konnte ich nicht erkennen.
Die Steinplatte, mit der das Grab normalerweise verschlossen war, war ein wenig zur Seite geschoben.
Ich schaute durch die schmale Öffnung ins Innere des Grabes, konnte aber nichts erkennen.
Mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand, schob ich die schwere Platte an. Sie bewegte sich nur wenig, doch das reichte, um nun einen Blick ins Innere des Grabes zu werfen.
Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Mark Tates Körper lag in merkwürdig verrenkter Haltung in dem Grab. Sein Kopf war achtlos dazu gelegt worden. Seine offenen, toten Augen starrten mich an.
Ich prallte zurück.
Mir war schlecht.
Trotzdem schaute ich noch einmal in das Grab.
Es war mir klar, dass ich nur eine Vision haben konnte, doch ich hoffte, irgendwelche Informationen zu erhalten.
Schließlich war es manchmal möglich, durch eine magische Vision die Abgründe von Raum und Zeit zu überbrücken.
Mark begann bereits zu verwesen.
Dieser Prozess beschleunigte sich jetzt vor meinen Augen, sodass schon nach wenigen Sekunden nur noch sein Skelett in der Gruft lag.
Ich blickte mich um, aber nichts, was ich sah, gab mir einen Hinweis darauf, wo sich diese Gruft befand.
Ich merkte bereits, dass die Vision schwächer wurde. Die Gräber, die Gruft, der Geruch des Moders und der Fäulnis...
Der Eindruck all dessen wurde schwächer, schien gänzlich zu verblassen...
>Nein, ich muss noch hier bleiben!<, hämmerte es in mir.
Nur noch eine Weile...
Ich blickte auf die Namensinschriften auf den Gräbern.
RATHBONE - dieser Name kam immer wieder vor.
So als ob hier eine ganze Ahnenreihe begraben lag.
RATHBONE...
Die düstere Umgebung, in der ich mich gerade noch befunden hatte, verschwand nun von einem Augenblick zum anderen. Ich war wieder in meiner Londoner Wohnung, atmete tief durch.
>RATHBONE!<, dachte ich.
>Ein Name, auf den ich achten werde!<
*
Später recherchierte ich im Internet. Über eine Suchmaschine fand ich einen interessanten Hinweis. Ein gewisser Alexander Rathbone aus Sweetwater, Michigan, USA, war offenbar ein begeisterter Ahnenforscher und hatte umfangreiche Abstammungstafeln auf seiner Homepage veröffentlicht.
Abstammungstafeln, die den Amerikaner als Ahnen des Adelsgeschlechts Rathbone identifizierten, das seinen Stammsitz in...
Ich konnte es kaum glauben!
...in der Nähe des englischen Ortes Kerryhill hatte!
Rathbone Manor, der Stammsitz derer von Rathbone.
Standen sie auf irgendeine Weise mit Asmodis in Zusammenhang?
Es schien so.
*
Ich griff zum Telefon und nahm den Hörer ab. Ich versuchte, Don Cooper zu erreichen, einen Abenteurer und Geschäftsmann, der schon länger mit Mark befreundet war.
Auch ich kannte ihn gut.
Bei einem Zusammentreffen erwähnte Don Cooper mal, dass er gute Kontakte zum englischen Adel habe, nicht nur zu Lord Frank Burgess, der zur Zeit leider nicht erreichbar war, sonst hätte ich diesen in der Angelegenheit kontaktiert.
Ich wollte Cooper fragen, ob ihm auch die Familie Rathbone ein Begriff war und falls ja, ob er ein Treffen arrangieren könnte.
Das Telefon läutete mehrmals.
>Keiner da<, dachte ich.
>Nun gut, versuche ich es später noch einmal.< Als ich schon auflegen wollte, nahm doch noch jemand ab.
Eine weibliche Stimme meldete sich, die zwar einwandfreies Englisch sprach, aber akzentbeladen. Ich tippte auf indische Herkunft.
»Hier bei Cooper. Bitte, wer spricht?«
»May Harris am Apparat. Könnte ich Don Cooper sprechen?«
»Nein«, war die kurze Erwiderung.
Da keine weitere Erläuterung folgte, setzte ich erneut an. »Ist Mister Cooper später zu sprechen?«
»Nein. Mister Cooper ist nicht da.«
»Wann ist er denn zu sprechen?«, hakte ich nach.
»Mister Cooper ist auf Geschäftsreise. Kommt erst in zwei Wochen zurück.«
Nun wollte ich es aber genau wissen. »Mit wem spreche ich?«
»Ich bin die Putzfrau. Ich halte die Wohnung sauber. Soll ich etwas ausrichten?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich werde mich gegebenenfalls noch einmal melden. Danke!«
»Auf Wiederhören.«
Ich legte auf. Zwei Wochen, so lange konnte und wollte ich nicht warten.
Ich dachte an die Vision, an das Verwesen von Marks Körper. Ich spürte die Hilflosigkeit, die mich zu befallen drohte. Schnell stand ich auf und ging in die Küche, um mir einen Tee aufzusetzen.
>Jetzt einen Earl Grey und ein wenig in der Times lesen, das macht mir den Kopf frei<, dachte ich. Vielleicht fiel mir noch etwas anderes ein, was ich für Mark tun konnte.
Das Teewasser kochte. Ich bereitete den Tee vor. Ich hatte das bereits einmal bei einem japanischen Teemeister gesehen und versuchte seitdem, selber diese fast meditative Stimmung zu erreichen. Es gelang mir mal mehr und mal weniger. Heute eher weniger.
Ich nahm den Tee mit ins Wohnzimmer und setzte mich aufs Sofa. Die Times lag schon auf dem Tisch, wo ich sie am Morgen etwas achtlos hingelegt hatte.
Ich versuchte, sie mir aufs Sofa zu angeln, ohne den Tee zu verschütten. Dabei fiel sie zu Boden. Während ich sie aufhob, glaubte ich den Namen 'Rathbone Manor' zu lesen. Ich setzte die Tasse ab und suchte gezielt.
Tatsächlich, da stand es schwarz auf weiß:
VERWALTER AUF RATHBONE MANOR GESUCHT!
Darunter war kurz angerissen, welche Voraussetzung der Bewerber zu erfüllen hatte und was ihn oder sie zu erwarten hatte.
Das war es, wonach ich gesucht hatte. War das nun eine glückliche Fügung oder vielleicht mehr?
Mein Instinkt hatte mir die ganze Zeit gesagt, dass ich Antworten nur in Kerryhill finden würde. Nun glaubte ich, einen Weg vor mir zu sehen, um an die Antworten zu kommen.
Ich nahm das Telefon und wählte die in der Anzeige angegebene Nummer. Ich wollte diesen Job und ich würde ihn kriegen.
Einige Tage zuvor...
...in Kerryhill! Der Wind heulte klagend um die uralten Mauern von Rathbone Manor. Fensterläden klapperten. Es war bereits weit nach Mitternacht.
Edward Garnett öffnete die schwere Holztür und trat ins Freie.
Der Wind zerrte an seinen Kleidern. Ihm fröstelte. Er schaute hinaus in die sturmdurchtoste Nacht.
Sein Blick glitt suchend umher. Bizarre Schatten tanzten auf den grauen Wänden der Nebengebäude.
Zögernd schritt Garnett dann die fünf breiten Steinstufen des Portals hinab.
Wie ein verwaschener Fleck stand der Mond am Himmel und schimmerte durch die schnell dahinziehenden Wolken. Düsteren Schatten gleich erhoben sich die knorrigen, auf groteske Weise verwachsenen Bäume. Grauer Nebel war aus dem nahen See emporgestiegen. In dicken Schwaden kroch er über den Boden. Immer neue geisterhafte Gestalten und Gesichter schienen sich in den wabernden Nebeln zu bilden. Der Schrei eines Raben durchdrang die Geräusche des Windes für einen kurzen Moment.
Dann sah Garnett die Gestalt...
Sie hob sich als dunkler Schatten gegen den hellgrauen Nebel ab. Der Gang war schleppend. Ein eisiger Schauder überkam Garnett, als er die Silhouette eines Dreispitzes erkannte...
>Mein Gott!<, durchzuckte es ihn. Sein Puls raste.
»Garnett!«, donnerte eine Stimme hinter ihm durch die Nacht. »Garnett, bleiben Sie stehen, Sie Narr!«
Garnett drehte sich halb herum. Jemand war aus dem Portal getreten. Durch die offene Tür fiel Licht auf einen hochgewachsenen, hageren Mann, dessen falkenhaftes Gesicht Garnett entgeistert anstarrte.
»Ich habe IHN gesehen, Sir Donald!«, rief Garnett. »Ich bin mir sicher. Da hinten...«
»Kommen Sie zurück, Sie Wahnsinniger!«
»Nein!« erwiderte Garnett mit fester Stimme. »Ich will jetzt wissen, was hier vor sich geht!«
»Sie Narr!«
»Ich will die Wahrheit wissen!«
»Garnett, nein!« Sir Donald streckte die Hand aus. Er trat einen Schritt vor, wagte sich aber nur bis zur obersten Stufe der Eingangstreppe. Dann blieb er wie zur Salzsäule erstarrt stehen. Sein Gesicht war aschfahl geworden.
Auch Garnett erstarrte.
»Ihr Mächte der Hölle«, flüsterte er. Er spürte die eigenartige Aura, die jetzt alles erfüllte. Die Luft. Die Gedanken. Die Erde. Den Wind.
Garnett fröstelte.
Ein Gefühl der Kälte war in ihm.
Kälte, so frostig wie er sie nie zuvor gekannt hatte, selbst im kältesten Winter nicht.
Die Gestalt mit dem Dreispitz näherte sich. Der Mond beleuchtete ein bleiches Gesicht. Die Augen waren weit aufgerissen und ausdruckslos.
Ausdruckslos und...
...tot!
Das war es.
Glasig schienen diese Augen ins Nichts zu blicken. Unter dem Dreispitz quollen die Locken einer gepuderten Perücke hervor. Ein dunkler Mantel hing um seine Schultern und reichte beinahe bis zum Boden.
»Der Nebel-Lord...«, flüsterte Sir Donald ergriffen. Seine Stimme vibrierte. Die knochendürren Finger hielten sich am steinernen Handlauf fest.
»Wer sind Sie?«, fragte Garnett, an die düstere Gestalt gewandt. »Was wird hier eigentlich gespielt? Ich habe Sie durch das Fenster gesehen...«
Der Düstere antwortete nicht.
Ein Sinnbild des Todes selbst schien er zu sein.
>Geh!<, rief eine innere Stimme in Garnett. >Geh, so schnell du kannst! Renn davon...<
Garnett schluckte.
Er rührte sich nicht.
Wie gelähmt stand er da.
Der Nebel-Lord richtete die leeren, blicklosen Augen auf Garnett.
Dieser erschauerte bis in den tiefsten Grund seiner Seele. Er wich einen Schritt zurück. Eine eigenartige Schwere fühlte er in den Beinen. Die Kälte kroch ihm den Rücken hinauf. Jene Kälte, wie er sie nie zuvor gefühlt hatte...
»Nein«, flüsterte Garnett, während ihn das Grauen erfasste.
Im Gesicht des Düsteren veränderte sich etwas. Der dünnlippige Mund öffnete sich. Mit einem fauchenden Laut kam ein leuchtend weißer Nebel aus seinem Mund heraus und schoss in einer Fontäne auf Garnett zu.
Garnett taumelte einen Schritt zurück. Eine unsagbare Kälte erfasste in. Sein schauriger Todesschrei gellte durch die Nacht, während er zu Boden sank. Reglos blieb er am Boden liegen.
Der Nebel-Lord senkte den Kopf.
Der Mond tauchte sein hageres Totengesicht in ein fahles Licht.
Sir Donald wich zurück zur Tür.
»Nein...«, flüsterte er.
Der Nebel-Lord hob die Hand.
»Asmodis braucht deine Seele...«, flüsterte eine Stimme, deren Klang Sir Donald das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine Stimme, so klirrend kalt wie der Tod selbst.
>Also doch!<, ging es Sir Donald durch den Kopf. >So ist es wahr! Der Nebel-Lord ist nichts weiter als...<
Das Wiehern eines Pferdes ertönte. Dunkel hob sich die Silhouette des hochbeinigen Reittiers im Nebel ab. Das Pferd galoppierte auf den bleichen Lord zu und blieb dann stehen.
Der Nebel-Lord wankte zu dem Reittier hin, schwang sich in den Sattel. Er wandte den Kopf. Einen Augenblick schienen seine leeren Augen Sir Donald zu mustern. Dieser war wie gelähmt. Angst kroch ihm wie eine grabeskalte, feuchte Hand den Rücken hinauf.
Dann riss der Reiter die Zügel seines Pferdes herum und ließ es direkt in den Nebel hineingaloppieren. Doch noch ehe die Nebelwand ihn wirklich verschluckt hatte, schien er transparent zu werden. Er löste sich auf. Nur das Getrappel der Hufe war noch eine ganze Weile zu hören und ließ Sir Donald bis ins Mark erschauern.
Die Scheibenwischer schafften es einfach nicht, für freie Sicht zu sorgen. Ich, May Harris, saß hinter dem Steuer meines Coupés und blickte angestrengt durch die Frontscheibe.
Es war ziemlich spät geworden.
Die Dämmerung hatte sich erst wie graue Spinnweben über das Land gelegt und nun war es schon beinahe ganz dunkel. Ein Blitz zuckte grell aus den tief hängenden, dunklen Wolken. Der Regen prasselte nur so hernieder.
>Gestehe es dir endlich ein!<, dachte ich. >Du hast dich verfahren! Und nicht einmal deine übersinnlichen Fähigkeiten als Erbin der Weißen Magie haben das verhindern können!<
Die Straße war sehr schmal. Ihr Zustand war schlecht. Ein Schlagloch folgte dem nächsten. Sie zog sich durch ein Waldstück hindurch, wobei die Sicht noch schlechter wurde.
Ich atmete tief durch.
Eine Verspätung war alles andere als ein gelungener Einstand in meine neue Stellung!
Aber es war nun einmal nicht zu ändern.
Die Straßen waren immer schmaler und unwegsamer geworden und die Hinweisschilder immer spärlicher.
Geschlagene anderthalb Stunden schon fuhr ich in dieser gottverlassenen Gegend herum, seit ich die Autobahn aus Richtung London verlassen hatte. Und ich war mir nicht sicher, ob ich meinem Ziel inzwischen ein paar Meilen näher gekommen war.
Wieder zuckte ein Blitz.
Der Donner peitschte kurz hinterher. Das Gewitter musste ganz in der Nähe sein. Der Regen nahm noch einmal an Heftigkeit zu. Der Wind bog Bäume und Büsche unbarmherzig in seiner Richtung. Ein knackendes Geräusch übertönte sogar den Motor. Ein dicker Ast brach aus der Krone eines knorrigen Baumes heraus. Er krachte nieder, viel zu schnell, als dass ich noch hätte reagieren können. Der Ast fegte über die Kühlerhaube des Coupés, rutschte ein Stück die Frontscheibe empor und glitt dann zur Seite auf die Straße.
Der Schreck saß tief.
Ich fühlte, wie mir der Puls bis zum Hals schlug.
>Mein Gott, das war knapp!<, ging es mir durch den Kopf. Ich war froh, als ich das Waldstück hinter mir gelassen hatte.
Viel hätte ich in diesem Moment dafür gegeben, wenn diese Höllenfahrt zu Ende gewesen wäre!
Ein Schild tauchte auf.
Ich fuhr langsamer, bremste ab und las die verblassten Buchstaben.
Kerryhill, 3 Meilen.
>Immerhin etwas!<, dachte ich. Ich hielt an, blickte auf meine Karte. Kerryhill war offenbar so klein, dass es gar nicht verzeichnet war. Aber vielleicht gab es dort eine Tankstelle oder ein Gasthaus, wo ich nach dem Weg fragen konnte?
Ich fuhr weiter.
Wenig später tauchte der düstere Turm einer verwitterten Kirche auf. Als drohende Silhouette stand sie da.
Verwachsene Bäume erhoben sich über den angrenzenden Friedhof. Um die Kirche herum gruppierte sich eine Handvoll Häuser.
Das war Kerryhill.
Ein Flecken, kaum ein Dorf zu nennen.
Es gab keine Tankstelle, aber ein Gasthaus mit dem Namen KERRYHILL INN. Ich parkte das Coupé vor dem verwittert wirkenden Haus. Der Regen hatte zwar etwas nachgelassen, aber oben, in den Wolken, grummelte es nach wie vor.
An einen Schirm hatte ich nicht gedacht.