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Seit einem Reitunfall vor zwei Jahren sitzt Leonore von Wengen im Rollstuhl. Die hübsche Baroness ist erst zwanzig Jahre alt und seit dem Tod ihres geliebten Vaters furchtbar einsam und verbittert. Obwohl ihr Fall nicht ganz aussichtslos ist, verweigert Leonore jede weitere Behandlung. Fast könnte man meinen, sie wollte ihrer Stiefmutter, die sie abgrundtief hasst, immer wieder vor Augen führen, was sie angerichtet hat. Denn der Reitunfall ereignete sich ausgerechnet am Tag der Verlobung von Leonores Vater mit ihrer Stiefmutter.
Erst als ein Historiker, der Studien alter Schlösser und Burgen betreibt, einige Zeit auf dem märchenhaften Wasserschloss Landegg verbringt, lebt die Baroness ein wenig auf. Doch dann kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall ...
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Seitenzahl: 136
Cover
Ihre Sehnsucht nach Liebe
Vorschau
Impressum
Ihre Sehnsucht nach Liebe
Ergreifendes Meisterwerk um ein rätselhaftes Mädchen
Seit einem Reitunfall vor zwei Jahren sitzt Leonore von Wengen im Rollstuhl. Die hübsche Baroness ist erst zwanzig Jahre alt und seit dem Tod ihres geliebten Vaters furchtbar einsam und verbittert. Obwohl ihr Fall aus medizinischer Sicht nicht ganz aussichtslos ist, verweigert Leonore jede weitere Behandlung. Fast könnte man meinen, sie wollte ihrer Stiefmutter, die sie abgrundtief hasst, immer wieder vor Augen führen, was sie angerichtet hat. Denn der Reitunfall ereignete sich ausgerechnet am Tag der Verlobung von Leonores Vater mit ihrer Stiefmutter.
Erst als ein Historiker, der Studien alter Schlösser und Burgen betreibt, einige Zeit auf dem märchenhaften Wasserschloss Landegg verbringt, lebt die Baroness ein wenig auf. Doch dann kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall ...
»Sie müssen mir helfen, Professor!«, bat Astrid von Wengen den Mann hinter dem Schreibtisch. »Ich weiß mir keinen anderen Rat mehr. Sie haben Leonore nach ihrem Unfall behandelt. Aber ich fürchte, ihr Zustand wird von Tag zu Tag schlechter. Sie hat ärztliche Überwachung dringend nötig. Das Zusammenleben wird immer schwieriger. Sie hasst mich!«
»Können Sie die Baroness nicht zur Untersuchung in meine Klinik bringen, Frau Baronin?«, erwiderte Professor Meinhard.
»Nein.« Astrid von Wengen fuhr sich nervös über die blonden Haare. »Sie kennen Leonore doch! Sie würde nie Schloss Landegg verlassen. Ihr körperlicher Zustand ist ja gleich geblieben. Es ist vielmehr ihre seelische Verfassung, die mir Sorgen bereitet.«
»Das war nicht zu vermeiden. Sie hat viel durchgemacht. Zuerst dieser Reitunfall ...«
»Leonore war eine vorzügliche Reiterin. Ausgerechnet an dem Tag, an dem sich ihr Vater mit mir verlobte, erlitt sie diesen Unfall«, warf die Baronin erregt ein. »Wenn Leonore jetzt nicht im Rollstuhl sitzen müsste, würde ich fast sagen, dass dieser Unfall aus Protest inszeniert wurde. Sie hat ihren Vater sehr geliebt!«
»Vielleicht haben Sie recht, Frau Baronin.« Der Professor schob ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch zurück. »Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber wer kann so etwas beweisen? Und zu welchem Zweck auch? Der plötzliche Tod des Barons hat Leonore in eine tiefe Krise gestürzt.«
»Man muss ihr helfen!« Astrid von Wengen stand auf und trat an das breite Fenster, das den Blick in einen kleinen Park freigab. Der Herbst war leuchtend und bunt. »Leonore hat kein Vertrauen zu mir.« Ihre Stimme klang bitter. »Immer, wenn ich ihr helfen will, wehrt sie ab. Um ihren Mund liegt dabei ein seltsames Lächeln. Ein Lächeln der Rache! Sie weiß genau, dass ich sie nicht verlassen kann. Sie straft mich, weil ich ihren Vater geheiratet habe. Ihre kleine Schwester beachtet sie gar nicht.«
»Ja, Leonore hatte eine starke Bindung zum Vater.« Der Arzt seufzte. »Ihre Mutter starb sehr früh. Ist es da verwunderlich, wenn Sie als Eindringling betrachtet wurden, Frau Baronin?«
Er sah die schöne, schlanke Frau an, die am Fenster stand. Auch er hatte Astrid von Wengen, die vor ihrer Heirat ein gefragtes Mannequin gewesen war, beim ersten Kennenlernen als Eindringling in das stille, romantische Wasserschloss betrachtet.
Baron Eberhard aber schien glücklich gewesen zu sein. Nach einem Jahr wurde die kleine Tochter geboren, und die Harmonie wäre vollkommen gewesen, wenn nicht Leonore in ihrem Rollstuhl gesessen hätte. Mit dunklen, anklagenden Augen!
»Das Beste wäre natürlich, Baroness Leonore würde sich endlich einer ordentlichen Behandlung unterziehen«, erklärte der Professor. »Ihr Fall ist nicht ganz aussichtslos. Eine Besserung wäre möglich. Aber das kann viele Monate dauern.«
»Sie wird Schloss Landegg nicht verlassen«, entgegnete die Baronin. »Vielleicht hat sie Angst, dass ich das Schloss ihrer Ahnen dann verkaufe. Obwohl diese Angst unbegründet ist, denn das Schloss gehört ihr und nicht mir und meinem Kind. Wir haben lediglich Wohnrecht auf Lebenszeit dort.«
»Schloss Landegg ist groß genug für alle, Frau Baronin.«
»Ich verlange kein Schloss dafür, Herr Professor, dass ich zwei Jahre mit einem Mann verheiratet war, der zufällig ein Baron war«, versicherte die Baronin, die sich vom Fenster abgewandt hatte. »Ich weiß es zu schätzen, dass ich ein Dach über dem Kopf habe. Ich komme von ganz unten und habe keine aristokratischen Vorfahren!«
Einen Moment dachte sie nach, und ihre Miene war sehr ernst, als sie fortfuhr: »Sie haben recht, Schloss Landegg wäre groß genug für alle, vorausgesetzt man liebt sich. Aber es ist klein, wenn man sich hasst. Und wenn am Abend die Zugbrücke eingezogen wird, ist es eine abgeschiedene Welt.«
Professor Meinhard wusste, dass die Sorgen der jungen Baronin berechtigt waren. Auf Schloss Landegg war niemand glücklich.
»Wenn ich nur wüsste, wie ich Ihnen helfen könnte! Alle Bemühungen scheitern am Widerstand der Baroness.«
»Haben Sie nicht einen Arzt in Ihrer Klinik, den Sie nach Schloss Landegg schicken könnten?«, fragte die Baronin beinahe flehend. »Er könnte sich doch ein Bild über den körperlichen und seelischen Zustand Leonores machen, wenn er sie eine Zeit lang beobachtet. Vielleicht würde er sogar ihr Vertrauen gewinnen!«
»Einen Arzt für eine Patientin?« Der Professor schüttelte den Kopf. »Aber Frau Baronin, wie stellen Sie sich das vor? Jeder Arzt wird hier dringend gebraucht. Ich kann keinen meiner Mitarbeiter entbehren!«
»Auch nicht Eberhard zuliebe? Sie waren jahrelang mit meinem Mann befreundet, Herr Professor!«
»Ja, wir waren gute Freunde, Frau Baronin, und ich würde Ihnen auch wirklich gern helfen. – Halt, da fällt mir etwas ein. Doktor Steffen! Er hat gekündigt, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Nun verzögern sich aber die Bauarbeiten. Doktor Steffen wollte deshalb in Urlaub fahren!«
»Glauben Sie, dass er auf seinen Urlaub verzichten würde?«, fragte die Baronin hoffnungsvoll.
»Vielleicht. Doktor Steffen ist nicht gerade auf Rosen gebettet. Eine neue Praxis verschlingt eine Unsumme an Geld.«
»Bitte, machen Sie ihm ein gutes Angebot«, bat Astrid von Wengen. »Ist er ein guter Arzt?«
»Ich würde ihn meinen Freunden nicht empfehlen, wenn es anders wäre«, brummte der Professor. »Ich werde Doktor Steffen fragen, und wenn es klappt, rufe ich Sie sofort an, Frau Baronin.«
Ein Lächeln ging über das Gesicht der Frau.
»Ich wusste, dass ich nicht umsonst zu Ihnen kommen würde. Vielen Dank, Herr Professor. Kommen Sie bald wieder einmal nach Schloss Landegg. Ich würde mich freuen!«
»Es gibt noch so viele Erinnerungen dort, die schmerzen. Aber eines Tages komme ich. Als Gast«, fügte er lächelnd hinzu.
»Manchmal möchte ich den Erinnerungen auch entfliehen. Aber ich kann nicht! Es waren zwei schöne Jahre mit Eberhard. Auf Wiedersehen, Herr Professor.«
Professor Meinhard wartete, bis die Tür geschlossen war. Dann griff er zum Telefon und bat Alexander Steffen zu sich.
♥♥♥
»Doktor Steffen.« Der hochgewachsene Mann machte eine knappe Verbeugung. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Baronin!«
»Die Freude ist auf meiner Seite.« Astrid von Wengen reichte ihm die Hand und sah in ein sympathisches Männergesicht mit braunen Augen. »Wie schön, dass Sie zugesagt haben. Hier steht mein Auto. Bitte, steigen Sie ein, Herr Doktor. Wir haben zwar nur eine halbe Stunde Fahrt, aber das Abendessen wird um sieben Uhr eingenommen. Ich möchte pünktlich sein!«
Dr. Steffens Blick glitt über das Profil der Baronin, als er sich neben sie setzte. Obwohl Professor Meinhard ihm alles Wissenswerte gesagt hatte, hatte er doch nicht erwartet, von einer so attraktiven Frau abgeholt zu werden. Ihr Kostüm war dezent und dunkel. Es bildete einen reizvollen Kontrast zu den leuchtend blonden Haaren. Ohne Zweifel war die Baronin von Wengen eine Schönheit.
»Wir sollten uns ein wenig über die Baroness unterhalten, bevor wir auf Schloss Landegg eintreffen«, begann die Baronin, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Ihr Krankheitsbild werden Sie von Professor Meinhard erfahren haben. Zusätzlich ist sie störrisch, misstrauisch und hasserfüllt!«
»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte der Arzt knapp. »Anders könnte es gar nicht sein!«
»Sie werden diesen Hass bald selbst spüren.«
»Und wie ist Ihr Verhältnis zu Leonore?«, fragte Dr. Steffen.
»Ich bin keine Krankenschwester. Ich werde manchmal heftig, wenn mir Leonores Verachtung so offen entgegenschlägt. Trotzdem wäre ich ihr von Anfang an liebevoll entgegengekommen, wenn sie mir nur eine Chance gegeben hätte. Nur eine einzige Chance!«
»Wir werden sehen!«, sagte Dr. Steffen ruhig. »Wie alt ist die Baroness?«
»Sie wird im nächsten Monat einundzwanzig Jahre alt.«
»Sie sind nicht viel älter, Frau Baronin.«
»Oh doch!«, erwiderte Astrid von Wengen lächelnd. »Neun Jahre sind schon etwas. Manchmal fühle ich mich viel älter!«
»Das geht mir genauso. Ich bin auch dreißig. In jedem Alter gibt es Situationen, wo man müde wird. Ich lasse mich nicht unterkriegen!«
Er lachte, und die Baronin fand dieses Lachen jung und ansteckend. Würde es die Schatten auf Schloss Landegg vertreiben?
»Ich habe noch eine Bitte«, sagte sie nach einer Weile, »treten Sie nicht als Arzt auf. Leonore würde sich sofort vor Ihnen verschließen. In Bezug auf ihr Leiden ist sie äußerst empfindlich. Nur Professor Meinhard durfte sie bisher behandeln!«
»Und wie soll ich mich vorstellen?«
»Ich habe mir schon einen Plan zurechtgelegt, und ich wäre froh, wenn Sie zustimmen würden, Herr Doktor! Sie treten als Historiker auf, der Studien über alte Burgen und Schlösser betreibt. Material finden Sie in unserer Bibliothek genug. Sie kommen auf Empfehlung von Professor Meinhard. Ich glaube kaum, dass Leonore dann misstrauisch wird!«
»Einverstanden. Ihr Plan ist gut, Frau Baronin! Ich kann eine Patientin nur beobachten, wenn sie sich natürlich gibt. Ab jetzt bin ich also Alexander Steffen, Historiker.«
»Ich werde es nicht vergessen, Herr Steffen!« Astrid von Wengen nahm eine Hand vom Steuerrad und deutete durch die Windschutzscheibe. »Vor Ihnen liegt Schloss Landegg!«
Das Laub der mächtigen Bäume, die rings um den Wassergraben standen, leuchtete in der Abendsonne in glühenden Farben.
Das Schloss wirkte fast märchenhaft. Es war ein großer Bau mit vier schlanken Rundtürmen. Zwei Marmorlöwen standen vor der Eingangspforte.
»In der Mitte ist ein großer Innenhof«, sagte Astrid von Wengen.
Sie fuhren über die holprige Zugbrücke, die in den Innenhof führte.
»Am Anfang hatte ich immer Angst, über die Zugbrücke zu fahren«, bekannte die Baronin. »Ich traute den alten Balken nicht. Aber inzwischen hat sich das gelegt. Sie sagen gar nichts, Herr Steffen?« Das Auto hielt im Schlosshof.
»Ich bin überwältigt!« Dr. Steffen stieg aus und sah zu den vielen Fenstern empor. »Wie viele Zimmer haben Sie denn?«
»Ich habe sie noch nicht gezählt. Eberhard sagte einmal, es seien vierunddreißig. Aber wahrscheinlich wusste er es auch nicht genau! Man müsste es einmal in der Chronik nachlesen!«
»Nun, dazu werde ich ja jetzt genügend Gelegenheit finden«, erwiderte der Arzt und griff nach seinem Handkoffer. »Ich werde Sie dann informieren. Frau Baronin!«
»Ja bitte!« Astrid von Wengen nickte zerstreut und sah nervös auf ihre Armbanduhr.
»Ich zeige Ihnen schnell noch Ihr Zimmer«, sagte sie. »Sie können sich vor dem Abendessen etwas frisch machen.«
Sie ging voraus durch einen langen Flur, an dessen Wänden alte Waffen hingen.
»Früher war dies eine Art Wehrburg«, erklärte sie. »Die Waffen stammen noch aus dieser Zeit!«
Am Ende des Ganges führte eine Eichentreppe mit einem geschnitzten Geländer nach oben.
»Die Schlafräume sind im ersten Stock. Nur Leonore wohnt aus begreiflichen Gründen unten. Hier ist Ihr Zimmer, Herr Steffen!«
Die Baronin öffnete die Tür zu einem gemütlich eingerichteten Raum mit einem breiten, altmodischen Bett, über das eine bunte Decke gelegt war. Bilder mit dunklen Rahmen hingen an der Wand und ein kostbarer Wandteppich mit Jagdmotiven. Vor dem Fenster blähten sich kleine weiße Spitzengardinen.
»Wie schön«, sagte der Arzt und sah sich um. »Wenn ich da an mein Zimmer mit den einfachen Möbeln denke!«
»Hier herrscht noch der Geist vergangener Jahrhunderte«, sagte die Baronin lächelnd. »Ihr Bad ist nebenan. Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie bitte. Lisa wird für alles sorgen!«
»Vielen Dank, Frau Baronin.«
»Ich hole Sie in zehn Minuten ab, Herr Steffen. Allein finden Sie das Speisezimmer nicht. Sie würden sich verirren!«
♥♥♥
Dr. Alexander Steffen trat an das Fenster und blickte in den gepflasterten Schlosshof hinunter. Niemand war zu sehen. Das riesige Schloss wurde nur von wenigen Menschen bewohnt.
Er trat vom Fenster zurück, als es an die Tür klopfte.
Die Baronin trat ein. Sie hatte ihre dunkle Kostümjacke abgelegt und eine rosafarbene Bluse mit einer großen Schleife angezogen. Auf dem Arm hielt sie ein kleines Mädchen. Es war blond gelockt wie die Mutter, doch es hatte nicht deren tiefblaue Augen, sondern große dunkelbraune Augen.
»Das ist Sophie«, sagte Astrid von Wengen lächelnd. »Ein kleines übermütiges Ding!«
»Guten Tag, Sophie!« Dr. Steffen trat näher und griff nach der Hand des Kindes. »Wir werden bestimmt oft zusammen spielen!«
»Gehen wir«, drängte die Baronin. »Ich möchte Leonore nicht warten lassen. Sie ist immer pünktlich. Das Esszimmer ist unten, Herr Steffen!«
Vor der Tür zum Esszimmer blieb Astrid stehen und sah den Arzt an.
»Hoffentlich haben wir mit unserem Plan Glück«, flüsterte sie. »Leonore mag keine Gäste. Sie wird nicht liebevoll sein heute Abend!«
»Machen Sie sich keine Gedanken!« Dr. Steffen spürte die Besorgnis in ihren Worten. Es schien gerade so, als habe die Baronin Angst vor den Ausbrüchen ihrer Stieftochter. Was musste diese Baroness für ein unerträglicher Mensch sein.
Die junge Baronin hatte die Tür zum Esszimmer geöffnet.
»Ich bringe Besuch mit, Leonore«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich weiß«, kam die Antwort. »Lisa hat ein zusätzliches Gedeck aufgelegt!«
»Das ist Alexander Steffen«, sagte Astrid von Wengen. »Herr Steffen ist Kunsthistoriker. Er wird einige Zeit bei uns wohnen, um Studien über alte Schlösser zu betreiben!«
»Guten Abend, Herr Steffen!« Die Stimme klang kalt und unpersönlich.
Der Arzt sah über die Schulter der Baronin in das große Esszimmer. Am Kopf des langen Tisches saß in steifer Haltung ein schwarz gekleidetes Mädchen: Leonore Baroness von Wengen!
Sie trug ein hochgeschlossenes Kleid mit einem engen Stehkragen. Die dunkelbraunen Haare waren in der Mitte gescheitelt und hingen bis auf die schmalen Schultern. Sie hatte ein zartes Gesicht und dunkle Augen.
»Guten Abend, Baroness!« Dr. Steffen war näher getreten und lächelte. »Ich hoffe, dass Ihnen meine Anwesenheit auf Schloss Landegg nicht unangenehm ist, und danke Ihnen schon jetzt für Ihre Freundlichkeit, Ihre Bibliothek in Anspruch nehmen zu dürfen. Herr Professor Meinhard hat sich für mich eingesetzt, und die Frau Baronin ...«
»Die Frau Baronin«, unterbrach Leonore ihn scharf und zog die dunklen Augenbrauen hoch. »Ja, ich verstehe! Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Steffen. So war doch Ihr Name, nicht wahr?«
Astrid von Wengen, die immer noch in der Tür stand und das Kind in den Armen hielt, atmete auf. Die erste Hürde war genommen! Sie setzte sich und zog den Stuhl des Kindes dicht zu sich heran.
Eine ältere Frau in weißer Schürze servierte das Essen. Es wurde in kostbarem Porzellan aufgetragen.
Während die Vorspeise eingenommen wurde, konzentrierte Dr. Steffen sich scheinbar ganz auf sein Essen, beobachtete dabei aber verstohlen die Baroness.
Sie aß langsam und nahm ihn nicht weiter zur Kenntnis. Ihre Augen waren starr auf die Baronin gerichtet.
»Du trägst eine helle Bluse, Astrid«, sagte sie kalt. »Warum?«
»Dein Vater ist jetzt sechs Monate tot«, entgegnete die Baronin leise und sah etwas schuldbewusst auf ihre Bluse.
»Auch nach sechs Monaten kann man noch um Vater trauern!« Die dunklen Augen der Baroness glühten. »Zumindest das sollte man von dir erwarten können!«
»Es liegt doch nicht an der Kleidung, Leonore«, stieß Astrid seufzend hervor. »Die innere Einstellung ist maßgebend, ob ich nun eine rosa Bluse trage oder eine schwarze. Dein Vater war ein fröhlicher Mensch, und er hätte sicherlich nichts gegen meine Kleidung einzuwenden!«
»Aber ich habe etwas dagegen einzuwenden!« Leonores Stimme klang laut.
»Bitte, Leonore!«, sagte die Baronin beschwörend. Sie wandte sich begütigend dem Kind zu, das infolge der heftigen Worte der Baroness zu weinen begann.
»Ich verstehe nicht, warum die Kleine immer an unseren Mahlzeiten teilnehmen muss!« Das Besteck der Baroness klirrte gegen den Teller. »Man kann keine Mahlzeit in Ruhe genießen. Warum kann Sophie nicht mit dem Kindermädchen essen?«
»Ich versorge mein Kind gern selbst«, gab die Baronin zur Antwort. Es war ihr unangenehm, dass Dr. Steffen dies alles zu hören bekam.
»Ich möchte wissen, wozu ich dann das Silber auflegen lasse? Wozu die Leuchter und die alten geschliffenen Weingläser? Für ein zappelndes, unruhiges Kind?«, fragte die Baroness böse. »Ich habe als Kind auch nicht mit meinen Eltern speisen dürfen!«
»Die Zeiten ändern sich, Leonore!«
»Ja, leider! Ich bedauere das sehr. Früher war vieles nicht möglich!«
Die Baronin schwieg. Ihr Eindringen auf Schloss Landegg würde ihr Leonore wohl niemals verzeihen. Sie klingelte und übergab Sophie der eintretenden Lisa.
»Das Kind hat genug gegessen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich komme gleich nach und bringe Sophie ins Bett!«
Danach hörte man nur noch das monotone Klappern der Bestecke.