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Unbequem, unbeugsam und aufsässig ist Björn Larsen - vor allem, wenn es um den Schutz des Wattenmeeres geht. Dort draußen, zwischen den ostfriesischen Inseln, kreuzt seit geraumer Zeit ein rostrot gestrichenes Schiff unter schwedischer Flagge. Larsen befürchtet Gefahren für die Umwelt, doch die Nationalparkverwaltung reagiert nicht auf seine Warnungen. Als auf den Leiter der Behörde ein Briefbombenanschlag verübt wird und Larsen verschwindet, übernimmt das LKA die Ermittlungen. Unterdessen wird eine Leiche aus dem Wilhelmshavener Hafenbecken geborgen. Hauptkommissar Trevisan ist nahezu auf sich alleine gestellt, denn fast die Hälfte seines Kommissariats ist krank oder im Urlaub. Die Ermittlungen führen Trevisan und seine beiden verbliebenen Kollegen nach Norderney, Baltrum und Langeoog. Schon bald ist Trevisan überzeugt, dass sein neuer Fall Teil eines geheimnisvollen Komplotts ist. Ist Larsen wirklich der gesuchte Attentäter? Oder ist er selber in Gefahr und alle, die ihn kennen?
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Seitenzahl: 442
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Ulrich Hefner
Die Wiege des Windes
Kriminalroman
Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehreren Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen 2006 im Leda-Verlag)
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © uhotti/sstock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6422-5
Für Heidi, die Kinder und die Drachen im Wind
An der Wiege des Windes,
dort wo die Sonne das Wasser berührt,
glutrot und in vibrierender Luft,
strömen die Kraft und die Energie
mitten hinein in die durstige
Seele
Horst Winterberg stand vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtete sein vom Leben zerfurchtes Gesicht. Die grauen Bartstoppeln wirkten wie ein abgeerntetes Kornfeld im Herbst. Seine grauen, feuchten Augen, umgeben von bläulichen Schatten, wirkten starr und leblos.
Die letzten Tage hatten den Rest an Energie aufgebraucht, die noch in ihm gesteckt hatte. Er fühlte sich alt, abgenutzt und ausgelaugt wie eine leere Batterie, nutzlos und überflüssig. Die Augenblicke vergingen, bis sein Spiegelbild in der feuchtwarmen Luft langsam verblasste. Er öffnete seinen Bademantel, zog ihn aus und legte ihn sauber zusammengefaltet auf den kleinen Hocker neben der Badewanne.
Mit seiner Hand prüfte er das Wasser. Es war heiß, doch er hatte gehört, je heißer das Wasser, umso weniger Schmerzen würde er empfinden. Bevor er in die Wanne stieg, nahm er noch einen kräftigen Schluck aus der schwarzen Flasche. Er hatte schon immer einen Faible für trockenen Sherry gehabt. Die Hausbar in diesem Hotel war gut bestückt, ausgezeichneter Cognac, hochprozentiger Gin, Martini, Magenbitter und sogar Champagner hatte er in dem kleinen Kühlfach vorgefunden. Dennoch hatte er auf das Bewährte zurückgegriffen, und der Sherry war wirklich gut. Ob er auch dafür taugte, die Rezeptoren im Gehirn abzuschalten und ihn vor allzu heftigen Schmerzen zu bewahren, würde sich noch herausstellen.
Er hatte sich entschieden. Er hatte in den letzten Tagen überlegt, welche Auswege ihm noch offen standen, und war zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch diesen einen für ihn gab, um seinen Ruf und seine Familie zu schützen. Seine Frau, die in verschiedenen sozialen Organisationen tätig war, seine älteste Tochter Annika, die erst vor kurzem die neue Praxis in der Altstadt eingerichtet hatte, und Hannes, seinen Sohn, der gerade vor dem Aufstieg in der Firma stand.
Nur wenn er, Horst Winterberg, nicht mehr wäre, dann würde über alles der Mantel des Schweigens fallen. Depressionen und Angstzustände waren häufige Gründe, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Und dass es hinterher nach einem solchen Lebensdrama aussehen würde, dafür hatte er gesorgt. Die Polizei würde kommen, würde Fragen stellen und die richtigen Antworten finden. Als junger Mann war er wegen Depressionen in Behandlung gewesen. Das Bild war schlüssig. Also würden die Ermittlungen schnell zu dem gewünschten Ergebnis führen. Er wusste, wovon er sprach, schließlich war er lange genug Beamter. Er wusste, wie diese Sorte Menschen dachte, wie sie agierten und welche Schlüsse sie zogen.
Für ihn gab es keine Zweifel mehr, und kein Zurück. Er hatte sich zu tief in den Dschungel verstrickt, er war zu weit gegangen. Dabei hätte er es sich nie vorstellen können, dass ausgerechnet er in solch eine Situation kommen konnte. Er hatte immer ehrlich und redlich gehandelt, hatte sich nie auf irgendwelche dunklen Geschäfte eingelassen. Bis auf dieses eine Mal.
Der Schweiß rann ihm über die Stirn. Die Hitze machte ihn müde und der Sherry zeigte langsam Wirkung. Der Zeitpunkt war gekommen – wenn er jetzt nicht handelte, dann würde er langsam dahindämmern.
Der Brief lag auf der kleinen Kommode neben dem Waschbecken. »Für Ines«, stand darauf in großen Buchstaben. Er griff noch einmal zur Flasche. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und hinterließ ihre Schärfe auf seiner Zungenspitze.
Er nahm das Tapetenmesser, das er in einem Baumarkt gekauft hatte. Längs, nicht quer, sagte er sich. Das ist der Fehler, den die meisten begehen, die hinterher in einem weißen Zimmer auf ein Bett geschnallt aufwachen und mit ihrem Makel zum Weiterleben gezwungen werden. Längs also!
Er setzte das Messer an und schnitt in das Fleisch. Es war, als ob man eine Spritze bekam, ein kurzer, beißender Schmerz zu Beginn der Prozedur, doch als die Klinge durch die Haut in die Fasern eindrang, war es ganz einfach und fast schmerzlos.
Er beobachtete, wie sich das Wasser färbte. Es war der letzte Eindruck, den er wahrnahm, bevor sich das rote Leben im weißen Schaum verlor.
Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nicht mehr geschlafen. Seine Hände zitterten vor Kälte, dennoch presste er das Fernglas fest an seine brennenden Augen. Der kleine Kreuzer mit dem rostroten Anstrich ankerte nun schon seit einer Stunde westlich der Nordergründe.
Sie hatten dort drüben etwas an einer Winsch heruntergelassen. Das straff gespannte Seil dehnte sich im Wellengang. Die Männer drüben auf dem Schiff schienen im unruhigen Wasser nach etwas zu suchen. Doch was war so interessant hier draußen?
Was am Ende des Seiles schwamm, konnte Larsen nicht erkennen, dazu waren sie zu weit entfernt. Dennoch vermied er es, Corde anzuweisen, näher heranzufahren.
NH-C 210 war die Kennung des Kreuzers. Eine schwedische Fahne wehte am Mast. Schon als das Schiff vor zehn Stunden Wilhelmshaven verlassen hatte, war er sicher gewesen, dass etwas nicht stimmte. Er hatte Erkundigungen über Schiff und Besatzung eingeholt: eine russische Forschungsgesellschaft, die ein Projekt zur Erforschung des Wattenmeers und seine Auswirkungen auf die klimatischen Verhältnisse durchführte. Aber da musste etwas anderes dahinterstecken.
»Wie lange willst du noch Löcher in die Luft starren, mein Junge«, riss ihn Corde aus seinen Gedanken. »Es kommt Sturm auf, wir sollten nicht zu lange warten, der Himmel gefällt mir heute nicht.«
Larsen warf Corde einen geringschätzigen Blick zu. »Du machst dir zu viele Sorgen. Wir bleiben so lange wie die da drüben. Ich muss wissen, was hier vorgeht.«
Der Alte wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf das Ruderhaus zu. Larsen nahm das Fernglas wieder vor die Augen. Auf dem Kreuzer herrschte noch immer hektische Betriebsamkeit. Männer in gelbem Ölzeug beugten sich über die Reling und starrten ins Wasser. Larsens Fernglas streifte ihre Gesichter. Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und sein Blick verharrte auf einer Gestalt, die abgesetzt von den anderen am Vormast stand. Der große und stämmige Mann mit dem dichten, schwarzen Vollbart trug eine dunkelblaue Daunenjacke mit Fellbesatz und hatte eine schwarze Wollmütze tief in das Gesicht gezogen. Vor seinen Augen lag ebenfalls ein Fernglas, das genau auf Larsen gerichtet war. Larsen zuckte zusammen. Es schien fast, als ob der Riese ihn hämisch anlächelte. Dann formte der Mann mit seiner rechten Hand eine imaginäre Pistole, indem er mit dem Zeigefinger auf Larsen zeigte und den Daumen wie einen Abzugshahn aufrichtete. Larsen blickte gespannt zu. Plötzlich ließ der Riese seinen Daumen nach vorne schnellen. Larsen hastete zum Ruderhaus und öffnete die Tür. »Wir müssen hier weg!«
Warme Luft strömte ihm entgegen. Corde saß hinter dem Ruder und blätterte in einem alten, zerschlissenen Anglermagazin. Er blickte auf. »Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Larsen schloss die Tür. »Sie haben uns bemerkt. Es ist besser, wenn wir verschwinden.«
Mit einem Seufzer richtete sich der alte Corde auf. Behäbig startete er den Motor des alten Kutters. Als der Motor nach einem gurgelnden Grollen ansprang, atmete Larsen tief ein. Der riesige Mann auf dem fremden Schiff machte ihm Angst. Auf dem rostroten Kreuzer stimmte etwas nicht, und er würde herausfinden, was die Kerle dort draußen im Roten Sand im Schilde führten. Noch heute Nacht.
»Holt dich Rike am Hafen ab, mein Junge?«, durchbrach Corde nach einer Weile das dröhnende Schweigen im Ruderhaus.
»Rike? Nein, ich fahre nicht mit in den Hafen. Bring mich nach Langeoog und wenn dich jemand nach mir fragt, dann hast du mich nicht gesehen, verstanden!«
Corde musterte ihn skeptisch. Larsen sah fast noch aus wie ein sommersprossiger Teenager, obwohl er Mitte dreißig war. Die strohgelben Haare hingen wirr in das bleiche Gesicht und die Pupillen der wässrig blauen Augen flatterten nervös hin und her.
»Ihr habt doch nicht wieder etwas angestellt?«
Larsen schüttelte den Kopf. »Nicht viel, nur ein paar Reifen platt gemacht und zwei, drei Briefe geschrieben. Jemand muss es diesen korrupten Schweinen doch mal zeigen. Sie sollen wissen, dass ihnen jemand auf die Finger sieht und sich wehrt.«
Der Alte verzog das Gesicht. »Du hast dich erwischen lassen? Sie suchen dich?«
Larsen druckste herum. »Sind wohl ein paar Fingerabdrücke auf dem Kuvert. Aber es steht nichts Schlimmes drin.«
»An wen hast du die Briefe geschrieben?«
»Einen nach Hannover und die anderen nach Oldenburg«, antwortete Larsen. »Sie sollen die Hände vom Wattenmeer lassen, sonst …«
»… sonst?«
Larsen seufzte. »… sonst sollen sie schon mal eine Seebestattung buchen.«
Corde schüttelte den Kopf. »Ich habe deiner Mutter am Sterbebett versprochen, auf dich Acht zu geben, aber du reitest dich immer wieder selbst in die Scheiße. Ein Jahr hinter Gittern war wohl nicht genug?«
Betreten blickte Larsen zu Boden. »Sie haben schon wieder die Fahrrinne am Borkumgrund vertieft. Schau dir die Küste an. Das Watt ist mittlerweile löchrig wie ein Käse. Bald fahren sie mit den großen Fähren zu den Inseln. Zweimal so groß wie die von Frisia. Im Sommer tummeln sich die Bootsausflügler an den Sandbänken und das Robbensterben hält noch immer an.«
»Trotzdem hast du nicht das Recht, sie zu bedrohen«, sagte Corde. »Du musst sie überzeugen, aber in der Sache und nicht mit Gewalt.«
»Es geht nur um Profit, das ist ihre einzige Religion«, erwiderte Larsen. »Hast du nicht selbst gesagt, man muss für seine Überzeugungen einstehen, auch wenn’s manchmal weh tut?«
Corde lächelte. »Ja, genau das habe ich gesagt, mein Junge, aber das ist doch etwas ganz anderes.«
»Was ist daran anders? Diese Welt geht langsam aber sicher vor die Hunde. Da kann ich nicht einfach zuschauen. Das ist meine Überzeugung, verstehst du?«
Der Alte nickte. »Du bist wie dein Vater«, sagte er sanft.
Den Rest des Weges schwiegen beide. Als der Kutter in den Hafen von Langeoog einfuhr, peitschte der starke Wind die Wellen auf. Noch bevor Corde mit Larsens Hilfe sein Schiff vertäut hatte, lief der rostrote Kreuzer durch das Hafentor in das ruhigere Hafenwasser ein.
Corde richtete sich überrascht auf. »Hast du davon gewusst?«, fragte er Larsen, der gerade das starke Schiffstau um den Poller legte.
Ein Lächeln huschte über Larsens Lippen. »Sie haben sich gestern ein paar Zimmer im Hotel Flörke bestellt«, antwortete er, bevor er die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht zog.
*
Nachdem der rostrote Kreuzer im Hafen von Langeoog vertäut war, stiegen die Männer von Bord und gingen zum kleinen Bahnhof hinüber, wo ein Zug der Langeoogbahn auf die Versorgungsfähre der Frisia-Fährgesellschaft wartete. Auch der Riese war unter ihnen. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis die kleine rote Bahn mit der Besatzung des Kreuzers hinüber in das Dorf fuhr.
Larsen atmete auf, als die Männer in den Zug gestiegen waren. Corde brühte einen Tee auf, während Larsen ungeduldig wartete, bis der Zug hinter der nächsten Biegung verschwand. Als die Nacht über die Insel hereinbrach, ging er von Bord des Kutters und verschwand im Dämmerlicht.
Corde hatte es sich im Ruderhaus bequem gemacht und schreckte kurz vor Mitternacht auf, als jemand ans Fenster pochte. »Verdammt, was soll das denn?« Im schwachen Licht erkannte er Larsen. »Du spinnst wohl, Junge, wo kommst du her?«
Larsen reichte ihm einen Brief in einem braunen Umschlag. »Versteck ihn gut. Gib ihn Rike, wenn sie wieder zurück ist. Aber sei vorsichtig. Es ist am besten, wenn du gleich aufbrichst.«
Der Alte schaute den Brief ungläubig an. »Junge, ich will mit deinen Machenschaften nichts zu tun haben.«
»Dafür ist es zu spät. Du steckst schon mitten drin. Es ist wichtig, dass du gleich ausläufst«, sagte Larsen eindringlich. »Und du weißt nicht, wo ich bin und du hast mich schon lange nicht mehr gesehen.«
Ehe Corde noch etwas erwidern konnte, verschwand Larsen in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später legte Corde ab.
*
Corde vertäute den Kutter im Hafen von Greetsiel und fuhr in seinem alten, klapprigen Wagen nach Hause. Drei Tage waren inzwischen vergangen. Weder Rike noch Larsen hatten sich bei ihm gemeldet. Es war auch besser so. Der Junge zog das Unheil an wie an heißen Sommertagen der Süßmost die Wespen. Dabei war er überhaupt nicht schlecht, er war nicht kriminell. Er war nur rebellisch, ein wenig halsstarrig und rebellisch. Corde schaltete das Licht am Wagen ein. Die Dämmerung war hereingebrochen und die dicken Wolken verhießen nichts Gutes. Hoffentlich würde er es noch vor dem Regen nach Hause schaffen. Mit seinen knapp siebzig Jahren war er froh, wenn er seinen Wagen noch bei Tageslicht in seinem kleinen Hof hinter dem Deich abstellen konnte. Den Kutter über die See zu steuern, war etwas ganz anderes. Das machte er seit frühester Kindheit.
Einen Kilometer hinter der Abzweigung nach Hauen lenkte er den alten VW in den schmalen Feldweg zu seinem Haus, das einsam etwas außerhalb des Ortes lag. Nach wenigen hundert Metern tauchte das von zwei hohen Birken flankierte Häuschen hinter den braunen Hecken auf. Corde steuerte seinen Wagen auf den geschotterten Hof.
Schon als er auf die Haustür zuging, fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Sie stand einen Spalt breit offen und in dem kleinen Rechteck oberhalb der Klinke, wo sich normalerweise eine in einem Holzrahmen eingefasste Glasscheibe befand, gähnte ein schwarzes Loch. Er blieb stehen und schaute sich um. Die Stille wirkte beängstigend, nur der aufkommende Wind raschelte in den wenigen welken Blättern der Birken.
Corde überlegte. Er war alleine und die nächste Ansiedlung über einen Kilometer entfernt. Was, wenn der Einbrecher noch im Haus war – oder hier irgendwo auf ihn lauerte?
Er hatte das Haus noch nicht erreicht, als plötzlich ein Schatten auf ihn zu flog. Corde erschrak und wich aus. Er strauchelte, der Schotter knirschte unter seinen festen Schuhen, dann verlor er den Halt und stürzte rücklings zu Boden. Er schloss die Augen und erwartete den Schmerz.
Der Schmerz kam, doch nicht so, wie er erwartet hatte. Nur ein Stechen im Arm, auf den er gefallen war. Er öffnete die Augen und sah gerade noch, wie der Schatten mit einem heiseren Krächzen in den Ästen einer Birke verschwand.
Der Raum war zu warm. Die trockene Heizungsluft und der Zigarrenrauch reizten ihre Augen und Schleimhäute, dennoch blieben die Fenster verschlossen. Niemand durfte von dieser Unterredung wissen. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Die Zeit rinnt uns durch die Finger«, sagte der dunkel gekleidete, untersetzte und kahlköpfige Mann an der Stirnseite des Tisches. Er rollte das »r« in seinen Worten, als ob der Nachklang nie enden sollte. Die drei anderen Männer, in teuren Anzügen, gepflegt und distinguiert, nickten, ehe sie reumütig ihre Häupter senkten.
Der schwarzhaarige, drahtige Aufpasser, der abseits des Tisches neben der Tür saß, betrachtete ungerührt seine Fingernägel.
»Und wenn wir die Sache einfach stoppen?«, fragte einer am Tisch.
Der Kahlköpfige blickte ihn ungläubig an. Sogar der Mann an der Tür hob kurz seinen Kopf. Eine Weile herrschte düsteres Schweigen.
Plötzlich brach der Kahlköpfige in herzhaftes Lachen aus. Sein Bauch hüpfte auf und ab wie eine Jolle in schwerer See. »Natürlich. Wir packen einfach zusammen und gehen alle nach Hause. Das Geld spielt keine Rolle. Es ist ja nur bunt bedrucktes Papier.« Das Lachen erfror in eisiger Kälte. »Wir haben einen Kontrakt, meine Herren, und wir haben einen Weg gemeinsam zu gehen. Und wir werden ihn gehen, bis zum Ende.«
Ein dumpfes Hämmern an der Tür. Der Drahtige schnellte in die Höhe. Mit der rechten Hand fasste er unter seine Jacke. »Da?«, fragte er.
Unterdrücktes Gemurmel drang in den Raum. Der Wächter entspannte sich und drehte den Schlüssel herum. Durch den Türspalt schob sich ein stämmiger Mann in einem Nadelstreifenanzug aus den frühen Siebzigern in das Zimmer. Er verbeugte sich vor dem Kahlen, als wäre er zu nichts anderem als zum Dienen geboren.
»Es … es … gibt … Probleme!«, stammelte er unterwürfig.
Gemurmel erfüllte den Raum. Der Kahlköpfige schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Gespräche verstummten.
»Probleme?« Die Stimme des Kahlköpfigen klang noch eine Spur gefährlicher als zuvor.
*
Larsen ließ sich mit einem Seufzer auf dem zerschlissenen Sofa nieder und starrte an die Decke. Der Raum war schmuddelig und düster. Die beiden kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Zudem türmten sich dunkle Wolken am Himmel.
»Es wird bald schneien.« Töngen saß in einem fleckigen, rosafarbenen Ohrensessel. Er hielt Larsen seinen Tabaksbeutel hin. »Willst du auch eine? Der Stoff ist direkt aus Delfzijl.«
Larsen schüttelte den Kopf. »Ich brauche klare Gedanken. Sie sind wieder draußen, aber ich weiß nicht, was sie suchen.«
»Es muss wichtig sein, wenn sie bei diesem Schietwetter hinausfahren.« Töngen fuhr mit der Zunge über den Klebestreifen des Zigarettenpapiers. »Was ist mit Rike?«
»Rike spinnt«, erwiderte Larsen. »Sie ist wieder im Camp und bereitet sich auf eine Aktion vor. Wir hatten Zoff. Sie meint noch immer, es reicht, ein paar Plakate in die Höhe zu halten. Wir müssen die Kerle da treffen, wo es wirklich weh tut. Nur dann können wir etwas bewirken.«
»Darüber hast du früher auch anders gedacht.«
Larsen seufzte und schaute dem Rauch nach, den Töngen in die Luft blies. Schließlich griff er nach dem Tabaksbeutel auf dem Tisch. »Und wohin hat uns das gebracht?« Der Beutel fiel ihm aus der Hand und klatschte auf den staubigen Boden. Ein Teil des Inhalts krümelte über die wurmstichigen Holzbohlen.
»Mensch, pass doch auf, das Zeug ist teuer!«, fauchte Töngen.
»Schon gut. Hast du nichts Stärkeres?« Larsen kniete sich auf den Boden und klaubte den Inhalt des Beutels wieder zusammen.
»Wie soll ich das bezahlen? Außerdem brauchst du doch einen klaren Kopf, dachte ich, oder?«
Larsen betrachtete seine schmutzigen Hände. »Du könntest ruhig mal sauber machen.«
Töngen lächelte. »Ist doch egal, ob wir ein bisschen Dreck mitrauchen. Ist sowieso nur Verschnitt. Der Markt ist wie leergefegt.«
Larsen setzte sich wieder auf das Sofa und drehte sich eine Zigarette.
»Die Holländer haben Lieferprobleme«, sagte Töngen. »Immer mehr Bullen tummeln sich auf Booten und in den Häfen, seit sie an den Grenzen nichts mehr zu tun haben. Drei Lieferungen haben sie letzten Monat abgefangen. Es wird langsam eng.«
Larsen zündete seine Zigarette an. Er legte den Kopf zurück und entspannte sich. Sie schwiegen eine Weile und rauchten.
»Du hast gesagt, es sind Russen?« Töngen schnippte die Asche auf den Boden.
»Russen, Schweden, Chinesen, wo ist der Unterschied?«
»Na, die Russen sind mittlerweile für alles gut, Gift oder Uran, Plutonium …« Töngen blies den blauen Rauch stoßweise in die Luft. »Vielleicht liegen da draußen ein paar Container voller bunter Träume im Wasser und die suchen danach.«
»Du spinnst.«
»Wieso, was würdest du tun, wenn ein Zollboot auf dich zuhält, um dir dein schönes Pulver abzujagen?«
»Es sind Forscher«, antwortete Larsen. »Sie haben ein Boot mit allem technischen Schnickschnack und sie lassen etwas ins Wasser …«
»… und sie haben eine Genehmigung von ganz oben. Die fahren doch winkend an jeder Streife vorbei.«
»Aber die Computer an Bord und die Sonargeräte?«, wandte Larsen ein.
»Mit was würdest du rausfahren, wenn du offiziell Studien machen willst? Mit ’ner Jolle? Mensch, denk doch nach, Junge«, entgegnete Töngen. »Wie viel bezahlen wir heutzutage für die Unze? Zwanzig, fünfundzwanzig Mark. Die schicken das Zeug tonnenweise, da fallen doch die Miete für so ein Boot und die paar Kröten für das Schmieren einiger Beamter gar nicht ins Gewicht.«
Larsen zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher. Er ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Noch hielten die dunklen Wolken ihre kalte Fracht zurück.
Er nahm seine graue Daunenjacke vom Haken. »Wo steht dein Fahrrad?«
»Was hast du vor?«
»Ich fahre ins Dorf. Ich muss etwas überprüfen«, antwortete Larsen.
»Bring ein paar Flaschen Bier mit. Ich sitze schon seit gestern auf dem Trockenen und mir ist es zu kalt, um ins Dorf zu fahren.«
»Hast du Geld?«
»Keinen Pfennig«, entgegnete Töngen grinsend.
Larsen öffnete die Tür. Ein Schwall eiskalter Luft ergoss sich in das Zimmer.
»Pass auf dich auf! Mit Russen ist nicht zu spaßen.«
Larsen nickte und trat hinaus in die Kälte.
*
»Das ist der Preis dafür, dass man hier draußen in aller Ruhe wohnt«, sagte der Polizist und nahm die Kamera vors Gesicht.
Das Blitzlicht schmerzte in Cordes Augen. Mit einem Kopfschütteln besah er sich das Zimmer. Die Schubladen der beiden Schränke waren herausgerissen und mit dem Inhalt auf dem Boden verteilt. Die alte Stehlampe lag in der Ecke, der Tiffanyschirm war zerbrochen. Corde atmete tief ein. Die Stehlampe bedeutete ihm viel. Es war die einzige Hinterlassenschaft eines verstorbenen Freundes.
Die Einbrecher hatten ganze Arbeit geleistet und sogar den Stoffbezug des Sofas mit einem Messer aufgeschnitten. Die wenigen Bücher aus dem Regal lagen zerfleddert daneben. Corde fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare. Die rechte Hand steckte in einem dicken Gipsverband.
»Oben sieht es genauso aus«, sagte er. »Ich frage mich, wer so etwas macht? Haben die etwas Bestimmtes gesucht?«
»Da gibt es genug, die dafür in Frage kommen«, antwortete der Polizist und fotografierte erneut. »Und die suchen immer nach etwas Bestimmten. Geld und Wertsachen. Da gibt es die tollsten Verstecke. Und Ihnen fehlt wirklich nichts, sagen Sie?«
Hilko Corde schüttelte den Kopf. »Ich besitze nichts und ich vermisse auch nichts. Schauen Sie sich das Haus an. Sieht es aus, als ob hier drinnen Reichtümer verborgen wären?«
Der Polizist nickte verlegen. »Das kann man nie wissen. Und Junkies geben sich auch mit wenig zufrieden. Hauptsache, das Geld für den nächsten Schuss springt heraus.«
Cordes Handy klingelte. »Entschuldigung«, murmelte er und ging in den Flur. Er drückte umständlich den grünen Knopf mit dem Telefonsymbol und meldete sich.
»Hallo, Hilko, ich bin es«, drang Larsens Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe nur wenig Geld. War Rike schon bei dir? Hast du ihr den Brief gegeben?«
»Rike? Mensch, Junge, ich habe andere Sorgen. Bei mir ist gerade eingebrochen worden. Alles durchwühlt. Sogar das Sofa haben die Kerle aufgeschnitten.«
»Hast du überhaupt schon mit ihr gesprochen?«
»Junge, ich sagte doch, ich habe gerade andere Sorgen.«
Ein greller Signalton unterbrach Corde. Er schaute ratlos auf das Display. Das Gespräch war abgebrochen. Corde ging kopfschüttelnd zurück in das Zimmer.
Der Polizist packte den Fotoapparat wieder ein. »Sie gehen mit der Zeit und haben ein Handy«, stellte er überrascht fest.
Corde lächelte. »Ich mache im Sommer Kutterausflüge ins Watt und wenn der Herbst kommt, fahre ich Gesellschaften oder einzelne Fahrgäste, manchmal auch Waren hinaus auf die Inseln. Ein Handy ist da Gold wert. Ich bin nicht oft hier zu Hause.«
Der Polizist deutete mit dem Kopf an die Decke. »Dann werde ich mich jetzt mal um das Chaos dort oben kümmern. Aber ich will Ihnen keine Hoffnungen machen. Spuren habe ich nicht gefunden. Wahrscheinlich trugen sie Handschuhe.«
Corde nickte und griff sich an den rechten Arm. Die Schmerzen kehrten langsam zurück.
*
Larsen legte nachdenklich den Hörer zurück auf die Gabel. Hatte er richtig gehört? Hatte Onkel Hilko wirklich gesagt, dass bei ihm eingebrochen worden war? Larsen suchte nach Kleingeld, doch außer einem Zehnmarkschein in der Hosentasche hatte er nichts bei sich. Er musste unbedingt zurück aufs Festland, aber die Frachtfähre würde erst morgen früh wieder anlegen. Und das auch nur, wenn sich das Wetter nicht wieder verschlechterte.
Er rieb mit den Fingern über den Zehnmarkschein. Hing der Einbruch bei Corde mit dem angeblichen Forschungsschiff zusammen?
Er überlegte, ob er das Geld wechseln sollte. Er wollte mit Rike telefonieren. Larsen ging zu dem kleinen Laden an der Ecke. Im Sommer tummelten sich in dieser Straße die Touristen, da gab es nicht einmal Sitzplätze in den Straßencafés. Jetzt wirkte das Dorf wie ausgestorben.
Hatte Töngen Recht? Suchten die Kerle im Boot tatsächlich nach ein paar versenkten Containern mit Rauschgift oder sogar nach radioaktivem Material? Wenn die Russenmafia dahintersteckte, hätten die längst herausgefunden, wem der Kutter gehörte, von dem sie dort draußen abseits des Mellumer Fahrwassers im Roten Sand beobachtet worden waren. Schließlich stand der Name Molly in großen Lettern am Bug. Wenn sie in Hilkos Haus eingebrochen waren, dann hatten sie sich bestimmt auch schon den Kutter vorgenommen. Ob sie das Versteck gefunden hatten? Er schüttelte den Kopf. Nein, das Versteck auf dem Kutter war einfach zu gut, nicht einmal Hilko selbst würde es entdecken. Die Beute seines nächtlichen Besuches auf dem Kreuzer musste ja sehr wichtig für die Kerle sein, wenn sie danach suchten. Welches Geheimnis verbarg sich dahinter? Wenn ihm jemand helfen konnte, dann war es Rike. Doch die trieb sich in dem Greenpeace-Camp rum und spielte Umweltaktivistin.
Manchmal fand er sie naiv. Sie glaubte noch immer, dass man mit Sprüchen und Protestaktionen die Welt verändern konnte. Doch auf der anderen Seite war sie intelligent. Und stark. Er erinnerte sich noch daran, wie sie einem aufdringlichen Verehrer mit ihren fernöstlichen Kampfkünsten fast den Arm gebrochen hatte. Du frigide Zicke, hatte der Kerl sie angebrüllt, als er in der schlammigen Pfütze lag, nachdem sie ihn mit einem eleganten Fußfeger zu Boden gebracht hatte. Rike war weder frigide noch war sie ein Mannweib, wie die anderen Kerle aus der Gruppe damals behauptet hatten. Sie wusste, was sie wollte. Vielleicht fehlte sie ihm auch deshalb so sehr. Er musste unbedingt mit ihr reden.
Die Ladenglocke bimmelte zweimal, der Verkaufsraum war leer. Bier und etwas zu essen brauchte er jetzt. Dafür genügte sein Zehnmarkschein, aber wenn er danach noch mit Rikes Handyanschluss telefonieren wollte, würde es kaum für ein »Hallo, wie geht’s dir« reichen. Sinnlos.
Morgen würde er diese Insel verlassen. Er musste in Erfahrung bringen, was es mit diesem ominösen Einbruch auf sich hatte. Vielleicht war alles nur ein dummer Zufall.
Sie kamen im Schutz der Dunkelheit. Seit Stunden hatten sie das schäbige Haus in der Ahrstraße belauert, wo der ehemals weiße Putz graue Ränder trug und von der Wand bröckelte.
Die hölzerne Eingangstür war unverschlossen. So wie an jedem Tag. Sie waren gestern schon einmal hier gewesen. Ihn hatten sie nicht angetroffen. Er blieb verschwunden, als wüsste er, dass sie nach ihm suchten.
Die Treppen knarrten, als sie ungesehen die vier Stockwerke nach oben gingen. Er hatte unter dem Dach ein kleines Zimmer mit einer Dusche und einer Kochnische. Zu mehr hatte er es nicht gebracht. Ein Versager, ein Niemand. Er hatte noch nichts in diesem Leben geleistet. Er hatte die Zeit, die ihm gegeben war, damit zugebracht, Farbbeutel gegen Wände zu werfen und Leuten auf die Nerven zu fallen. Das alles wussten sie, denn sie hatten sich über ihn erkundigt. Sie hatten ihre Quellen, und es gab keinen Zweifel: Niemand würde ihn vermissen.
Die altersschwache, gelb gefleckte Holztür war kein Hindernis. Sie brauchten knapp dreißig Sekunden, bis das Schloss aufsprang. Abgestandene und modrige Luft empfing sie. Das Zimmer lag im Dunkeln. Direkt neben dem Eingang war das Bad, gegenüber die Garderobe, an der zwei schäbige Jacken hingen. Der Strahl ihrer Taschenlampen huschte kurz darüber. Einer von ihnen durchwühlte die Taschen, die anderen machten sich über das Zimmer her. Bedächtig öffneten sie die Schubladen, vorsichtig durchsuchten sie die Schränke und den Schreibtisch. Niemand sollte bemerken, dass sie hier gewesen waren.
In der rechten Ecke stand ein alter Mahagonischreibtisch. Viel zu wuchtig für den kleinen Raum, in dem sich noch die Kochnische, das Bett und eine Couch befanden.
»Schau dir das an!« Der Größere deutete auf eine Weltkarte über dem Schreibtisch. Mit einem roten Stift waren Markierungen und Daten eingezeichnet. In der Arktis und Antarktis, in Südamerika, im Persischen Golf, in Russland und an der Nordseeküste befanden sich solche roten Punkte, die bei genauer Betrachtung einem Totenkopf ähnelten.
Der Kräftige zog einen Packen Papiere mit aufgeklebten Zeitungsartikeln aus einem Regal und überflog die Überschriften. Es waren Artikel über Abholzungen im Regenwald und Ölbohrungen in der Arktis. Mörder hatte jemand mit krakeliger Handschrift unter die einzelnen Artikel geschrieben. »Ein Spinner.«
Der Großgewachsene lächelte verächtlich und fuhr damit fort, die Schubladen des Schreibtisches zu durchsuchen.
Unerwartet pfiff der Kräftige leise durch die Zähne. »Schau mal, das ist ein ganz schönes Früchtchen.« Er hielt dem Großen mit seinen von Latexhandschuhen überzogenen Fingern ein Blatt Papier unter die Nase.
»Was soll das, du weißt, was wir suchen.« Der Große widmete sich dem Computer auf dem Schreibtisch.
»Es ist nicht hier, ich habe alles auf den Kopf gestellt«, sagte der Kräftige nach einer Weile.
»Sonst etwas Brauchbares?«
»Ein paar nicht ganz jugendfreie Briefe von seiner Freundin.«
»Mit Absender?«
»Ja.«
Der Hüne griff in seine Jackentasche und zog ein Handy hervor. »Sie ist also seine Freundin, so etwas«, flüsterte er, als er die Ziffern wählte.
*
Larsen schlief schlecht. Alpträume plagten ihn. Immer wieder erschien der dunkle Riese und krümmte den Zeigefinger. Plötzlich war die Hand des Hünen nicht mehr leer. Eine großkalibrige Pistole lag darin. Kurz bevor der Riese abdrücken konnte, erwachte Larsen schweißgebadet.
Er schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Er ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann setzte er sich auf die Couch und lauschte Töngens Schnarchen. Er verwarf den Gedanken, ihn zu wecken, zog seinen dicken Parka über und verließ das Haus.
Die Fähre lief gegen sieben Uhr in den menschenleeren Hafen ein. Larsen hatte den Weg zu Fuß zurückgelegt und im Schutz des Bahnhofsgebäudes beim spärlichen Licht der wenigen Hafenlaternen gewartet. Der erwartete Schnee war zum Glück ausgeblieben. Es war nicht mehr so kalt wie am Tag zuvor und der Wind hatte nachgelassen.
Er kannte den Kapitän. Gut eine Stunde später lief die Fähre in Richtung Norden wieder aus. Larsen stand an Bord und blickte über die Reling. Er war der einzige Passagier. Kein Wunder im November.
Es war gut so. Larsen fühlte sich so sicherer. Cordes Anruf hatte ihn aufgewühlt. Larsen hatte Angst. Ein lähmendes Gefühl kroch auf seine Mitte zu. Er musste unbedingt mit Corde reden. Er griff in die Hosentasche. Noch ganze drei Mark und fünfundzwanzig Pfennig hatte er bei sich. Von der Bank hatte er ebenfalls nichts mehr zu erwarten. Er war pleite.
Rike hatte ihm oft Geld gegeben. Jetzt war sie weg. Sie waren im Streit auseinander gegangen. Nach vier Jahren war sie einfach fort und er hatte das Gefühl, dass sie es diesmal ernst mit der Trennung meinte.
Nachdem die Fähre im Hafen von Norddeich festgemacht hatte, suchte er drüben am Kutterhafen nach Holm, einem Kapitän, dem er schon ein paar Mal geholfen hatte und der ihn bestimmt nach Greetsiel fahren würde. Doch der Kutter war nicht an seinem Liegeplatz. Fluchend ging er über die weite Wiese. Im Reif der kalten Nacht hinterließ er seine Spuren. Bis in die Stadt hinein konnte er laufen, aber wie kam er nach Greetsiel?
Ein Polizeiwagen bog um die Ecke. Larsen zog den Kragen hoch. Die Bullen konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. Bestimmt stand er schon wieder auf der Fahndungsliste. Die Briefe, die er vor kurzem an die Ämter abgeschickt hatte, wurden ihm garantiert übel genommen, da verstanden sie keinen Spaß, diese ignoranten Nichtstuer in den Verwaltungsbüros. Beamte nannten sie sich, aber Ahnung hatten sie keine. Da waren alle gleich. Auch die Gelbbäuche in den grün-weißen Autos gehörten zu dieser Sorte. Er bog in einen Hinterhof ein und wartete, bis der Streifenwagen vorbeigefahren war.
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»Wir haben ihn nicht gefunden«, drang die kehlige Stimme aus dem Telefon.
»Hinweise?«
»Eine Freundin, mehr nicht.«
»Das ist doch schon was«, erwiderte der Kahle. »Ihr müsst ihn finden, um jeden Preis.«
»Da ist noch etwas. Er hat Probleme mit den Behörden. Er gehört zu diesen linken Chaoten und ist so was wie ein Umweltschützer. So ein Spinner, der sich an Bahngleise kettet.«
Der Kahle erhob sich. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ein Umweltschützer, auch das noch. Diese Typen meinten immer, sie müssten hinter jedem herschnüffeln. Stets auf einem Kreuzzug, wie diese bornierten Beamten in den Ämtern. Dabei war es gerade in dieser Phase wichtig, dass es keine Auffälligkeiten gab. Zwischenfälle konnten sie sich nicht leisten.
»Findet ihn!«, sagte der Kahle, und beendete das Gespräch.
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Der dritte Wagen, den Larsen auf der Landstraße von Norddeich in die Westermarsch anzuhalten versuchte, war der Milchlaster. Der Fahrer nahm ihn mit nach Greetsiel. An der Straße nach Pewsum ließ er Larsen aussteigen. Es war kurz nach acht und die Dämmerung erhellte langsam den Himmel, als Larsen den Weg in das malerische Dorf einschlug.
Hier draußen war der Wind stärker als in Norden. Larsen zog den Reißverschluss seiner Jacke höher. Ob Corde schon auf dem Kutter war?
Als er über den leeren Parkplatz ging, auf dem sich im Sommer Wagen an Wagen reihte, fielen die ersten Schneeflocken aus den grauen Wolken. Sein Freund Töngen hatte also doch Recht behalten. Obwohl dessen Gehirn vom vielen Bier, den Kurzen und den Joints bestimmt schon zerfressen war, hatte er noch immer ein Gespür für das Wetter. Damals, als sie in dem kleinen, altersschwachen Boot zwischen den Sandbänken herumgefahren waren und die pelzigen grauen Körper gezählt hatten, die leblos im feuchten Sand lagen, hatte er immer vorausgesagt, wenn das Wetter umschlug. Nur einmal waren sie in einen Sturm geraten. Das war im Nordland gewesen und Töngen vollgekifft wie ein Bus jamaikanischer Reggae-Musiker. Doch sie hatten überlebt. Überlebt, um die Zahl der toten Körper dieses Tages ins Forschungszentrum zu melden. Und wofür?
Er hatte gedacht, dass es besser werde, wenn Esser den Chefposten der Naturschutzbehörde übernehmen würde. Doch es blieb alles beim Alten. Die Schutzzonenverordnung war ein stumpfes Schwert. Noch immer warfen die Kapitäne ihren Unrat über Bord oder spülten ihre Tanks mit Nordseewasser aus, um es voller Öl und Schmiere wieder zurück ins Meer zu pumpen. Worte, nichts als Worte. Und er hatte für diese Farce sein Leben und seine Gesundheit riskiert. Nie wieder würde er so blauäugig sein.
Larsen ging über die Brücke und bog in den Weg zum Hafen ein. Der Schneefall wurde stärker. Die weißen Flocken tanzten wild im Wind. Hinter der Mauer tauchten die Masten der Kutter auf, die an der Mole vertäut lagen. Die Molly schaukelte friedlich im seichten Auf und Ab des Hafenbeckens. Corde war nicht hinausgefahren. Larsen atmete auf.
Töngens Worte kamen ihm noch einmal in den Sinn. Container mit bunten Träumen. Vielleicht lag da draußen wirklich irgendetwas auf dem Grund des Meeres. Wertvoll musste es sein, sonst würde sich der Aufwand nicht lohnen. Zumindest musste es etwas sein, das man nicht gerne dem Zoll offenbarte. Drogen, Diamanten für Rotterdam, Gold, Falschgeld, radioaktives Material für irgendwelche arabische Extremisten. Vielleicht war die Ladung gar nicht für Deutschland bestimmt. Zwar lag die Stelle, an der er das rote Schiff ausgemacht hatte, im Roten Sand, aber immer noch außerhalb der Drei-Meilen-Zone und abseits der viel befahrenen Schifffahrtsrouten.
Larsen blieb an der Mauer stehen. Von Corde keine Spur. Aber der würde bestimmt noch kommen. Er war jeden Tag auf seinem Kutter, selbst wenn er nicht hinausfuhr. Es gab immer jemanden hier, mit dem er reden konnte. Anders als in der Abgeschiedenheit seines Gehöftes.
Larsen ging auf die Treppe zum Anleger zu.
»Da bist du ja endlich!«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Die Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. Langsam drehte sich Larsen um. Sein Gesicht war starr vor Schrecken.
»Eine schöne Überraschung«, sagte der blasse junge Mann, der sich wie ein Schatten von der roten Hauswand gelöst hatte. »Du dachtest wohl, ich finde dich nicht?«
Larsen schluckte seine Angst herunter, trotzdem klang seine Stimme belegt. »Du! Ich habe nicht …«
»Dienstag war Zahltag«, fiel ihm der andere ins Wort. »Und jetzt steht schon das Wochenende vor der Tür. Ich will mein Geld.«
»Ich hatte Probleme. Ich brauch noch etwas Zeit.«
Der Blasse baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Zeit? Noch einmal eine Woche?«
Larsen nickte.
Die Faust traf ihn nur Millimeter unterhalb der Nase auf der Oberlippe. Trotz des lauten Klatschens hörte Larsen ein Knirschen aus seinem Mund. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Das Wasser schoss ihm in die Augen und fast gleichzeitig schmeckte er das Blut, das ihm über die Zunge rann. Dann schlug er die Hände vors Gesicht.
»Heute bezahlst du, Larsen!«, sagte der andere.
Larsen spuckte den abgebrochenen Teil seines Schneidezahnes in die Wiese. Vom Schmerz war er immer noch benommen.
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Der frostige November ging und ein nasskalter und trüber Dezember hielt Einzug. Dennoch wurden die Schaufenster der Läden von einem hellen Glanz erfasst, Nikoläuse und Weihnachtsmänner lösten die herbstlichen Drachendekorationen ab und das Jahr trieb unaufhaltsam auf das Weihnachtsfest zu.
Der Postbote trug wie jeden Werktag eine große, gelbe Kiste durch die Drehtür des gläsernen Bürohauses am Theodor-Tantzen-Platz. Heute etwas schneller als sonst, denn es goss in Strömen. Über das Wochenende hatte eine milde Brise die Temperaturen auf zwei Grad Plus ansteigen lassen. Glatteis und eine Serie von Verkehrsunfällen in der vergangenen Nacht waren die Folge gewesen. Nun spülte der Regen die grauen Schneehaufen durch die Straßen. Die Kanalisation wurde von den Wassermassen überfordert und überall verteilten sich riesige Lachen in den Asphalttälern der Stadt.
»Moin!«, rief ihm der Pförtner hinter seinem Tresen zu. »Sauwetter, was?«
Der Postbote nickte, eilte den dunklen Gang entlang und verschwand hinter einer Glastür mit der Aufschrift Poststelle.
»Guten Morgen«, grüßte die blonde junge Frau ihn freundlich. Ihre dunkelhaarige Kollegin saß hinter ihrem Schreibtisch und leerte einen feuchten Karton auf die Tischplatte.
»Weiß nicht, was an dem Morgen gut sein soll«, knurrte der Postbote. »Draußen ist die Hölle los. Überall kracht es. Auf der Hindenburgstraße ist ein Stau bis raus nach Wechloy. Ein Laster ist gegen drei geparkte Autos gerutscht. Ich musste fast eine Stunde warten.«
Die ältere Kollegin schaute auf die Wanduhr über der Tür. Es war kurz nach neun. »Stimmt, du bist spät dran.«
»Spät ist gar kein Ausdruck. Heute wird’s mindestens drei, bis ich überall durch bin. Dabei habe ich zu Hause noch so viel zu tun.« Der Postbote lächelte verschwörerisch. »Das Kinderzimmer ist immer noch nicht fertig.«
»Wann ist es denn so weit?«, fragte die Blonde.
»Ich hoffe, dass die beiden bis Mittwoch nach Hause dürfen.« Der Postbeamte nahm seine gelbe Kiste vom Tresen. »Ich freu mich so auf meinen Sohn, ich kann’s kaum erwarten.«
»Mal sehen, was du sagst, wenn dich der Kleine mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf schreit«, unkte sie.
»Na hör mal, der schreit nicht. Der geht nach mir und weiß, was sich gehört.«
»Ähhh … – was ist denn das für eine Schweinerei!« Die schwarzhaarige Kollegin sprang auf. Sie rieb sich die Hände und blickte voller Ekel auf den großen, grauen Umschlag, den sie auf den Schreibtisch geworfen hatte. Die grüne Schreibunterlage war von einem hellen Pulverfilm überzogen. Aus einem kleinen Spalt des Kuverts rieselten noch immer kleine Kristalle.
Der Postbote fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Tischplatte. Dann hob er ihn unter die Nase. »Das riecht irgendwie … chemisch.« Er schaute auf das Kuvert. Neben einem maschinengeschriebenen Adressatenaufkleber prangten drei Briefmarken. Ein Absenderfeld fehlte. Vorsichtig schob er den grauen Briefumschlag zu sich heran. Drei kleine blaue Delfine waren links oben neben der Falz zu erkennen. »Woher stammt das?«
Die Dunkelhaarige schaute ihn entgeistert an. »Ich habe das Kuvert heute Morgen aus unserem Hausbriefkasten geholt.«
»Das ist komisch«, sagte der Mann nachdenklich. »Es sind Briefmarken drauf, aber kein Poststempel. Also, von uns ist es nicht.« Der Brief war an den stellvertretenden Direktor der Bezirksregierung Doktor Thomas Esser gerichtet. Persönlich war unter dem Namen zu lesen.
»Sollen wir Esser anrufen?«, fragte die Blonde.
»Ich denke, ihr solltet besser die Polizei anrufen«, entgegnete der Postbote.
Betroffen schaute die dunkelhaarige Frau auf. »Du meinst, das könnte eine Bombe sein?«
Der Postbote zuckte mit den Schultern.
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Rike hielt sich mit aller Kraft an den Seilen fest, während ihr Schlauchboot in halsbrecherischer Fahrt über die Wellen schoss. Der große Walfänger blieb unbeeindruckt von der rauen See. Bald würden die grauschwarzen Körper wieder durch den tiefblauen Vorhang aus Wasser an die Oberfläche stoßen. Der Walfänger befand sich in Schussweite. Das zweite Schlauchboot hatte Position vor seinem Bug bezogen und versuchte den Steuermann zu ständigen Kursänderungen zu nötigen, damit der Kanonier an der Bugharpune keinen gezielten Schuss anbringen konnte.
Gestern hatten sie das japanische Walfangschiff südlich der Kerguelen-Inseln ausgemacht und die Verfolgung aufgenommen. Die Arctic Sunrise war ein ehemaliger Robbenfänger und eigens für den Zweck umgebaut, Walfänger südlich des 40. Breitengrades ausfindig und ihnen ihren Fang so schwer wie möglich zu machen. Die Japaner waren gestern Abend auf eine Gruppe Minkwale gestoßen, die westwärts auf die Südatlantische Schwelle zuhielten. Den ersten Abschussversuch heute Morgen hatten die Männer und Frauen an Bord der Schlauchboote noch verhindern können, aber der Walfänger hatte die gemächlich nach Westen schwimmende Gruppe Wale bald wieder eingeholt. Nun setzte er erneut zum Abschuss an und wieder riskierten die Umweltschützer in den wendigen Schlauchbooten ihr Leben.
Rike hatte beinahe zwei Wochen im Camp bei Bremen für diesen Einsatz geübt, bevor sie vor einer Woche in Perth an Bord der Arctic Sunrise gegangen war, doch dass es so hart werden würde, hatte sie nicht gedacht.
»Come on, closer!«, rief Bob, der aus Wellington stammte und schon zum achten Mal mit von der Partie war. Bob führte das Boot, das sich zwischen den Walfänger und die Tiere schieben sollte, falls die anderen den Japaner nicht zur Kursänderung zwingen konnten.
Jean, ein Belgier aus Gent, hielt mit beiden Händen das Ruder des 240 PS starken Außenbordmotors umklammert. Harry aus dem amerikanischen Newport und Rike stabilisierten das Boot. Sie hatten sich angeleint und versuchten, nicht über Bord zu fallen. Das alleine war schon schwierig genug. Plötzlich durchstießen direkt neben ihnen die grauen Körper der Minks die Oberfläche.
»Slow down … slow down!«
Eiskaltes Wasser spritzte in Rikes Gesicht. Jetzt war der Walfänger direkt hinter ihnen. Die aufgewirbelte Gischt nahm ihr zeitweise die Sicht. Dann ertönte ein Donnern. Ein Rauschen überlagerte den gedrosselten Motorenlärm, doch es war nicht das Rauschen der Wellen. Es steigerte sich zu einem immer höher werdenden Sirren, dann schoss der Pfeil an ihnen vorbei und bohrte sich mit einem lauten Klatschen in den Leib eines Tiers. Der Luftzug des Seiles klang wie ein hilfloser Aufschrei.
Rike schlug die Hände vors Gesicht. Die Schaumkronen der Wellen verfärbten sich rot.
»This crazy guy!«, fluchte Bob.
Im Todeskampf peitschte die mächtige Schwanzflosse des zehn Meter langen Tieres durch die Luft. Jean riss das Ruder herum und Bob fiel nach vorne. Rike erwischte ein Stück seiner Jacke. Bobs Oberkörper hing im eiskalten Wasser, doch Rike verhinderte, dass er über den glatten Wulst in die Fluten stürzte.
Jean drosselte den Motor und Harry hechtete zum Bug, um Rike und Bob zu helfen. Gemeinsam zogen sie den Neuseeländer zurück ins Boot. Er fluchte und schüttelte seine Faust, als der Walfänger nur wenige Meter entfernt an ihnen vorüberfuhr. Die Wale waren wieder abgetaucht. Alle, bis auf einen.
»Manchmal glaube ich, Larsen hat Recht«, murmelte Rike, während sie in einiger Entfernung zusahen, wie der Walfänger seinen mittlerweile leblosen Fang längsseits zog. »Es reicht nicht, sie abzudrängen. Versenkt müssten sie werden.«
»Was meinst du?«, fragte Jean mit französischem Akzent.
»Ach, nichts … Ich dachte gerade nur an einen Freund von mir«, antwortete Rike.
»Okay, there’s nothing more to do, let’s go back«, sagte Bob.
Mit feuchten Augen wandte sich Rike ab. Die Arctic Sunrise wartete auf sie.
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Dr. Thomas Esser, stellvertretender Direktor der Bezirksregierung Weser-Ems, war Landtagsabgeordneter der Grünen gewesen, bis er bei der letzten Wahl seinen Sitz verlor und an seinen Schreibtisch nach Oldenburg zurückkehren musste. Er hatte noch immer sein Parteibuch und war von den Programmen seiner Partei überzeugt. Vor allem lag ihm der Schutz der Küste und des Wattenmeers am Herzen. Nun stand er der Nationalparkverwaltung Wattenmeer in Wilhelmshaven vor. Vielleicht, so dachte er oft, war es ein Wink des Schicksals, dass er seinen Platz im Landtag hatte aufgeben müssen. Als verantwortlicher Leiter der Nationalparkverwaltung konnte er viel mehr für die Umwelt und seine Überzeugungen tun.
Obwohl es seit dem gestrigen Abend in Oldenburg regnete, war er wie jeden Tag mit seinem Fahrrad von Bürgerfelde zur Arbeit gefahren. Wenn es auch kalt und ungemütlich war, diesen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt ließ er sich nicht nehmen. Den Bus benutzte er nur, wenn die geschlossene Schneedecke das Radfahren nicht mehr zuließ.
Vor vielen Jahren, als er noch jung und ungebunden gewesen war, mit langen Haaren und mit grünem Parka, hatte er Stunden im Wind und im Regen zugebracht. In Camps, in wilden Lagern und Zelten. Vor Gorleben, an der Startbahn West bei Frankfurt oder im Hamburger Freihafen, er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, den Regierenden sein klares »Nein« zu ihren Entscheidungen entgegenzuschreien.
Vielleicht war er reifer geworden – oder vielleicht resultierte die Verlagerung seiner Aktivitäten aus einem längeren Gespräch mit seinem Vater, der ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er kein Geld mehr erhalten werde, wenn er sich nicht endlich selbst um seine Zukunft kümmerte. Natürlich hatte zunächst der Rebell in ihm gesiegt, schließlich gehörte sein Vater als erfolgreicher Zahnarzt dem Establishment an, das er damals zutiefst verachtete. Letztlich siegten die Einsicht, der Hunger und die Vernunft.
Er hatte Jura studiert – denn »Biologie hat keine Zukunft!«, hatte sein Vater getönt – und gelernt, seine Ideologien in demokratischer und konstruktiver Form zu vertreten. Er heiratete, tauschte den grünen Parka mit einem dunklen Anzug. Machte sein Praktikum am Amtsgericht in Oldenburg, knüpfte Kontakte und begann seine Karriere bei der Bezirksregierung. Und nach dem kurzen Ausflug in die Landespolitik hatte ihm nun der Bezirksdirektor die Aufsicht über die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven übertragen. Eine Aufgabe, die er mit Freude übernahm.
Sein Dienstsitz blieb in Oldenburg, doch jetzt hatte er endlich das Gefühl, in seine Vergangenheit zurückgekehrt zu sein. Er war seinen Überzeugungen und seinen Prinzipien wieder ganz nahe.
Doktor Thomas Esser fuhr mit seinem Rad über den freien Platz, vorbei am schmucklosen Tannenbaum mit den hellen Glühbirnen, der in aller Eile aufgestellt worden war, und wunderte sich, dass vor dem Haupteingang zwei Streifenwagen und ein grauer Audi standen. Was war hier passiert?
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»Da ist er ja endlich!« Horst Liebler zeigte auf den hageren Hünen, der die Halle durch die Glastür betrat und auf die Aufzüge zuging.
Kriminaloberrat Kirner wandte sich um. »Das ist Doktor Esser?«, fragte er den Verwaltungsbeamten.
Liebler nickte und hielt Esser auf. »Stell dir vor, was passiert ist! Sie haben eine Briefbombe in der Post gefunden. Wir mussten alle unseren Arbeitsplatz räumen, bis das Kuvert abtransportiert war. Alles war in heller Aufregung.«
»Guten Morgen, Herr Doktor Esser.« Kirner streckte dem Leiter der Nationalparkverwaltung seinen Dienstausweis entgegen. »Mein Name ist Kirner, ich bin vom Landeskriminalamt. Ist es möglich, dass wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
Mit dem Aufzug fuhren sie in den zweiten Stock, dort befand sich Essers Büro.
»Kann ich erfahren, was genau passiert ist?«, fragte Esser.
»Eine Mitarbeiterin Ihrer Poststelle hat in der Tagespost ein Kuvert entdeckt, aus dem ein helles, kristallines Pulver gerieselt ist«, erklärte Kirner, nachdem beide Platz genommen hatten. »Ihr kam das verdächtig vor, deshalb hat sie die Polizei verständigt. Tatsächlich handelt es sich bei dem Pulver um Kaliumchlorat, einen leicht entzündlichen Stoff, der schon bei geringsten Verunreinigungen oder Berührungen reagieren kann. Da es sich hier um eine staatliche Organisation handelt, wurden wir hinzugezogen. Unsere Spezialisten haben bestätigt, dass es sich um eine Briefbombe handelt. In einem innen liegenden zweiten Kuvert befindet sich offenbar eine weitere Substanz. Über eine kleine Knopfzelle, ein Blitzlicht ohne Abdeckung und eine elektrische Schaltung sollte das Päckchen gezündet werden. Ich hoffe, dass wir das Paket entschärfen können und nicht sprengen müssen. Dann gibt es vielleicht einige Spuren, die uns weiterhelfen.«
Esser sank sichtlich erschüttert in seinem Stuhl zurück. »Wer sollte die Bombe öffnen?«
»Der Brief war ausdrücklich an Sie persönlich adressiert.«
Aus Essers Gesicht wich allmählich die Farbe und machte einem Grauton Platz. »Ich … wieso ich …?«
»Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen?«
Esser schüttelte den Kopf. »Was wäre passiert, wenn …«
»… wenn Sie den Umschlag geöffnet hätten?«, fiel ihm Kirner ins Wort. »Ersten Schätzungen nach dürften sich etwa fünfzig Gramm Sprengstoff im Inneren des zweiten Kuverts befunden haben. Das hätte eine ordentliche Explosion gegeben.«
Esser schluckte. »Ich glaube, mir wird schlecht.« Er erhob sich und ging an einen Aktenschrank, öffnete die untere Schranktür und holte eine Flasche Cognac hervor. Er schenkte ein Glas voll und leerte es in einem Zug.
»Haben Sie Feinde?«
»Natürlich macht man sich Feinde, wenn man einen solchen Posten ausfüllt«, erklärte Esser. »Fischer, die gerne in manchen Schutzzonen fischen würden, Umweltfanatiker, denen unsere Verordnungen nicht weit genug gehen. Es gibt da eine große Zahl von Leuten, denen man hier und da auf die Füße treten muss. Aber deswegen eine Briefbombe?«
»Gab es in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches, wurden Sie bedroht?«
Esser öffnete eine Schreibtischschublade, nahm ein Bündel Briefe heraus und warf sie auf den Tisch. »Wer etwas tut, schafft sich automatisch Gegner. Nur wenn Sie still sind und sich aus allem heraushalten, dann passiert so was nicht.«
Kirner starrte wie gebannt auf ein großes, graues Kuvert mit drei kleinen, blauen Delfinen in der linken oberen Ecke. »Woher haben Sie das?«
»Der kam vor drei Wochen mit der Post.« Esser wollte nach dem Umschlag greifen, doch Kirner sprang auf und packte ihn an der Hand.
»Von wem?«
»So eine Umweltschützerin. Darin befand sich eine lange Studie, über die negativen Auswirkungen des zunehmenden Tourismus auf die Flora und Fauna des Wattenmeers. Wieso ist das so wichtig?«
Kirner griff in seine Jackentasche und holte ein Polaroidfoto heraus, das die Briefbombe mit den gleichen kleinen Delfinen auf dem Kuvert zeigte. Kommentarlos reichte er es Esser.
Das Haus schwieg. Im Flur, im Wohnzimmer, in den Zimmern im Obergeschoss und vor allem im Kinderzimmer, überall nur lastende Stille. Trevisan saß in seinem Ohrensessel und hielt die Augen geschlossen. Sie waren feucht. Alles um ihn herum erschien sinnlos, dem Tod näher als dem Leben. Grit hatte sich von ihm getrennt. Sie hatte Paula mitgenommen. Paula, die ihm alles bedeutete. Vor einem Monat war sie elf Jahre alt geworden. Er hatte sie angerufen und danach hatte er sich sinnlos betrunken. Sie fehlte ihm. Er fühlte sich einsam und verlassen.
Der Heilige Abend war angebrochen, doch in diesem Jahr zog kein Bratenduft durch den Flur, kein Weihnachtsbaum schmückte das Wohnzimmer, kein Kinderlachen erfüllte die Stille. Niemand fragte ungeduldig, wann es denn endlich die Geschenke gäbe.
Trevisan öffnete die Augen und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Draußen fielen dicke, weiße Flocken und bedeckten die noch unvollendete Terrasse. Er griff zu seinem Weinglas und leerte es in einem Zug. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit und wollten sie festhalten, das Lächeln seiner Tochter, die liebevollen Umarmungen, doch nur die Kälte eines leeren Hauses blieb. Grit hatte die Koffer gepackt und war einfach weggefahren. Weg aus Sande, zurück nach Kiel. Sie hatte sich bei einer Freundin eingenistet. Vorerst, so lange, bis sie etwas Passendes gefunden hatte. Die Endgültigkeit sprach aus diesen Worten. Hart und unnachgiebig. Dabei hatte er sich bemüht, hatte ihre Launen über sich ergehen lassen, hatte still gehalten, wo er am liebsten widersprochen hätte.
An diesen verfluchten Feiertagen, wenn er sich nicht mit Arbeit ablenken konnte, war seine Sehnsucht unerträglich. Er schaute auf den Tisch. Dort lag das Telefon, in greifbarer Nähe, damit er keine Sekunde versäumte, falls Paula doch noch anrufen würde. Doch der Apparat schwieg ihn eisern an.
Das Schicksal war in den letzten Wochen hart mit Martin Trevisan ins Gericht gegangen. Kurz nach Grits Auszug hatte er seinen Vater beerdigen müssen. Ein Schlaganfall. Grit war noch nicht einmal zur Beerdigung gekommen. Als er sie am Telefon gebeten hatte, wenigstens Paula zu schicken, hatte sie geantwortet: »Du kannst sie ja abholen und am Abend wieder vorbeibringen.« Das hatte ihn schwer getroffen. Wie hätte er das bewerkstelligen sollen? Schließlich lagen alle Vorbereitungen zur Bestattung seines Vaters bei ihm. Niemand aus der Familie konnte ihm dabei helfen. Doch er hatte nichts gesagt. Er hatte einfach aufgelegt.
Trevisan goss sein Glas voll. Der Wein machte ihn müde und würde helfen, auch diesen Tag zu überstehen. Er hob seinen schweren Kopf. Es war mittlerweile zehn Uhr. Jetzt würde ihn Paula bestimmt nicht mehr anrufen. Er dachte daran, was sie wohl gerade tat, und ob sie sich über das Barbie-Puppenhaus, das er ihr geschickt hatte, auch wirklich freute. Falls Grit es überhaupt unter den Weihnachtsbaum gestellt hatte.
Seine Gedanken zerflossen in einer dumpfen und trägen Dunkelheit. Er leerte das Glas, erhob sich und schwankte nach oben. Das schnurlose Telefon hielt er fest umklammert in seiner Hand.
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