Verschollen in Ostfriesland - Ulrich Hefner - E-Book

Verschollen in Ostfriesland E-Book

Ulrich Hefner

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Beschreibung

Enno Ollmert, Bürgermeister von Diekenhörn, ist eine schillernde Persönlichkeit - und spurlos verschwunden. Auf seiner verlassenen Jacht vor Baltrum deutet alles auf seinen Tod hin. Ein Unfall? Oder hat ihm sein unbändiger Machthunger das Leben gekostet? Hauptkommissar Trevisan wird herangezogen, um die Umstände von Ollmerts Verschwinden zu klären. Doch schon bald wird ihm klar, dass alles anders ist, als es scheint. Trevisan begibt sich auf die unerbittliche Jagd nach einem Phantom, aber die Zeit wird langsam knapp …

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Ulrich Hefner

Verschollen in Ostfriesland

Kriminalroman

Zum Buch

Jagd nach dem Phantom Der Bürgermeister von Diekenhörn, Enno Ollmert, ist spurlos verschwunden. Bis weit über die Grenzen der Stadt hinaus, war er vor allem für seine Unersättlichkeit und seinen unstillbaren Hunger nach Macht und Einfluss bekannt. Dabei missachtete er alle Regeln und machte sich so tagtäglich neue Feinde. Als seine Jacht führerlos vor Baltrum aufgebracht wird – eine Blutlache an Bord – sieht es zunächst so aus, als wäre er auf seinem Segeltörn einem Unfall zum Opfer gefallen. Doch Hauptkommissar Trevisan ist skeptisch. Zu viele Ungereimtheiten, zu viele offene Fragen und dazu ein Opfer, dem alles zuzutrauen ist –sogar das Arrangement des eigenen Todes. Trevisan muss all sein Können und sein ermittlerisches Gespür aufbieten, um Licht ins Dunkel zu bringen. Doch wird es ihm gelingen Enno Ollmert noch lebend aufzufinden oder ist er schon längst tot? Die Zeit drängt, denn mit jedem Tag, der vergeht, verblasst der Schatten des Mannes immer mehr, bis am Ende nichts mehr von ihm übrig bleibt.

Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er lebt in Lauda-Königshofen, im beschaulichen Taubertal, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor sowie Journalist. Der Autor ist Mitglied bei den Polizei-Poeten und im Deutschen Presseverband. Ulrich Hefners Begeisterung für die Nordsee stammt noch aus Kindheitstagen, als er Geschichten um die Hanse und Störtebeker verschlungen hat. Heute zieht es ihn immer wieder selbst an die Küste, wo nun auch seine eigenen Helden wirken. „Verschollen in Ostfriesland“ ist der achte Band seiner Krimiserie um den Wilhelmshavener Ermittler Martin Trevisan. ehr über den Autor finden Sie unter: www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © xenias / photocase.de

ISBN 978-3-8392-7006-6

Gedicht

In den Tiefen des Ozeans,

verschollen,

doch eines Tages kommt das dunkle Geheimnis

aus der Tiefe wieder empor,

und aus

Vermutung wird Gewissheit,

aus

Lüge wird Wahrheit,

und plötzlich scheint die gesamte Welt

Kopf zu stehen.

 

 

Prolog

Cuxhavener Küstenheiden, Mai 2019

Er lief wie ein Uhrwerk, präzise, gleichmäßig und genau im richtigen Tempo. Wenn man einmal über den Punkt hinaus war, wenn man das Gehirn und all seine Gedanken ausschalten konnte und die gleichförmige Bewegung die Herrschaft über Geist und Körper übernommen hatte, dann war alles ganz einfach. Der Fuß folgte dem Fuß, die Arme schwangen im Gleichklang, und die Kraft und die Energie befeuerten die Sehnen, Gelenke und die Muskulatur – und das Dasein folgte einem einzigen Sinn, der Bewegung. Er kannte diesen Zustand, er trainierte ihn, so oft er konnte, denn Marathon laufen war seine Leidenschaft. Jeden Samstag folgte er dem gleichen Weg. Von Altenwalde hinüber nach Arensch, hinunter nach Oxstedt und dann querfeldein zurück, um noch einmal die gleiche Strecke zu bewältigen. Zwei Mal folgte er den Wegen durch die Wiesen und Wälder, bevor er sein geplantes Pensum hinter sich gebracht hatte. 42 Kilometer und knapp 200 Meter bis zum Ziel. Die Strecke war genau abgemessen, er wusste nicht mehr, wie oft er sie schon hinter sich gebracht hatte, bei Sonnenschein, bei Regen, im Wind und selbst bei Schnee. Heute war gutes Wetter, ideales Wetter sogar, ein leichter, kühler Wind, die Temperaturen nicht zu hoch, beinahe ideale Wettkampfbedingungen. Auf so einen Tag hoffte er auch, wenn in zwei Wochen, an einem Samstag, der Wangerlandmarathon bevorstand, von Wilhelmshaven an die Küste und über Jever zurück. Schließlich hatte er einen Titel zu verteidigen. In der Altersklasse über 50 war er vor zwei Jahren als Sieger durch das Ziel gelaufen. Mit einer Zeit von drei Stunden und 22 Minuten hatte er alle hinter sich gelassen und mit einem Vorsprung von über vier Minuten auf den Zweitplatzierten gewonnen. Er war bekannt im Umland in den Kreisen der Läufergemeinde. Der Wangerlandmarathon war nicht der einzige Event, an dem er in den letzten Jahren teilgenommen hatte. Sogar in München, Paris und New York war er schon gelaufen.

Seit nunmehr 20 Jahren widmete er sich diesem Sport, nachdem er dem Tennis den Rücken gekehrt hatte.

Laufen war gut, Laufen war gesund und hielt ihn in Form. Bei einer Größe von beinahe 1,80 Meter und einem Gewicht von 60 Kilo mochte er wohl ein wenig unterernährt wirken, doch das täuschte, denn sein Körper bestand neben den üblichen Zutaten aus reiner Muskulatur, Fett suchte man vergebens.

Mathias Wegener war ein Läufer aus Leidenschaft. Das Laufen war ein ausgezeichneter Gegenpol zu seiner Arbeit, die er vorwiegend im Büro und im Labor verrichtete. Nur hin und wieder war er draußen im Außendienst, und dann meist nur kurz, um ein paar Proben zu entnehmen oder einer Bohrung beizuwohnen. Mathias Wegener arbeitete beim Institut »Flachser und Kollegen« in Cuxhaven und war Geologe. An seiner Tätigkeit war nichts Abenteuerliches, denn er arbeitete im Bereich der Bodenanalysen für die Baubranche und erstellte vorwiegend Gutachten für Großbaustellen und Bauprojekte. Das Laufen hielt ihn fit.

Er war wie jeden Samstag gegen 9 Uhr an seinem Haus im Meisenweg in Altenwalde gestartet und am Ende der Siedlung nach rechts in den Wald abgebogen. Wie immer waren ihm auf dem ersten Teil der Strecke etliche Jogger begegnet. Erst, als er nach dem Wald die kleine Schonung hinter sich gelassen und die Cuxhavener Küstenweide durchquert hatte, nahm die Zahl an Joggern und Spaziergängern ab. Schließlich trabte er ganz alleine über Wald und Flur, und seine Gedanken verschwammen, bis sie sich schließlich im Nichts auflösten. Am Waldparkplatz überquerte er die Landstraße K7, die wie jeden Samstag um diese Zeit nur wenig befahren war. In Arensch bog er links ab und folgte dem Feldweg, der hinter dem Ferienhotel »Dünenhof« nach Süden bis Oxstedt führte. Die Zahl der Spaziergänger und Jogger nahm zu. Er durchquerte den Ort und lief ein kurzes Stück auf Asphalt am Möhlendiek entlang, bevor ein Waldweg nach links abzweigte, der wieder nach Norden in Richtung Altenwalde führte. Er befand sich auf der zweiten Runde und fühlte sich noch immer kräftig. Ab und zu warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, mit der er seine Laufzeit überwachte und lächelte. Für die letzten acht Kilometer lag er gut in der Zeit und würde wieder einmal unter drei Stunden und 30 Minuten das Ziel in Altenwalde erreichen.

Er hatte den Nordholzer Weg hinter sich gelassen und befand sich auf dem Möhlendiek. Sein gelbes T-Shirt war von Schweiß durchnässt, und die zweite Flasche Wasser, die er am Gürtel bei sich trug, war zur Hälfte geleert, doch hoffte er, dass die verbliebene Menge für die letzten Kilometer ausreichen würde. Als der Gehweg endete und er den Ort verließ, lief er am rechten Straßenrand. Es herrschte nur wenig Verkehr, und der Waldweg, dem er im Anschluss folgen musste, lag gerade mal 300 Meter entfernt. Den Wagen hinter sich hörte er erst, als der Motor laut aufheulte. Seine Konzentration ruhte fest in seinem Körper. Die Straße war breit genug, deshalb hielt er die Augen nach vorne gerichtet. Erst im letzten Moment, als er spürte, dass etwas nicht stimmte, wandte er den Kopf. Er nahm etwas Rotes wahr, doch bevor er registrierte, dass der Wagen direkt auf ihn zuschoss, wurde er hoch in die Luft geschleudert. Alles in ihm war ein einziger Schmerz. Er wirbelte durch die Luft. Als er hart auf dem Boden landete, schwanden ihm die Sinne. Am Straßenrand blieb er liegen, während der rote Wagen im hohen Tempo in Richtung der Bundesstraße davonraste.

*

47 Minuten, nachdem Mathias Wegener angefahren worden war, wurde er mit einem Rettungshubschrauber nach Cuxhaven in die Klinik gebracht. Er lebte, doch befand er sich in akuter Lebensgefahr. Niemand wusste, ob er die Nacht durchstehen würde.

Die Polizei fahndete mit Hochdruck nach dem Unfallwagen, einem roten Nissan Juke, von dem allerlei Teile an der Unfallstelle zurückgeblieben waren und von dem es eine Beschreibung einer Zeugin gab, die mit ihrem Kind vom Spielplatz im Nordholzer Weg gekommen war.

Eine Streife fand den Wagen am späten Nachmittag in einem Waldstück bei Sievern, und auch den Fahrer fand sie vor, der volltrunken hinter dem Steuer kauerte und seinen Rausch ausschlief. Zwei Flaschen Wodka lagen im Fond. Sie nahmen den Fahrer namens Anatol Rogoff fest und sperrten ihn nach einer Blutprobe in Cuxhaven in eine Zelle, denn der Wagen war am frühen Morgen vom Parkplatz einer Baufirma gestohlen worden.

Der Richter ordnete Untersuchungshaft an. Anatol Rogoff war nicht das erste Mal betrunken und ohne Führerschein mit einem gestohlenen Wagen unterwegs gewesen. Und auch, wenn er sich mit seinen 2,89 Promille, wie sich später herausstellte, an nichts mehr erinnern konnte, so sprach alles gegen ihn. Anatol Rogoff war der Täter und, sollte Mathias Wegener, der im Koma lag, an den Folgen des Unfalls sterben, so würde den polizeibekannten Russen eine lange Haftstrafe erwarten.

Norderland

 

1

Kriminalkommissariat Wilhelmshaven, Mozart­straße

Trevisan hob sein Glas in die Höhe und prostete Eike zu. »Auf deinen Hauptkommissar«, sagte er und trank einen kleinen Schluck.

Anlässlich der Beförderung von Eike Brun zum Hauptkommissar hatten sich Trevisan und seine Crew im Soko-Raum der Dienststelle zu einer kleinen Feierstunde versammelt. Es gab Sekt und Häppchen. Als Eike mit einem Löffel gegen das Glas schlug, verstummte das Lachen und alle Augen richteten sich auf den jungen Mann, der sichtlich gerührt war.

»Ich danke euch, liebe Kolleginnen und Kollegen«, sagte er mit hölzerner Stimme. »Ich bin nicht besonders gut im Redenhalten, aber ich bin stolz darauf, dieser Crew anzugehören. Mit Trevisan als unseren Kapitän und Monika, quasi als Steuerfrau, im Rücken und mit euch an der Seite sind wir unschlagbar. Ich hoffe, dass wir auch weiterhin so gut zusammenarbeiten, und möchte an dieser Stelle sagen, dass es Lentje oder Lisa ebenso verdient gehabt hätten wie ich. Ich hoffe, dass sich an unserer Zusammenarbeit nichts ändert, nur weil es zufällig mich getroffen hat.«

Lentje Kaplani winkte ab. »Mir kommen gleich die Tränen«, scherzte sie. »Die paar Kröten, die du jetzt mehr kriegst als wir, machen den Kohl nicht fett. Ist noch Sekt da?«

Alle lachten und prosteten sich zu.

Draußen schien die Julisonne, keine Wolke trübte den Himmel. Es war warm geworden im Norden, und Trevisan schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach 16 Uhr am späten Nachmittag. In 20 Minuten war Feierabend, und er musste noch einen Blumenstrauß besorgen, einen großen Blumenstrauß, denn Paula hatte in der Nacht entbunden und einen strammen Sohn zur Welt gebracht.

Während die anderen miteinander scherzten, gesellte sich Monika an Trevisans Seite. »Wie geht es der jungen Mutter und dem neuen Erdenbürger?«, fragte sie.

»Bei meinem Anruf heute Mittag ging es beiden gut«, entgegnete Trevisan. »Der Kleine schläft und Peer ist bei ihr. Ich fahre später zu ihnen.«

»Wie fühlt es sich an, Opa zu sein?«

Trevisan lächelte. »Ich weiß es nicht, ist wohl noch zu früh, um was zu sagen. Zuerst will ich ihn mal in den Armen halten.«

Monika Sander nickte. »Es ist schon komisch: An den Kindern merkt man, dass man alt wird. Es ist, als hätte ich meine Kinder vor Kurzem in meinen Armen gehalten – und jetzt ist das Haus leer. Du wirst Opa, und ich bin schon Oma, nur bekomme ich davon nichts mit. Meine Enkel wohnen 400 Kilometer weit entfernt, und die Besuche halten sich in Grenzen. Ostern vielleicht, an Weihnachten, und das war es auch schon. Da hast du Glück, du siehst deinen Enkelsohn vor deiner Nase aufwachsen. Hat der Kleine schon einen Namen?«

Trevisan wiegte mit dem Kopf hin und her. »Er soll Ayk heißen.«

»Mike?«

»Nein, Ayk, A, Y, K«, buchstabierte Trevisan.

»Ist das dänisch?«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Ayk ist ein alter friesischer Name, Paula hat ihn ausgegraben.«

»Das ist toll, Ayk Trevisan, ein Stammhalter.«

Trevisan lächelte. »Ja, ich bin nicht unglücklich darüber, dass Paula bei ihrer Trauung den Mädchennamen beibehalten hat. Obwohl Stenmark auch nicht schlecht klingt. Ich hoffe nur, dass sie glücklich wird, nach allem, was sie durchmachen musste.«

»Hey, ihr dort drüben!«, rief Eike. »Steht in der Ecke und blast Trübsal, und das bei meiner Beförderung.«

Trevisan und Monika nickten entschuldigend. »Keine Angst, wir freuen uns mit dir, wir schwelgen nur ein klein wenig in Erinnerungen.«

»Wann willst du es ihnen sagen?«, flüsterte Monika, denn außer ihr wusste niemand darüber Bescheid, dass Trevisan Opa geworden war.

»Ich möchte ihn erst einmal in den Händen halten«, entgegnete Trevisan, bevor sie ihre Ecke verließen und sich zu den anderen gesellten. Eike schenkte Trevisans Glas erneut voll. Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Thorke Oselich betrat den Raum.

»Schön, es sind ja noch alle da«, sagte sie.

»Kommt wohl auch zum Gratulieren«, bemerkte Lentje leise. Eike schüttelte den Kopf. »Hat sie doch heute früh schon, als ich die Urkunde bekam.«

»Ich muss einen Augenblick um Ruhe bitten«, ergriff Thorke Oselich erneut das Wort. Sie wartete, bis im Raum Ruhe eingekehrt war.

»Mich hat soeben der Polizeipräsident angerufen«, fuhr sie fort. »Bürgermeister Enno Ollmert aus Diekenhörn wird seit drei Tagen vermisst. Der Präsident will, dass wir den Fall übernehmen.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Wieso wir? Dafür ist doch die Vermisstenstelle zuständig.«

»Jetzt nicht mehr«, entgegnete Thorke Oselich. »Die Küstenwache hat heute vor Baltrum seine Jacht aufgebracht. Führerlos ist sie dort herumgetrieben. Es ist eine Menge Blut an Bord.«

2

Polizeikommissariat Wittmund, Kriminalermittlungsdienst

Trevisan hatte den Besuch bei seiner Tochter verschieben müssen. Zusammen mit Monika Sander war er nach Wittmund zum Polizeikommissariat gefahren, um sich mit Hauptkommissar Janson zu treffen, bei dem die bisherige Leitung der Fahndung nach dem verschollenen Bürgermeister von Diekenhörn gelegen hatte.

Unterwegs unterhielten sie sich über den verschwundenen Bürgermeister namens Enno Ollmert. Trevisan war der Mann gänzlich unbekannt, doch Monika hatte bereits von ihm gehört. Sie wusste, dass er vor seinem Amtsantritt in Diekenhörn beim NDR gearbeitet und einige Jahre lang eine Nachtsendung im Dritten Programm zusammen mit einer Kollegin moderiert hatte, die später Nachrichtensprecherin bei »NDR-Aktuell« geworden war. Ansonsten, so hieß es, wäre er als Tausendsassa und Frauenheld bekannt, der selbst vor Affären mit verheirateten Frauen nicht zurückschreckte.

»Dann kennen wir vielleicht den Grund seines Verschwindens und müssen nur noch den gehörnten Ehemann finden«, scherzte Trevisan, als sie den Dienstwagen auf dem Parkplatz der Wittmunder Polizeidienststelle parkten.

Hauptkommissar Janson war klein, neigte zu Übergewicht und trug ein weißes Hemd mit Schweißrändern am Kragen. Er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, als er die Ermittler aus Wilhelmshaven in sein Büro führte.

»Haben Sie schon eine Idee, weswegen er verschwunden ist?«, fragte Trevisan, nachdem ihnen Janson Platz angeboten hatte.

Janson zuckte mit der Schulter. »Er hatte eine Woche Urlaub genommen und sollte am Montag wieder seinen Dienst antreten«, berichtete Janson. »Er hatte ein paar wichtige Termine an diesem Tag. Seine Sekretärin rief mehrfach bei ihm an, Festnetz und Handy, aber kein Erfolg. Am Mittag schickte sie den Büroboten zum Wohnhaus des Bürgermeisters, doch der stand vor verschlossener Tür. Am Abend erstatteten sie Anzeige bei den Kollegen der Streife. Bis heute Mittag gingen wir davon aus, dass er womöglich seinen Urlaub etwas ausgedehnt hat, sein Handy ist seit Sonntag vor einer Woche vom Netz. Er geht gerne zum Windsurfen an den Gardasee. Wir dachten, dass er dort möglicherweise einen Unfall hatte und im Krankenhaus liegt, aber sein Boot treibt vor Baltrum, und darauf gibt es eine Menge Blut. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass er vor Baltrum über Bord gegangen ist.«

»Unfall?«

»Zumindest war niemand an Bord, als man die Jacht in der Nähe des Bergumer Wracks in der Nordsee treibend fand.«

Trevisan warf Monika einen kurzen Blick zu.

»Ehrlich, Trevisan«, fuhr Janson fort, »Ich bin froh, dass ihr aus Wilhelmshaven die Sache übernehmt, mein Telefon stand den ganzen Tag nicht still. Ollmert ist in der Gegend eine bekannte Persönlichkeit. Noch dazu stehen bald Wahlen an, ihr könnt euch sicher vorstellen, dass die Presse neugierig ist.«

Trevisan nickte. »Was war oder was ist er denn für ein Typ?«

Janson erhob sich, ging zum Regalschrank und zog einen Ordner aus dem Fach. Er schlug ihn auf und reichte ihn Trevisan. Auf der ersten Seite prangte ein großformatiges Pressefoto des Bürgermeisters. »Auf den ersten Blick könnte man meinen, das ist Johnny Depp, dieser Schauspieler aus diesen Piratenfilmen. Er ist ledig, lebt alleine in einem angemieteten Haus in Basdorf, fährt einen Porsche, hat eine Jacht in Neßmersiel und offenbar jede Menge Frauengeschichten am Laufen. Er war Fernsehmoderator, bevor er im ersten Wahlgang Bürgermeister wurde. Das ist seine erste Amtszeit, und es ist nicht sicher, ob es eine zweite geben wird.«

»Kam er damals bei den Leuten so gut an, dass er seine Gegenkandidaten gleich im ersten Wahlgang ausstach?«, fragte Monika.

Janson zuckte mit der Schulter und nahm an seinem Schreibtisch Platz. »Sein Vorgänger war alt und trat nicht mehr an. Der andere Kandidat war eher unbekannt, Ollmert kam vom Fernsehen, und reden kann er, so wie alle Politiker. Große Versprechen und am Ende, nach der Wahl, nur heiße Luft.«

»Dann war er wohl nicht sehr beliebt?«, mutmaßte Trevisan.

Janson lächelte. »In der Damenwelt und bei Empfängen schon, aber wer gute Politik von ihm erwartete, der wurde wohl enttäuscht. Gerüchten nach wäre er wohl nicht mehr wiedergewählt worden, aber wie gesagt, die Wahlen sind erst im nächsten Jahr.«

Trevisan blätterte den Ordner durch. »Ah, im Haus ward ihr schon«, stellte er anhand der Fotos auf den weiteren Seiten fest.

»Ja, zur Nachschau«, bestätigte Janson. »Richtig durchsucht haben wir es nicht, gab ja keinen Grund dafür. Er war nicht da und hing auch nicht irgendwo im Gebälk. Einbruchspuren gab es nicht, in der Wohnung war alles in Ordnung. Nur im Kleiderschrank waren ein paar leere Fächer, was dafür sprach, dass er tatsächlich im Urlaub ist. Sein Porsche steht verschlossen in der Garage.«

Trevisan räusperte sich. »Okay, das Boot wird von der Wasserschutzpolizei nach Wilhelmshaven geschleppt. Die Spurensicherung aus Oldenburg ist auf der Anfahrt, die sollen sich danach das Haus vornehmen. Gibt es denn jemanden in seinem Bekanntenkreis, der mehr weiß, mit dem er vielleicht darüber gesprochen hat, was er in seinem Urlaub unternimmt?«

Janson zuckte mit der Schulter. »Seine Sekretärin, Frau Haferkamp, mit der haben wir gesprochen, ansonsten scheint er keine engeren Freunde zu haben. Die Nachbarn konnten auch nicht viel sagen.«

»Was heißt nicht viel?«

»Eine Nachbarin hat ihn am Samstag vor einer Woche das letzte Mal in seinem Garten gesehen. Er winkte ihr zu, ehe er ins Haus ging. Seither ist er verschwunden.«

»Da war er alleine?«

»Ja.«

Monika kratzte sich an der Stirn. »Man ging davon aus, dass er in den Urlaub gefahren ist, an den Gardasee oder wohin auch immer, aber sein Wagen steht verschlossen in der Garage. Und heute findet man seine Jacht, ich meine, habt ihr die Jacht nicht überprüft?«

Janson zuckte mit der Schulter. »Wir wussten nichts von einer Jacht«, sagte er zu seiner Entschuldigung.

Trevisan runzelte die Stirn. »Wie ist er nach Neßmersiel gekommen, wie viele Kilometer sind das von seinem Wohnhaus?«

Janson zuckte mit der Schulter. »Drei, vier vielleicht.«

»Die ist er wohl kaum zu Fuß gegangen«, erwiderte Monika Sander. »Dazu noch mit Koffern im Schlepptau.«

Janson faltete die Hände vor seiner Brust. »Vielleicht mit dem Rad oder mit dem Taxi.«

»Wurde das überprüft?«

»Die Taxis ja, ob er ein Fahrrad besaß, wissen wir nicht. Eine Taxifahrt gab es aber nicht. Zumindest nicht von seiner Adresse aus.«

Trevisan blätterte weiter im Ordner und stieß auf einen Brief, der in einer Klarsichthülle steckte.

Wenn du deine Finger nicht bei dir halten kannst, dann wirst du bald merken, wie gefährlich es sein kann, sich an fremden Früchten zu vergreifen.

»Was ist das?«, fragte Trevisan und zeigte auf das Blatt, das aus einem Drucker stammte.

»Ein Drohbrief, da sind noch zwei weitere. Das sind die Kopien, die Originale sind auf dem Weg zur Spurensicherung nach Oldenburg.«

Trevisan blätterte weiter.

Ich habe dich gewarnt, das nächste Mal bist du tot!

Der zweite Brief glich dem ersten und stammte augenscheinlich aus demselben Drucker.

Du hast deine Lektion nicht gelernt, jetzt reicht es, sieh dich besser um, wenn du in der Nacht nach Hause gehst.

Auch dieses Schriftbild stimmte mit den anderen überein.

»Woher habt ihr die?«, fragte Trevisan.

»Frau Haferkamp gab sie uns, sie kamen in den letzten drei Wochen und waren in einem neutralen Kuvert ohne Briefmarke. Leider wurden die Umschläge bereits weggeworfen, es sind nur noch die Briefe da.«

Trevisan schüttelte den Kopf. »Hier stimmt etwas nicht, das passt alles nicht zusammen. Drohbriefe, Urlaub am Gardasee, fehlende Klamotten aus dem Kleiderschrank und die Jacht vor Baltrum. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Janson lächelte. »So ging es mir auch, deshalb bin ich auch nicht beleidigt, dass ich den Fall vom Tisch habe und ihr euch damit herumschlagen müsst.«

»Können wir den Ordner mitnehmen?«

Janson nickte. »Meinen Bericht mit den bisherigen Erkenntnissen schicke ich euch zu, aber das ist auch nicht mehr, als wir gerade besprochen haben. Ich kann nur sagen, an Feinden, die ihm an den Kragen wollten, mangelt es nicht. Und er hat offenbar jeden Tag fleißig daran gearbeitet, dass die Anzahl der Leute, die ihm die Pest an den Hals wünschen, größer wurde. Auch im Rathaus lief nicht alles rund. Am besten wird es sein, ihr macht euch selbst ein Bild. Redet doch mal mit der Sekretärin, sie weiß eine ganze Menge über Enno Ollmert.«

Trevisan schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, ehe er sich erhob. »Gut, dann machen wir uns an die Arbeit. Vielen Dank, Kollege.«

Als Trevisan neben Monika im Wagen auf dem Beifahrersitz Platz nahm, war seine Miene eher finster.

»Was grübelst du?«, fragte sie.

Trevisan zeigte auf den Ordner, den er im Fußraum abgelegt hatte. »Dieser Fall gefällt mir nicht. Janson ist gottfroh, dass er die Sache vom Tisch hat. Viel hat er nicht herausgefunden. Ich fürchte, wir müssen ganz von vorne beginnen.«

»Okay, wo fangen wir an?«

»Mit der Sekretärin.«

»Dann gib mir die Adresse, damit ich weiß, wohin ich fahren muss.«

3

Rathaus Diekenhörn, Störtebeker-Platz

Das Rathaus von Diekenhörn verbarg sich hinter zwei großen Platanen, die auf einem begrünten Vorplatz standen. Nur der hohe Turm inmitten des roten, modernen und dreistöckigen Backsteinbaus mit den großflächigen Glasfronten und der weit sichtbaren Turmuhr lugte zwischen den Bäumen hervor. Auf dem Vorplatz flatterten die Fahnen von Europa und Deutschland, gegenüber die Fahne Niedersachsens und die Fahne der Stadt, zwei gekreuzte Schwerter und darunter der friesische Adler. Die Fahne war in Schwarz und Weiß gehalten.

Das Rathaus stand in Deichhagen, dem größten Teilort der Samtgemeinde. Diekenhörn selbst gab es als einzelnen Ort nicht. So etwas kam hier oben im Norden öfter vor. 

Rund um den Platz lagen die Geschäfte, darunter ein kleiner Einkaufsmarkt, eine Apotheke, zwei Modegeschäfte und ein Schuhladen, daneben gab es zwei Cafés, deren Außenbestuhlung nur durch die unterschiedlichen Farben der Sonnenschirme zu unterscheiden war. Die Cafés waren im Begriff zu schließen, und der Parkplatz war nahezu leer. Die Sonne stand bereits tief im Westen, dennoch war es recht warm.

Monika und Trevisan betraten das Rathaus über die grauen Gehwegpflastersteine und das große Portal mit der Drehtür. Im Foyer war es überraschenderweise angenehm kühl. Hinter einem Empfangspult, an dem allerlei Prospekte und Kartenmaterial aus der Umgebung auslagen, saß ein älterer Herr im schwarzen Sakko und mit ergrauten Haaren.

»Zu Frau Haferkamp«, sagte Trevisan zu dem Mann und nickte ihm freundlich zu.

Der Mann zeigte hinter sich zur Wand, an der eine große weiße Uhr mit dem Emblem der Seenotrettung aufgehängt war. »Wir schließen in fünf Minuten.«

Trevisan fasste in die Hosentasche und zog seine Kripomarke hervor. »Ich denke, Frau Haferkamp hat sicherlich noch für uns Zeit.«

Der bärbeißige Pförtner griff zum Telefon.

»Da sind ein Herr und eine Dame von der Polizei«, sagte er.

Es dauerte ein klein wenig, bis er nickte. »Ja, zu Ihnen.«

Nachdem der Pförtner aufgelegt hatte, wies er zur Treppe. »Dritter Stock, Zimmer 303, nach der Treppe rechts. Sie können aber auch den Fahrstuhl nehmen.«

Trevisan bedankte sich bei dem Mann. Sie nahmen die Treppe, denn Bewegung tat gut. Vor dem Zimmer 303 blieben sie stehen.

»Vorzimmer –Bürgermeister«,stand auf dem Türschild und darunter der Name der Sekretärin. Der Bürgermeister residierte im Raum 301, das Zimmer mit der Nummer 302 lag dazwischen. Trevisan klopfte.

Frau Haferkamp öffnete mit gespannter Miene die Tür. Trevisan schätzte die Frau auf Mitte 60. Ihr ergrautes, zum Zopf gebundenes Haar lag eng am Kopf an. Mit dem dunklen Rock, der hochgeschlossenen weißen Bluse und der schwarzen Strickjacke darüber wirkte sie wie eine Nonne aus einem Kloster. Ihre Züge waren hart und streng.

»Guten Tag, gibt es etwas Neues von Herrn Ollmert?«, fragte sie und ging einen Schritt zur Seite.

Trevisan zeigte seine Dienstmarke. »Martin Trevisan und meine Kollegin Monika Sander. Wir sind vom 1. Fachkommissariat in Wilhelmshaven und haben den Fall übernommen.«

Die Frau wies auf die Stuhlreihe an der Wand, an dem wohl normalerweise die Bittsteller Platz nahmen, die einen Termin mit dem Bürgermeister hatten oder anstrebten. Wie eine Sünderbank, dachte sich Trevisan, als er sich setzte. Monika nahm daneben Platz, während sich die Sekretärin hinter ihren Schreibtisch zurückzog.

»Sie sind von der Mordkommission, richtig«, feuerte sie ihre erste Feststellung ab.

Trevisan nickte. »Unter anderem bearbeiten wir Mordfälle.«

»Ich kenne Sie aus dem Fernsehen, damals, vor einem Jahr, als dieser Fernfahrer ermordet wurde, da gab es eine Pressekonferenz.«

»Kann sein«, bestätigte Trevisan. »Aber heute sind wir wegen Enno Ollmert hier. Er gilt noch immer als vermisst.«

»Ja, der Arme, wer weiß, was da passiert ist.«

»Wie lange arbeiten Sie schon im Rathaus?«, fragte Monika.

Die Frau lächelte. »Schon mein ganzes Leben«, entgegnete sie. »Ich fing ganz unten an der Pforte an. Damals gab es das neue Rathaus noch nicht, da waren wir in Basdorf. Später dann beim Einwohnermeldeamt, und dann fragte mich Ollmerts Vorgänger, Bürgermeister Heese, ob ich mir vorstellen könnte, das Vorzimmer zu machen. Das mache ich nun seit elf Jahren.«

»Wie war Ihr Verhältnis zu Herrn Ollmert?«

Die Frau wackelte mit dem Kopf hin und her und blies die Wangen auf. »Na, was soll ich sagen. Er war immer korrekt zu mir, und er konnte sich auf mich verlassen.«

Trevisan richtete sich auf. »Er soll manchmal ein klein wenig sorglos gewesen sein, hört man.«

Wiederum plusterte sich die Frau auf. »Sorglos, na ja, er hatte manchmal nicht den richtigen Draht, mit den Dingen umzugehen. Hin und wieder verbummelte er einen Termin, aber sonst war alles in Ordnung.«

»Und Herr Heese, sein Vorgänger?«, fragte Trevisan, der aus der Wortwahl der Frau erkannte, dass sich Ollmert wohl nicht immer so verhalten hatte, wie es sich Frau Haferkamp wünschte.

Diesmal wuchs sie in ihrem Stuhl. »Gut, Herr Bürgermeister Heese war natürlich von ganz anderer Natur. Er kam ja aus der Verwaltung und kannte sich aus. Als er damals verkündete, dass er nicht mehr zu Wahl antreten wird, da dachten alle, eine Welt bricht zusammen. Aber gut, irgendwie musste es ja weitergehen.«

»Ollmert wurde gewählt«, vervollständigte Monika den Gedanken der Frau.

Sie wiegte den Kopf hin und her. »Sogar im ersten Wahlgang.«

»Wer war der Konkurrent?«

Frau Haferkamp winkte ab. »Ach so ein Rechtsanwalt aus dem Ruhrpott, da war es schon besser, dass ein Friese das Rennen macht. Schließlich gehören wir zu einer großen Gemeinschaft und haben gute Verbindungen untereinander. Nach Dornum oder Norden oder auch nach Westerholt. Hier hilft man sich. Wenn mal ein Baum auf der Straße liegt und wir sind in der Nähe, dann räumen wir ihn weg, auch wenn er bei denen aus Dornum liegt. Und die von Dornum sehen es genauso. Nein, war schon besser so.«

»Ich verstehe«, entgegnete Monika. »Also ist er beliebt bei den Leuten.«

Die Sekretärin griff zu einem Kugelschreiber, der auf dem Schreibtisch lag, und ließ ihn durch die Finger gleiten. »Zu Anfang schon, ich meine, er kam vom Fernsehen, ist sogar prominent, sieht gut aus, stellt etwas dar und kann sehr gut reden, aber er hätte sich manchmal auch an seine Worte halten sollen. Die Leute merken sehr schnell, wenn da nichts vorwärtsgeht.«

»Das heißt, er redet viel und tut wenig?«

»Manchmal ist eben Schweigen Gold«, entgegnete die Frau geheimnisvoll.

»Ist deswegen seine Wiederwahl nicht sicher?«

Wiederum wiegte Frau Haferkamp abschätzend den Kopf hin und her. »Na, sagen wir, es könnte knapp werden, denn es gibt einige aus dem Stadtrat, die meinen, wir wären besser ohne ihn dran.«

»Und was meinen Sie?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, ich halte mich da raus.«

Trevisan räusperte sich. »Noch einmal die Frage: Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm? Würden Sie sagen, es ist freundschaftlich?«

Sie legte den Kugelschreiber wieder aus der Hand. »Ich arbeite für ihn, und er war stets korrekt. Überhaupt meine ich, dass eine Freundschaft mit der Arbeit nicht gut zusammenpasst. Wir gehen höflich und korrekt miteinander um. Wenn es zu freundschaftlich wird, dann hat man am Ende schnell eine Klüngelei – und das will ich nicht. Ich arbeite hier und erfülle meine Pflicht, alles andere hat nichts am Arbeitsplatz verloren.«

Trevisan war mit dieser Antwort zufrieden. Damit war ihm klar, dass das Band der Sympathie zwischen Ollmert und der Sekretärin offenbar nicht besonders stark verknüpft war. Es machte keinen Sinn, diesen Punkt zu vertiefen. Er wechselte das Thema. »Hatte er denn Feinde?«

»Das will ich wohl meinen, es gab sogar Drohbriefe, aber das wissen Sie bestimmt. Da gab es schon welche, denen ich durchaus zutraue, dass sie ihm schaden wollten.«

»Und umbringen?«

Die Frau zuckte mit der Schulter. »Das weiß man heutzutage ja nie.«

»Können Sie konkrete Namen nennen?«, fragte Monika.

Die Frau hob abwehrend die Hand. »Ich will niemanden beschuldigen.«

Monika nickte verständig. »Das ist uns klar, aber wir versuchen herauszufinden, ob jemand hinter seinem Verschwinden stecken könnte, und dazu sollten wir ein paar Details kennen.«

Sie zögerte.

»Es ist sehr wichtig«, fügte Trevisan hinzu.

»Den ein oder anderen genarrten Ehemann gibt es schon. Hoferland zum Beispiel, der hat ihn vor einem halben Jahr sogar geschlagen, sodass er ein blaues Auge hatte.«

»Wo war das?«

Frau Haferkamp zeigte auf die Tür zum anderen Zimmer, in der Bürgermeister Ollmert normalerweise residierte.

»Das haben Sie gesehen?«

»Gehört, habe ich das, gehört. Und als Hoferland aus dem Zimmer stürmte, hatte der Bürgermeister ein blaues Auge und einen blutigen Kratzer auf der Wange.«

»Hat er Anzeige erstattet?«, fragte Monika.

Frau Haferkamp lächelte spöttisch. »Nein, nein, wo denken Sie hin. Sogar zu mir sagte er, dass er ausgerutscht und gegen den Schrank gefallen sei. Aber ich sage, gehört ist gehört, und ich weiß, was ich sage.«

»Hoferland?«

»Der Bierkönig aus Hage«, erklärte die Sekretärin. »Hagermarscher Pils, Sie kennen das sicher, das mit dem blauen Pferd.«

»Wissen Sie, weshalb Hoferland mit dem Bürgermeister gestritten hat?«

»Na, weswegen schon, wegen Bente, der Frau von Hoferland. Die ist 20 Jahre jünger und war mal Model.«

»In der Modebranche?«, fragte Monika.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, wenn die Weilandt ihre Kollektion auf dem Platz draußen vorführt, beim Sommerfest.«

»›Weilandt‹?«

»Das Modehaus gegenüber dem Café ›Ehrlich‹.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Sonst noch jemand?«

»Da gibt es schon noch einige«, erklärte Frau Haferkamp. »Man kann es eben nicht jedem recht machen, wenn man Bürgermeister ist.«

»Das glaube ich, aber wie wäre es mit Namen?«

Die Frau wiegte den Kopf hin und her. Dies war wohl ihre Geste, um zu signalisieren, dass sie eigentlich nicht darüber reden wollte, es andererseits aber durchaus gerne tat.

»Ich habe mir da meine Gedanken gemacht, als ich hörte, dass da Blut auf dem Boot war«, holte sie aus. »Aber ich will wie gesagt niemanden beschuldigen.«

»Die Namen«, forderte Trevisan.

»Na ja, da gibt es den Wilko Klaasen, der ist Großbauer in Jakobsiel. Der wollte eine Genehmigung für so eine Stinkeranlage auf seinem Grund, so eine, die Strom produziert, und das hat ihm Ollmert ganz schön versaut. Dann ist da noch der Thees, der heißt Geritt mit Nachnamen und ist der zweite Vorsitzende des Bürgerparkvereins Salzwiesen. Der läuft unserem Bürgermeister seit Wochen hinterher und will Klarheit über ein paar Details zur Planung der Windkraftanlagen. Der Bürgermeister ist Geschäftsführer, aber er weicht ihm ständig aus. Ein paar Mal ließ er sich sogar verleugnen.«

»Das müssen Sie mir näher erklären«, hakte Trevisan nach.

Die Frau wies aus dem Fenster in Richtung Westen. »Draußen, hinter Jakobsiel, da sind die Salzwiesen. Ein großes Gebiet, etliche Hektar groß. Dort war früher der Deichhof von Bauer Harms. Als der starb, alleine und ohne Verwandte, wie er war, vererbte er das Land der Stadt. Und da sollen in den nächsten Monaten Windräder gebaut werden. Da gibt es einen Verein zur Finanzierung, auch eine Bank ist dabei. Der Strom wird dann verkauft und alle profitieren davon, auch die Gemeinde.«

»Und da stimmte was nicht?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Quatsch, das macht doch alles das Planungsbüro aus Bremerhaven, die haben schon mehrere solcher Parks gebaut. Der Thees ist nur nervös, weil sich das mit dem Bau verzögert, und da macht er sich eben in die Hosen.«

»Woher stammt dieser Thees Geritt?«

»Der wohnt in Deichhagen.«

Draußen tauchte die untergehende Sonne die Landschaft in ein rötliches Licht, und im Büro wurde es langsam düster.

»Sie sagten, es gäbe eine ganze Menge Leute, die nicht gut auf den Bürgermeister zu sprechen sind. Das waren schon alle?«

Frau Haferkamp schüttelte den Kopf. »Die Rose, Rose Sielmann aus Wiesenstede, würde ihm Gift geben, wenn sie könnte.«

»Und weshalb?«

»Die waren kurz zusammen, direkt nach seiner Wahl. Die wollte ihm einen Teil ihrer Ferienhäuser überschreiben, aber dann hat er sie einfach sitzen lassen und sich was Jüngeres gesucht. Dann noch die Bäuerin von Davidshörn, Hanna Schmidt, die ist so eine Grüne. Die meint, der Bürgermeister tut nichts für den Umweltschutz, und die Salzwiesen sollten eher Biotope werden, anstatt sie mit Windkraftanlagen vollzustellen. Da ist die ganz eigen, wissen Sie.«

Monika Sander schrieb alle Namen und stichpunktartig die Gründe für die Verstimmung zwischen den Genannten und dem Bürgermeister in ihren kleinen Notizblock.

»Dieser Schneider, der Rechtsanwalt der ›Nordostbank‹, ist auch hinter dem Bürgermeister her, aber da glaube ich, der bringt niemanden um. Und da ist noch der Johann Beeke, ebenfalls aus Davidshörn, der ist im Stadtrat sein größter Widersacher. Die konnten sich von Anfang an nicht ausstehen. Wollte damals selbst Bürgermeister werden, bekam aber im Vorfeld keine Unterstützung aus der Gemeinde und trat erst gar nicht an.«

»Sonst noch jemand?«

»Jesko Holders fällt mir noch ein«, fuhr die Sekretärin fort. »Ein junger Kerl. Vorsitzender vom Motorsportklub. Die hatten ein Klubheim, eine Scheune auf einem alten Hof bei Wiesenstede, da hat sie Ollmert rausgeschmissen, jetzt sind die ohne Vereinsheim. Dem würde ich es zuallererst zutrauen, dass er dem Bürgermeister was antut, der hat ihm auch gedroht, da draußen im Flur, als die das Klubheim räumen mussten.«

Trevisan wurde hellhörig. »Gedroht, sagen Sie. Was hat er denn gesagt?«

Frau Haferkamp kratzte sich am Kinn. »Der sagte so was wie, wenn ich dir draußen begegne, dann hau ich dich zu Brei, oder so ähnlich.«

»Wissen Sie auch, warum der Klub an die Luft gesetzt wurde?«

Sie zuckte mit der Schulter. »Die haben da draußen alles dreckig gemacht und an ihren Karren herumgeschraubt, sogar Ölwechsel haben die auf der Wiese gemacht, und Rennen sind die gefahren, sagte Ollmert. Da hat er sie rausgeworfen.«

»Und was ist jetzt dort im Schuppen?«, fragte Monika.

Erneut zuckte sie mit der Schulter. »Da sind Sachen und Gerätschaften vom Bürgerverein drinnen. Später, wenn gebaut wird, sollen da die Leute von der Baustelle in Containern wohnen. Deshalb behauptet Holders ja auch, dass das Ganze ein abgekartetes Spiel war, damit man sie an die Luft setzen konnte, um diese Container dort aufzustellen.«

Trevisan warf Monika Sander einen kurzen Blick zu. »Danke für Ihre Offenheit, Frau Haferkamp. Wenn es noch Fragen gibt, kommen wir noch einmal auf Sie zu.«

»Dann rufen Sie aber bitte vorher an. Es ist bald 19 Uhr, und diese Zeit bekomme ich nicht bezahlt.«

Trevisan nickte, ehe er sich erhob. Er verabschiedete sich von der Frau und ging zur Tür. Monika folgte ihm. »Ach ja, da wäre noch eine Frage«, wandte sich Trevisan zu ihr um. »Hatte er Verwandtschaft in der Gegend oder Bekannte, jemanden, mit dem er sehr gut befreundet ist, oder eine Beziehung?«

Frau Haferkamp schüttelte den Kopf. »Nein, soviel ich weiß, gibt es eine Tante in Amerika, seine Eltern sind bereits verstorben. Und Freunde oder enge Bekannte, da wüsste ich niemanden. Sein Privatleben geht mich ja auch nichts an. Er ist allerdings öfter rüber nach Bremerhaven gefahren, hörte ich. Was er dort tat, kann ich nicht sagen. Ich bin seine Sekretärin und nicht seine Gouvernante, verstehen Sie?«

Trevisan verstand. »Noch eines«, sagte er. »Besaß Ollmert ein Fahrrad?«

Die Frau blies die Wangen auf. »Da fragen Sie mich was. Gesehen habe ich keines, er kam immer mit seinem Wagen. Aber möglich wäre es schon.«

»Wie geht es eigentlich weiter?«, fragte Monika. »Ich meine, wer führt die Amtsgeschäfte, solange der Bürgermeister nicht hier ist?«

»Erste Stellvertreterin ist Frau Gutjahn«, antwortete die Sekretärin.

Trevisan wurde hellhörig. »Hatten Sie auch Probleme mit …«

Frau Haferkamp winkte ab. »Nein, wo denken Sie hin. Das meiste bleibt sowieso an mir hängen. Frau Gutjahn ist über 70. Sie war einmal Gemeindereferentin bei der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde und hält sich gerne aus allem heraus. Sie hat das Amt damals nur übernommen, weil es eben im Stadtrat nicht ganz so gut lief nach Ollmerts Wahl. Da hat man sich auf sie geeinigt, das wurde von allen Seiten akzeptiert. Mit dem Verschwinden des Bürgermeisters hat sie sicher nichts zu tun.«

Als Trevisan neben Monika im Wagen saß und sie nach Wilhelmshaven zurückfuhren, versteckte sich die Sonne hinter dichten Wolken.

4

Kriminalkommissariat Wilhelmshaven, Mozart­straße

Als Monika und Trevisan die Dienststelle erreichten, war es bereits dunkel. Es war kurz nach 21 Uhr.

»Heute werde ich den kleinen Ayk wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen«, seufzte Trevisan, als sie über den Parkplatz zum Hintereingang der Dienststelle liefen. Fünf Autos standen noch auf den markierten Parkreihen des 1. Fachkommissariats, eines davon gehörte Trevisan, eines Monika und die anderen gehörten zu Lentje, Lisa und Eike.

»Die sind alle noch oben«, bemerkte Monika.

Über das Treppenhaus gingen sie nach oben in den Soko-Raum. Eike und Lisa saßen am großen Besprechungstisch. An der Pinnwand auf der einen Seite des Raumes prangte das Bild von Enno Ollmert. Es war eine Aufnahme, auf der er einen sportlichen, blauen Einreiher trug und das weiße Hemd am Kragen locker geöffnet hatte. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet. Ollmert lächelte verschmitzt. Ein Hochglanzfoto, das von seiner Wahlwerbekampagne stammte und vier Jahre alt war.

»Wird ja Zeit, dass ihr endlich kommt«, grüßte Eike die beiden.

»Seid ihr weitergekommen?«

Lisa lümmelte am Tisch und hatte ihren Kopf auf den Armen aufgestützt, sie räkelte und streckte sich. »Dank Google und Co kennen wir beinahe seinen gesamten Lebenslauf«, sagte sie.

Trevisan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Monika tat es ihm nach.

»Also«, eröffnete Lisa den Monolog. »Er wurde am 7.12.1978 in Emden geboren. Sein Vater war ein angesehener Anwalt, seine Mutter arbeitete in der Kanzlei des Vaters. Er wuchs in Emden auf, besuchte das Max-Windmüller-Gymnasium und machte im zweiten Versuch sein Abi. Anschließend studierte er wohl auf Geheiß seines Vaters Jura an der Uni in Hamburg und brach nach einem Jahr ab. Anschließend war er zehn Monate im Ausland unterwegs. Als er zurückkam, schrieb er sich erneut an der Uni ein, diesmal für Medienwissenschaften. Da machte er einen Abschluss in Medieninformatik.«

»Deshalb wohl der Weg zum Fernsehen«, bemerkte Monika.

Lisa schüttelte den Kopf. »Offenbar war der Vater mit dem neuen Studiengang nicht so ganz einverstanden und kappte die Versorgungsleitung.«

»Der Vater war wohl ein strenger Herr«, unkte Trevisan.

»Ollmert hat es trotzdem durchgezogen mit Hilfe einer Freundin, die zwei Boutiquen in Hamburg besaß und 15 Jahre älter war als er.«

»Die hat ihn ausgehalten?«, fragte Trevisan.

Lisa winkte ab. »So kann man sagen, er sah gut aus und startete eine Modelkarriere. Irgendwie hatte er schon immer einen Schlag bei Frauen. So kam es, dass er bei dem Privatsender 1-2-3-TV landete und dort über den Bildschirm Modeschmuck verkaufte. Beim NDR landete er erst ein paar Jahre später. Aber auch da schien er gut anzukommen und moderierte die Nachtausgabe von ›NDR-Heute Nacht‹.«

»Wie kam es dann, dass er sich als Bürgermeister bewarb?«, wandte Trevisan ein.

Lisa lächelte. »Die Frauen geben es, und die Frauen nehmen es«, scherzte sie. »Wir sind im Internet auf einen kleinen Skandal gestoßen, er hatte wohl was mit der Tochter des Programmdirektors, und der fand es gar nicht spaßig. Um seiner Kündigung zuvorzukommen, suchte er den Ausweg in die Politik.«

Monika Sander schüttelte den Kopf. »War er eigentlich jemals länger mit einer Frau zusammen?«

»Ja, fünf Jahre sogar. Er lebte mit einer Nachrichtensprecherin zusammen. Doreen Pleitgen, die macht inzwischen Nachrichten bei der ARD.«

»Seine Eltern?«, fragte Monika.

»Der Vater starb 2010, seine Mutter vor vier Jahren, Brüder und Schwestern gibt es nicht, er war ein Einzelkind. Die einzige Verwandte, die wir ausgemacht haben, ist eine Tante, die Schwester seiner Mutter, aber die lebt seit 30 Jahren in Washington. Ansonsten sind keine weiteren Verwandten bekannt.«

»Wer weiß, wozu das gut ist«, murmelte Trevisan. »Sonst noch was?«

Lisa schüttelte den Kopf. »Mehr konnten wir auf die Schnelle nicht herausfinden. Die Bankenanfrage läuft, der Rest folgt morgen, wenn die Behörden wieder besetzt sind.«

Trevisan nickte und blickte sich um. »Wo ist eigentlich Lentje?«

»Die ist mit Krog am Hafen«, erklärte Eike. »Die Spurensuche auf dem Boot nimmt mehr Zeit in Anspruch als gedacht. Krog sagt, die Wohnung und das Büro nehmen sie sich morgen vor.«

Trevisan klatschte in die Hände. »Alles klar, dann machen wir Feierabend. Morgen früh um 9 Uhr treffen wir uns hier im Raum, pünktlich, wenn es geht. Gebt bitte Krog und Lentje Bescheid.«

*

Wilhelmshaven, Großer Hafen

»Und das könnte tatsächlich der Baum gewesen sein?«, fragte Lentje und folgte Krogs Fingerzeig an den Schiffsmasten der kleinen Segeljacht vom Typ Bavaria.

»Wenn der Lümmelbeschlag schnell dreht, dann schlägt der Baum in alle Richtungen. Normalerweise macht man ihn fest. Vielleicht hat er es ja vergessen. Manchmal reißt die Leine im Sturm, aber das können wir ausschließen, in den letzten Tagen herrschte gutes Wetter.«

»Dann also ein Fehler des Skippers«, folgerte Lentje.

Krog zuckte mit der Schulter. »Dazu hätte er das Ruder freigeben müssen, sodass sich abrupt die Fahrtrichtung ändert, dann kann es schon sein, dass der Baum umschlägt. Wenn er gebückt stand, trifft er ihn genau am Kopf, und das mit großer Wucht.«

»Doch ein Unfall?«

Krog runzelte die Stirn. »Kann man nicht ausschließen, aber welcher Skipper, der alleine segelt, gibt sein Ruder frei?«

Lentje hob ihr Handy in die Höhe und fotografierte die Blutlache, die sich an Deck unmittelbar neben dem Mast befand.

»Wir haben schon Bilder gemacht«, sagte Krog.

Lentje nickte.

»Das ist mindestens ein halber Liter Blut«, bemerkte Krog.

Lentje hielt sich an der Reling fest und stellte den Fuß auf den oberen Rand des Kabinendachs. »Er könnte hier gestanden haben, als der Baum umschlug. Er stürzt auf die Planken …«

»… und bleibt am Relingdurchstieg liegen. Das Boot ist führerlos und neigt sich, weil es quer zum Wind kommt, dann rutscht er ins Wasser – und aus die Maus.«

Lentje fuhr sich über das Kinn. »So könnte es gewesen sein.«

»Ja, so könnte es gewesen sein«, bestätigte Krog. »Mich wundert nur, dass wir am Baum keine Spuren finden. Außerdem hatte er kaum Sprit für den Motor im Tank, und Vorräte sind auch keine an Bord. Wenn er tatsächlich vor drei Tagen gestartet ist, dann hätte man das Boot früher aufbringen müssen, denn dort draußen ist die Fahrrinne, und da fahren jeden Tag 30 bis 40 Schiffe lang.«

»Er muss vor drei Tagen gestartet sein«, stellte Lentje klar. »Die Jacht lag am Sonntag noch am Pier, und am Montag war sie weg, sagt der Hafenmeister von Neßmersiel. Niemand hat ihn gesehen, als er auslief, aber er hatte einen Schlüssel zum Jachthafen und hätte auch mitten in der Nacht aufbrechen können.«

Krog schüttelte den Kopf. »Frühestens um 4 Uhr mit der Flut, zuvor hätte er das Boot durchs Watt tragen müssen.«

»Um 4 Uhr, da ist es ja noch stockdunkel«, entgegnete Lentje.

»Die Fischer mit ihren Kuttern stört das nicht.«

»Er war kein Fischer. Er war Hobbysegler.«

Krog tauchte den Pinsel in das Fläschchen mit Spurensicherungsmittel.

Lentje wiegte den Kopf hin und her. »Sonst noch was?«

»Ja, jede Menge Fingerabdrücke. Teils überlagert. Hier an Bord wurde nur selten gewischt.«

Lentje atmete tief ein. »Dann fasse ich mal zusammen: Für einen großen Törn war das Boot nicht ausgestattet, und es könnte auch jemand mit an Bord gewesen sein. Er hat sich möglicherweise den Kopf aufgeschlagen und eine ganze Menge Blut verloren, ein Unfall vielleicht oder jemand hat ihm eine verpasst und ihn über Bord geworfen, bevor er das Boot verließ.«

»Klamotten oder Koffer gibt es keine an Bord«, fuhr Krog fort. »Trevisan fragte danach.«

»Dann haben wir also gar nichts, das wird dem Boss überhaupt nicht gefallen.«

Sanfte Wellen liefen auf der Bootsrampe aus, das Wasser gluckste und plätscherte.

»Das glaube ich auch, so wie ich ihn kenne«, bestätigte Krog.

Einer der großen und starken Scheinwerfer, die das Schiff in helles Licht tauchten, begann zu flackern.

Lentjes Handy piepste. Sie fischte es aus ihrer Hosentasche und warf einen Blick auf das Display.

»Trevisan erwartet uns morgen früh um 9 Uhr«, sagte sie.

»Okay, machen wir Schluss«, seufzte Krog und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir wissen mehr, wenn wir einen DNA-Abgleich haben.«

Lentje nickte. »Dann bis morgen«, sagte sie, bevor sie sich umwandte und über die Planken die Jacht verließ.

5

Basdorf, Accumer Weg

Sie hatten sich wie vereinbart pünktlich um 9 Uhr auf der Dienststelle getroffen und ausgetauscht. Nach der kurzen Besprechung waren sie nach Basdorf gefahren, um das Haus des Bürgermeisters zu durchsuchen. Drei Kollegen der Spurensicherung widmeten sich unterdessen dem Büro im Rathaus von Deichhagen.

Janson von der Vermisstenstelle in Aurich war vor Tagen bereits dort gewesen, doch seine Nachschau war oberflächlich und hatte dem Bürgermeister selbst gegolten. Seit dessen Boot führerlos vor Baltrum aufgetaucht war, musste Trevisan von anderen Voraussetzungen ausgehen. Von einem geplanten Verschwinden, einem Unfall oder gar Mord an Enno Ollmert, alles war möglich. Trevisan und seine Crew mussten gründlich vorgehen und nach Hinweisen suchen, die eine der Thesen untermauerte oder zumindest dazu führte, eine Möglichkeit sicher auszuschließen.

Janson hatte damals das Türschloss aufbrechen müssen und es anschließend durch ein anderes ersetzt. Die dazugehörigen Schlüssel hatte er an Trevisan übergeben.

Das Haus lag am Ende des Dorfes in einem Neubaugebiet unmittelbar vor den weitläufigen Wiesen und Feldern. Es war ein modernes Dreigiebelhaus mit üppigen Glasfronten und sah neu aus. Die weiß getünchte Fassade war durch blaue Umrahmungen der Fenster aufgelockert und das Grundstück um das Haus mit Rasen und jungen Büschen und Sträuchern bepflanzt. Eine Mauer oder einen Zaun gab es nicht. Schmale, graue Rabatten grenzten das Grundstück zur Straße und zur Nachbarschaft ab.

Die Innenjalousien waren herabgelassen, so wie es auch in Jansons Akte beschrieben war, was dafür sprach, dass Ollmert das Haus vor seinem Verlassen entsprechend gesichert hatte. Ein kontrollierter und geplanter Aufbruch, dachte Trevisan, als er vor der blauen Eingangstür mit den beiden Dreiecksfenstern stand und das Schloss öffnete. Im Haus selbst war alles ordentlich und sauber hinterlassen worden. Trevisan blickte sich um. So ähnlich sieht es aus, wenn jemand für ein paar Tage wegfährt. Allerdings hatte er erwartet, dass ein Bürgermeister innerhalb einer Woche mehr Post erhielt, doch auch so etwas ließ sich heutzutage steuern.

Monika, Lentje und Lisa sowie Krog und drei seiner Spurensicherungsexperten folgten ihm ins Haus. Eike war auf der Dienststelle geblieben, um weitere Details über Enno Ollmert herauszufinden und noch einmal mit dem Provider von Ollmerts Handy zu sprechen. Aber auch, um die Liste der Namen zu überprüfen, die Monika und Trevisan von der Chefsekretärin erhalten hatten. Möglicherweise ergab sich daraus ein konkreter Ermittlungsansatz.