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Virginia Woolf (1882–1941), die grande dame der modernen englischen Literatur, tritt uns hier mit skurrilen Perspektiven auf die englische Gesellschaft entgegen – mit einem Wort: very British. Auch der schwarze Humor ist oft nicht weit. Die Witwe Mrs. Gage erfährt, dass sie den gesamten Besitz ihres Bruders erbt und fällt »vor Freude fast ins Feuer«. Aber gemach: das Barvermögen ist nicht auffindbar, und das geerbte Haus brennt eines Nachts ab. Vielleicht kann hier der überlebende Papagei des Bruders weiterhelfen? – Oder John, der in einem Vorort von London für das Parlament kandidiert: er verliert zunehmend beim Sammeln von ihn berückenden Glasscherben und alten Metallresten sein Ziel aus den Augen – oder gar den Verstand? Ungewohnt spitz und satirisch informiert uns Virginia Woolf in diesen wenig bekannten Texten über die sozialen Untiefen ihres Mutterlandes. Und selbstverständlich darf auch Mrs. Dalloway nicht fehlen, auf deren Abendgesellschaft acht Gäste in inneren Monologen ihr jeweils geplagtes Bewusstsein preisgeben – eine stilistische Tour de force ersten Ranges.
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Seitenzahl: 158
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Virginia Woolf
Die Witwe und der Papagei
Erzählungen
Aus dem Englischen von Liat Himmelheber
Steidl Nocturnes
Herausgegeben von Andreas Nohl
Die Witwe und der Papagei
Eine wahre Geschichte
Handfeste Gegenstände
Das Mal an der Wand
Tod einer Motte
Momente des Seins
»Die Nadeln von Slater’s sind nicht richtig spitz«
Eine Abendgesellschaft bei Mrs. Dalloway
Das neue Kleid
Glück
Vorfahren
Lily Everit wird vorgestellt
Zusammen und entzweit
Der Mann, der seine Mitmenschen liebte
Eine einfache Melodie
Ein Resümee
Nachwort
Anmerkungen
In einem Dorf namens Spilsby in Yorkshire saß vor etwa fünfzig Jahren Mrs. Gage, eine ältliche Witwe, in ihrem Cottage. Obgleich sie hinkte und ziemlich kurzsichtig war, arbeitete sie angestrengt daran, ein Paar Holzschuhe zu reparieren, denn sie hatte nur einige wenige Schillinge pro Woche zum Leben. Während sie noch an einem Holzschuh herumhämmerte, öffnete der Briefträger die Tür und warf ihr einen Brief in den Schoß.
Dieser trug den Absender »Messrs. Stagg und Beetle, 67 High Street, Lewes, Sussex«.
Mrs. Gage öffnete ihn und las:
»Verehrte Dame, wir haben die Ehre, Ihnen den Tod Ihres Bruders, Mr. Joseph Brand, anzuzeigen.«
»Du lieber Gott«, sagte Mrs. Gage. »Ist mein alter Bruder Joseph endlich gestorben!«
»Er hinterlässt Ihnen seinen gesamten Besitz«, fuhr der Brief fort, »welcher aus einem Wohnhaus mit Stall, Gurken-Frühbeeten, Wäschemangeln, Schubkarren &c., &c. im Dorf Rodmell bei Lewes besteht. Er vermacht Ihnen auch sein gesamtes Barvermögen von £ 3000 (dreitausend Pfund) Sterling.«
Mrs. Gage fiel vor Freude fast ins Feuer. Sie hatte ihren Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen, und da er nicht einmal auf die Weihnachtskarten reagierte, die sie ihm jedes Jahr schickte, hatte sie den Eindruck, dass er ihr in seinem Geiz, den sie aus Kindertagen nur zu gut kannte, nicht einmal die Pennybriefmarke für eine Antwort gönnte. Aber jetzt hatte sich alles zu ihren Gunsten entwickelt. Mit dreitausend Pfund, von dem Haus &c., &c. ganz zu schweigen, konnten sie und ihre Familie für immer und ewig ein Luxusleben führen.
Sie beschloss, Rodmell sofort einen Besuch abzustatten. Der Dorfpfarrer, Reverend Samuel Tallboys, lieh ihr zwei Pfund zehn für die Fahrkarte, und schon am nächsten Tag war sie mit allen Reisevorbereitungen fertig. Die Hauptsache war die Versorgung ihres Hundes Shag während ihrer Abwesenheit, denn trotz ihrer Armut war sie sehr tierlieb und schränkte sich lieber selber ein, als ihrem Hund seinen Knochen vorzuenthalten.
Sie erreichte Lewes spät am Dienstagabend. Zu jener Zeit, das solltet ihr wissen, gab es bei Southease noch keine Brücke über den Fluss, und auch die Straße nach Newhaven war noch nicht gebaut. Um nach Rodmell zu kommen, musste man den Fluss Ouse in einer Furt überqueren, von der auch heute noch Spuren zu sehen sind, aber das durfte man nur bei Ebbe wagen, wenn die Steine im Flussbett aus dem Wasser hervorschauten. Mr. Stacey, der Bauer, fuhr mit seinem Pferdewagen nach Rodmell und bot freundlicherweise an, Mrs. Gage mitzunehmen. Sie erreichten Rodmell gegen neun Uhr in einer Novembernacht, und Mr. Stacey war so liebenswürdig, ihr das Haus am Dorfende zu zeigen, das ihr Bruder ihr hinterlassen hatte. Mrs. Gage klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Sie klopfte noch einmal. Eine seltsame, hohe Stimme kreischte: »Keiner da!« Sie war so erschrocken, dass sie beinahe geflohen wäre, hätte sie nicht Schritte gehört. Und schon wurde die Tür von einer alten Dorfbewohnerin namens Mrs. Ford geöffnet.
»Wer hat denn ›Keiner da‹ geschrien?«, fragte Mrs. Gage.
»Der verdammte Vogel!«, sagte Mrs. Ford mürrisch und deutete auf einen großen, grauen Papagei. »Der schreit mir fast die Ohren ab. Hockt den ganzen Tag auf seiner Stange wie eine Steinfigur, und kaum kommt man ihm zu nahe, kreischt er ›Keiner da‹.« Es war ein schöner Vogel, wie Mrs. Gage feststellen konnte, aber sein Federkleid war arg vernachlässigt. »Vielleicht ist er unglücklich, oder er hat Hunger«, sagte sie. Aber Mrs. Ford meinte, er sei bloß schlechter Laune, er habe einem Seemann gehört und im Osten sprechen gelernt. Allerdings, fügte sie hinzu, habe Mr. Jones ihn sehr gern gehabt und ihn James genannt, und angeblich habe er mit ihm geredet, als sei er ein vernünftiges Wesen. Kurz darauf ging Mrs. Ford. Sogleich holte Mrs. Gage aus ihrem Holzkoffer ein paar Zuckerstücke, die sie eingepackt hatte, und gab sie dem Papagei. Dabei sagte sie mit freundlicher Stimme, sie wolle ihm nichts Böses, sie sei die Schwester seines alten Herrn und gekommen, das Haus in Besitz zu nehmen, und sie würde dafür sorgen, dass er es so gut wie irgend möglich hätte. Dann nahm sie eine Laterne und machte eine Runde durchs Haus, um herauszufinden, was für eine Immobilie ihr Bruder ihr hinterlassen hatte. Es war eine bittere Enttäuschung. Alle Teppiche hatten Löcher. Den Stühlen fehlten die Sitzflächen. Ratten liefen den Kaminsims entlang. Aus dem Küchenfußboden wuchsen große Pilze. Kein einziges Möbelstück war mehr als siebeneinhalb Pence wert, und Mrs. Gages einziger Trost war der Gedanke an die dreitausend Pfund, die warm und sicher in Lewes auf der Bank lagen.
Sie beschloss, sich am nächsten Tag nach Lewes auf den Weg zu machen, um bei den Anwälten Messrs. Stagg und Beetle ihren Anspruch auf das Vermögen anzumelden und dann so schnell wie möglich heimzukehren. Mr. Stacey, der mit einigen prächtigen Berkshire-Schweinen zum Markt fuhr, bot ihr wieder an, sie mitzunehmen, und erzählte ihr auf der Fahrt Schauergeschichten über junge Leute, die ertrunken waren, als sie bei Flut versucht hatten, den Fluss zu überqueren. Doch kaum dass die arme alte Frau Mr. Staggs Büro betreten hatte, wurde ihr eine große Enttäuschung zuteil.
»Nehmen Sie doch bitte Platz, Madam«, sagte er mit feierlicher Miene und ächzte leise. »Tatsache ist«, fuhr er fort, »dass Sie sich auf eine sehr unangenehme Nachricht gefasst machen müssen. Nachdem ich an Sie geschrieben hatte, habe ich Mr. Brands Papiere sehr genau durchgesehen. Ich bedaure sagen zu müssen, dass ich nicht die geringste Spur von den dreitausend Pfund habe finden können. Mr. Beetle, mein Partner, ist persönlich nach Rodmell gefahren und hat das Anwesen mit größter Sorgfalt durchsucht. Er hat absolut nichts gefunden – kein Gold, Silber oder sonstige Wertgegenstände – abgesehen von einem ansehnlichen grauen Papagei, den Sie meistbietend verkaufen sollten, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf. Seine Ausdrucksweise, meinte Benjamin Beetle, ist sehr unflätig. Aber das besagt nichts. Ich fürchte, Sie haben die Reise umsonst unternommen. Das Anwesen ist heruntergekommen, und unsere Auslagen waren natürlich beträchtlich.« Hier hielt er inne, und Mrs. Gage verstand deutlich, dass er sie los sein wollte. Sie war fast wahnsinnig vor Enttäuschung. Nicht nur hatte sie sich zwei Pfund zehn vom Reverend Samuel Tallboys geliehen, sie würde auch mit leeren Händen nach Hause zurückkehren, denn sie musste James, den Papagei, verkaufen, um ihre Fahrkarte bezahlen zu können. Es regnete heftig, aber Mr. Stagg versuchte mit keinem Wort, sie zurückzuhalten, und sie war dermaßen außer sich vor Sorge, dass sie kaum wusste, was sie tat. Trotz des Regens machte sie sich zu Fuß querfeldein auf den Heimweg nach Rodmell.
Wie ich zuvor schon bemerkte, hinkte Mrs. Gage mit dem rechten Bein. In ihren besten Stunden ging sie langsam, und jetzt kam sie infolge ihrer Enttäuschung und des matschigen Uferdamms nur überaus langsam voran. Während sie sich dahinschleppte, wurde es immer dunkler, und sie konnte sich gerade noch auf dem erhöhten Weg am Fluss halten. Ihr hättet hören können, wie sie murrte und auf ihren Bruder Joseph schimpfte, der ihr solche Unannehmlichkeiten zugemutet hatte, »mit Absicht«, sagte sie, »um mich zu ärgern. Schon als wir noch klein waren, war er ein grausamer Junge«, fuhr sie fort. »Es machte ihm Spaß, arme Insekten zu quälen, und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er eine haarige Raupe mit einer Schere kahlgeschoren hat. Außerdem war er so ein Geizkragen. Er hat sein Taschengeld immer in einem Baum versteckt, und wenn ihm jemand ein Stück Kuchen zum Tee geschenkt hat, dann hat er den Zuckerguss abgekratzt und fürs Abendessen aufgehoben. Ich habe keinen Zweifel, dass er in diesem Augenblick in der Hölle schmort, aber soll das vielleicht ein Trost sein?«, fragte sie, und es war ja in der Tat ein sehr schwacher Trost, denn sie stieß, patsch, mit einer großen Kuh zusammen, die den Damm entlangkam, und kullerte in den Schlamm.
Sie rappelte sich auf, so gut es ging, und stapfte weiter. Es kam ihr vor, als sei sie schon stundenlang unterwegs. Inzwischen war es stockfinster, und sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Plötzlich fielen ihr die Worte von Bauer Stacey über die Furt ein. »Du lieber Gott«, sagte sie, »wie soll ich denn meinen Weg durch den Fluss finden? Wenn Flut ist, dann steige ich ins tiefe Wasser und werde im Nu ins offene Meer hinausgeschwemmt! Viele Pärchen sind hier schon ertrunken, von Pferden, Karren, Viehherden und Heuhaufen ganz zu schweigen.«
In der Tat saß sie bei dieser Dunkelheit und dem Matsch ziemlich in der Tinte. Sie konnte kaum das Wasser erkennen und noch viel weniger feststellen, ob sie die Furt erreicht hatte oder nicht. Nirgendwo war ein Licht zu sehen, denn, wie ihr vielleicht wisst, gibt es auf dieser Flussseite kein Cottage oder Herrenhaus, bevor man Asheham House erreicht – seit kurzem der Wohnsitz von Mr. Leonard Woolf. So blieb ihr scheinbar nichts anderes übrig, als sich hinzusetzen und den Morgen abzuwarten. Aber in ihrem Alter, mit dem Rheumatismus in den Knochen, konnte sie erfrieren. Andererseits würde sie mit großer Sicherheit ertrinken, wenn sie versuchte, den Fluss zu überqueren. Sie fühlte sich so elend, dass sie gerne mit einer der Kühe auf der Weide getauscht hätte. In der gesamten Grafschaft Sussex hätte man keine verzweifeltere alte Frau finden können, wie sie da am Flussufer stand und nicht wusste, ob sie sich auf den Boden setzen oder schwimmen oder sich einfach im Gras, so nass es war, zusammenrollen und schlafen oder erfrieren sollte, je nachdem, was ihr vom Schicksal beschieden war.
Doch in diesem Moment geschah etwas Wunderbares. Ein grelles Licht schoss wie eine riesige Fackel in den Himmel, beleuchtete jeden Grashalm und zeigte ihr die Furt, kaum zwanzig Meter entfernt. Es war Ebbe und die Überquerung sollte kein Problem sein, wenn nur das Licht nicht ausging, ehe sie drüben war.
»Das muss ein Komet oder sonst ein ungeheuerliches Wunder sein«, sagte sie, während sie hinüberhumpelte. Sie konnte das Dorf Rodmell hell erleuchtet vor sich erkennen.
»Gott schütze uns!«, rief sie aus. »Da brennt ein Haus – dem Herrn sei Lob und Dank« – denn ihr war klar, dass es einige Minuten dauert, bis ein Haus niedergebrannt ist, und in dieser Zeit wäre sie leicht auf dem Weg zum Dorf.
»Das ist ein schlimmer Wind, der niemand etwas Gutes bringt«, sagte sie, als sie die Römerstraße entlanghumpelte. Wie erwartet, konnte sie jeden Zentimeter des Weges sehen, und sie war schon fast auf der Dorfstraße, als ihr zum ersten Mal der Gedanke kam: »Vielleicht ist das überhaupt mein Haus, das da vor meinen Augen zu Asche zerfällt!«
Da hatte sie vollkommen recht.
Ein kleiner Junge im Nachthemd hüpfte ihr entgegen und rief: »Komm gucken. Das Haus vom alten Joseph Brand brennt lichterloh!«
Alle Dorfbewohner umringten das Haus und reichten Wassereimer weiter, die am Brunnen in der Küche von Monks House gefüllt wurden, und schütteten sie in die Flammen. Aber das Feuer hatte sich schon sehr weit vorangefressen, und gerade, als Mrs. Gage eintraf, stürzte das Dach ein.
»Hat jemand den Papagei gerettet?«, rief sie.
»Sie sollten dankbar sein, dass Sie nicht selber da drin sind, Madam«, sagte seine Ehrwürden James Hawkesford, der Pfarrer. »Machen Sie sich keine Gedanken um die stumme Kreatur. Ich habe keinen Zweifel, dass der Papagei gnädig auf seiner Stange erstickt ist.«
Aber Mrs. Gage war fest entschlossen, selber nachzuschauen. Sie musste von den Dorfleuten festgehalten werden, die meinten, sie sei wohl verrückt geworden, wenn sie ihr Leben für einen Vogel aufs Spiel setzte.
»Die arme alte Frau«, sagte Mrs. Ford, »sie hat ihren gesamten Besitz verloren, abgesehen von einem alten Holzkoffer mit ihrem Übernachtungszeug. Gewiss wären wir an ihrer Stelle auch halb wahnsinnig.«
Mit diesen Worten nahm Mrs. Ford Mrs. Gage bei der Hand und führte sie zu ihrem eigenen Cottage, wo sie in dieser Nacht schlafen sollte. Das Feuer war nun gelöscht, und alle gingen nach Hause ins Bett.
Aber die arme Mrs. Gage konnte nicht schlafen. Sie wälzte sich hin und her und dachte an ihr Elend und überlegte, wie sie nach Yorkshire zurückkehren und Reverend Samuel Tallboys ihre Schulden zurückzahlen sollte. Noch mehr Kummer machte ihr aber das Schicksal des armen Papageis James. Sie hatte den Vogel liebgewonnen, denn er musste doch ein zärtliches Herz besitzen, wenn er den Tod des alten Joseph Brand so betrauerte, der keinem menschlichen Wesen je etwas Gutes getan hatte. Es war ein schrecklicher Tod für einen unschuldigen Vogel, fand sie, und wenn sie bloß rechtzeitig gekommen wäre, hätte sie ihr eigenes Leben riskiert, um seines zu retten.
Sie lag im Bett und dachte diese Gedanken, als ein leises Klopfen am Fenster sie aufschreckte. Das Klopfen wurde dreimal wiederholt. Mrs. Gage stieg, so schnell sie konnte, aus dem Bett und trat ans Fenster. Zu ihrer gehörigen Überraschung saß auf dem Fensterbrett ein riesiger Papagei. Der Regen hatte aufgehört und es war eine helle Mondnacht. Zunächst war sie sehr erschrocken, doch dann erkannte sie James, den Graupapagei, und war außer sich vor Freude über seine Rettung. Sie öffnete das Fenster, streichelte mehrmals seinen Kopf und bat ihn herein. Zur Antwort wiegte der Papagei sanft den Kopf hin und her, flog auf den Boden, ging ein paar Schritte vorwärts, wandte den Kopf, als wollte er sehen, ob Mrs. Gage mitkam, und kehrte dann aufs Fensterbrett zurück, vor dem sie staunend stehengeblieben war.
»Das Tier handelt mit mehr Sinn, als wir Menschen ahnen«, sagte sie zu sich selbst. »Nun gut, James«, sagte sie dann laut zu ihm, als sei er ein menschliches Wesen, »ich nehme dich beim Wort. Warte aber einen Augenblick, ich will mir nur noch etwas Anständiges anziehen.«
Mit diesen Worten befestigte sie mit Nadeln eine weite Trägerschürze an ihrem Nachtgewand, schlich so leise wie möglich die Treppe hinunter und verließ das Haus, ohne Mrs. Ford zu wecken.
Damit war der Papagei James offensichtlich zufrieden. Nun hüpfte er eilig einige Meter vor ihr auf das verbrannte Haus zu. Mrs. Gage folgte ihm so schnell sie konnte. Als wüsste er den Weg ganz genau, hüpfte der Papagei zur Rückseite des Hauses, wo ursprünglich die Küche gewesen war. Inzwischen war davon nichts mehr übrig als der Backsteinboden, auf dem immer noch das Löschwasser stand. Voller Staunen blieb Mrs. Gage stehen, während James herumhüpfte und hier und da pickte, als wollte er mit dem Schnabel die Ziegelsteine untersuchen. Es war recht unheimlich anzusehen, und wäre Mrs. Gage nicht an das Zusammenleben mit Tieren gewöhnt gewesen, hätte sie sehr wahrscheinlich die Nerven verloren und wäre wieder nach Hause gehumpelt. Aber es sollte noch seltsamer kommen. Während der ganzen Zeit hatte der Papagei kein Wort gesagt. Doch plötzlich wurde er schrecklich aufgeregt, schlug mit den Flügeln, hackte immer wieder mit dem Schnabel auf den Boden ein und kreischte so schrill »Keiner da! Keiner da!«, dass Mrs. Gage fürchtete, er würde das ganze Dorf aufwecken.
»Führ dich nicht so auf, James, du tust dir noch weh«, sagte sie besänftigend. Aber er wiederholte seinen Angriff auf die Ziegelsteine noch heftiger als zuvor.
»Was kann das bloß bedeuten?«, sagte Mrs. Gage und betrachtete eingehend den Küchenfußboden. Im hellen Mondlicht konnte sie erkennen, dass einige Backsteine nicht ganz eben lagen, als hätte jemand sie herausgenommen und nicht wieder ganz so tief wie die anderen eingefügt. Sie hatte ihre Schürze mit einer großen Sicherheitsnadel befestigt, und als sie die nun zwischen die Steine steckte, merkte sie, dass sie nur locker nebeneinander lagen. Kurz darauf hielt sie einen davon in der Hand. Kaum hatte sie das getan, hüpfte der Papagei auf den Backstein daneben, pickte fest darauf und schrie: »Keiner da!«, woraus Mrs. Gage schloss, dass sie auch diesen herausnehmen sollte. So fuhren sie fort, im Mondlicht die Ziegelsteine herauszunehmen, bis sie eine etwa sechs mal viereinhalb Fuß große Fläche abgedeckt hatten. Dies schien dem Papagei zu genügen. Aber was sollte nun geschehen?
Mrs. Gage machte eine Pause und beschloss, sich einzig und allein von James, dem Papagei, leiten zu lassen. Sie durfte aber nicht lange ausruhen. Nachdem er einige Minuten in dem sandigen Untergrund gescharrt hatte, wie man auch Hühner mit ihren Krallen im Sand scharren sieht, brachte er etwas zum Vorschein, das aussah wie ein runder, gelblicher Steinklumpen. Seine Aufregung wurde nun so groß, dass Mrs. Gage ihm zu Hilfe eilte. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass die ganze Fläche, die sie aufgedeckt hatten, angefüllt war mit langen Rollen dieser runden gelben Steine, die so sauber nebeneinander gepackt waren, dass es einige Mühe kostete, sie zu bewegen. Aber was konnte das bloß sein? Und zu welchem Zweck hatte man sie hier versteckt? Erst als sie die gesamte oberste Schicht abgetragen hatten und danach noch ein Stück Wachstuch, das darunter lag, bot sich ihren Augen ein überaus wundervoller Anblick – da lagen Reihe auf Reihe, schön poliert und im Mondlicht glitzernd, Tausende von nagelneuen Sovereigns!!!!
Das also war das Versteck des Geizkragens, und er hatte sogar durch zwei außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen sichergestellt, dass niemand es entdecken würde. Zuerst hatte er, wie sich später herausstellte, einen Herd über der Stelle errichtet, wo sein Schatz verborgen war, so dass ohne die Feuersbrunst niemand von seiner Existenz etwas hätte ahnen können. Sodann hatte er die obere Schicht der Sovereigns mit einer klebrigen Substanz überzogen und sie danach in Erde gewälzt, damit selbst dann, wenn zufällig einer davon bloßgelegt worden wäre, niemand etwas anderes darin gesehen hätte als einen Kieselstein, wie man sie tagtäglich im Garten sieht. Allein durch das außergewöhnliche Zusammentreffen des Feuers mit der Schlauheit des Papageis wurde also die List des alten Joseph zunichtegemacht.
Mrs. Gage und der Papagei arbeiteten nun mit vereinten Kräften und hoben den gesamten Schatz – der sich auf dreitausend Goldstücke belief, nicht mehr und nicht weniger – und legten ihn auf ihre Schürze, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatte. Als die dreitausendste Münze auf den Haufen gelegt worden war, flog der Papagei triumphierend in die Höhe und landete sehr sanft auf Mrs. Gages Kopf. In dieser Formation kehrten sie zu Mrs. Fords Cottage zurück, sehr langsam, denn Mrs. Gage humpelte, wie ich bereits gesagt habe, und jetzt wurde sie vom Inhalt ihrer Schürze fast bis zum Boden niedergedrückt. Aber sie erreichte ihr Zimmer, ohne dass irgendjemand ihren Besuch in dem zerstörten Haus bemerkte.