Die Wunderfrauen - Stephanie Schuster - E-Book
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Stephanie Schuster

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Beschreibung

Vier starke Frauen zwischen Wirtschaftswunder und Hippiezeit, zwischen Nylons und Emanzipation, zwischen Liebe und Freundschaft - die Wunderfrauen-Trilogie von Stephanie Schuster "Darf's ein bisschen mehr sein?" 1953, zu Beginn der Wirtschaftswunderjahre, träumt Luise Dahlmann von ihrem eigenen kleinen Lebensmittelgeschäft. Hier soll es nach Jahren des Verzichts wieder alles geben, was das Herz begehrt. Sie sieht es schon vor sich: die lange Ladentheke mit großen Bonbongläsern darauf, eine Kühlung für Frischwaren, Nylonstrümpfe, buttriger Kuchen, sonntags frische Brötchen … und das Beste daran: endlich eigenständig sein. Endlich nicht mehr darüber nachdenken, warum ihre Ehe nicht so gut läuft, endlich sie selbst sein und etwas wagen. Drei Frauen werden immer wieder Luises Weg kreuzen: Annabel von Thaler, die wohlhabende Arztgattin von nebenan, die junge Lernschwester Helga Knaup und Marie Wagner, geflohen aus Schlesien. Sie alle haben in den Zeiten des Aufbruchs und des Neubeginns einen gemeinsamen Wunsch: Endlich wieder glücklich sein. Der erste Band der Wunderfrauen-Trilogie - drei Romane über vier Freundinnen, deren Leben wir über drei Bände von den Wirtschaftswunderjahren Mitte der 1950er bis zu den Olympischen Spielen 1972 begleiten können. Band 1 »Alles, was das Herz begehrt« Band 2 »Von allem nur das Beste« Band 3 »Freiheit im Angebot« Zusatzband »Wünsche werden wahr«  Entdecken Sie die neue Romanserie von Stephanie Schuster: »Glückstöchter« - Eine Reise durch sechs Jahrzehnte: Anna und Eva, verbunden durch ihr tiefes Verständnis zur Natur, aber getrennt durch ein schicksalhaftes Geheimnis. Band 1 »Glückstöchter. Einfach leben«  Band 2 »Glückstöchter. Einfach lieben« erhältlich ab dem 31.01.2024

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Seitenzahl: 578

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Stephanie Schuster

DIE WUNDERFRAUEN

Alles, was das Herz begehrt Roman

Historischer Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

InhaltswarnungMottoWidmungProlog1. TeilLUISEMARIEHELGAANNABELLUISEMARIEHELGAANNABELLUISEMARIEHELGAANNABELLUISEMARIELUISEHELGA2. TeilLUISEHELGAMARIEANNABELHELGALUISEHELGALUISEHELGALUISEHELGAANNABELHELGAMARIEHELGALUISEMARIELUISEFINALEDanksagungLeseprobe zum 2. BandProlog

Inhaltswarnung

Im historischen Kontext der »Wunderfrauen«-Trilogie verwenden die Figuren auch zum Teil antisemitische, rassistische, sexistische und ableistische Wörter und Konzepte, die in den drei Jahrzehnten, über die sich die Handlung der Romane erstreckt, von der Mehrheitsgesellschaft größtenteils unreflektiert genutzt wurden. Daneben enthält der Roman Szenen sexualisierter Gewalt (Vergewaltigung und sexuelle Nötigung).

»Träume enden nie, aber Taten, die zu Wundern werden, helfen Träumen in die Wirklichkeit.«

Für Else und Hermann, in Erinnerung an ihren Laden in Münster, und für Carla, die diese Geschichte ins Rollen brachte

 

Für meinen Liebsten, den Wundermann Thomas, und meine unglaublichen Kinder Theresa, Veronika und Jonas

Prolog

Herbst 1953

»Yip, yip«, rief Fräulein Knaup, setzte den Tonarm auf die Schallplatte und schnippte mit den Fingern. Die anderen Frauen fielen ein, klatschten im Rhythmus der Musik, und bald bebte der Laden. Die Schöpfkellen über der Theke wippten, die Gläser und Flaschen in den Regalen klirrten, der Schinken an der Schnur schaukelte vor und zurück, sogar die eingelegten Heringe schlackerten mit. Die nackten Füße in Waschlappen, rutschten die Frauen zur Musik übers Linoleum. Das Schlagzeug gab den Takt vor, eine Gitarre schnurrte die Melodie, und ein Sänger verlangte einer gewissen Josephine das Versprechen ab, ihm heute Nacht zu gehören. Mehr verstand Luise von dem Lied nicht, obwohl sie Englisch einigermaßen beherrschte, aber die Übungen, die sie nachturnen sollten, erforderten ihre ganze Konzentration. Die Arme hoch, dann zur Seite ausstrecken. Bloß nicht irgendwo anstoßen und womöglich etwas herunterreißen. Sie bangte um ihr Geschäft. Natürlich war es hier beengter als im Pfarrsaal. Vor der Turnstunde hatten sie zwar versucht, so viel freie Fläche wie möglich zu schaffen, aber die große Säulenvitrine in der Mitte, das Prunkstück aus der Möbelsammlung ihrer Schwiegermutter, ließ sich um keinen Deut verrücken. Kein Wunder, sie war aus marmoriertem Vollholz und außerdem komplett mit Ware gefüllt. Also rutschten sie nun wie bei einer Polonaise um die Vitrine herum. Immer im Kreis. Die Frauen kamen sich in die Quere, schubsten einander weg, grinsten sich an. Prompt schepperte es, und die Orangen und Grapefruits, die Luise heute früh liebevoll auf einer Schale drapiert hatte, kullerten zur Tür. Die stand sogar noch einen Spalt auf. Rasch schloss Luise sie, gemeinsam sammelten sie die Früchte wieder ein, und schon ging es weiter. Helga Knaup kannte kein Pardon. Arme schräg nach oben, nach hinten, nach vorn, auf die Seite und dabei mit den Füßen vor- und zurückgleiten. Yip, yip. Dass Gymnastik so viel Spaß machen und gleichzeitig so anstrengend sein konnte, hätte Luise nie gedacht.

Way bop de boom, ditty, boom, ditty. Allein der Rhythmus brachte sie dazu, die Hüften zu schwingen wie schon lange nicht mehr. Nur auf die drei Käsebrote vorher hätte sie besser verzichten sollen. Der Hosenbund zwickte. Sie keuchte, wollte aber nicht aufgeben. Nicht vor all den anderen. Ein Turnkurs in ihrem Alter verlangte Mut. Schließlich war sie schon sechsundzwanzig und dazu noch eingerostet. Das hatte sie davon, dass sie nicht zu Fuß ging, sondern immer mit ihrem Moped unterwegs war, mit der grünen Triumph, die ihr Hans vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie sich unter Fröhlich Swingen und Trimmen mit Helga vorstellen sollte, und einfach spontan zugesagt, weil sie das Fräulein Knaup so nett fand.

Baby when you hear me shout, kiss me quick, knock me out.

Ein toller Rhythmus, endlich war diese Musik wieder erlaubt. Die hätte sogar den Muff aus den Ecken des Pfarrsaals geholt. Kurz bevor sie der Pfarrer hinauswarf, hatte es fast so gewirkt als wippte Jesus am Kreuz – oder besser gesagt, yippte –, nur festgehalten von den Nägeln, mit. Welch eine Gotteslästerung! Wieder ein Punkt auf der Liste für die nächste Beichte, die länger und länger wurde … Luise grinste in sich hinein. Die Gedanken waren frei, man musste sie nur für sich behalten. Zum Glück hatte sie die Idee mit dem Laden gehabt, sonst wäre die Stunde geplatzt. Bop de boom. Diese Johnnie-Ray-Platte musste sie sich unbedingt kaufen. Unmittelbare Nachbarn, die sich beschweren konnten, gab es nicht. Das Dahlmannhaus war, außer zur Straße mit der Schaufensterseite, von einem kleinen Garten umgeben, und ihre stets genervte Schwiegermutter war im Sommer gestorben. Tja, Henriette, dachte Luise, du hattest recht, ich bringe tatsächlich frischen Wind in die Familie.

Neben ihr japste Marie, die sommersprossige, junge Schlesierin mit den feinen rotblonden Locken, die seit ein paar Monaten auf dem Hof ihrer Brüder lebte. Schlank wie sie war, tat sie sich bestimmt leichter mit den Übungen. Es freute Luise, dass Marie trotz der harten Arbeit hergekommen war. Wenn sie sich nicht irrte, steckte Marie in der alten Trainingshose von Luises sechzehnjährigem Bruder. Der hatte sie nicht einmal angehabt. Manni lief am liebsten das ganze Jahr nur in der kurzen Lederhose herum, dazu barfuß. Luise versuchte, ihm beizubringen, in den Monaten mit R wenigstens eine Kniebundlederne und einen Pullover anzuziehen, damit er sich nicht erkältete. Deshalb trug er seit neuestem Gummistiefel und einen alten Mantel vom Vater über der Lederhose. Marie, das musste man ihr lassen, hatte die alte Sporthose sehr geschickt zu einer Caprihose umgearbeitet und die Bluse knapp unter der Brust geknotet, was ihre schmale Taille betonte. Fehlten nur noch eine Sonnenbrille und knallroter Lippenstift, dann sähe sie wie ein Filmstar aus. Luise hätte gern mehr über sie erfahren, aber Marie war recht verschlossen.

»Wenn wir so weitermachen, müssen wir neues Linoleum verlegen, bald haben wir den Boden durchgewetzt«, rief Luise ihr über Baby, when you hear me shout hinweg zu und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Kurz glaubte sie, draußen am Fenster ein Gesicht gesehen zu haben, wurden sie beobachtet? Aber wahrscheinlich täuschte sie sich.

 

»Ja, hinterher bräuchtest du nur noch ein Zaubermittel, mit dem man den ganzen Laden einsprüht, damit es für immer so sauber bleibt.« Auch Marie keuchte. Puh, war das anstrengend! Jetzt sollten sie auf den Boden gehen und sich auf die Fußspitzen und die Unterarme stützen, den Bauch dennoch in der Luft halten. »Wie ein Brett, Ladys«, sagte die Turnlehrerin. »Das schaffen Sie, strengen Sie sich an. Los, hoch mit dem Gestell. Weiter die Beine vor und zurück, nicht vergessen, gleich ist das Lied zu Ende. Nur noch zwei Strophen, halten Sie durch, yip yip.« Marie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Wie nett von Luise, sie zur Turnstunde einzuladen. Sie kam viel zu selten in die Stadt, dabei waren es vom Dorf Leutstetten nur ein paar Kilometer. Langsam gefiel ihr die Gegend. Wenn sie morgens mit Luises Brüdern die Schaf- und Ziegenherde auf die Weide trieb, erinnerten sie die buckligen Hänge ein bisschen an ihre Heimat, die Ausläufer des Eulengebirges. Der Fluss hieß hier nicht Neiße, sondern Würm, das Moor »Moos«, und die Ziegen nannten die Bayern »Goaßen«. Und wie in Ebersdorf, wo sie aufgewachsen war, gab es auch in Leutstetten viele Pferde, die vom Wittelsbacher Gestüt. Auf dem Brandstetterhof war ständig etwas zu tun, das hielt sie auf Trab und lenkte sie von ihren Erinnerungen ab. Die holten sie erst vorm Einschlafen und in ihren Träumen wieder ein. Doch sie versuchte, mit den Schrecken von damals zu leben, was blieb ihr auch anderes übrig. Hier war es allemal besser als im Kloster, dieses ewige Gotteslob – als ob man damit den Krieg und seine Folgen ungeschehen machen könnte. Die Welt war ein Scherbenhaufen, daran war auch mit stundenlangem Beten nichts zu ändern. Immerhin spürte Marie beim Turnen ihren Körper wieder, der ihr oft abhandenkam. Und wenn sie sich umsah, war sie auch noch von ihrer Kunst umgeben: Alle Schilder, Schubladen, Gefäße hier hatte sie beschriftet. Pektin, Sauerkraut, Mohnöl, Gerstengrütze und Malzkaffee. Köstlichkeiten in Schnörkelschrift. Auch die Angebote in den Schaufenstern, von innen spiegelverkehrt zu lesen, stammten von ihrer Hand.

Heringssalat, 100 Gramm für 30 Pfennige,

Ananas, je Dose 1 Mark 45

4 Stck Bockwurst, 1 Mark 88

Yes tonight. Originell, diese Idee mit den Waschlappen. Fräulein Knaup, die Lehrerin, die eigentlich Krankenschwester in der Seeklinik war, besaß einen ganzen Stapel amerikanischer Schallplatten, samt tragbarem Abspielgerät, welch ein Luxus. Das brachte Schwung in die Bude. Sich einmal in der Woche auf diese Weise zu verausgaben, nur etwas für sich und das eigene Wohlbefinden zu tun, gefiel Marie. Früher hatte sie jegliche Art von sportlicher Betätigung geliebt, besonders das Reiten war ihr als Ausgleich zum Lesen und Malen immer das Wichtigste gewesen. Damals, als die Zukunft noch Wunder versprach, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Nichts davon war mehr übrig, alles wie Seifenblasen zerplatzt und einzig der Schmerz geblieben. Das Lied war zu Ende. Stöhnend erhoben sich alle.

 

»Nein, meine Damen, niemand hat etwas von Aufstehen gesagt. Bittschön, bleiben Sie unten.« Helga legte eine neue Platte auf. »Machen Sie schon schlapp? Noch mal auf die Unterarme, wir fangen doch gerade erst an.« Sie durchsuchte den Stapel mit Jacks Singles, der zwischen der Registrierkasse und der Waage auf der Ladentheke lag, wählte eine weitere Johnnie-Ray und setzte die Nadel auf. Es knackte im Lautsprecher, das nächste Stück setzte mit sanfteren Klängen ein. »Jetzt bitte Ihren verlängerten Rücken ganz in die Höhe, ja, trauen Sie sich, wir sind unter uns. Und dann auf die Knie, schauen Sie, so«, sie machte es vor, »die Füße auf den Lappen eng zusammenstellen, hoch und runter mit den Knien, schön langsam, wenn ich bitten darf. Wir wollen jeden einzelnen Muskel spüren. Den Muskelkater erhalten Sie morgen gratis dazu, was, Frau Dahlmann, das ist doch mal ein Angebot?« Die Frauen lachten, doch Helga selbst trieb es schlagartig die Tränen in die Augen. Was war nur mit ihr los? Sie hatte beschlossen, ihren Liebeskummer hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Ach, Jack! Besser wäre es gewesen, sie hätte für diese erste Stunde unverfängliche deutsche Schlager gewählt. Die anderen Schwestern im Wohnheim beneideten sie zwar um den Plattenspieler und das dicke Sammelalbum mit den Platten, das Jack ihr dagelassen hatte, aber seine Musik wieder zu hören, wühlte sie auf. Wie sie mit ihm heimlich in ihrem Zimmer engumschlungen getanzt hatte, wie sie danach im Bett landeten. Seit einem Monat war er fort und hatte sich nicht mehr gemeldet. Kein Anruf, kein Brief, ein Telegramm schon gar nicht. Sie konnte ihm nicht schreiben, hatte seine Adresse in Amerika nicht. Langsam schwand die Hoffnung in ihr, dass sie je etwas von ihm hören würde. Dabei hatte sie schon bei seiner Dienststelle angerufen. Es gebe viele Jack Miller bei der U.S. Air Force, hieß es, und die Nummer seiner Einheit wusste Helga nicht. Auch wenn sie von Beginn an gespürt hatte, dass ihre Liebe nicht für die Ewigkeit gemacht war, so hatte Jack doch Farbe in ihren Alltag gebracht und ihr damit über die harte Anfangszeit ihrer Ausbildung geholfen. Wie oft hatten sie über ihre englische Aussprache gelacht und seine Fehler im Deutschen und die Missverständnisse, die daraus entstanden und meist in Küssen endeten. Sollte wirklich alles gelogen gewesen sein, die Geständnisse und auch die Träume von einer gemeinsamen Zukunft, einem Leben als Paar? Sie stand auf, wischte sich übers Gesicht und führte die nächste Übung vor. Faith can move Mountain erklang.

»Weiß jemand, was Johnnie Ray da singt?«, rief Helga in die Runde und schluckte. Eigentlich wollte sie andere anleiten, etwas für ihr Wohlbefinden zu tun, jetzt musste sie aufpassen, dass sie selbst nicht zusammenbrach.

»Mount-ain heißt Ber-hg«, murmelte Frau Dahlmann.

»Genau, dann bilden Sie doch bitte auch einen Berg, los, hoch mit dem Allerwertesten. Was sehe ich da hinten, Fräulein Zinngraf, das ist ja nicht mal ein Ameisenhaufen, geschweige denn ein Hügel, das kriegen Sie besser hin, hopp.« Helga merkte, wie es in ihrem Magen rumorte, ihr war in der letzten Zeit häufig übel, so sehr nagte der Kummer in ihr. Besser, sie legte eine Pause ein und half den anderen. »Und, Silvia, was ist mit dir? Machst du in deinem Alter etwa schon schlapp?« Auch ihre jüngere Schwesternkollegin, mit der sie ein Zimmer teilte, turnte mit. Jede biss sich auf ihre Art durch, die meisten schienen sogar Spaß zu haben. Der zarten Flüchtlingsfrau, Marie Wagner, in dieser Kinderturnhose, merkte man kaum die Anstrengung an. Neben ihr stöhnte Luise Dahlmann und stemmte sich mit hochrotem Kopf auf den Händen in die Höhe. Sie trug viel zu enge Kleidung.

»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Helga und hockte sich neben sie. Luise nickte und rang sich ein Lächeln ab. Helga mochte Luise. Als sie gefragt hatte, ob sie den Zettel für den Kurs in ihrem Laden aufhängen durfte, hatten sie sich sofort sehr nett unterhalten. Frau Dahlmann war die Einzige seit langem, die ihr wirklich zuhörte und sie unterstützen wollte. Sie meldete sich auch als Erste an, und jetzt hielten sie den Kurs auf ihren Vorschlag hin sogar in ihrem Laden ab, weil sich der Pfarrer kurz nach Beginn der Stunde umentschieden hatte.

»Sie machen das wunderbar, Frau Dahlmann. Bleiben Sie auf den Unterarmen, das entlastet die Handgelenke. Vielleicht sollten Sie das nächste Mal etwas Bequemeres anziehen?« Helga war erstaunt und erfreut, wie gut das Turnen mit Waschlappen funktionierte, so wurde der Kurs zu etwas Besonderem und forderte wirklich. Anfangs hatten sie Zweifel beschlichen, als sie die Frauen sah. Die meisten hatten sich wie für ein Schauturnen vor Publikum zurechtgemacht. Fräulein Zinngraf trug einen paillettenbesetzen Anzug, der bei jeder Drehung knisterte, Ingrid, ihre ältere Krankenschwesterkollegin, ein knappes weißes Höschen und ein Trägerhemd, das vermutlich noch aus BDM-Zeiten stammte. Zu Beginn der Stunde hatte Helga ihnen gezeigt, wie sie sich das Turnen vorstellte, aber erst als sie eine Single auflegte und die Rhythmen erklangen, löste sich die Anspannung. Und auch jetzt rutschten alle Frauen mehr oder weniger sportlich, aber ausnahmslos gutgelaunt, auf ihren Waschlappen herum. Vor, zurück, ditty, boom. Helga atmete auf.

 

Schon eine ganze Weile stand eine Frau draußen und spähte durchs Schaufenster. Von dieser Turnerei hielt sie nichts, noch dazu in einem Gemischtwarenladen! Prost Mahlzeit, sie wollte gar nicht wissen, welche Art Ausdünstungen auf dem Heringssalat landeten, der hier angepriesen wurde. Ihre eigene Gymnastik erledigte sie lieber morgens vor dem geöffneten Fenster, streng nach Müllers System. Fünfzehn Minuten ging sie dabei im Unterkleid die Bildanleitungen im Ratgeber ihres Vaters Seite für Seite durch und fertig. Das hielt beweglich, und sie hatte sich nicht in einer Gruppe zu bewähren. Das hatte sie früher schon nicht gemocht. Bis auf ihren letzten Auftritt, der war eine Glanzleistung gewesen. Noch immer bewahrte sie den violetten Turnanzug mit den langen Ärmeln im Schrank auf. Kurz vor Kriegsausbruch war sie die Beste im Bändertanz gewesen. Darum hatte sie auch bei der Abschlussfeier ihrer Schule vortanzen dürfen. Sie erinnerte sich noch an die Aufregung, bevor es losging. Dieses Kribbeln im Bauch und die Angst, dass sich die leuchtenden Bänder verhedderten. Doch alles lief reibungslos, das Publikum verlangte sogar eine Zugabe. Als der Rektor ihr später das Zeugnis überreichte, hatte er noch einmal ihr Talent gelobt, sie sei eine Künstlerin und gehöre auf die Bühne. Garantiert könnte sie mithalten. Aber das, was die Damen da drin trieben, war unter ihrem Niveau. Jedenfalls hörte es sich so an, gesehen hatte sie noch nicht viel.

Obwohl es ein milder Septemberabend war, fröstelte sie an der frischen Luft, und sie rieb sich die Arme. An der Straßenecke zog es aber auch. Hoffentlich fing sie sich keine Erkältung ein, verschwitzt wie sie war von der Rennerei, erst zum Pfarrsaal vor, dann zum Laden zurück, heimlich den Frauen hinterher. In der Eile hatte sie ihre Jacke oder zumindest ein Schultertuch zu Hause vergessen, hatte unbedingt leibhaftig miterleben wollen, wie Hochwürden die Damen hinauskomplimentierte. Wo kämen sie hin, wenn jede Möchtegerntänzerin in einem katholischen Pfarrsaal ihren Zirkus abhalten dürfte! Aber damit, dass sie einfach im Laden weitermachten, hatte sie nicht gerechnet. Was taten die überhaupt? Nach Turnen hörte sich das gar nicht an. Leider konnte sie es nicht genau erkennen. Die Scheiben spiegelten die Straßenlaternen der Kreuzung, und außerdem war das Schaufenster mit den davorgeschobenen Verkaufsständen verstellt. Möglicherweise war die Sicht weiter oben besser. Sie bräuchte bloß etwas, um sich draufzustellen, sah sich um, entdeckte einen Stuhl im Garten der Dahlmanns und hob ihn über den Zaun. Das war zwar nicht ganz korrekt, aber sie stahl ja nichts, lieh sich nur etwas und würde es unbemerkt zurückbringen. Hastig blickte sie sich noch mal um, ob niemand sie beobachtete. Das würde sonst ein merkwürdiges Bild abgeben. Aber bis auf Knipser, den Stadtköter, der sich überall herumtrieb, schien niemand unterwegs zu sein. Vorsichtig stieg sie auf die Sitzfläche und reckte den Hals. Ja, ganz oben tat sich eine Lücke auf. Sie sah merkwürdig schwingende Hände, als ob die Frauen etwas von der Decke pflückten. Erneut presste sie ein Ohr an die Scheibe, die von der Besatzermusik vibrierte, dann war es still. Sie hörte ein rhythmisches Rascheln. Hatten sie etwas verschüttet und wischten nun auf? Na, Frau Dahlmann musste es wissen, wenn sie so leichtsinnig ihren Laden zur Verfügung stellte und sogar selbst mitmachte. Vermutlich vergnügten sie sich alle mit Alkohol oder schlimmeren Drogen, getarnt als Turngruppe. Auf einmal rollte ihr etwas entgegen. Eine Orange. Wo kam die denn her? »Aus, Knipser!«, rief sie, als der Hund auf sie zusprang. Sie drehte sich auf dem Korbstuhl, es knarzte, dann gab die Sitzfläche nach. Kurz versuchte sie, sich noch irgendwo festzuhalten, doch da war nichts, außer Glas, und die weiße Schaufensterbeschriftung bot auch keinen Halt. Sie krachte ein, steckte bis zu den Knien im Geflecht und spürte einen stechenden Schmerz im Bein. Der Hund jagte weiter der Orange nach, die über den Bürgersteig rollte. Sie hörte Schritte. Am liebsten wäre sie davongehüpft, breitete schon die Arme aus, um Auftrieb zu erhalten und die Pfosten des Gartenzauns zu erreichen.

»Was ist uns denn da für ein Vogel in die Falle gegangen?« Ausgerechnet von ihr, diesem … diesem Flittchen musste sie ertappt werden.

1. Teil

Einige Monate zuvor 1953

§ 1.1Lebensmittel im Sinne des Gesetzes sind alle Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem und zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen gegessen oder getrunken zu werden, soweit sie nicht überwiegend zur Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind.

§ 1.2 Den Lebensmitteln stehen gleich: Tabak, tabakhaltige und tabakähnliche Erzeugnisse, die zum Rauchen, Kauen oder Schnupfen bestimmt sind.

 

Kochlehre

Anheizen des Küchenherds:

Angerissenes Papier oder trockene Reiser auf den Rost legen, kreuzweise kleingespaltenes trockenes Holz darüberlegen, evt. etwas Brennstoff wie Kohle, Brikett oder Holzscheite dazugeben. Anzünden. Untere Luftklappe öffnen. Sobald das Feuer hell brennt, die Feuertür schließen und Holz nachlegen. Ist eine ordentliche Glut im Ofen, die Anheizklappe umstellen und den Luftschieber regulieren.

Merke: Reinige vor dem Anheizen den Rost und entleere den Aschenkasten! Öffne die Anheizklappe dabei.

 

Merke auch: Tunken (keine »Krem«) dürfen nur zum Verzehr gebracht werden, wenn sie deutlich als solche kenntlich gemacht worden sind und das Wort »Mayonnäs« auch in Wortzusammensetzungen bei der Bezeichnung und Anpreisung keine Verwendung findet. Beispiel: 1a-Tunke, Prima-Tunke, Teufels-Tunke, Pfunds-Tunke, feinste Tunke, Mords-Tunke usw.

 

Brennsuppen-Rezept: Im heißen Fett Mehl und Zwiebeln hellgelb anrösten, mit Wasser auffüllen und würzen, dann ¼–½ Stunde offen kochen und abschmecken. Diese Einbrenne ist die Grundlage für viele wohlschmeckenden Gerichte, z.B. Tomatensuppe, Kräutlsuppe, Spinatsuppe, Blumenkohlsuppe, Hülsenfruchtsuppe, aber auch Milz- und Lebersuppe. Sie ist auch für Soßen geeignet, wie z.B. Tomatensoße, Kräutlsoße, Senfsoße usw. Anstatt Salz und Zwiebeln kann man auch Zucker verwenden, dies ergibt die sog. Zucker-Einbrenn oder Karamell für Nachspeisen.

 

Aus: Luise Brandstetters Schulheft

LUISE

Manchmal geschah alles auf einmal. Kaum war sie an diesem Montag wieder zuhause, hatte sich umgezogen und die Haare getrocknet, klingelte es an der Haustür. Es schüttete noch immer, als würde der Julihimmel mittrauern.

»Beileid, Frau Dahlmann«. Die Leute schlossen die Schirme, klopften sich die Regentropfen von den Jacken. Anscheinend wollte halb Starnberg von ihrer Schwiegermutter Abschied nehmen, drängte in die gute Stube im Erdgeschoss, wo Henriette aufgebahrt lag. Frauen lösten die Knoten ihrer Kopftücher und schoben sich die plattgedrückten Haare zurecht, Männer nahmen die nassen Hüte ab und hängten sie in die Garderobe. Luise nickte und bedankte sich bei jedem mit Namen, wie sie es von ihrer Arbeit als Köchin im DP-Camp gewohnt war. Einige sahen ihr beim Grüßen nicht in die Augen, als wäre sie nach den fünf Jahren ihrer Ehe immer noch eine Fremde in der Stadt. Laut ihrer Schwiegermutter klebte das Bäuerliche wie ein Aussatz an ihr, jedenfalls hatte sie das bis zum Schluss betont, als wäre Luise auf der Brennsuppn dahergeschwommen. Dabei verleugnete Luise ihre Herkunft gar nicht. Sie war stolz, in Leutstetten auf einem Hof aufgewachsen zu sein, mitten im eiszeitlichen Amphitheater, wie man die hufeisenförmige Moränenlandschaft nördlich des Starnberger Sees nannte. Mit Blick zu den Bergen und auf das Schloss des letzten bayerischen Prinzen.

Die Tatsache, dass Kronprinz Rupprecht in Leutstetten ihr Nachbar gewesen war, hatte Henriette besänftigt. Wenn Luise von ihrem wöchentlichen Besuchen bei ihren Brüdern zurückkehrte, musste sie ihr haarklein über die Wittelsbacher berichten. Oft wusste Luise gar nichts Neues. Das Schloss lag abgeschottet hinter Hecken, und die königliche Familie war selten zu sehen. Und selbst wenn sie mit ihnen ein paar Worte über den Gartenzaun wechselte, nach dem uralten Pfau fragte, den niemand je zu Gesicht bekam, so erwartete Henriette mehr.

»Sag schon, wie geht es der Kronprinzessin?«, drängte sie. Schließlich wollte sie ihren Freundinnen beim nächsten Spieleabend etwas Sensationelles berichten können, etwas, das nicht bereits im Land- und Seeboten oder den Starnberger Neuesten Nachrichten stand. Was hatten die königlichen Hoheiten an? Womit vertrieben sie sich die Zeit? Welche Prominenz oder heimliche Liebschaft war gerade zu Besuch? Das waren die Fragen, die ihrer Schwiegermutter auf der Seele brannten. Luise wusste das und fütterte sie mit Gerüchten. Die Prinzessin erhole sich in der Schweiz, nach ihrer Freilassung aus dem KZ, und Kronprinz Rupprecht gräme sich vor Kummer und Einsamkeit. Prinzessin Hilda, die vor vier Jahren einen peruanischen Großgrundbesitzer und Konsul in Lima geheiratet hatte, reise zu ihrer zweiten Entbindung lieber nach Deutschland und werde in Kürze erwartet. Den Rest ergänzte ihre Schwiegermutter selbst, sobald Luise nur genügend Bilder in ihr heraufbeschworen hatte. Ließ der Zauber nach, war sie wieder die alte Grantlerin, der man nichts recht machen konnte.

Eigentlich durfte ein Leichnam nicht mehr zuhause aufgebahrt werden, sondern musste zuerst zum Bestatter und dann ins Leichenschauhaus. Aber als Henriette Dahlmann ein paar Wochen zuvor von der neuen Bestimmung erfahren hatte, diktierte sie Luise sofort eine Verfügung. Man solle, wenn es so weit wäre, mit ihr genauso verfahren, wie es sich seit Generationen gehöre. Sie wolle zum Abschiednehmen in ihrem Herrgottswinkel liegen, in ihrer Hochzeitstracht. Unbedingt in der Stube, nicht etwa im Flur wie beim Froschl Sepp, den sie halb auf die Straße gestellt hatten. Auf dem Friedhof wäre sie noch lange genug, und kein Ami oder Franzos der Welt oder sonst irgendeine Besatzungsmacht, und sei es auch diese neue deutsch-deutsche Regierung, könne ihr das verbieten. Geschweige denn ihre Schwiegertochter, die neumodische Sitten ins Haus einschleppte, als gäbe ihr allein die Jugend das Recht dazu. Sie, Henriette Dahlmann, sei auch einmal jung gewesen, sogar bedeutend jünger als diese Bauerntochter, die sich so frech ihren Hansibuben geangelt hatte!

Luise zündete die Sterbekerze an und sah zu der Toten in ihrem schwarzen Dirndl mit der gewirkten Schürze, wie sie auf ein weißes Kissen gebettet unter dem Kreuz lag. Um die verkrümmten Hände hatte sie ihr gestern nach dem Waschen und Kämmen den Rosenkranz gewickelt. Unglaublich, dass Hans und Luise von nun an im ganzen Haus allein leben würden, von einem Tag auf den anderen mussten sie nicht mehr leise und auf der Hut sein. Und vor allem musste Luise nicht ständig nachsehen, ob mit Henriette im Parterre alles in Ordnung war.

Aber eins nach dem anderen. Jetzt galt es zuerst, Henriettes letzten Willen zu erfüllen, dann kam die Beerdigung und dann? Sie dachte besser nicht darüber nach. Zorngibl, der Bestatter, der den Sarg brachte, hatte das Kinn der Toten mit einem hautfarbenen Band festgezurrt, als wollte er sie am Sprechen hindern. Luise fragte sich, wie viel er wohl dafür in Rechnung stellen würde und auch für die Schminke, die er ihr ins Gesicht getupft hatte. Mit roten Kreisen auf den Wangen und enzianblau angemalten Lidern ähnelte Henriette einer ihrer Paradepuppen, die die Sofaecke belagerten. Derart geschminkt und aufgetakelt war sie zu Lebzeiten nie gewesen. Sogar den Damenbart hatte er hell überpudert. Wer sich tuschte, hatte etwas zu vertuschen, hatte ihre Schwiegermutter behauptet, wenn sich Luise schminkte und die Augenbrauen zupfte. Von der Vitrine mit der wuchtigen, handbemalten Säule, die Marmor imitierte, glotzte Henriettes Puppensammlung auf die Besucher herab, einäugig, zweiäugig oder mit eingedrückten Kulleraugen, wie Ankläger aus dem Jenseits. Obwohl Dr. Heidkamm, der langjährige Hausarzt, Herzversagen als Todesursache auf den Totenschein geschrieben hatte, traute Luise dem Frieden noch nicht. Schon möglich, dass Henriette sich jeden Moment wieder aufrichtete, um den Rosenkranz nach ihr zu werfen. Bis zum letzten Atemzug hatte sie sie auf Trab gehalten, sie vor und nach der Arbeit, sonntags und nachts mit ihrem durchdringenden »Luuuuuuiiiiiiisssssseeeeee!!!!« herumgescheucht.

Sobald sie aus Feldafing zurückkehrte, die Haustür aufsperrte, ging das Gezeter los: »Wo bleibst du so lange? Ich sterbe qualvoll, und du treibst dich in der Gegend herum?«

»Mutter, ich habe gearbeitet.«

»Gearbeitet, dass ich nicht lache. So nennst du das Poussieren mit diesen Leuten also? Ich verstehe nicht, wieso der Hansi das duldet.«

Luise hatte es aufgegeben, Henriette etwas von ihrer Arbeit im Camp zu erzählen und ihr zu erklären, was displaced persons waren.

»Stell dich hier her, los«, kommandierte die alte Frau. »Ja, halt, genau da. Sag mal, siehst du nicht, dass das Deckchen auf dem Radio schief hängt? Und da ist noch Staub auf der Lampe. Und warum ist es hier eigentlich so düster?« Sobald Luise die Vorhänge aufzog, kreischte sie los: »Nicht, das blendet, meine Augen sind ohnehin entzündet, willst du, dass ich blind werde? Du hast übrigens das Essen versalzen, das ist völlig ungenießbar, sag mal, kannst du nicht richtig würzen? Und so etwas arbeitet als Köchin? Na, den Amis mit ihrer Erdnussbutter, die sie überall hineinpanschen, mag der Fraß genügen, aber mir nicht, ich bin Besseres gewohnt, die Dahlmanns verfügen über Kultur. Wir essen nicht, im Gegensatz zu euch Brandstettern, aus einer Vertiefung im Tisch und reichen uns den einzigen Holzlöffel herum. Und ausgerechnet so eine hat meinen Buben gekriegt. Wo steckt der Hansi überhaupt? Hast du ihn auch schon um die Ecke gebracht? Du richtest mich noch zugrunde, aber eins kann ich dir sagen, ich bin keine von euren Leutstettener Schindmähren. Merk dir das, ein für alle Mal!« Noch immer hallten diese Worte in Luise nach.

 

Die Trauergäste machten es sich gemütlich. Luise kochte Kaffee, schlug Sahne, trug Gebäck und Getränke auf und war froh, als ihre Brüder eintrafen, um sie zu unterstützen. War Henriette wirklich so beliebt gewesen, fragte sie sich zwischendurch, während die einen den nächsten die Klinke in die Hand gaben. Wahrscheinlich trieb die Leute vor allem die Neugier und die Aussicht auf die kostenlose Bewirtung hierher. Den Kirschkuchen hatte sie gestern Abend noch gebacken, außerdem gab es Topfenstrudel. Beim echten Bohnenkaffee brachen die meisten in Entzücken aus, jahrelang hatte man sich mit Ersatzkaffee begnügen müssen.

Hans würde erst übermorgen, zur Beerdigung, den ganzen Tag über da sein, schneller hatte er nicht freibekommen. Statt seiner übernahm Luises Bruder Martin die Gespräche und half beim Bewirten. Auf seine Art half auch ihr kleiner Bruder Manni mit. Er sammelte die Bierflaschen ein und prüfte, ob sie wirklich leergetrunken waren. Dabei ging es ihm nicht um die Reste, Manni liebte farbiges Glas und versuchte, Licht darin einzufangen. Dann drückte er den Bügelverschluss zu, verhakte ihn fest und stellte die Flasche in den Bierträger.

 

Bis spätabends war Luise mit den Gästen beschäftigt, so dass sich keine Gelegenheit ergab, mit Hans zu sprechen, als er endlich von der Arbeit gekommen war. Dabei hatte sie so viel auf dem Herzen. Ihr Mann löste Martin ab, der mit Manni heimfuhr, um die Schafe und Ziegen zu versorgen, setzte sich sofort in die Runde und trank sein Feierabendbier. Als Luise kurz vor Mitternacht den nächsten Kuchen aus dem Ofen zog, um eins mit dem Aufräumen fertig war und um halb zwei den Tisch für den nächsten Tag gedeckt hatte, schlief er schon. Das ging bis kurz vor der Beerdigung so. Müde, aber auch aufgedreht von den vielen Gesprächen und Eindrücken, schleppte sich Luise durch den dritten Tag. Endlich ließ der Besucherstrom nach. Nur noch Henriettes Freundinnen Gretel, Herta und Irmi, richtige Starnberger Urgewächse, setzten sich ans Totenbett, als träfen sie sich wie jeden Mittwoch zum Rummykub hier. Der süßliche Leichengeruch schien die drei nicht zu stören. Auch die grünschillernden Fleischfliegen nicht, die brummend herumschwirrten. Luise versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl es sie mehr und mehr Überwindung kostete, die Stube zu betreten. Weder half ständiges Lüften noch die Flasche 4711 aus Henriettes Bestand, die Luise vollständig versprühte.

Also blieb ihr nur der Geruch des frischgefilterten Kaffees, den sie in der Küche inhalierte wie eine Kräuteressenz. Sie sah auf die Uhr, noch eineinhalb Stunden, dann war es geschafft und Henriettes letzter Wille erfüllt. Wie sehnte sie den Moment herbei, wenn man die Tote endlich abholen und beerdigen würde. Anders die drei alten Damen, sie blühten regelrecht auf, schließlich waren sie Henriettes letztes Geleit. Gretel trug einen breitkrempigen, schwarzen Hut, unter dem nur ihre spitze Nase hervorragte, Herta einen langen Mantel aus Fallschirmseide über der gemusterten Kittelschürze, und Irmi hatte sich in ein mausgraues Flanellkostüm gezwängt. Erst Kaffee, dann einen Obstler, Luise schenkte ein. Gerade beendeten sie den glorreichen Rosenkranz, den sie zusammen mit den Fliegen gemurmelt hatten, und wechselten zum neuesten Klatsch und Tratsch über. Wer mit wem, wann und wo, als wäre alles wie immer.

Gretel zog Wolle und Stricknadeln aus der Tasche und schlug Maschen auf. Ob »Henni«, wie sie ihre Freundin nannte, schon gehört habe, dass sich die Müller Fini von ihrem Mann getrennt hatte?

»Die will sich sogar scheiden lassen«, empörte sich Irmi. »Dabei setzt sie ihm doch die Hörner auf.«

»Und beim Oberwallner in Traubing hat es am Sonntag gebrannt«, wusste Herta zu berichten. »Lichterloh, bis auf die Grundmauern, vielleicht hast du ja noch die Feuerwehr ausrücken gehört, bevor du das Zeitliche gesegnet hast? Großeinsatz, aus allen Gemeinden. Jedenfalls kriegt die Traubinger Sippschaft jetzt endlich ihren nigelnagelneuen Hof von der Versicherung.«

»Ach ja«, ergänzte Gretel unterm Nadelgeklapper. »Und das Ausländer-Lager in Feldafing wird abgerissen.«

Luise, die bisher beim Zuhören in sich hineingeschmunzelt hatte, horchte auf. Wussten die Damen, dass sie dort gearbeitet hatte? Von wegen Ausländer, einige der Juden waren Deutsche gewesen. »Wie sind Sie eigentlich auf Rummykub gekommen?«, fragte sie die drei und schenkte nach, damit sie die Angelegenheit nicht weiter vertieften und womöglich ihr Mann davon erfuhr, bevor sie es ihm selbst erzählt hatte. Hans rauchte mit Pfarrer Zuckermüller draußen unterm Vordach, es regnete noch immer.

»Ach, irgendein Hausierer, Scherenschleifer oder Schuhbandlverkäufer hat der Henni das Spiel angedreht.« Herta winkte ab.

»Nein, nein«, sagte Irmi. »So war das nicht, sie hat die Schachtel in einem Schrank im Schuppen gefunden, weißt du nicht mehr? Die war noch originalverpackt, stammte aus Rumänien oder aus Israel, glaube ich. Zum Glück lag eine Anleitung auf Deutsch dabei, sonst hätten wir nie begriffen, wie Rummykub geht.«

»I can English very well«, mischte sich Gretel ein.

»Ja, diesen einen Satz«, behauptete Herta. »Der hätte uns auch nicht weitergebracht.«

Gretel stülpte die Unterlippe zur Nase und schmollte.

»In welchem Schuppen?«, fragte Luise.

Herta wandte sich ihr zu. »Na, wie viele Schuppen haben Sie denn, Frau Dahlmann?«

»Meinen Sie die ehemalige Werkstatt hinterm Haus?« Luises Schwiegervater war Schreiner gewesen und im Krieg gefallen, sie hatte ihn nicht mehr kennengelernt. Seine Werkstatt nutzte sie als Garage für die Triumph, und Hans lagerte darin alles, woran er in seiner Freizeit herumtüftelte. Weiter hinten standen noch die Hobelbank und alle Maschinen, als hätte Johann Dahlmann erst gestern zugesperrt.

»Ist eigentlich in dem Schrank, wo das Spiel drin war, noch Medizin?« Gretel beendete eine gestrickte Reihe und lugte unter der Hutkrempe zu Luise auf.

»Ein Erste-Hilfe-Kasten, oder was meinen Sie?«

»Nein, ich rede von Arzneien – Schmerzmittel, Tabletten, Tinkturen.« Gretel Breisamer seufzte, als würde sie Henriette nachträglich bestätigen, wie einfältig Luise war. Wie immer roch sie stark nach Mottenkugeln. »Mei, Mädl, was wissen Sie denn überhaupt? Vor dem Krieg hat doch hier ein Doktor gewohnt, von dem haben wir immer ganz günstig was gekriegt. Wie hieß der doch gleich, irgendwas mit L …, Herrschaftszeiten, ich komme nicht drauf …«

»Ein Doktor, hier? Ich glaube, da verwechseln Sie etwas, Frau Breisamer, das Haus wurde 1935 neu gebaut, und einen Untermieter gab es nicht, soviel ich weiß.«

»Nein, nein, ich bin mir sicher.«

Luise versuchte, sich in sie hineinzudenken, und kombinierte Doktor mit …, plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Ach, Sie meinen die Puppenklinik von meiner Schwiegermutter?«

»Mein Gott, ja, Henni, du und deine Puppen«, sagte Gretel zu der Toten, scheuchte eine Fliege von ihrer Nase und nahm ihr Strickzeug wieder auf. »In Handarbeit warst du wirklich geschickt, du konntest feiner nähen als eine Singermaschine, wirklich.« Dann wandte sie sich Luise zu und ergänzte. »Doch leider fehlte ihr der Blick für Schönheit.« Alle vier schielten sie zu der Vitrine hinüber, in der Henriettes Ausstellungsstücke prangten. »Bei manchen dieser Wesen weiß man gar nicht, ob Tier oder Mensch oder ganz was anderes.« Gretel sprach aus, was Luise sich schon oft gedacht hatte. »Viele Kinder, die ihr die beschädigten Lieblinge gebracht haben, haben sich bloß in Begleitung zu ihr getraut. Verhätschelt hat die Henni nur ihren Hansi-Buben. Alle anderen mussten ihre Launen aushalten, einschließlich Ihnen, Frau Dahlmann. Bewundernswert, wie Sie das hingekriegt haben.« Mit diesem Lob hatte Luise nicht gerechnet. »Nein, ich rede von diesem Arzt aus Ihrer Nachbarschaft, der hat unter der Hand so Sachen vertrieben.«

»Meinen Sie den Doktor von Thaler, der gegenüber wohnt?«

Gretel schüttelte den Kopf. »Der hat anders geheißen, irgendwas mit Lilien-, Lilienwiese, ach, so helft’s mir doch drauf.« Offensichtlich war sie verwirrt oder hatte sich zumindest mit ihren Gedanken verheddert, dachte Luise.

Den Eindruck schien auch Herta zu haben. »Ach, lass uns mit dem alten Glump in Ruh, wen interessiert denn das? Oder hast du es auf diese besonderen Pralinen abgesehen? Wie hießen die gleich, Hausfrauenglück?«

»Gab’s die auch als Pralinen?« Irmi leckte sich die Lippen. »Ich kenne sie nur als Pastillen.«

»Ich auch, mei, habt ihr eine lange Leitung, bis ihr was begreift. Genau von denen rede ich doch die ganze Zeit. Die, wenn man noch zum Lutschen hätte, dann wäre den ganzen Tag eitel Sonnenschein. Aber wartet …« Gretel schnalzte mit der Zunge, als hätte sie eine von diesen Pastillen bereits im Mund. »Nein, doch nicht, der Name von dem Doktor, er ist mir auf der Zunge gelegen, aber jetzt ist er wieder weg, und von dem ganzen Reden ist meine Kehle ausgetrocknet.« Sie legte das Strickzeug weg, hielt das Schnapsglas hoch, damit Luise nachschenkte, und kippte den nächsten Obstler wie Wasser.

 

Zorngibl und ein Bestattergehilfe kamen, um die Tote mitzunehmen. Mechanisch besprengte der Pfarrer sie ein letztes Mal mit Weihwasser, zuckte vor dem Gestank zurück, als er sich über sie beugte. Alle bekreuzigten sich. Amen. Der Deckel schloss sich, und ein Aufatmen ging durch die Stube. Sogar die Fliegen schwirrten eilig hinaus.

MARIE

Den Schirm in der linken, den Koffer in der rechten Hand, stand sie endlich vor dem Schlosstor. Von Bayern lautete der Name auf der Klingel, als wohnte hier ein ganz gewöhnlicher Bayer und nicht der Kronprinz persönlich. Sollte sie läuten oder einfach hineingehen? Sie lugte auf ihre schlammverspritzten Schuhe und klappte den Schirm zu. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Sie zog ein Stofftaschentuch aus der Rocktasche, wischte über das Leder, bis die Schuhe einigermaßen glänzten, und ging an dem Eingangsportal vorbei, an ein paar niedrigen Häusern entlang. Von der Schlossfassade bröckelte der Putz, die meisten Fenster waren mit Brettern vernagelt. Trotzdem wirkte das Gebäude mit seinen schräg stehenden Ecktürmen, auf denen geschwungene Runddächer thronten, märchenhaft verwunschen. Von einer der Turmspitzen hätte man bestimmt eine herrliche Aussicht bis zum See, dachte sie, hier zu arbeiten musste ein Traum sein.

»Can I help you, Frolein?«, fragte ein Mann in einer aufgeknöpften Uniformjacke, der den Weg zu den Ställen fegte. Marie erschrak und zuckte bei dem Akzent zusammen. Dass auf dem Gestüt Amerikaner arbeiteten, hatte in der Stellenausschreibung nicht gestanden, sonst hätte sie sich niemals beworben. Für viele waren die russischen Besatzer der Inbegriff des Bösen, Marie hatte andere Erfahrungen gemacht. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber dann hätte sie den ganzen Weg umsonst auf sich genommen, noch dazu bei diesem Wetter. Sie versuchte, die in ihr aufsteigende Panik zu ignorieren, und räusperte sich.

»No, äh, yes, please.« Am Ende ihrer Englischkenntnisse angelangt, redete sie auf Deutsch weiter. »Ich möchte zu Herrn Dülmen bitte.« Der Kerl kam ihr zum Glück nicht näher, zeigte nur zu einem Pferdeanhänger weiter hinten, an dem ein beleibter Herr in Reiterstiefeln ein Rad aufpumpte.

Marie stellte den Koffer ab, strich sich über den Mantel, den sie mit Kastanien dunkel gefärbt hatte, damit man die vielen Flicken aus unterschiedlichen Stoffresten nicht so sah. Eigentlich war er viel zu warm für die Jahreszeit, doch er hatte nicht mehr in den Koffer gepasst. Lieber schwitzte sie, als dass sie etwas von der wenigen Habe zurückließ, die sie noch besaß. Außerdem verbarg der Mantel bestens ihre Bluse, die aus zwei alten Tischdecken genäht war, die Ärmel vergilbter als das Vorder- und Rückenteil. Sie umrundete ein paar Buchsbäume und ging auf den Herrn zu.

»Verzeihung, sind Sie der Verwalter hier?«, fragte sie zögerlich.

Er nickte, stieg von der Pumpe und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn.

»Guten Tag, Herr Dülmen, ich bin Marie Wagner.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Ein schriller Schrei erklang und setzte sich in ihrem Kopf fest.

»Oh, unser Pfau warnt uns vor einem Unwetter. Da kommt heute noch mehr vom Himmel.« Kurz erwiderte der Verwalter ihren Gruß, allerdings ohne seinen Hut zu lupfen, wie es sich normalerweise gehörte.

Marie drehte sich nach diesem außergewöhnlichen Vogel um und entdeckte eine Herde von Schafen und Ziegen, die die Dorfstraße entlangzog. Ein halbwüchsiger Junge führte die Herde an, er grinste breit zu ihnen herüber und winkte mit großer Geste, als wären sie alte Bekannte.

»Ach, schau an, der Manni schon wieder.«, sagte Dülmen. »Wenigstens als Hirte ist er zu gebrauchen. Ich frage mich, wie die Brandstetters den durchs Dritte Reich gekriegt haben.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Marie.

»Solche wie der wurden beseitigt, wussten Sie das nicht? Man nannte es Gnadentod.«

Sie schüttelte den Kopf. In der Schule hatte sie gelernt, dass körperlich und geistig beeinträchtige Menschen die sogenannte arische Rasse verdarben und zwangssterilisiert werden sollten, aber dass sie kein Recht hatten zu leben und umgebracht wurden, war ihr neu. Sie erschauderte.

»Na ja, jedenfalls stammt Manni vom Hof gegenüber. Die Brandstetters können sich keine Kühe mehr leisten, wollen jetzt mit Wolle, Lammfleisch und Ziegenmilch Geld machen.«

Am Schluss der Herde schob ein schlaksiger Kerl ein Fahrrad, an dem Wasserkanister hingen. Auch er grüßte herüber, indem er kurz seinen breitkrempigen Strohhut lupfte.

»Servus, Martin«, rief Dülmen ihm zu – Manni war ihm offenbar keinen Gruß wert gewesen. »Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Sie sind doch hoffentlich nicht von der Zeitung und haben es auf die Prinzenfamilie abgesehen?«

»Nein, ich bin wegen Ihrer Ausschreibung hier.« Als sich Marie ihm wieder zuwandte, bemerkte sie die Peitsche, die in Dülmens Gürtel steckte. »Ihre Anzeige im Münchner Merkur, ich habe mich beworben, und daraufhin haben Sie mich eingeladen«, wollte sie ihm auf die Sprünge helfen. »Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, der Anschlusszug in München ist ausgefallen, und der nächste kam erst nach zwei Stunden und stand dann noch ewig auf der Strecke.«

»Ich weiß, in Gauting ist ein Baum auf die Gleise gefallen, hat’s vorhin im Radio geheißen. Die Waldbestände entlang der Schienen sind morsch und gehören längst ausgeforstet. Sind Sie in Starnberg ausgestiegen?«

»In Mühlthal.«

»Das wundert mich, dass Sie der alte Lenz vorbeigelassen hat. Bei dem am Mühlrad bleibt so manche Maid für immer hängen.« Er lachte schallend. »Na, dann kommen Sie, lassen Sie uns hineingehen, bevor es wieder zu schütten anfängt.« Sein Blick glitt über ihre Beine, die unter dem Saum hervorlugten. »Wo wollen Sie arbeiten, in der Küche oder den Räumen der königlichen Familie?« Er setzte sich in Bewegung und musterte sie von der Seite, als könnte er sie allein aufgrund ihres Körperbaus zum Kartoffelschälen oder Staubwischen einteilen.

»Nichts dergleichen. Ich habe mich als Bereiter bei Ihnen beworben.«

»Bereiter? Sie wollen sich um unsere Zuchtpferde kümmern? Das soll wohl ein Witz sein.« Er blieb stehen, sein Grinsen erstarb.

»Keineswegs, Herr Dülmen.« Sie holte ihren Brief aus der Manteltasche.

»Ah, jetzt verstehe ich. M. Wagner, das sind Sie, und ich habe mich schon gewundert, wo der Bursche bleibt. Raffiniert, das muss man Ihnen lassen, Fräulein.« Er zupfte sich an einer Augenbraue. »Doch recht viel weiter hat Sie der Trick auch nicht gebracht. Ich habe keine Arbeit an Sie zu vergeben. Und bevor Sie fragen, in der Küche oder in den Privaträumen des Prinzen kann ich keine Hochstaplerin dulden.«

»Und warum wollen Sie nicht, dass ich mit den Pferden arbeite? Abgesehen von dem, was ich Ihnen geschrieben habe, wissen Sie doch noch gar nicht, was ich kann.«

»Diese angeblichen Auszeichnungen für Dressur, die Sie erhalten haben, wenn ich mich recht erinnere. Wer sagt mir, dass die nicht erfunden sind. Außerdem, wie alt waren Sie da? Zehn?«

»Ich war siebzehn, als wir vertrieben wurden.« Jetzt war sie dreiundzwanzig. »Wir hatten ein Gestüt bei Breslau, dort war ich für das Einreiten der Jungpferde verantwortlich, habe sie an Halfter und Strick gewöhnt.«

»Breslau, ist das nicht im Sudentenland?«

»Nein, in Niederschlesien. Ein Gut in einem Dorf, ähnlich wie hier, auch mit Landwirtschaft.«

»Schön, das mag alles herrlich gewesen sein, aber ich lasse grundsätzlich keine Frau in unsere Zucht. Scherereien habe ich auch so genug, allein dieser GI, den ich irgendwie beschäftigen muss, da kann ich kein Weibsbild gebrauchen, das sich bei den Ställen herumtreibt und mir die Kerle von der Arbeit ablenkt. Auf Wiedersehen.« Er hob die Luftpumpe wieder auf. Plötzlich ertönte lautes Wiehern. Marie wandte sich um. Ein braunes Pferd mit schwarzer Mähne stob aus dem Stall und sprang über zwei Blechtonnen, die der Amerikaner gerade zusammengeschoben hatte.

»For Christ’s sake, god damnit! Stop, stop!« Laut fluchend rannte er dem Pferd nach, verlor dabei seine Soldatenkappe und gab bald auf.

»Jetzt ist ihm schon wieder der Silberstern durchgegangen«, sagte der Verwalter. »Der lernt es nie.«

Marie wusste nicht, ob Dülmen von dem Pferd oder von dem Stallburschen sprach. Jedenfalls war Silberstern ein prächtiger Hengst. Von weitem wirkte er wie ein Trakehner, war vielleicht etwas zu klein dafür. Er musste eher ein englisches Vollblut oder Araber sein. Kaum älter als zwei Jahre, mit einer kleinen Blesse auf der Stirn, daher der Name Silberstern vermutlich.

Der Verwalter zog die Peitsche und wollte ausholen.

»Warten Sie, lassen Sie es mich versuchen.«

Marie stellte sich dem Tier in den Weg. Silberstern lief von den Buchsbäumen zum Hauptportal, tänzelte auf der Stelle, warf den Kopf hoch, als wüsste er nicht, wohin. Das Zaumzeug baumelte lose vor seinem Hals. Mit ausgebreiteten Armen trat Marie auf den Hengst zu und sah ihm direkt in die Augen. Sofort galoppierte er wieder an und umrundete sie. Er war offenbar im Longieren geübt und hatte gelernt, außen zu bleiben und im Kreis zu laufen. Sie senkte die Arme wieder und auch den Blick, tat so, als beachtete sie ihn nicht. Silberstern blieb stehen und bewegte ein Ohr in ihre Richtung. Seinen glänzenden schwarzen Augen entging keine Regung. Marie hörte, wie der Amerikaner durch die Zähne pfiff und auf Englisch irgendetwas von Zirkus rief, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Hengst und sie hatten Verbindung zueinander aufgenommen, das zählte. Sie wartete noch eine Weile, hörte Silberstern schnauben, aber sonst war es still. Man hätte eine Nadel fallen gehört. Sie drehte dem Pferd den Rücken zu und ging wieder in Richtung des Verwalters, der feixte, als wäre sie gescheitert. Doch dann änderte sich seine Miene mit einem Mal, und er fasste sich an den Hut. Marie spürte eine sanfte Berührung im Nacken, Silberstern war ihr gefolgt und stupste sie an. Jetzt wandte sie sich ihm zu, tätschelte ihm den Kopf und legte ihm behutsam das verrutschte Halfter an. Als sie ihn am Maul berührte, bemerkte sie den Grund für seinen Ausbruch.

»Auf der linken Seite ist sein Zahnfleisch entzündet, sehen Sie, hier?« Sie zeigte es Dülmen, und auch der Stallbursche kam neugierig näher. »Erst wenn das geheilt ist, können Sie ihm wieder eine Trense anlegen. Und dann wäre es auch besser, Sie oder Ihr Arbeiter würden das Pferd nicht mehr schlagen, besonders am Kopf nicht. Pferde sind klug, sie merken sich alles. Mit Ihrer Peitsche werden Sie das Tier nicht mehr in den Stall bringen, geschweige denn in Ihren Anhänger.«

»Gerade wollte ich Ihnen doch noch eine Stelle als Hausmädchen anbieten, Sie haben eine hübsche Figur, ich mag zierliche Frauen, die sind geschmeidig. Also, besser Sie halten sich zurück und erzählen mir nicht, wie ich mit meinen Viechern umzugehen habe, sonst überlege ich mir´s noch anders. Jeder soll spüren, wer sein Herr ist.«

»Ich dachte, die Herrenmenschen sind entmachtet?« Für einen Augenblick fürchtete sie, Dülmen würde die Peitsche gegen sie schwingen, doch er beherrschte sich. »Wenn Sie keine Stelle als Bereiter zu vergeben haben, dann verzichte ich.« Sie tätschelte Silberstern den Hals, nahm Schirm und Koffer und ging.

Zurück zum Bahnhof, hoffentlich fuhr heute noch ein Zug nach München, dort würde sie sich fürs Erste eine Bleibe suchen. Allerdings graute es ihr vor dem langen Waldweg, an der abgelegenen Mühle vorbei. Was, wenn dort tatsächlich dieser Lenz wohnte und nach ihr grabschte? Auf dem Hinweg hatte die Mühle verlassen gewirkt, auch die zwei Häuser mitten im Wald. Das eine, mit einem ebenerdigen Türmchen, wirkte sogar richtig idyllisch, fast so, als hätte hier früher eine Königstochter gelebt. Der Wind frischte auf, und es regnete wieder. Bald prasselten dicke Tropfen auf ihren Schirm, den ihr Schwester Iphigenie vorsorglich mit auf den Weg gegeben hatte. Zuerst hatte Marie ihn nicht annehmen wollen, sie wusste nicht, ob sie ihn je zurückbringen würde. Doch die Schwester hatte abgewinkt: »Behalten Sie ihn. Den hat jemand vorm Beichtstuhl vergessen und seit zwei Jahren nicht abgeholt. Wenn der Schirm nun Sie behütet, hat er seinen Zweck erfüllt.« Marie folgte den Fahrrinnen der Autos, an einer Kapelle und dem Schlossweiher vorbei, bis zu einer Kurve. Bevor sie in den Wald einbog, musste sie am Ortsende eine Brücke überqueren, unter der das angestaute Wasser schäumte. Eine Böe riss ihr den Schirm aus der Hand, er segelte sofort davon. Sie hastete ihm nach, hoffentlich landete er nicht im Wasser. In diesem Augenblick klappte ihr Koffer auf, die Schnur, die ihn notdürftig zusammengehalten hatte, war gerissen, ihre Sachen verteilten sich auf der Fahrbahn und kullerten den Abhang zum Fluss hinunter. Ihr Skizzenbuch, der Pelikan-Tuschkasten, die Pinsel, der selbstgestrickte Pullover aus aufgetrennter Wolle, die ihr die Nonnen geschenkt hatten, das zweite Paar Strümpfe und auch ihre Wechselwäsche. Was musste sie noch durchstehen? Wann fand sie je wieder irgendwo Halt? Regen peitschte ihr ins Gesicht. Binnen Sekunden war sie durchnässt. Natürlich hatte sie absichtlich ihren Namen abgekürzt, um überhaupt eine Einladung zu erhalten. Als Vertriebene, noch dazu als Frau, bekam sie auf die meisten Bewerbungen nicht einmal eine Antwort. Sie wollte einfach nicht länger Hilfsdienste im Kloster ausführen und hauptsächlich beten, als gäbe es einen gerechten Gott, dem man Demut und ewige Dankbarkeit zeigen musste. Dankbarkeit wofür? Dass man ihren Vater verschleppt und ermordet hatte, sie und ihre Mutter vom Gut vertrieb und dass sie beide auf der Flucht um ihr Leben hatten bangen müssen? Und dass am Ende alles noch schlimmer gekommen war? Schlimmer als der Tod. Irgendwo musste es doch auch für sie einen Ort geben, wo sie die sein durfte, die sie war. In diesem verdammten Land, in diesem Leben, in dem ihr nur ein paar Habseligkeiten geblieben waren, die jetzt im Straßendreck lagen. Mit einem Mal fühlte Marie sich all ihrer Kräfte beraubt, sie fiel auf die Knie und brüllte, so laut sie konnte, in den grauen Himmel. Der Pfau antwortete ihr mit seinem durchdringenden Schrei.

Warum hatte sie diese Fahrt auf sich genommen? Sie und auf einem Gestüt arbeiten, welch Hirngespinst. Die Zeit konnte sie nicht zurückdrehen, nichts würde jemals so sein wie früher. Der Schmerz würde bleiben, ihr ganzes Leben lang. Egal was sie anstellte, wie sehr sie sich ablenkte und hoffte, dass doch noch ein Wunder geschah. Immerhin hatte sie überlebt. Zumindest dafür sollte sie dankbar sein. Sie musste ihr Glück finden, und wenn das zu viel verlangt war, dann wenigstens einen friedlichen Ort, wo sie zur Ruhe kam. Nach Waldsassen konnte und wollte sie nicht mehr zurück, obwohl die Zisterzienserinnen sie gerettet und gesund gepflegt hatten. Oder sollte sie doch noch ins Kloster eintreten, wie es Schwester Iphigenie ihr ans Herz gelegt hatte? Was, wenn diese unsäglichen Kopfschmerzen wiederkehrten, die mit nichts zu bekämpfen waren, außer mit Abwarten und Aushalten? Auch die Nonnen hatten nichts anderes gewusst, als sich dicht um ihr Bett zu drängen und ein Kreuz über ihr zu schwingen, als wäre der Teufel in sie gefahren. Nein. Nie wieder wollte sie das ertragen. Marie war in Freiheit aufgewachsen. Im Nachthemd ohne Sattel über die Felder galoppiert, bis nach Glatz, wo Theo wohnte. An ihn wollte sie jetzt am allerwenigsten denken und tat es doch. Dachte daran, wie sie im Mondschein nackt und engumschlungen im Weiher gebadet hatten, ohne zu ahnen, dass es ihr letztes Treffen war. Kurz darauf wurde Theo verhaftet, zusammen mit den anderen arbeitsfähigen Männern – ihrem und seinem Vater, dem Bürgermeister. Keiner von ihnen kehrte lebend zurück. Die übrigen Anwohner mussten innerhalb von achtundvierzig Stunden die Häuser verlassen. Zuletzt hatte ihre Mutter noch das ganze Vieh von der Kette befreit und die Ställe geöffnet. Das Schreien der Kühe, die dringend gemolken werden mussten, verfolgte sie kilometerweit, während sie mit dem vollbepackten Handwagen zum Bahnhof marschierten.

Einzig eine Arbeit in der Klosterbibliothek hätte ihr gefallen. In Waldsassen war das ein hoher Raum voller Regale, in dem große geschnitzte Figuren die Empore mit Hunderten uralter Bücher trugen. Doch die Stelle als Bibliothekarin hatte eine ehrgeizige Novizin ergattert. Blieb nur Maries Wissen über Pferde, das Wissen einer Frau, das nutzlos war, wie sich eben gezeigt hatte. Dabei musste man weder brüllen noch schlagen, um ein Pferd zu zähmen. Man kam sogar ganz ohne Worte aus.

»Pferde lernen, die Körpersprache der Menschen zu deuten. Eigentlich sind wir Raubtiere für sie, denen sie trotz allem ihr Vertrauen schenken«, hatte ihr Vater, der ein Pferdenarr wie sie war, erklärt. »Nimm dir ein Beispiel an ihnen.« Von Vertrauen und Geduld hatte er oft gesprochen, besonders wenn Marie über ihre eigenen Füße stolperte oder vom Pferd fiel oder ihr eine andere Sache misslang, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte und auf der Stelle beherrschen wollte.

Was hatten ihrem Vater am Ende sein Vertrauen und seine verdammte Geduld genutzt, als die Sowjets ihn ermordeten? Marie kauerte sich am Straßenrand zusammen. Ihre Geduld war restlos aufgebraucht. Sie hatte auch keine Tränen mehr, das Weinen erledigte der Regen für sie, und dann ließ er nach. Die Wolken gaben ein Stück blauen Himmel frei. Es rauschte in den Bäumen, tropfte von den Ästen. Auf einmal war sie so entsetzlich müde und hätte sich am liebsten auf der Stelle, hier mitten auf der Straße, wie eine Katze zusammengerollt und wäre eingeschlafen.

HELGA

Trotz des milden Münchner Maiabends fröstelte Helga in ihrer ärmellosen Bluse, in der sie schon den ganzen Tag unterwegs war. Dennoch zögerte sie, nach Hause zu gehen, schlenderte lieber am zerbombten Rathaus vorbei, das noch immer eine große Baustelle war. Ein frischer Wind pfiff über die Trümmerberge und durch die Gassen und blies ihren Rock samt dem Petticoat auf. Der gebauschte Unterrock war der letzte Schrei aus Amerika und übertrieben teuer, falls man ihn nicht selbst nähen konnte oder wollte. Helga hatte sich gleich drei davon gekauft und trug sie übereinander. Wenn schon auffallen, dann richtig! Gleich neben dem Rathaus befand sich das wiedererrichte Modehaus Beck mit seiner modernen geometrischen Fassadenbemalung. Sie spazierte durch die Arkaden, blieb vor einem Schaufenster stehen, nahm ihre Sonnenbrille ab und stellte sich wegen ihrer Kurzsichtigkeit dicht an die Scheibe. Sie zog die Schleife am Pferdeschwanz straff und zupfte den kurzen Pony gerade. Eigentlich, so fand sie plötzlich, war ihre Frisur längst überholt, mittlerweile trugen fast alle in ihrer Abiturklasse die Haare auf diese Art. Und da sie nicht mehr dazugehörte, war es Zeit für eine Veränderung, deutlich kürzer, kinnlang wäre nicht schlecht. Das Kaufhaus hatte bereits geschlossen, Helga warf einen Blick in die Auslagen und entdeckte so manche Neuheit an den Schaufensterpuppen, die sie so bald wie möglich anprobieren wollte. Dieser schwarze Lackgürtel zum Beispiel würde ihre Taille betonen, die großen Ohrclips ihren Hals verlängern, dazu die passende Handtasche mit den weißen Punkten … Sie seufzte und blickte auf ihre Armbanduhr. Viertel vor neun, nun hatte sie diesen entsetzlichen Tag fast herumgebracht, auch wenn ihr das Unangenehmste noch bevorstand. Seit mindestens einer Stunde wurde sie von ihren Eltern zur Fleischbeschau erwartet, wie Helga diese arrangierten Abende nannte. Dafür musste sie adrett gekleidet antreten, nichts Aufreizendes oder Gewagtes, aber auch nicht zu hochgeschlossen. Zeitlos elegant, wie ihre Mutter die langweiligen Kostüme nannte, die sie selber trug. Schließlich sollte der Auserkorene, der in Vaters Fußstapfen treten würde, auf den Geschmack gebracht werden. Dafür hatte der Vater hart gearbeitet, die Firma mit seiner Hände Arbeit durch den Krieg gebracht und vor kurzem sogar Filialen in den Großstädten Deutschlands eröffnet. Er expandierte weiter, vielleicht sogar bald international. Die Unstimmigkeiten mit den Besatzern waren so gut wie vom Tisch. So ganz genau wusste Helga darüber nicht Bescheid, und ihr Vater hielt sich bezüglich der Einzelheiten bedeckt. Das Geschäft war Männersache, betonte er gerne. Helga kam nur ins Spiel, um den Auserwählten anzulocken. Sie war die Prämie, die sein Schwiegersohn nach seiner Abdankung erhalten sollte. Ob sie ihren Zukünftigen mochte, war Nebensache bei dem Arrangement. Nach mehreren misslungenen Anläufen, bei denen sie ihr loses Mundwerk nicht hielt und die Herren vergraulte, hatten ihre Eltern ihr eingeschärft, sich beim nächsten Mal zurückzuhalten. Vor allem bei politischen Themen. Dabei interessierte sie sich brennend dafür. Mode und Zeitgeschehen waren schließlich eng verknüpft. Im Grunde musste ihre Mutter das auch wissen, in ihrer Jugend hatte sie selbst gegen das Korsett aufbegehrt und nur noch auf Hüfte geschnittene Reformkleider getragen. Doch als Ehefrau Knaup schien sie das vergessen zu haben, und mittlerweile verhielt sie sich so gestelzt, als trüge sie wieder Fischbein unter der Bluse. Lächeln und mit den Wimpern klimpern, mehr war bei Tisch an so einem Abend nicht erlaubt, sprechen durfte sie nur, wenn der Zukünftige das Wort an sie richtete. So betrachtet war es egal, dass Helga heute durchs Abitur gerasselt war. Hirn wurde ohnehin nicht von ihr verlangt. Dabei hatte sie fast keine der Nachhilfestunden geschwänzt, wie blöd gebüffelt und sogar autogenes Training ausprobiert, als ihre Konzentration nachließ. Doch leider half nichts gegen ihre Prüfungsangst. Kam es darauf an, löschte sich alles Gelernte wie von selbst in ihrem Kopf. Weder schriftlich noch mündlich hatte sie sich irgendwie äußern können. Kein Wunder, dass sie durchgefallen war.

 

Dennoch hatte sie sich von den anderen überreden lassen, an der Isar zu feiern. Dabei tat sie so, als hätte auch sie bestanden, und warf ihre gesamten Schulsachen ins Lagerfeuer. Erst als ihr das Anstoßen auf die Erfolge der anderen zu viel geworden war, fuhr sie mit der Tram zu Eva, um bei ihr zu überlegen, wie sie ihren Eltern ihr Versagen beibringen sollte. Eva war drei Jahre jünger als sie, also gerade achtzehn geworden, und himmelte sie an, was Helga manchmal auf die Nerven ging. Doch wo sollte sie an diesem Nachmittag sonst hingehen?

Bald lagen sie in Evas Zimmer auf dem Teppich und hörten Vico Torrianis Siebenmal in der Woche zum siebenundsiebzigsten Mal. Die einzige Erwachsenenschallplatte, die Eva besaß, sonst standen nur Der kleine Häwelmann und Die Gänsemagd zur Auswahl. Helga tat alles, wozu Eva Lust hatte, das lenkte sie von ihrer eigenen Sorge ab. Sie schnitten Schlagzeilen und besondere Fotos aus Zeitschriften aus und klebten sich ein Schönheitsalbum. Doch irgendwann hatte Helga keine Lust mehr auf den ganzen Kinderkram. Sie spazierten durch Haidhausen, stöberten in einem Plattenladen und hörten sich durch die neuesten Jazz- und Bluesscheiben, richtige Musik, eine Wohltat! Helga kam sich ein bisschen wie eine große Schwester vor, wie die, die Lore einmal für sie gewesen war. Danach kauften sie sich in einer Bäckerei zwei Granatsplitter, hohe spitze Berge aus Kuchenresten, mit Schokolade überzogen, wahre Kalorienbomben, die pappsatt machten, und rätselten, was genau drin war. In Evas etwas mit Kirsche und Alkohol, in Helgas etwas Würziges mit Karotten. Anfangs aßen sie noch gierig, knackten die Schokolade zwischen den Zähnen und genossen die Köstlichkeit, aber nach und nach mussten sie sich zwingen, nichts übrig zu lassen. Sie begannen, die Spatzen zu füttern, die um den Weißenburger Platz flatterten. Hinterher juckte es Helga überall. Auf Karotten war sie allergisch.

 

Als sie an einer Telefonzelle vorbeikamen, fiel ihr ein, dass sie ihren Eltern gar nicht Bescheid gesagt hatte, wo sie war. Sie rief an. Die erste Münze klapperte durch den Kasten, als ihre Mutter abhob. »Knaup.«

»Mutti, ich bin’s, ich bin noch bei …« Mehr musste sie nicht sagen, ihre Mutter schwallte sie zu.

»Ich habe mich schon gewundert, wo du bleibst. Erika von den Körners ist längst zu Hause. Bei ihr lief’s sehr gut, ein Einser-Abitur, stell dir vor. Sie wurde sogar extra belobigt, ich habe ihre Mutter beim Friseur getroffen. Sie überlegt nun, nicht Psychologie, sondern Mathematik zu studieren. Als Frau, Mathematik, wofür soll das bloß gut sein. Dr. Nowak hat seine Rechnung für deine Nachhilfestunden heute schon geschickt, pünktlicher geht es kaum. Apropos pünktlich, vergiss nicht, um acht hier zu sein, oder besser eine Stunde vorher, damit du dich noch zurechtmachen kannst, auch die Finger- und Fußnägel, weil du offene Schuhe trägst. Wir haben einen Gast zum Abendessen, das hast du hoffentlich nicht vergessen. Wir können dann gleich alle zusammen auf deinen Erfolg anstoßen.«

 

Als Klassenälteste durchs Abitur zu rasseln, war mehr als peinlich. Durch Lores Krankheit und dann ihren Tod hatte Helga den Großteil der fünften Klasse verpasst und war ein Jahr zurückgestellt worden. Doch wirklich aufgeholt hatte sie nie mehr. Am liebsten hätte sie die Schule abgebrochen und eine Lehre begonnen, aber das erlaubten ihre Eltern nicht.

»Willst du etwa Bäckerin oder Schneiderin werden?«, hatte ihre Mutter damals gefragt. »Du bist eine Knaup!«

»Wie wäre es mit Fabrikarbeit, ich könnte die Firma von ganz unten kennenlernen?«, scherzte sie. Aber ihre Eltern fanden das gar nicht lustig. Eigentlich hatte sie Schauspielerin werden wollen, früher gefiel es ihr, in der Theatergruppe der Schule mitzumischen. Doch nach Lores Tod mied sie das Rampenlicht.

»Ich will Ärztin werden«, hatte sie dann mit vollem Ernst gesagt, und ihre Eltern waren in schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Du und Medizin studieren?« Ihr Vater gluckste. »Mit einer Fünf in Latein? Noch dazu kannst du doch kein Blut sehen und fällst bereits in Ohnmacht, wenn du dir das Knie aufgeschlagen hast.«

»Da war ich sechs, Vati, und bin vom Roller gefallen.« Ihren Entschluss Ärztin zu werden, hatte sie kurz nach Lores