Die Würze der Kürze - Klaus Zeyringer - E-Book

Die Würze der Kürze E-Book

Klaus Zeyringer

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Beschreibung

Eine Geschichte der »Vermischten Meldungen« als Geschichte der Presse: Klaus Zeyringer zeigt, wie sich seit dem 17. Jahrhundert Leben und Treiben, Ängste und Sensationslust in den Kleinen Meldungen spiegeln.  Himmelserscheinungen, Kinder mit drei Köpfen und Eisenbahnkatastrophen. Seit ihrem Entstehen bringen Zeitungen Sensationelles im Großen und im Kleinen: Kleine Chronik, Miscellaneous, Faits Divers. Anhand dieses oft bizarren, oft tragikomischen Genres erzählt Klaus Zeyringer die Entwicklung der Presse in Europa und Amerika. Seine gewitzten Streifzüge durch vier Jahrhunderte bringen vergnüglich lesbare Kultureinblicke: Wie der Papst Windeln segnet, ein Mönch das Fegefeuer testet, die Französische Revolution ein Dinner stört, der Wilde Westen auf Titelseiten kommt, und wie heute die Kürze digital floriert. Die Genies der Erzählung in drei Zeilen sind Kleist, Fénéon und Karl Kraus; dazu treten Diderot, Bettina von Arnim, James Joyce auf. Und auf der kleinen Pressebühne Räuber und Propheten, lebend Begrabene und Reiter ohne Kopf.

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Klaus Zeyringer

Die Würze der Kürze

Eine kleine Geschichte der Presse anhand der Vermischten Meldungen

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Himmelserscheinungen, Kinder mit drei Köpfen und Eisenbahnkatastrophen. Seit ihrem Entstehen bringen Zeitungen Sensationelles im Großen und im Kleinen: Kleine Chronik, Miscellaneous, Faits Divers. Anhand dieses oft bizarren, oft tragikomischen Genres erzählt Klaus Zeyringer die Entwicklung der Presse in Europa und Amerika. Seine gewitzten Streifzüge durch vier Jahrhunderte bringen vergnüglich lesbare Kultureinblicke: Wie der Papst Windeln segnet, ein Mönch das Fegefeuer testet, die Französische Revolution ein Dinner stört, der Wilde Westen auf Titelseiten kommt, und wie heute die Kürze digital floriert. Die Genies der Erzählung in drei Zeilen sind Kleist, Fénéon und Karl Kraus; dazu treten Diderot, Bettina von Arnim, James Joyce auf. Und auf der kleinen Pressebühne Räuber und Propheten, lebend Begrabene und Reiter ohne Kopf.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Professor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste und moderiert Literatur-Veranstaltungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Im S. Fischer Verlag ist »Fußball. Eine Kulturgeschichte« (2014) erschienen sowie das zweibändige Werk »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 1: Sommer« (2016) und »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 2: Winter« (2018).

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Leser, Publizisten

1 Vor den Letzten Tagen der Menschheit: »Gleichheit war im allgemeinen überlegen«

2 Im Untergeschoss der Weltgeschichte: »In Kalkutta finden immer Unruhen statt«

Beginn des Pressewesens

3 Die Erfindung der vervielfältigten Nachricht – und was hinter Worten steckt

4 Flugblatt, Neue Zeitung, Schröckliches

5 Regelmäßige Drucknachrichten

6 Geister, Räuber, Engel, Propheten, Himmel

7 Kleiner Brand nach dem großen

Leser, Publizisten

8 Drei Männer im Pariser Salon

9 Aufklärung trifft Aberglauben

Aufschwung des Pressewesens, Bildung einer Öffentlichkeit

10 Heilige Windeln, ein erfundenes Königsgewitter und der räsonierende Konvent

11 Das Lebenswichtige und das Läppische

12 Alles Fait Divers? – und ein Korrespondenzdilemma

13 Kopf aufgespießt, »while at dinner«

14 Sprachkunst der kleinen Meldung, polizeilich beglaubigt

15 Salutschüsse und eine Revolution im »ruhigen Gang«

16 Auf der anderen Seite des Kanals und des Atlantiks

17 Pony-Billard, Pomp und Elend

Leserinnen, Publizistinnen

18 Zwei Frauen am Fluss

19 Vermittlung, Publikum, Erzählweise

Auf dem Weg in die Moderne

20 Eine tödliche Mode und die Heiterkeit des Publikums

21 Gefährliche höchste Eisenbahn

22 Unbrauchbarer Riesenkäse

23 Kopflos, scheintot

24 Wildwest: Faits Divers auf der Titelseite

25 Pressebeschleunigung – und was komisch und sensationell war

26 Kleine Meldungen, kleine und große Gauner

Leser, Publizisten

27 Joyce in Istrien, ein Intermezzo

28 Sprachkunst in drei Zeilen

Presseschlachten

29 Schwindler und schwindelnde Begeisterung

30 Kriegspropaganda à la Faits Divers

Leser, Publizisten

31 Sprachkunst gegen den Ungeist der Kleinen Chronik

32 Lektion in der Redaktion

Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit

33 Hochkonjunktur der Sensationen

34 Kultur und Unkultur

35 »Kurz gemeldet«, Faits Divers, Miscellany im Krieg

36 »Löwen rutschen in Schweinfurt aus«

37 Leser, Publizisten in aller Kürze

38 Sex, babies and crime

39 Boulevard der Vermischten Nachrichten

40 Globale Mythen, alte Legenden modern

41 Kleine Zeitungsbühne in Internetzeiten

42 Twitter

Bibliographie

Internet

Bücher und Aufsätze

Leser, Publizisten

1Vor den Letzten Tagen der Menschheit: »Gleichheit war im allgemeinen überlegen«

Ein soignierter Herr im Lodenmantel steht am Perron des kleinen Bahnhofs. Er sieht zu, wie Hoteldiener ein paar Pakete bedruckten Papiers auf ihre Karren laden und der Wind sie aufzublättern versucht.

Die Morgenausgaben gelangen mit dem ersten Zug aus der Haupt- und Residenzstadt in den Bergkurort. Überregionale Zeitungen folgen zur Stunde, in der weiß beschürzte Kellner das Zweite Frühstück auftragen. Passend für den Fünfuhr-Aperitif trifft schließlich das Nachmittagsblatt ein.

Ob kleine Pension oder Luxushotel, ein gut bestückter Pressetisch gehört sich. Die 64 Kronen für ein Jahresabonnement der Neuen Freien Presse sind den Service wert. Den Pester Lloyd gibt es billiger, trotz seiner längeren Anreise aus Ungarn, 48 Kronen kostet er. Noch günstiger ist das Neue Wiener Journal, man kann es sogar in Ägypten beziehen, um 11,50 Kronen im Quartal. Die Frankfurter sowie die seit Jahresbeginn vom Ullstein-Verlag betriebene Vossische dürfen nicht fehlen, man bekommt sie allerdings manchmal mit einem Tag Verspätung. Blätter aus Übersee liegen erst Wochen nach ihrem Erscheinen in den Stammcafés für Lese-Snobs bereit.

»Welch wundervolle Organisation, wie flott diese großen und kleinen Meldungen alle Welt erreichen«, sagt der Fahrdienstleiter angesichts der schmalen Bündel, die der Schaffner aus dem Waggon reicht.

Der Streckenwärter nimmt sie entgegen. »Ich schwöre auf die Arbeiterzeitung«, antwortet er. »Sie kümmert sich um meinesgleichen, und für das Abonnement zahl ich monatlich nur zwei Kronen zwanzig.«

»Mir ist die Reichspost lieber«, sagt der Fahrdienstleiter. »Sie ist für das christliche Volk gemacht. Das steht gleich unter ihrem Namenszug. So weiß man, was man bekommt. Drei siebzig kostet sie im Monat. Vorgestern hat sie auf der ersten Seite einen schönen Artikel über den Osterglauben gebracht.«

»Die Arbeiterzeitung dafür die Überschrift ›Sozialer Friede oder Klassenkampf?‹ Da haben wir’s schwarz auf weiß gedruckt, was uns unterscheidet«, entgegnet der Streckenwärter.

Vorne, vor dem Schlund des Tunnels, faucht die Lokomotive im Stand.

Hier am Bahnhof hat sich der soignierte Herr die Dampfloks angesehen, mit denen die Moderne heraufzog, über Brücken, durch Tunnels, angesichts von Felszacken und Schluchten. Die Fahrt auf der ersten Alpenstrecke bietet jedes Mal ein Erlebnis, erstaunter Blick links aus dem Fenster, nach der Kurve ergötzlicher Anblick rechts.

»Welch Wunder, diese Eisenbahn«, sagt der Kaiserliche Rat.

Als der Allerhöchste Herr anno 1728 auf dem neuen Weg bequem im Pferdewagen hier herauf kutschiert ist, sein Wohlgefallen darüber bezeugt hat und »die Arbeiter allergnädigst beschencket«, war es dem Hamburgischen Correspondenten in seiner Nummer 110 eine Meldung wert gewesen: Solche Arbeit sei »recht wunders=würdig«, man vermöge fast nicht zu glauben, »daß auf einer solchen Anhöhe eine Land=Straße durch Menschen Hände gemacht werden könnte«.

In den modernen Zeiten, die auch das Pressewesen beschleunigt haben, rollen nun schnaubend, aber flott die Züge herauf. An der Böschungsmauer erinnert ein von dorischen Säulen gerahmtes Denkmal an den Ingenieur, der den Streckenbau plante und leitete.

Nachdem der soignierte Herr im Lodenmantel sich davor verneigt hat, kehrt er vom Spaziergang zurück, schwenkt seinen Stock, geht vorbei an Villen in mariatheresianischem Gelb. Auf kleinen Holzbalkons hängen erwartungsvoll dunkelbraune Blumenkistchen über den Geländern. Dichtgrün steigt der Wald an, durch den eine Riesenhand fährt, so dass die Strähnen der Bäume zu Berge stehen. Fast wäre der Hut vom Kopf geflogen, hätte ihn nicht die Rechte schnell festgehalten. Bei diesem Wetter freut man sich auf die ruhige Salonwärme, auf die Nachrichten aus der großen und der kleinen Welt, die einem Kaiserlichen Rat auch hier im ländlichen Kurzurlaub nicht fehlen dürfen. Schon gar nicht die Kleine Chronik, die kurzen Texteinsprengsel, die er – wie alle noch so klugen Männer, die er kennt – mit Vergnügen, mitunter mit leisem Schaudern liest.

Das mächtige und doch fein gegliedert wirkende Hotelgebäude steht am Hang. Zum Prunkeingang mit seinen getönten Schwingtüren führen weiße Stufen aus exquisitem Stein. Drinnen öffnet sich eine weite helle Halle, deren Hintergrund die gediegen getäfelte Rezeption bildet, mittig an der Wand ein großes Bildnis des Allerhöchsten Herrn. Unter den Kristalllüstern sind rot gepolsterte Fauteuils zu Sitzgruppen zusammengestellt. Auf den Tischchen liegen Zeitungen, ein Pressespektrum der Monarchie, ein paar Exemplare aus dem Ausland.

Großformatig liefern sie viele Meldungen auf einer Seite, in gewohnter Ordnung, so dass die Leserschaft täglich ein Raster ihrer Existenz vorzufinden meint, Koordinaten vom Internationalen bis ins Private. Die ganze Bandbreite bespielen die »Vermischten Meldungen«. Den Redaktionen sind sie praktische Füllsel, die sich dorthin, dahin setzen lassen, Auswüchse des Allzumenschlichen, die dem Publikum bedeuten, dass das berichtenswerte Geschehen vor keiner Haustüre haltmacht.

Der Kaiserliche Rat zieht sich mit ein paar Blättern in eine Polsterecke zurück. Nur leichtes Papierrascheln, manchmal ein Gläserklacken unterbricht die Stille.

Am Wochenende ging es hier oben noch hoch her. Nun kann man die Gespräche und Belustigungen sich setzen lassen. Die Meldungen halten politisch auf dem Laufenden, schließlich ist die Lage nicht einfach. Und am Rande liefern die Kästchen der Kurznachrichten soziale Momentaufnahmen. Der Kaiserliche Rat schlägt die Neue Freie Presse auf, er vertieft sich. Bei der »Kleinen Chronik« hebt er die Augenbrauen, er liest seinen eigenen Namen.

Passend findet er das. Schließlich bietet die Gegend nicht nur mondäne Erholung in den Bergen, in Südbahnnähe von Wien. Hier ereignet sich Gesellschaft. »Seinesgleichen geschieht« wird es später im großen Roman über diese Zeit heißen.

Man schreibt den 14. April 1914, es ist der Dienstag nach Ostern. In der Neuen Freien Presse steht:

Vom Semmering, 13. d., wird uns gemeldet: Das herrliche Wetter hatte zu den Feiertagen zahlreiche Besucher auf den Semmering gelockt. Nicht nur auf dem Semmering selbst, sondern im ganzen Semmeringgebiete waren sämtliche Hotels, Villen und Privatwohnungen vollbesetzt. Das Publikum benützte das sommerlich warme Wetter zu Spaziergängen und Ausflügen. Überall herrschte fröhliches Leben und Treiben.

Das Wiener Blatt hebt Gäste aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur hervor. Im Südbahnhotel Kommerzialrat Fanto, Professor Dr. Jolles, Frau Hofrat v.Popper aus Budapest, den Kaiserlichen Rat Wilhelm Taussig, Fräulein Gerda Walde; im Hotel Panhans Richard Preßburger, Direktor Ben Tieber vom Apollotheater; im Palace Hotel den Kaiserlichen Rat Wertheim, in der Pension Sonnhof den Kaiserlichen Rat Fleischl, Direktor Popper, Frau Medizinalrat Fodor. Zudem nennt die kurze Mitteilung den Justizminister, Generalkonsuln, Offiziere, einen Oberstleutnant »mit Sohn«, Grafen, Freiherrn »samt Familie«, Bankdirektoren, eine »Fabrikantensgattin«, Advokaten, »Fräuleins vom Theater«, den »Flieger Warchalowsky u.a.m.«.

 

Karl Kraus, das literarisch-moralische Gewissen der Zeit, weiß, dass aus kleinen Meldungen ein Abbild der Welt ersteht. Der scharfe Blick des ungemein renommierten wie auch angefeindeten Publizisten vermag hinter die Kulissen der Phrasen zu schauen und Zustände im Blitzlicht seiner Satire zur Kenntlichkeit zu bringen.

Eine Woche nach den Ostertagen schreibt er unter dem – fett die Phrase ausstellenden – Titel »Leben und Treiben«, Derartiges habe die Neue Freie Presse vermeldet. Am 21. April 1914 steht in der Fackel, Nummer 398:

Leben und Treiben herrschte zu Ostern auf dem Semmering. Ein schlechter Prophet, der es anders erwartet hat. Es lebten: Fanto, Jolles, Popper, Taussig und Gerda Walde. Es trieben: Preßburger, Wertheim, Fleischl, Fodor und Ben Tieber. Da somit auch die Kunstwelt ihre Vertreter entsendet hatte, blieb dem Humor nichts anderes übrig, als in seine Rechte zu treten, während das herrliche Wetter unaufhörlich damit beschäftigt war, Generalkonsuln zu locken.

Die Wege zu den Letzten Tagen der Menschheit wusste Karl Kraus mit Phrasen gepflastert. In den kleinsten Einheiten journalistischen Ausdrucks spürte er sie auf und fand darin einen Weltgeist geäußert, der dann den Großen Krieg auf Formeln brachte. Denn kaum ein halbes Jahr nach dem Osterwochenende auf dem Semmering war das Leben zigmillionenfach einem anderen Treiben ausgesetzt.

 

Was an diesem 14. April 1914 groß in den Zeitungen stand, mag aus unserer Sicht der Nachgeborenen wie ein Auftakt vor dem gewaltigen Paukenschlag wirken. Am Rande übte sich die »Kleine Chronik« in Fröhlichkeit, die sie, vom Alltag abgehoben, in der Freizeit vor herrlicher Bergkulisse als Society-Stelldichein zeichnete, während »Vermischte Meldungen« private Katastrophen anführten.

Die damaligen Schlagzeilen auf den Titelseiten erscheinen heute wie Vorboten der Weltkatastrophe: Kämpfe in Nordwesten Griechenlands, antigriechischer Boykott in der Türkei, »Skandalszenen« im bulgarischen Parlament, Albanien hat die Mobilmachung ausgerufen, »nationalistische Agitation« in Russland, »Wirren« in Mexiko, Kriegsschiffe der USA vor Tampico, ein »Millionenvermächtnis für die serbische Armee«, gestiftet von einem »hiesigen Millionär, obwohl er nie Soldat war«.

In seiner Morgenausgabe kommt auch das Berliner Tageblatt an diesem Dienstag dem Semmering nahe. Es meldet einen Absturz auf der Rax, kaum zwanzig Kilometer vom Frohsinn der Wiener Wochenendurlauber entfernt. Auf der ersten Seite aber feiert es eine Welt, die das nächste Jahrzehnt nicht erleben wird. Unter der Schlagzeile »Ostern auf Korfu« berichtet das Blatt, das griechische Königspaar habe die Insel beehrt, während dort der deutsche Kaiser und die Kaiserin an die Mannschaft ihres Schiffes »Hohenzollern« gefärbte Eier verteilt hätten. Der Vossischen Zeitung ist die Meldung nur Seite 2 wert; sie vermerkt Tradition: »in Gegenwart der Majestäten« habe man »das übliche Eiersuchen« veranstaltet. Es folgt eine Liste der Geladenen.

Auch dort Leben und Treiben.

»Seit Jahren hatten wir nicht solch ein Osterfest«, zeigt sich der für das Ambiente zuständige Journalist des Berliner Tageblattes von der heimischen Metropole begeistert. Sonnig sei es gewesen, alle Städter hätten sich ins Grüne begeben, »die Häuser leer«, und »dann verbreiteten sich draußen diese ganzen Schwärme froher Menschen«. Rege Lustbarkeit allerorten, während der Bundestag der Wandervogel-Bewegung die »umstrittene Frage der Aufnahme von Juden« debattierte.

Für das Drama ist hier die Kleine Chronik zuständig. »Zwei Schülertragödien« verspricht der Titel, der erste Satz liefert die Gefühlslage: »Die Ostertage haben über zwei Berliner Familien schweren Kummer gebracht.« Ein Gymnasiast, Sohn eines Fabrikdirektors, habe sich trotz »ausgezeichneter Osterzensur« das Leben genommen, ein »Gemeindeschüler« sei »beim Ballspiel erschlagen« worden.

In wenigen Worten öffnen sich soziale Abgründe. Andere Abgründe warten vorne im Kalender.

Auf die Person, mit deren Ableben bald die Zukunft nicht nur des Kontinents abbiegt, kommt die Abendausgabe des Berliner Tageblattes: »Erzherzog Franz Ferdinand in München«. Der Konkurrenz, der Berliner Volkszeitung, erscheint diese Reise des k.u.k.-Thronfolgers am 14. April 1914 nicht erwähnenswert, die Schülertragödie hingegen schon. Und der Aufmacher des Blattes geht ins Bevölkerungspolitische: »Strafen gegen den Gebärstreik«, darunter heißt es, der »gerichtliche Kampf gegen den gewollten Geburtenrückgang wird fortgesetzt.« Das Vaterland braucht Soldaten.

 

Der Kaiserliche Rat lehnt sich zurück und raucht eine Zigarre an. Ein Wölkchen bläst er in die Halle, dann greift er zum Pester Lloyd.

Die politischen Neuigkeiten kennt er nun, er blättert gleich auf Seite drei. Den Kurzmeldungen ist hier ein Titel in Klammern, nur wenig breiter gesetzt, vorangestellt. »Ein flüchtiger Universitätsprofessor« fällt ins Auge: »Nach einer Petersburger Meldung des ›Lokalanzeigers‹ ist Professor Mereschewsky von der Universität in Kasan flüchtig geworden. Er wird beschuldigt, zahlreiche Grausamkeiten an mehreren kleinen Mädchen verübt zu haben. In Kasan herrscht furchtbare Empörung gegen den Professor.«

»Degoutant«, murmelt der Kaiserliche Rat. »Außerdem, was heißt ›flüchtig geworden‹, wozu dieses Passiv, wenn sich der Delinquent doch zur Flucht aktiviert hat.«

Der soignierte Herr ist Purist, sogar Die Fackel, die rot eingebundene Zeitschrift des strengen Karl Kraus, genehmigt er sich gelegentlich. Er stößt ein Zigarrenwölkchen aus, bevor er wieder zum Pester Lloyd greift.

Ein Polizeihund als Detektiv, ein verschwundener Major, ein Absturz im Gebirge, zwei Selbstmorde, eine süditalienische Familientragödie im »Geschlecht der Barone von C., das in den letzten Generationen immer mehr entartete«: »Trunk, Spiel und Liebeleien«, der Sohn »blödsinnig«, die Töchter »männersüchtig«. Eine bringt ein uneheliches Kind zur Welt und wird einundzwanzig Jahre lang in den Keller gesperrt. Die andere »vergeht sich mit einem Stallknecht«, wird aus dem Hause gejagt und muss sich »das trockene Brot mit der Preisgabe ihres Körpers erkaufen«.

»Den hat sie ja zuvor schon preisgegeben«, murmelt der soignierte Leser, degoutiert, zieht an der Zigarre und liest weiter. Auch diese Tochter kommt ins feuchte Kellerloch, bis endlich die staatliche Autorität eingreift.

Nächste Meldung: »Ausschreitungen gegen einen Bischof«, in Catanzaro, also wirklich dieses Süditalien, die Prozessionen waren »arg entartet«. Schließlich einige Zeilen, einige Rufzeichen: »Ein weiblicher Bankdirektor in Japan«, dann »Frau Poincaré und die neueste Hutmode«. Danach Sport, das interessiert wenig.

Der Kaiserliche Rat erhebt sich. Er nimmt Lodenmantel und Hut, begibt sich ins Restaurant und bestellt ein Gabelfrühstück, wie es der Allerhöchste Herr jeden späten Vormittag zu sich zu nehmen pflegt. Nicht nur die Bartmode folgt dem kaiserlichen Vorbild.

»Déjeuner à la fourchette«, sagt der soignierte Herr und legt die Zigarre im silbernen Aschenbecher ab.

»Sehr wohl, Herr Hofrat, ein Gulasch, wie üblich«, sagt der Kellner und verbeugt sich.

 

In der Küche beauftragt der Sous-Chef, kurz von der Zeitung aufsehend, den Gehilfen: »Schani, ein Gulasch.«

Über die internationale Politik hat er gelesen, auch über den Mordanschlag eines Streikbrechers. Die Arbeiterzeitung berichtet an diesem Dienstag vom Sport des Osterwochenendes, der Sous-Chef hat in der Bezirksliga gespielt. In Wien, erfährt er, kickte der Verein Gleichheit gegen den Verein Atzgersdorfer Freiheit. Gleichheit ging durch einen Elfmeter in Führung, danach drängte die Elf, so dass »die Freiheitsstürmer freies Feld zu Durchbrüchen fanden«. »Ein hartes Spiel« habe man erlebt, Fazit: »Gleichheit war im allgemeinen überlegen, hatte aber nicht die nötige Stehkraft«.

Bei den Vermischten Meldungen der Arbeiterzeitung, des »Zentralorgans der Deutschen Sozialdemokratie in Österreich«, steht am 14. April 1914 unter dem Titel »Arbeiterrisiko«: »An der Ecke der Landstraßer Hauptstraße und der Vorderen Zollamtsstraße stieß Samstag abend ein Straßenbahnzug mit einem Postwagen zusammen. Der Postkutscher, der 26jährige Anton Broskewitsch, Eisteichgasse wohnhaft, wurde vom Kutschbock geschleudert und erlitt eine Gehirnerschütterung.« In der nächsten Zeile beginnt die kleine Rubrik »Von den Obdachlosen«, hier liest der Sous-Chef über einen »Selbstmordversuch mit Tinte«: »Der 21jährige unterstandslose Hilfsarbeiter Johann P. trank am Ostersonntag gegen ½2 Uhr nachts in der Hormayergasse aus Lebensüberdruß Tinte und erlitt Verätzungen.« Es folgen mehrere »Opfer des Alkohols«.

Immerhin besser als Tinte, denkt der Sous-Chef. Von der Anti-Alkohol-Kampagne der Partei weiß er; was er davon halten soll, weiß er nicht so recht.

Und liest, der Verwalter des Asyls für Obdachlose habe sich das Leben genommen. Die folgende Spalte »Aus aller Welt« meldet einen Mord und eine Dampferkatastrophe.

Dann stockt der Zeitungsleser in der Küche des Luxushotels am Semmering. Hier steht, was er getuschelt vernommen hat. Niemand will es in der erholsamen Feiertagsbergwelt laut aussprechen, dadurch wird es unüberhörbar. Die Arbeiterzeitung bestätigt: »Tödlicher Absturz eines Wiener Touristen«.

 

Zurück in der Hauptstadt findet der Kaiserliche Rat im Kaffeehaus die Londoner Times vor, zunächst schlägt er in der Mitte die Rubrik »Imperial and Foreign Intelligence« auf. In Deutschland frage man sich, welche Gefahren die Industrialisierung mit sich bringe, in Bulgarien, wer für die heimischen »disasters« verantwortlich sei. Auf Seite 5 stößt er auf einen langen Bericht über »Austrian Alpine Motor Trials« und die notwendige britische Beteiligung.

Für eine Kleine Chronik ist sich diese Ausgabe der Engländer zu vornehm. »Very british«, murmelt der soignierte Herr zu seiner Kaffeetasse hinab. Dann nimmt er Le Matin, ebenfalls von diesem 14. April, zur Hand.

Und sagt zum Blatt hin und zu sich selbst: »Schau’n wir, was die Franzosen bewegte.«

Ostern bewegte sie nach draußen, ein Monsieur Roland Garros flog gar innert zwölf Stunden von Monaco nach Paris. Die Rubrik »Echos & Nouvelles« berichtet »La fureur tragique du mari trompé«, ein Eifersuchtsdrama: »Il tue sa femme et l’amant de celle-ci«. Die tragische Wut des gehörnten Gatten ließ ihn seine Frau und den Geliebten umbringen – es gilt zu präzisieren, wörtlich: »und den Geliebten ebendieser«.

Das klingt nach Fénéon.

Nicht bekannt aber ist dem k.u.k.-Rat, dass auch in Frankreich ein scharfes Auge auf die Phrasen blickt.

 

Félix Fénéon hat die Kleine Chronik in Le Matin zu seinem Stilgarten gemacht. Ihn zeichnet eine ähnliche sprachliche und soziale Sensibilität aus wie Karl Kraus. Er hingegen reißt die Formeln des Schreibens und Denkens nicht satirisch auf, sondern gestaltet vielmehr selbst die Kurzmeldungen auf seine originelle Weise. Die extreme Knappheit lässt Ungeheuerlichkeiten ungeschönt dastehen, die gewitzte Formulierung hebt Zustände und Verhältnisse hervor, in stupender Präzision.

Der Anarchist Félix Fénéon war in Paris jahrelang im Kriegsministerium angestellt, dort schätzte man seine genauen, nüchternen Berichte – bis 1894. Im April dieses Jahres musste er erfahren, dass einer seiner Schriftstellerfreunde durch das Attentat auf das Restaurant Foyot ein Auge verlor. Dieser, der Satiriker Laurent Tailhade, hatte nur ein paar Monate zuvor seine Bewunderung für einen anarchistischen Gewalttäter öffentlich bekundet: »Was kümmern uns die Opfer, wenn es eine schöne Geste war.« Die schöne Geste vermochte er im Foyot nicht ungetrübt zu sehen.

In der Rubrik »Von den Anarchisten« meldete die Wiener Sonn- und Montagszeitung am 2. Juli 1894 Anschläge in Italien und Spanien. Und aus Frankreich in einem Satz: »Bis 4 Uhr nachmittags wurden zweihundert Anarchisten in ihren Wohnorten in Paris verhaftet.« Darunter Fénéon. Die Staatsgewalt klagte ihn an, das Gericht sprach ihn frei.

Seine Berichte aus der täglichen Chronik versah er nun mit kleinsten Widerhaken. Aus den in letzter Minute eingetroffenen Depeschen formte er seine bald berühmten Dreizeiler, die Le Matin anonym in der Rubrik der Vermischten Meldungen, »Faits Divers«, brachte. Diese »nouvelles en trois lignes« setzte er geradezu fein subversiv zwischen die üblichen Kleinmeldungen der »Diversen Fakten«.

Madame Fournier, M. Voisin,

M. Septeuil se sont pendus:

neurasthénie, cancer, chômage.

 

(die drei Personen haben sich erhängt: Neurasthenie, Krebs, Arbeitslosigkeit.)

Un plongeur de Nancy, Vital Frérotte,

revenu de Lourdes à jamais guéri de la

tuberculose, est mort dimanche par erreur.

 

(Ein Tellerwäscher aus Nancy namens Vital Frérotte, der aus Lourdes zurückkam, auf immer von einer Tuberkulose geheilt, ist am Sonntag verstorben, irrtümlich.)

Nun aber arbeitet Fénéon nicht mehr für Le Matin. Vor acht Jahren hat er aufgehört.

Seine Sprachkleinode tangieren den Kaiserlichen Rat nicht, er weiß schlicht nichts davon. Ihm gilt Kleist als genialster Prosaist, der je in einer Zeitung schrieb.

Ins Auge fällt ihm jetzt eine Schlagzeile über eine Fédération. Ach so, nur dieser Fußball. Gezeichnet ist der Artikel von Robert Guérin. Dass der Kollege von Fénéon in Le Matin der Gründungspräsident der Fédération Internationale de Football Association, kurz Fifa, ist, davon haben auch der Streckenwart und der Sous-Chef in der Hotelküche auf dem Semmering keine Ahnung.

Ihre Arbeiterzeitung berichtet von proletarischen Sportplätzen, und die Vermischten Meldungen blenden das Leben und Treiben der Mondänen aus oder, selten, im kritischen Lichte ein. Wohl aber bringen sie, wie die »Chronik« in anderen Blättern, die Katastrophen und Unglücksfälle aus Nah und Fern.

 

Ob man allerdings die privaten Unannehmlichkeiten dringend in der Presse gedruckt serviert bekommen müsse, debattieren Herren des Wiener Kultur- und Geisteslebens im Café Herrenhof.

Poldi Beck hält es für ärgerlich unnötig. Man sieht ihm die Melancholie an, seine Gedichte seien »verzweifelt komisch«, vermerkt sein Stammgastkollege Friedrich Torberg.

Der zierliche Mann wird bald Die Binse. Zeitschrift zur Verbreitung von Licht und Wahrheit herausgeben. Im Impressum stellt Poldi Beck Prinzipielles klar: Die Frage »Wieso, es gibt doch kein Binsenlicht?« schließe definitiv vom Bezug des Blattes aus. Und legt, wie gesetzlich verlangt, die Besitzverhältnisse offen. Als Eigentümer gibt er jedoch keinen Verlag an, sondern den Käufer, der ja schließlich bezahlt habe. Der Leitartikel widerspricht der Periodizität von Presseprodukten und lässt von vornherein keinen Zweifel am Ende des Unternehmens: »Mit dieser Nummer stellt die ›Binse‹ ihr Erscheinen ein.«

Immerhin macht sich die einzige Nummer genüsslich über Klischees lustig, auch über die Kleine Chronik. Deren Nachrichtenwert führt Poldi Beck in »Gleichgültiges aus aller Welt« ad absurdum. Und kontert mit der Rubrik »Der Freudenbote«, wo zu lesen ist: »Gestern gegen 5 Uhr Nachmittag gelang es der 47jährigen Köchin Anna Kratochwil, einen Autobus der Linie 12 an der Haltestelle Stephansplatz noch knapp zu erreichen.« Oder: »Wie wir erfahren haben, nahm der 34jährige Handelsvertreter Jonas Grün am Dienstag im Gasthaus ›Zum wilden Mann‹ das Mittagsmahl ein, bestehend aus Schöberlsuppe, Rindfleisch garniert und Apfelstrudel. Es hat ihm sehr gut geschmeckt.«

 

Selbstverständlich hat auch der Kaiserliche Rat sein übliches Lokal, er schätzt das intellektuelle Ambiente im kürzlich gegründeten Café Herrenhof. Dort beginnt er seinen Tag erst wirklich, mit zwei Kipferl und zwei Schalen Kapuziner und mit Zeitungen. Der Oberkellner, von den Stammgästen »Herr Hnatek« gerufen, legt sie Morgen für Morgen bereit, mit soignierter Geste. Welche Blätter er selbst liest, weiß keiner der hier verkehrenden Größen, weder Hofmannsthal noch Joseph Roth, aber dass Herr Hnatek Zeitung liest, ist allen klar. Er wirkt so geruhsam vornehm, dass niemand auf die Idee käme, ihn (wie sonst für Ober üblich) mit dem Vornamen anzureden, abgesehen davon, dass man den Vornamen gar nicht kennt.

Im Café kommt dem Kaiserlichen Rat – sein österlicher Kurzurlaub liegt eine Weile zurück – eine New York Times unter. Es ist ausgerechnet die Ausgabe vom 14. April.

Die Semmeringstunden stehen ihm vor Augen.

Schade, dass die Blätter aus der Ferne erst im Nachhinein zu goutieren sind. Es wäre doch interessant, zügig das Geschehen vom anderen Kontinent zu erfahren, gleich nachdem man die eigene Umgebung, die Ankunft der Zeitungen auf dem Bergbahnhof beobachtet und dann ihre heimischen Berichte gelesen hätte.

Mondänes auf Seite 11, Ostern im Waldorf Hotel, Wohltätigkeitsball der Kubisten zugunsten eines Tuberkulose-Sanatoriums, kubistische Dekoration und kubistische Tänze – sich solches vorzustellen gelingt dem Kaiserlichen Rat nicht. Daneben »Social Notes«: Prinzessin Kawananakog aus Honolulu ist im Washingtoner Hotel Baltimore abgestiegen.

Auf der nächsten Seite »Police and Fire News«.

Herr Hnatek bringt das zweite Kipferl, beugt seine hochgewachsene Gestalt und wünscht gute Lektüre. »Die Kubisten sind besonders interessant«, sagt er.

Der soignierte Herr bedankt sich leise – mit dem Oberkellner spricht niemand ein lautes Wort, weder Musil noch Werfel – und blättert vor.

Amundsen braucht zweihunderttausend Dollar, um seine Polexpedition starten zu können. Ob er schon unterwegs ist? In Michigan endet der lange Streik. Ob nicht jetzt der nächste droht? Der Vorteil alter Meldungen vergangener Tage ist, dass der Welten Lauf sie inzwischen überholt hat und man nun die damals ungewisse Entwicklung kennt, denkt der Kaiserliche Rat und liest von Näherliegendem.

»Religious disturbances« bei Ostermessen in Italien, Schüsse auf eine Prozession, ein Priester verwundet. In der Kathedrale von Porto Ferrajo stritten Gläubige darüber, welche Gruppe zuerst marschiere: statt Prozession Panik. Die New York Times gibt an, sie folge einem Bericht des Corriere della Sera; der Kaiserliche Rat vermerkt es als interessantes Phänomen der modernen Zeiten, wie die Nachrichten über den Großen Teich hin und her schwappen.

Ähnliche »disgracefull scenes« haben sich in einem sizilianischen Ort in der Nähe von Messina abgespielt. Und im kalabrischen Catanzaro wollte der neue Erzbischof lokale Bräuche untersagen, vor dem Volkszorn musste er durch einen Hinterausgang aus der Kirche flüchten.

Davon, erinnert sich der soignierte Herr an seine Zeitungslektüre am Semmering, wusste auch das Berliner Tageblatt. Bischof und Priester verbarrikadierten sich in der Sakristei, stand da zu lesen. Wörtlich im Gedächtnis blieb dem Kaiserlichen Rat das Fazit: »Viele Frauen fielen in Ohnmacht.«

Die Kleinen Meldungen der New York Times findet er verstreut auf den ersten sieben Seiten der Zeitung. Im französischen Besançon habe der Erzbischof die unkeusche Frauenmode kritisiert. Ein »décolleté« in der Kirche sei nicht erlaubt.

»Dezidiert«, sagt der Kaiserliche Rat, nimmt einen Schluck seines Kapuzinerkaffees zu sich, »dezidiert das Religiöse!«, und findet auf der nächsten Seite: Ein blinder Passagier auf dem Zugdach ist unter einer Brücke in die Stromleitung gekommen, gestorben, identifiziert – in seinen Taschen habe man nur ein paar Cent gefunden, aber ein Empfehlungsschreiben, er sei ein »competent employe«.

In der Nebenspalte der erste Flug von Caracas über die Berge.

Der Titel »Accuses his son’s wife« sticht dem soignierten Herrn im Wiener Kaffeehaus nun ins Auge. Ein Geschäftsmann aus Philadelphia ist seiner Schwiegertochter, deren Gatte geschäftlich in Panama weilte, nach Atlantic City gefolgt, wo sie Ostern verbringen wollte: »and alleged he found her living at a hotel as the wife of another man. He caused her arrest, but the man escaped.«

»Überall das Gleiche«, sagt der Kaiserliche Rat.

»Noch einen Kapuziner«, notiert Herr Hnatek den Kaffeewunsch des Gastes.

2Im Untergeschoss der Weltgeschichte: »In Kalkutta finden immer Unruhen statt«

Die Vermischten Meldungen, Faits Divers, Kleinen Chroniken, »Leute«-Rubriken versetzen das Geschehen auf eine persönliche Ebene, sie binden es an die Nachbarschaft des eigenen Lebens. Der Kaiserliche Rat, der Fahrdienstleiter, der Streckenwärter, der Koch, der Oberkellner erkennen sich, ihresgleichen und ihr Umfeld, so dass die Zeitung die Brücke zwischen den Weltvorgängen und dem Ich schafft.

Hundert Jahre nach dem Ende der ersten Letzten Tage der Menschheit und dreiundsiebzig Jahre nach Ende der Zweiten Weltkatastrophe neueren Datums haben sich zwar die meisten Kulturtechniken wesentlich geändert. Manche finden indes ebenso Anklang wie früher.

In seinem 2018 publizierten Roman Ein schönes Paar schreibt Gert Loschütz: »Das Erste, was ich tat, wenn ich reinkam, war, mir die Zeitung zu sichern. Ich nahm sie von dem Garderobehaken, an dem sie hing, setzte mich an den Tisch, legte sie neben das auf einer Serviette liegende Besteck und schlug die Seite mit den Vermischten Nachrichten auf.«

 

Von den kleinen Texten jedoch ist in den einschlägigen Werken über die Geschichte der Zeitung kaum die Rede.

Dabei bieten sie vom Beginn des Pressewesens an auffallende Themenkonstanten. Sie schildern das Ungewöhnliche im Erwartbaren, während bestimmte Kulturräume und -epochen ihre Spezifika einfließen lassen. Das Leben und Treiben einer Gesellschaft, ihre Prioritäten und Normen spiegeln sich in den kurzen, zwischen die großen Beiträge gesetzten Artikeln.

Bis ins 19. Jahrhundert hatten die meisten Zeitungen wenig fixe Rubriken. Viele ordneten die Nachrichten nach ihrer geopolitischen Herkunft, danach stand »Lokales«. Der enorme Aufschwung des Pressewesens, insbesondere nach der bürgerlichen Revolution 1848, brachte eine inhaltliche Gliederung mit sich. Die von der industriellen Revolution geförderte Aufteilung der Arbeitsorganisation äußerte sich derart auch im Erscheinungsbild der Zeitungen, die nun bessere Übersichtlichkeit boten. Zuvor standen die Faits Divers oft, wo gerade Platz frei geblieben war, nunmehr fand man sie schnell unter der Überschrift ihrer Rubrik.

Der Titel gibt eine Ausrichtung, dem Lesepublikum eine Orientierungshilfe. »Vermischte Meldungen«, »Faits Divers«, »Kleine Chronik«, »Miscellaneous«, »Aus aller Welt« weisen auf ein Potpourri von Berichten, denen keine allgemeine weitreichende Bedeutung, aber immerhin ein Informations- sowie Unterhaltungswert beigemessen wird: Unglücksfälle (meist tödliche), anekdotische Seltsamkeiten, gesellschaftliche Ereignisse. Was Redakteure und Rezipienten dafür – und davon – halten, führen diese im Pressegefüge peripher scheinenden Artikel vor Augen. Sie machen aus heutiger Perspektive ersichtlich, dass diese Themen über die Jahrhunderte stets wirken. Zugleich bergen sie in Form, Stil, Aussage jeweilige Merkmale ihrer Zeit und deren Öffentlichkeit.

Rückschlüsse auf Besonderheiten der Epoche und des Ortes lassen sich aus den Artikeln selbst ziehen, aus Formulierungen, aus offenbar zugrundeliegenden Codes und Normen.

Karl Kraus oder Felix Fénéon verstanden sie kenntlich zu machen, analytisch-kritisch führten sie vor, was im Untergeschoss der Weltgeschichte vor sich ging. Dessen kurze Besichtigung hatte Heinrich von Kleist 1810/11 in seinen Berliner Abendblättern mit seiner präzisen Sprachkunst versehen und zu Prosaperlen gestaltet.

 

Im 17. Jahrhundert erlebten die publizistischen Medien bei einer Alphabetisierungsrate von etwa zehn Prozent einen deutlichen Aufschwung, die Presse begann periodisch zu erscheinen. Aktualität und ein weiterer Blick auf die Welt spielten nunmehr eine größere Rolle, während Kuriositäten dem Klatsch und Tratsch entsprachen. Sie appellierten oft an den Bodensatz des Aberglaubens und nährten ihn. Auf der dringenden Suche nach Neuigkeiten verbanden die Schreiber Gerüchte, Anekdoten und Imagination. Sie führten fort, was die »Newe Zeytung« des 16. Jahrhunderts oft mit dem Zusatz »schröcklich« in Aussicht gestellt hatte. In ihrer Epoche fanden sie dazu reichlich Anreiz, da die »Kleine Eiszeit« Missernten, Hungersnöte und schlimme wirtschaftliche Folgen bewirkte, somit das Bedürfnis, die Ängste zu besprechen. Im deutschen Sprachraum verstärkte der Dreißigjährige Krieg die Tendenz.

Artikel wurden mitunter vorgelesen, oft weitererzählt. Folglich erschien es für eine Zeitung publikumsfreundlich, nicht nur längere Berichte über Wichtigkeiten zu bringen, sondern auch Meldungen, die sich gut zum Tratsch eigneten.

In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hatte die Imagination mitunter eine schlechtere Presse als der Verstand. In den Moralischen Wochenschriften wiesen kleine (Un-)Ordnungen auf große. Das immens gewachsene Lesepublikum, das nicht mehr nur gebildete Schichten umfasste, verlangte dennoch nach aufregenden Faits Divers.

Die Auflagenzahlen stiegen stark an, die Blätter lagen in Lesegesellschaften und Gasthäusern auf. Zur »Kunst Zeitungen zu lesen« gehöre es, Tatsachen und Urteile, die sich in den Korrespondenzen aus fremden Ländern bunt gemischt fänden, auseinanderhalten zu können, schrieb August Ludwig Schlözer 1777. »Stumpf ist der Mensch, der keine Zeitung liest«, meinte der aufgeklärte Publizist dann 1804. Und noch stumpfer sei derjenige, der eine Nachricht für wahr halte, bloß weil sie in der Zeitung stehe. Die Presse trage »zur Bildung ebenso bei wie zur Verunbildung«.

In seinem ab 1864 erscheinenden Grand dictionnaire universel du XIXe siècle lobte Pierre Larousse, »kunstvoll« würden die Zeitungen »Nachrichten aller Art, die in der Welt zirkulieren«, zusammenstellen und regelmäßig publizieren. In einer langen Liste nannte er: kleine Skandale, Verkehrsunfälle, grauenhafte Verbrechen, Selbstmorde aus Liebe, von der fünften Etage gestürzte Dachdecker, Heuschreckengewitter, Fröscheregen, Schiffsuntergänge, Brände, Überschwemmungen.

Ironisch, zugleich für seine Literatur praktisch einsetzbar, zeichnete Alfred Jarry 1903 im Satireblatt Le Canard Sauvage dieses »Kleingeld der Information«. Der großartig schräge Autor des Ubu Roi mochte die Faits Divers, da sie ihm den perfekten Ausgangspunkt für unendliche Spekulationen zu liefern imstande seien. Rhetorisch fragte er, was sie denn anderes seien als das Theater an der Seite der großen Artikel, als ein Roman, zumindest eine Novelle aus der brillanten Imagination der Reporter? »Wenn sie darauf warten würden, dass das Fait Divers existiert, würde ihre Zeitung übermorgen erscheinen.«

Einen Fiktions-Beleg dafür lieferte Erich Kästner in seinem 1931 publizierten Roman Fabian. Bei einer Zeitung stellt sich heraus, dass unter dem Leitartikel fünf Zeilen frei sind. Kurzerhand erklärt der Redakteur: »Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie.« Und schreibt flott von Straßenkämpfen mit vierzehn Toten in Kalkutta. Ein junger Volontär, idealistischer Anhänger der Wahrhaftigkeit, ist konsterniert. »Die Unruhen haben nicht stattgefunden?«, fragt der Redakteur. »Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen statt.«

 

Die Entwicklung des Pressewesens begünstigte neben ausführlichen Darstellungen auch Formate, die kompakt zu vermitteln vermochten. Die Verknappung erfuhr zunächst durch die Beschleunigung der Moderne, heute mit den Neuen Medien und der Informationsökonomie eine besondere Aufwertung – bis hin zu Twitter.

Neuerdings entspricht es der medialen und sozialen Situation, dass mit den digitalen Möglichkeiten ab etwa 1990/2000 sich die nunmehr gängige Elitenkategorie Very Important Persons nicht nur bei Events im eigenen VIP-Bereich abgrenzt. Sie findet sich auch in der – Gleichheit simulierenden – Zeitungsrubrik »Leute«.

Die Kleinen Chroniken von vorgestern sind die Leute von heute; die Vermischten Meldungen stehen im Regionalteil. In der Presse schlägt sich derart nieder, was laut journalistischen Vorstellungen und kraft simulierter Nähe zu den VIPs das Lesepublikum unterhält.

Beginn des Pressewesens

3Die Erfindung der vervielfältigten Nachricht – und was hinter Worten steckt

Des Königs auß Franckreich Concubina an Kindern gestorben.

In diesem Monat Aprilis ist des Königs auß Franckreich geliebte La bella Gabriela / nachdem sie zuuorn zweyer Kinder genesen / bald darauff gestorben / Dessen die grossen Herren in Franckreich nicht sehr erschrocken. Dero verlassenschaft solle 300 tausent Ducaten an bahrschaft / und in Edelgestein unnd geschmeid ungefehrlich auch so viel gewesen sein / welches der König alles wider zu händen genommen.

Diese Meldung stand 1599 in Historicarum relationum continuatio des Michael von Aitzing, der sechzehn Jahre zuvor die erste (heute bekannte) periodische Druckschrift im deutschen Sprachraum zu veröffentlichen begonnen hatte. Zwei Aspekte machen ersichtlich, was hinter Worten stecken kann: der Nebensatz in der Mitte des Textes und die Person des Herausgebers.

Der König ist Henri IV.; die Concubina ist Gabrielle d’Estrées, Duchesse de Beaufort, gestorben am 10. April 1599 in Paris. Den lesenden Zeitgenossen waren die Persönlichkeiten zweifellos bekannt, allerdings – so lässt die Meldung vermuten – nicht deren Lebensumstände. Zwar widmete der Berichterstatter die Hälfte seines Textes detailliert der Vermögensfrage (die ihm offenbar seinem Publikum auf den deutschen Handelsmessen gemäß schien), schrieb ansonsten jedoch wenig präzise. Die Herzogin ist nicht »an Kindern« verschieden, und dass sie nach der Geburt zweier Kinder »bald darauff« gestorben sei, stimmt ebenso wenig: Mit dem König hatte sie zwei Söhne und eine Tochter, geboren 1594, 1596 und im April 1598, als sie mit Henri in Nantes weilte.

Was aber besagt die einzige Passage, die auf (mangelnde) Emotionen eingeht, der Zusatz »Dessen die grossen Herren in Franckreich nicht sehr erschrocken«?

Das von Henri Quatre verfügte Edikt von Nantes, das den Protestanten religiöse Toleranz garantierte, war gerade ein Jahr in Kraft, dadurch das Reich nach vier Hugenottenkriegen befriedet, ein wirtschaftlicher Aufschwung hatte eingesetzt. Die dynastische Situation des Königs aber erschien verwickelt. Offiziell war er noch mit Margarete von Valois verheiratet, allerdings lebte er im ehelichen Verhältnis mit Gabrielle d’Estrées und den gemeinsamen drei Kindern. Die Annullierung der Verbindung mit Margarete war beim Papst eingeleitet, Henri wollte die schöne Gabrielle heiraten. Einigen Herren am Hofe ging dies gegen den Strich, aus strategischen Gründen bevorzugten sie die dickliche Maria de Medici, Tochter des Großherzogs der Toskana und vor allem Nichte des Papstes. Ihnen war zudem klar, dass Gabrielle wenig beliebt war, im Volk nannte man sie »duchesse d’ordure«, Mistherzogin.

In Heinrich Manns Roman Die Vollendung des Königs Henri Quatre (publiziert 1938) hält der Minister dem König vor, »daß seine Verbindung mit der Herzogin von Beaufort allgemein mißbilligt« und die Nachfolge umstritten sein werde.

Dass sie kurz vor der Hochzeit starb, kam den »grossen Herren in Franckreich« gelegen. Die Todesursache blieb ungeklärt. Sie sei vergiftet worden, hieß es; möglicherweise waren jedoch Schwangerschaftskomplikationen schuld. Viele Leute machten es sich einfach, religionsbewusst und praktischerweise sahen sie die Hand Gottes am Werk. »Hic manus dei«, sagt der behandelnde Arzt bei Heinrich Mann, und im Roman heißt es bei Hofe katholisch: »als wäre nicht der eigentliche Quell des Übels das Edikt von Nantes gewesen, und erst nach diesem war der arme König dahin gebracht worden, daß er auf den Thron die Agentin und verdammte Seele der Ketzer erhoben hätte.« Tatsächlich ging es freilich den mächtigen Katholiken wie in den Hugenottenkriegen weniger um den rechten Glauben als vielmehr um Pfründe und um eine Kontrolle des Königtums.

»Dessen die grossen Herren in Franckreich nicht sehr erschrocken« – Michael von Aitzings Leser werden die Worte zu verstehen gewusst und sie vor allem konfessionell interpretiert haben.

Sein Historicarum relationum continuatio erschien 1599 posthum. Auch sein Unterfangen, das im Deutschen die massiv vervielfältigte Meldung in periodisch erscheinender Form erfand, stand unter dem Einfluss des konfessionellen Konflikts. Aitzing (auch Eyzinger) stammte aus dem niederösterreichischen Kleinadel, hatte im katholischen Löwen/Leuwen studiert, war viel gereist und sprachgewandt. In Köln begann er eine Relatio historica zu verfassen. 1783 bot er sie auf der Herbstmesse in Frankfurt feil, offenbar mit Erfolg, denn seine »Meßrelationen« vertrieb er künftig jährlich, ab 1588 halbjährlich zur Frühjahrs- und zur Herbstmesse. Anders als die Flugschriften der Zeit enthielten sie nicht allzu oft Meldungen über Sensationen und Wunder, in einem Endzeitbewusstsein brachten sie aber Prophezeiungen, etwa vom baldigen Untergang des Osmanischen Reiches.

Unerklärliches befragten sie mitunter nach einer möglichen Signalfunktion für Kommendes oder überhaupt nach der Bedeutung. Im Herbst 1591 berichtete Aitzing über eine Prozession aus einem säkularisierten Frauenkloster: Priester und Mönche seien zu einer Kirche über den Rhein gezogen, Soldaten hätten sie begleitet, seien aber nicht ins Gotteshaus gegangen, sondern plötzlich verschwunden – da frage sich: Gespenster oder Teufel? Immerhin, die Geschichte sei »historisch«, also beglaubigt.

Ein im Pressewesen lange Zeit gewichtiger Zusatz, ob erfundene Meldung oder nicht. Für Vertrieb und Ruf der Blätter war es wichtig, dass ihre aktuellen Berichte im Kampf um die Ökonomie der Aufmerksamkeit als glaubwürdig zu gelten vermochten. Das Imaginäre bezog man aus anderen Quellen, etwa die Märchen aus der Tradition mündlichen Erzählens.

Die Forschung sah Aitzings Relationen zunächst als »unparteiisch gehaltene, trockene Berichte« und stilisierte sie zum Vorläufer des Nachrichtenjournalismus. Esther Beate Körber hat dieses Bild 2013 zurechtgerückt, indem sie auf den militanten Katholizismus Aitzings verwies. Die Protestanten bezeichnete er als Ketzer, die Geburt eines missgebildeten Kindes erklärte er durch das Abweichen von der rechten Kirche. Und dass Henri Quatre Hugenotte war, schalt er einen »jrrthumb«.

In den 1590er Jahren focht der Publizist einen heftigen Konkurrenzkampf gegen Jacobus Francus aus, dessen Relationen ein Gemisch aus parteilichen Aussagen und Belanglosigkeiten seien. Ihren Verfasser – einen protestantischen Geistlichen – und seine Leser nannte er »ketzerisch«. Der Gegenangriff erfolgte alsbald: Aitzings Werk sei »mit offentlicher lügen vnnd augenscheinlicher Partheiligkeit spicket«, schrieb Francus.

 

Der Vorwurf, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, findet sich in der gesamten Geschichte des Pressewesens. Und auf das Sensationelle des Unerklärlichen greifen die Zeitungen auch nach der Aufklärung des 18. Jahrhunderts oft und oft zurück.

Bis dahin, insbesondere bis zur Französischen Revolution, waren die gewichtigen Themen der Zeitungen die Bewegungen an den Höfen und in den Häfen, die Wege des Handels und des Militärs, die Religionskriege und die Ketzereien, die Kämpfe um Herrschaft und Freiheiten. In den Kleinen Meldungen waren es Aberglaube und Disziplinierung, Exekutionen und Monster, Unfälle und Klatsch.

4Flugblatt, Neue Zeitung, Schröckliches

Zu den Phänomenen, die die frühen Druckerzeugnisse und ihr Publikum mittels Kleiner Meldungen besonders beschäftigten, gehören Wundergeburten, missgestaltete Kinder und Monstra. Wie auch Himmelserscheinungen waren sie zuvor in Chroniken vermerkt worden. Mit den Möglichkeiten der Vervielfältigung fanden diese Nachrichten größere Verbreitung und erweckten damit den Eindruck einer gewichtigen Zunahme, die eine Bedeutung haben müsse. Folglich traf sich die abergläubische Volkskultur mit dem – auf antike Vorlagen zurückgreifenden – Augenmerk von Gebildeten im gesamten deutschen Sprachraum, in Frankreich, in England. So interessierten sich Gelehrte am Hofe Maximilians I. um 1500 für derartige »Prodigien« und zogen daraus Rückschlüsse auf die Politik des Kaisers.

Nach weitverbreiteter Ansicht galten die Natur und ihre Erscheinungen als Zeichen für den Lauf der Welt. Außergewöhnliches stellt ihn in Frage. Nur: Inwiefern, mit welchen Auswirkungen? Vor dem Ungewissen half es, das Phänomen zu deuten, es mit dem bekannt Gängigen abzugleichen, um eine Einordnung vorzugeben.

Hier hat ein armes Landsknechtweib auf dem Neuen Markt ein Kind geboren, das hat auf dem Rücken einen Kopf gehabt wie ein indianischer Hahn und die Knie an den Füssen sind verkehrt gewesen, so dass es sich damit auf den Bauch geschlagen hat, wenn es sie biegen wollte. Es ist bald gestorben, jedoch zuvor getauft worden.

Vermeldete (hier geglättet zitiert) aus Wien am 15. März 1597 die Neue Zeitung von Hans Noegl, der sie im schwäbischen Dillingen an der Donau, der Residenzstadt der Bischöfe von Augsburg, handschriftlich vervielfältigte.

Der soziale Stand der Mutter, einer Soldatenfrau, situiert das Phänomen am unsteten Rand der Gesellschaft; der Vergleich mit dem Truthahn gibt die bildhafte Zuweisung ins Fremde. Durch Taufe und Tod des Kindes scheint schließlich das Ungewöhnliche mittels religiösen Ritus beherrscht: Man konnte beruhigt sein. Immerhin passte die Erscheinung nicht zur einfach fundamentalen christlichen Vorstellung, der Mensch sei das Ebenbild Gottes.

Diese gefällige menschliche Selbsterhebung traf hie und da auf Ebenbilder, die nach mehrheitlichem, wenn nicht allgemeinem Dafürhalten wenig gefällig aussahen – und im Umkehrschluss auf Gott bezogen: geradezu häretisch. Eine Kleine Meldung war das immer wert. 1636 berichtete die Züricher Ordinari=Wochen=Zeitung in ihrer Nummer 11 »Auß Straßburg vom 29. Februar«, eine Soldatenfrau habe eine Missgeburt zur Welt gebracht; das Mädchen mit zwei Köpfen und zwei Hälsen sei gestorben.

Die Fälle ähneln sich. Den Rekord der Epoche hält Frankreich, von dort meldeten im Jahr des Herrn 1676 mehrere Blätter einen Knaben mit sieben Köpfen. Was ist dagegen schon der Riesenfisch, »ein kopff wie ein Datzbär«, »hat die schiffpruck zerrissen«, den die Ordinari=Wochen=Zeitung 1638 aus Wien näherbringt, oder in derselben Nummer 18 der feurige Drache am Himmel von Preßburg?

Menschliche Abweichungen, denen leicht Hexerei unterstellt wurde, regelte man mitunter drastisch, wie 1703 die in Berlin publizierte Dienstagsche Fama in ihrer ersten Woche mitteilte: »Londen / vom 19. Dec. Eine Magd in Cheupzide hat einen Affen zur Welt gebrachet; Der Aff ist getödtet / die Magd aber nach Neugate gefangen gebracht worden.«

 

»Newe Zeytungen« wie jene von Hans Noegl nannte man die Flugblätter, die ab Beginn des 16. Jahrhunderts auf Messen und Märkten zu erwerben waren. Der Ausdruck betonte die Aktualität, zugleich die Begriffseinschränkung auf das Medium, denn er bedeutete bis dato Botschaft oder Nachricht: Man überbrachte gute oder schlechte Zeitung.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel, besonders dem ökonomischen Aufstieg des Bürgertums, hatte man seit etwa fünf Jahrzehnten begonnen, Nachrichten zu sammeln, per Hand abzuschreiben und einer illustren Kundschaft an den Höfen, in Kanzleien sowie Kontoren zu übermitteln. Immer mehr und effizientere Postlinien beförderten Meldungen aus politischen und wirtschaftlichen Zentren. In Rom und in dem für die Orientverbindungen wesentlichen Venedig bestanden die ersten Gewerberäume, in denen die ankommenden Neuigkeiten abgeschrieben und gegen Bezahlung weitergeleitet wurden.

Für den aufblühenden Handel erwiesen sich die Informationen als besonders wichtig, deswegen schuf sich das mächtigste Kaufmannsgeschlecht, die in Augsburg ansässigen Fugger, ein weites Netz von Korrespondenten. Deren »Originalberichte« stammten teils aus anderen »Zeitungen«, wurden handschriftlich kopiert und außerhalb der Fuggerei auch verkauft.

Am 13. Mai 1569 – in Frankreich hatten die »Ketzer« im dritten Hugenottenkrieg gerade eine empfindliche Niederlage erlitten – vermeldete die Fugger-Zeitung (nachstehend: sprachlich geglättet) aus Sevilla:

Das Autodafé, von dem ich schon geschrieben, ist an diesem Tage hier gehalten worden. Man hat siebzig Personen vorgeführt, von denen man zwei Burgunder, einen Franzosen und einen Niederländer verbrannt hat. Die anderen sind meistenteils spanisches Gesindel von schlechtem Ansehen gewesen, nämlich Gotteslästerer und solche, die sich zwei- oder mehrmals verheiratet haben. Auch waren welche darunter, die die gewöhnliche Unzucht für keine Sünde halten. Desgleichen waren etliche vom jüdischen und mohammedanischen Glauben darunter.

Die Inquisition hatte eine seltsame Gruppe zusammengestellt, die damals kaum merkwürdig erscheinen mochte. Ketzertum verband. Egal welcher Herkunft der Mensch war und ob es ihn wegen Blasphemie oder »gewöhnlicher Unzucht« (was damit gemeint war, wusste offenbar das zeitgenössische Publikum) dringlich zu belangen galt.

Wie auch in späteren Epochen ging es den Blättern keineswegs nur um Handel oder politische Händel, vielmehr suchten sie meist auch die Sensationslust zu befriedigen. Die Flugschriften boten, oft illustriert, Nachrichten aus Ausland, Reich, Stadt, nicht selten polemische Auseinandersetzungen, zudem Schilderungen von Schlachten, Belagerungen, Übeltaten, Exekutionen, Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen, Blutregen. Entsprechend die Ankündigung des Titels, der Leser anziehen sollte: »Schröckliche Zeitung«, »Jämmerliche Zeitung« oder »Sehr erschreckliche, unerhörte, wahrhaftige neue Zeitung«.

Der Verweis auf die Glaubwürdigkeit durfte, wie gesagt, selten fehlen. Die behauptete Echtheit diente der Förderung des Verkaufs. Überprüfbar war der Wahrheitsgehalt kaum (siehe oben, Kapitel 2, Erich Kästners Fabian). Wie sollte das Lesepublikum auch feststellen, was in Sevilla vor sich gegangen oder wie viele Köpfe auf dem Körper des französischen Knaben tatsächlich sitzen?

5Regelmäßige Drucknachrichten

Die Flugblätter erreichten breitere Schichten als die Relationen und erzielten beträchtliche Wirkung. Sie übten einen wesentlichen Einfluss aus, vor allem indem sie zur Entstehung einer Öffentlichkeit beitrugen und der Reformation zum Durchbruch verhalfen. Die Erfindung des Buchdrucks hatte die technischen Voraussetzungen ungemein gesteigerter Verbreitung öffentlicher Schriften geschaffen, die politischen und konfessionellen Konflikte gaben die thematischen Anreize. Und der praktische Aspekt förderte die Entwicklung: Da Bücher aufwendig herzustellen, umfangreich angelegt und langwierig zu lesen waren, lieferten Zeitungen und ihre Vorläufer eine willkommene Möglichkeit flotterer Information – von Beginn an spielte für die Presse die Kürze der Vermittlungszeit, der Texte und der Rezeption eine wichtige Rolle.

Die Blätter konnte man unter dem Mantel transportieren, unter dem Sattel verstecken. Auf diese Art vermochten die französischen Protestanten von den Erfolgen der deutschen zu erfahren. Da die Konfessionsgemeinschaften nicht innerhalb einer Landesgrenze beschränkt blieben, förderten die Religionskriege wesentlich das Interesse daran, was gerade anderswo geschah. Ob Glaubensgenossen in der Schlacht gesiegt oder verloren hatten, versetzte mitunter halb Europa in Freude und die andere Hälfte in Trauer.

Während Flugblätter in der Regel nur eine einzige Nachricht brachten, boten Messrelationen eine periodische Zusammenfassung, tendierten also schon zur Form der späteren Zeitschriften. Beide suchten ihr Publikum mit Spannung und Unterhaltung in den Bann zu ziehen: über die Jahrhunderte eine Konstante des Pressewesens.

Eine weitere Entwicklung und der Schritt zur ersten Zeitung erfolgten um 1600. Es konnte mehr Papier erzeugt werden, die Technik des Drucks sowie der Schriftgießerei, zugleich das Postwesen erfuhren eine Verbesserung. Folglich vermochten die bestehenden Netzwerke von Korrespondenten, vor allem zwischen den Handelszentren, das Geschäft mit den Nachrichten intensiver zu gestalten. Dies traf auf die Informationsbedürfnisse der Höfe und Händler, des Klerus und des gebildeten Bürgertums. Oft sprachen die Publikationen, deren Auflage selten fünfhundert Exemplare überstieg, den »gemeinen Mann« als Leser an. Dafür ernteten sie allerdings die Kritik von traditionellen Normenwächtern, der »gemeine Mann« brauche über die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht weiter informiert zu werden.

 

Auch wegen der konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen, zudem wegen der Zersplitterung des Reichsgebietes, das intensivere Kommunikation erforderte, entwickelte sich das Pressewesen im deutschen Sprachraum früher als anderswo in Europa.

In Italien erschien die älteste Zeitung erstmals 1664, in Spanien 1677. Le Mercure françois kam als erste Zeitschrift Frankreichs 1611 heraus, Théophraste Renaudot übernahm sie fast drei Jahrzehnte später. In der Zwischenzeit gründete dieser Gelehrte und königliche Leibarzt 1631 mit La Gazette die erste Wochenzeitung des Landes. Er richtete sie weitgehend nach den Vorstellungen des Hofes aus und genoss die Unterstützung des Ersten Ministers Richelieu, als dessen Propagandamittel das Blatt diente. Im Jahr zuvor hatte Richelieu, wiewohl katholischer Kardinal, mit dem König von Schweden verhandelt, um auf protestantischer Seite in den (Dreißigjährigen) Krieg einzutreten. Die religiöse Gruppe der »Devoten« unter Führung der Königinmutter Maria de Medici, der zweiten Gemahlin des 1610 ermordeten Henri Quatre, bevorzugte jedoch die katholischen Habsburger. Richelieu brauchte ein Instrument, um die Meinung beeinflussen zu können; Renaudot bot es ihm und erhielt ein »Privileg«. Er durfte sich fortan vom mächtigsten Mann des Reiches gefördert sehen und als sein Sprachrohr dienen.

Derart verfügte La Gazette mit einer Auflage von ein paar tausend Exemplaren über ein Monopol, musste allerdings jeweils von Zensoren genehmigt werden. Mitunter korrigierten der König oder der Kardinal selbst die Texte. Der geringe Umfang von zwei bis maximal acht Seiten sowie die periodische, also vorhersehbare Publikation machten die frühen Zeitungen nicht nur in Frankreich leicht kontrollierbar. Enger an die Interessen des Hofes als La Gazette konnte die Presse kaum andocken. Und so rief am Neujahrstag 1648 das Blatt die guten Franzosen dazu auf, gemeinsam ihre Zuneigung und ihren Eifer mehr und mehr in den Dienst des Königs zu stellen: »à unir de plus en plus leurs affections & leur zele au service du Roi.«

Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Zeitschriften brachten im 17. Jahrhundert die Gazette und andere Blätter des Landes keine Faits Divers. Sie vermittelten vor allem Nachrichten aus ganz Europa. Die Gazette schrieb über die Türkenbelagerung Wiens 1683 und Anfang 1684 über den Befehl, die Bewohner der Stadt müssten Vorräte anlegen, denn man befürchte, die Ungläubigen könnten wiederkommen: »l’appréhension dans laquelle on est du retour des Infidèles.«

Befürchtungen standen oft zu lesen. Ängste lassen sich gut verkaufen und gut im Machtinteresse nützen.

Das kleine Leid und die abartigen Sensationen interessierten wohl die maßgeblichen Stellen, Hof und Zensoren, vor allem König und Kardinal keineswegs. Nur recht kurzlebige Publikationen begaben sich auf die mindere Bühne wie 1649 in Versen La Burlesque ON . Ihr »Prélude« kündigte an, dass sie trotz Regens und Kots auf die Märkte gehe und stets einen guten Platz inmitten des Volks einnehme: »ON court, ON va, ON vient, ON trotte, / ON se fourre chez les Marchez; / Et malgré la pluye ou la crotte / ON paroist des plus empeschez. ON a toujours sa bonne place / Au milieu de la populace« (Man läuft, man geht, man kommt, man trabt, man treibt sich auf den Märkten herum, und trotz Regens oder Drecks kann man es nicht lassen, man hat immer seinen guten Platz inmitten des Volkes). Geschichten vom Markt jedoch publizierte dieses Burlesken-Blatt nicht, sondern vielmehr kritische Reime über politische Zustände und die Belagerung der nordfranzösischen Stadt Cambrai, die Spanien noch in Besitz hielt.