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Katharina die Große und ein preußischer Spion Sankt Petersburg, 1762. Die Welt hält den Atem an, als sich die junge Katharina nach einem Putsch selbst zur Zarin krönt. Bewunderung und Misstrauen schlagen ihr entgegen. Der Preußenkönig Friedrich der Große schickt einen jungen Philosophen als Spion in den Winterpalast. Er soll über Katharinas Pläne berichten. Stephan verfällt der Schönheit der aufblühenden Stadt. Und einer Frau, die einen gefährlichen Plan gegen die Zarin verfolgt. Als eine Rebellion Russland erschüttert, muss Stephan sich entscheiden. Die Taschenbuchausgabe erscheint unter dem Titel Die Zarin und der Spion.
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Das Buch
Katharina, geboren als Sophie von Anhalt-Zerbst, kommt mit vierzehn Jahren als zukünftige Ehefrau des Thronfolgers an den Hof in Sankt Petersburg. Sie liebt das Land, ihren Ehemann verachtet sie dagegen. Nach einem Staatsstreich krönt sie sich selbst zur Zarin. In der Nachfolge von Peter dem Großen will sie Russland nach Westen öffnen. Doch die Welt hält den Atem an, kann man der Deutschen auf dem Zarenthron trauen? Preußens König Friedrich II. schickt einen Philosophen nach Petersburg, um die Pläne der neuen Herrscherin auszuspähen. Stephan Mervier ist beeindruckt von Katharina, aber Russlands Rückständigkeit und das Elend der Leibeigenen machen ihn wütend. Dabei wächst der Widerstand im Winterpalast längst heran. Eine enge Vertraute Katharinas kämpft auf Seiten der Unterdrückten. Stephan verliebt sich in die mutige Rebellin, die in großer Gefahr schwebt. Denn die Zarin fördert zwar Fortschritt und Bildung, aber sie setzt ihre Macht mit äußerster Härte durch.
Die Autorin
Martina Sahler
Die Zarin und der Philosoph
Roman
List
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ISBN 978-3-8437-2035-9
2019 by Martina Sahler © 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Karten: Peter Palm, Berlin Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka Umschlagmotiv: © Finnish National Gallery, Helsinki, Finnland / Bridgeman Images; Blick auf St. Petersburg 1817; shutterstock / Rodina Olena / Yaroslaf
E-Book: L42 AG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
»Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.«
Voltaire, eigentlich François-Marie Arouet,
(Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet, Hauptfiguren sind fett gesetzt)
In Potsdam
Friedrich II.*, 50, König in Preußen, regt sich über die ›Weiberwirtschaft‹ in der Weltpolitik auf.
Stephan Mervier, 25, Philosoph, hat in Wien und Paris studiert.
Johanna Mervier, geborene Caselius, 25, Malerin und Stephans Frau, die um Anerkennung in der internationalen Künstlerszene ringt.
In St. Petersburg
Katharina II.*, 33, Kaiserin von Russland.
Peter III.*, Katharinas verstorbener Mann.
Graf Grigori Orlow*, 28, Katharinas Günstling und maßgeblich am Sturz des Zaren Peter III. beteiligt.
Graf Alexej Orlow*, 25, sein Bruder und Leibgardist der Kaiserin.
Grigori Potemkin*, 23, ebenfalls Leibgardist, der die Aufmerksamkeit der Zarin auf sich zieht.
Boris Albrecht, 21, Dichter, der seiner schriftstellerischen Leidenschaft nur im Verborgenen nachgehen kann.
Gustav Albrecht, 70, sein Großvater und geachtetes Oberhaupt einer Familie, die sich der Seefahrt verschrieben hat. Einer der letzten Zeitzeugen, die zur Gründergeneration von St. Petersburg gehören.
Karl und Ludmilla Albrecht, seine Eltern.
Jelena, 19, seine Schwester.
Gernot Albrecht, 20, sein Vetter.
Emilio, 58, Einsiedler im Wald auf der Wyborger Seite von St. Petersburg, aufgezogen von dem Zwerg Kostja. Sein treuer Gefährte ist der zahme Bär Petjenka.
Sonja, etwa 5, Emilios Findelkind, das von ihm Abschied nehmen muss.
Isabell, 48, Kammerzofe der Kaiserin, die den Klatsch und Tratsch am Hof am Leben hält.
Sergej, 49, ihr ehrgeiziger Mann, der als Schreiber für die Zarin arbeitet.
Inna, 20, ihre leichtlebige Tochter.
Dmitri Woronin, 21, Jurastudent mit großen Karriereplänen und Boris‘ Jugendfreund.
Lorenz Hermann, 31, deutscher Journalist bei der Sankt Petersburgischen Zeitung.
Dr. Pierre Lefevre, 32, Mediziner im ältesten Ärztehaus der Stadt, der in Paris studiert hat und seit drei Jahren in St. Petersburg lebt.
Marco Conti, 42, Lehrer für Latein an der Petrischule.
Dietrich Damm, 61, Professor für Astronomie an der Akademie der Wissenschaften.
Marija, heimatlose Bettlerin, die den Verstand verloren hat.
Lew, einer der Fischer in der Hüttensiedlung an der Newa.
Matilda Jetten, deutsche Schneiderin.
Jasper Kaminer, Biologe an der Akademie der Wissenschaften.
Hera Kaminer, 20, seine Tochter.
Friederike Bündner, Diplomatenwitwe und Vermieterin.
Hedwiga, Barbiersfrau und Vermieterin.
Pawel Jawlenski, Direktor am Smolny-Institut.
Dunja, Hausmädchen.
Sascha, Pferdepfleger.
Im Süden Russlands
Jemeljan Iwanowitsch Pugatschow*, Rebellenführer.
Andrej, 19, Leibeigener mit kühnen Fluchtplänen.
Iwan, 21, sein zögerlicher Bruder.
Darja, 19, Leibeigene, die gut mit dem Schwert umgehen kann.
In Frankreich
Voltaire*, 68 (eigentlich: François-Marie Arouet), französischer Philosoph und Vordenker der Aufklärung, der mit der russischen Kaiserin in engem Briefkontakt steht.
Denis Diderot*, 49, französischer Philosoph, Aufklärer und Herausgeber der großen Enzyklopädie.
1725
Zar Peter der Große stirbt in St. Petersburg.
1725–1727
Regierungszeit von Katharina I., der Ehefrau Peters I.
1727–1730
Regierungszeit von Peter II., dem Enkel Peters I.
1729
Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, später Katharina II., wird in Stettin geboren.
1730–1740
Regierungszeit von Anna I.
1741–1762
Regierungszeit von Elisabeth I.
1744
Prinzessin Sophie kommt in St. Petersburg an und wird mit Großfürst Peter Fjodorowitsch verlobt. Sie konvertiert vom evangelisch-lutherischen zum orthodoxen Glauben und nimmt den Namen Jekaterina Alexejewna an.
1745
Katharina heiratet den Großfürsten Peter.
Ca. 1753
Katharina unterhält eine Liebesbeziehung zu Peters Kammerherrn Sergej Wassiljewitsch Saltykow.
1754
Katharinas Sohn Paul wird geboren und als legitim anerkannt, obwohl die Vaterschaft nicht eindeutig ist.
Ab ca. 1755
Katharina unterhält eine Liebesbeziehung zu Stanislaus August Poniatowski, dem späteren König von Polen.
1757
Katharinas Tochter Anna wird geboren. Sie stirbt mit zwei Jahren.
Ab ca. 1759
Katharina unterhält eine Liebesbeziehung zu Grigori Orlow.
Januar 1762
Katharinas Ehemann kommt als Zar Peter III. an die Macht.
Juli 1762
Staatsstreich gegen Zar Peter III. Katharina erklärt sich mit Unterstützung der Leibgarde zur Kaiserin. Der Zar kommt unter ungeklärten Umständen ums Leben. Erste Begegnung zwischen Katharina und Grigori Potemkin, den sie zu ihrem Kammerjunker ernennt.
Oktober 1762
In Moskau wird Katharina zur Zarin von Russland gekrönt.
Juli 1763
Katharina lädt in einem Manifest Tausende deutsche Bauern zur Besiedelung an der Wolga ein.
1764/65
Potemkin verliert bei einem Faustkampf ein Auge, verlässt den Zarenhof und zieht sich für eineinhalb Jahre in ein Kloster zurück.
1767
Katharina II. beruft die Gesetzgebende Kommission ein, die der Zarin den Titel »Katharina die Große« verleiht.
1768
Bei Ausbruch des türkisch-russischen Krieges wird die Gesetzgebende Kommission wieder aufgelöst.
1768–1774
Erster russisch-türkischer Krieg.
1771
Moskauer Pestrevolte, die unter Graf Orlow niedergeschlagen wird.
1772
Erste Teilung Polens durch Russland, Preußen und Österreich.
Ca. 1773
Katharina heiratet heimlich Grigori Potemkin.
1773
Denis Diderot hält sich für einige Monate am Zarenhof auf.
1773–1775
Pugatschow-Aufstand.
1775
Katharinas Verwaltungsreform verleiht dem Russischen Kaiserreich eine neue Struktur und führt zur Bildung von vierzig Gouvernements in Russland.
November 1761, in einem Birkenwald südöstlich von St. Petersburg
Das Kind brauchte mehr Licht. Und Wärme brauchte es, um zu wachsen. In der Erdhöhle würde es verkümmern wie ein Vergissmeinnicht im Keller. Die Haut zu blass, das Haar stumpf, die Augen gerötet.
Heute war der Tag, an dem er die Kleine fortbringen würde.
»Was machst du, Emilio?« Sonja rieb sich mit den Fingerknöcheln die Lider und richtete sich auf. Zottelhaare umrahmten ihr Gesicht. Sie blinzelte, zog die Nase kraus. Emilio hatte die Luke nach draußen verschoben. Pulverschnee fiel zusammen mit einem Schwall kalter Herbstluft in die Höhle, vertrieb den Geruch nach den gepökelten Weißlingen und Lachsforellen, die der Alte aus dem seichten Uferwasser der Newa gefischt und zum Trocknen aufgehängt hatte. Der Schnee würde schmelzen, sobald er die Feuerstelle wieder entzündet hatte.
Ihre Behausung war eine Grube im Wald, so hoch wie ein Mann, so breit wie zwei. Abgedeckt war der Bau mit Ästen und Gesträuch, innen ausgelegt mit Wolfsfellen. Es gab um die Feuerstelle herum einen grob gehauenen Tisch aus Birkenstämmen, eine Bank und die Schlafstätte für Emilio, das Kind und den Bären. Der Einsiedler hielt die Höhle penibel aufgeräumt mit dem Frischwasserfässchen unter der Bank, dem Holzgeschirr in der Kiste, der kleinen Harfe in der Truhe, Schaufel und Axt an der Wand. Sie lag östlich von St. Petersburg, gleich an der Newa, die ein paar Werst entfernt in den Ladogasee mündete.
Das Land war von Hügeln durchzogen, mit vielen Morasten und stehenden Sümpfen. Dem Ackerbau hatten in den vergangenen Jahren einige Wälder weichen müssen. Verbrannte Flächen und Felder mit mickrigem Getreide fand Emilio überall bei seinen Streifzügen vor. Das Klima mit der feuchten Herbstwitterung, den strengen Wintern und den kurzen Sommern erschwerte den Russen und Finnen, die verstreut auf diesem Gebiet zwischen der Stadt und dem Ladogasee lebten, den Ackerbau und die Viehzucht. Was ein Jammer war, da sich in St. Petersburg alle Produkte der Landwirtschaft versilbern ließen.
Emilio hatte von seinem Ziehvater gelernt, wie man eine solche Erdhöhle errichtete, obwohl Kostja selbst das oberirdische Leben bevorzugte. »Er wird sich nicht wie eine Wühlmaus vergraben«, hatte der Zwerg grimmig erklärt, als er ihn vor vielen Jahren danach fragte.
Für Emilio stand fest, dass die Höhlen den Hütten bei Weitem überlegen waren. In der Semljanka zog die Kälte in den Wintermonaten nicht durch die Ritzen, und verborgen unter Gestrüpp waren sie sicher vor Räubern. Nicht dass Emilio marodierende Banden fürchtete. Die würden sich wohl eher an die Landhäuser halten, die mit dem Wachsen der Stadt in diesem Gebiet entstanden waren. Edelleute, die von Moskau nach St. Petersburg zogen, ließen hier ihre Sommerhäuser errichten, in denen sie die heißen Wochen fernab des städtischen Trubels genießen konnten. Emilios Hütte jedoch lag eine halbe Tagesreise vom nächsten bewohnten Gut und allen finnischen und russischen Dörfern entfernt. Er schätzte es, einen Ort zu haben, an dem er niemandem Rechenschaft schuldig war.
Petjenka, der Bär, brummte, während das Mädchen sich aufrichtete, als wollte er sie überreden, sich noch ein bisschen an ihn zu kuscheln. Sonja streichelte das warme Fell an der Stelle, an der ihr Kopf geruht hatte, und legte ein letztes Mal die Wange daran. In seinem massigen Leib fand das Brummen ein Echo. Petjenka seufzte wie ein Mensch, bevor seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten, dass er wieder eingeschlafen war.
Vor dem ersten Schnee hatte sich der Bär mit Mäusen und Erdhörnchen, Heidelbeeren und Äpfeln, Wurzeln und Insekten kräftig Winterspeck angefuttert, um während der kalten Monate in Emilios Semljanka zu überwintern. Er schlief nie so tief, dass er nicht bei plötzlicher Gefahr in Sekundenbruchteilen zum Angriff bereit wäre. Obwohl sich Emilio fragte, ob Petjenka solche Überlebensinstinkte noch besaß. Er hatte ihn als ziellos umherirrendes Junges vor zwei Jahren gefunden, klagend nach der Mutter rufend, die in einer Falle verendet war. Emilio hatte nicht lange gezögert und das Tier zu sich genommen.
Genau wie er nicht gezögert hatte, als er Sonja fand.
Mit dem Schnee und der Kaltluft drang das Licht in die Höhle. Emilio verengte die Augen, während er die Holzluke mit einem Ächzen zur Seite schob und sich den Schnee, der auf ihn gerieselt war, von den weiten Beinkleidern und dem über dem Leinenhemd gegurteten Rock wischte. Er spürte das Ziehen in Fingern und Knien, das sich in den letzten Monaten verstärkt hatte. Und seinen linken Knöchel, der schwarz und angeschwollen von dem Blut war, das nicht ins Bein zurückfloss. Für den heutigen Weg würde er es straff in Tücher wickeln müssen, wie es ihm der deutsche Arzt in der Stadt erklärt hatte. Mit seinen achtundfünfzig Jahren nahm er die Altersbeschwerden klaglos hin. Vielleicht blieben ihm noch drei oder vier Jahre.
»Du machst es kalt«, jammerte Sonja, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Sie war mit ihren weiten Hosen und den mit Leinen umwickelten Füßen gekleidet wie eine Miniaturausgabe von ihm. Ihre Zähne schlugen aufeinander.
»Nimm deine Jacke und pack dich ein«, brummte er.
»Zünde doch lieber das Feuer an.«
Emilio fuhr herum. »Tu, was ich dir gesagt habe. Wir haben heute einen langen Marsch vor uns.« Alles stellte sie in Frage. Nie tat sie etwas nur deswegen, weil er es ihr befahl. Dabei lag in ihrer Miene ein Ausdruck, der es ihm unmöglich machte, ihr zu zürnen.
Ein wirklich bemerkenswertes Kind mit den Körpermaßen einer Vierjährigen und dem Verstand einer Zehnjährigen. Vom ersten Tag an, da er sie allein nicht weit von seiner Höhle mitten im Wald entdeckt hatte, war sie ihm seltsam erschienen. Mit den kugelrunden braunen Kinderaugen, dem ungekämmten Haar in der Farbe von stumpfem Silber und dem zu großen Kopf auf den schmalen Schultern. Wie sie dagesessen und sich mit der linken Hand die Himbeeren in das Mündchen gesteckt hatte, die derjenige, der sie ausgesetzt hatte, neben sie gelegt haben musste. In ihrem Leibchen aus geflicktem Leinen hatte sie ihm ohne Angst entgegengestarrt. Emilio verbrachte mehrere Stunden damit, nach Mutter oder Vater zu suchen, aber am Ende stand er wieder vor der Kleinen, und sie verzog das Gesicht, während ihr die Tränen hochstiegen.
Es war ein Tag im späten Herbst gewesen, die Luft hatte nach Schnee gerochen, das Tageslicht verschwand drüben hinter den Dächern der Stadt. Emilio wusste nicht, was er mit dem Kind anfangen sollte, aber er wusste, dass es die Nacht allein draußen nicht überleben würde. Wenn sie nicht im ersten Schnee des Jahres erfrieren würde, dann würde sie von Wölfen gerissen werden. Er hatte keine Wahl. Er klemmte sie sich unter den Arm und beförderte sie so in seine Höhle, mit dem festen Willen, am nächsten Tag nach einer Bleibe für sie zu suchen.
Aus dem einen Tag wurde eine Woche, ein Monat, ein Jahr, und mittlerweile war es der dritte Winter, den Sonja in seiner Gesellschaft verbrachte. Sie war ihm lieb wie ein eigenes Kind geworden. Während er in der Zeit vor Sonja manchmal tagelang kein Wort gesagt hatte, zwang ihn das Mädchen zum Reden, und mit der Sprache wuchsen sein Denkvermögen und seine Wachheit. Es war, als hätte sie die Wärme zurück in sein Leben gebracht, seit sein Ziehvater Kostja gestorben war.
Emilio war davon überzeugt, dass es etwas Besonderes mit diesem Mädchen auf sich hatte. Wenn er in den weißen Nächten in St. Petersburg auf der Strelka mit Petjenka auftrat und die feiersüchtigen Menschen beklatschten, wie der Bär sich im Kreis drehte und von einem Bein aufs andere wippte, dann drängten sich manchmal Kinder nach vorn, kleine Wesen, die so groß wie Sonja waren und die im Gegensatz zu ihr nicht mehr als einzelne Wörter von sich gaben.
Sonja war anders, und dies nicht nur, weil sie für die alltäglichen Dinge des Lebens – beim Kämmen, Teetrinken, Hämmern – die linke Hand bevorzugte. Emilio spürte mehr, als dass er wusste, dass er ihr nicht genug bieten konnte. Sicher, er hatte ihr Lesen und Schreiben und Musizieren beigebracht. Aber sie hatte bereits alles aufgesogen, was er an Geistesgaben zu bieten hatte. Es war an der Zeit, sie loszulassen und in eine Obhut zu übergeben, in der ihr mehr geboten wurde als eine mit Fellen ausgelegte Höhle, eine Harfe und ein zahmer Bär.
»Ich habe Hunger«, erklang Sonjas Stimme, während sich Emilio aus dem Loch herausstemmte und die Hände in den pulverigen Schnee drückte.
»Zuerst die Tiere«, erwiderte er. »So habe ich es dir beigebracht, nicht wahr? Reich mir den Topf an.«
Emilio richtete sich auf und trat zu der zwei Schritt entfernten Höhle für die beiden grobwolligen Schafe und die Ziege, die bereits ungeduldig meckerte. Er hätte gern mehr Vieh gehalten, aber schon diese drei durch den langen Winter zu bringen war mangels Futter ein Meisterstück. Die Ziegenmilch und der weiche Käse, der entstand, wenn die saure Milch in der Wärme gerann, waren die wertvollsten Nahrungsquellen, die ihm zur Verfügung standen. Obwohl im Frühjahr und im Sommer der Wald mit all seinen Nüssen, Früchten und Beeren wie ein sich nie leerender Vorratsschrank für ihn war.
All sein Wissen darüber, welche Pflanzen man essen konnte, welche gegen Bauchweh und Beinbrüche wirkten und von welchen man besser die Finger ließ, hatte er an Sonja weitergegeben. Sie wusste, dass man die reifen Moos- und Maulbeeren im Herbst sammelte, sie im Schnee verscharrte, wo sie den Winter über hielten und ein mildes Aroma annahmen. Sie wusste, wie man aus Traubenkirschen Mus und kleine Kuchen bereitete, und mit welchen getrockneten Wurzeln man das Mehl verlängern konnte. Sie wusste von der Nützlichkeit der Weißbirken, die hier überall wuchsen: Mit der Rinde konnte man Gefäße herstellen, die belaubten Äste fanden in der Stadt als Badebesen reißenden Absatz, und mit den Blättern ließ sich eine herrlich gelbfärbende Brühe herstellen. Der Birkensaft wirkte Wunder bei Erkältungen, und bei Fieber half nichts besser, als eingedeckt mit Laub zu schwitzen.
Eine weitere wichtige Nahrungs- und Einkommensquelle waren für Emilio und das Mädchen die überall aus dem Boden sprießenden Pilze. Die schmackhaftesten und wertvollsten waren Pfifferlinge und Champignons, die man rösten oder in Essig einlegen konnte und die auf dem Markt eine gute Summe einbrachten. Er war überzeugt, dass das Mädchen inzwischen imstande war, allein in der Natur zu überleben. Aber das würde nicht nötig sein. Er hatte Besseres mit ihr vor.
Emilio begann die Ziege zu melken. Von drüben aus der Bärenhöhle ertönten die weichen Klänge der Harfe, die zu seinen kostbarsten Besitztümern gehörte. Darauf zu spielen war Sonjas liebster Zeitvertreib. Wenn er das Gute, das ihm selbst widerfahren war, an einen Menschen wie Sonja weitergegeben hatte, dann war sein Dasein nicht umsonst gewesen.
Wenig später hatte Emilio in der Bärenhöhle die Milch erhitzt. Sonja trank in kleinen Schlucken und nahm hin und wieder das getrocknete Rebhuhnfleisch, das Emilio in Stücke riss und ihr auf dem Handteller hinhielt. Sie kaute mit offenem Mund.
»Iss dich heute richtig satt. Der Weg in die Stadt ist lang. Ich werde dich nicht ständig tragen können.«
»Werde ich heute endlich einmal dabei sein können, wenn du Pilze und Birkenzweige auf der Strelka verkaufst? Gibt es ein Fest?«
»Ach woher denn.« Emilio machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wer feiert im November schon draußen. Erst wenn der Fluss zufriert, wird es wieder Jahrmärkte geben. Vorher sehen alle zu, dass sie ihr Brennholz für den Winter stapeln und die Vorräte aufstocken.«
Kurz darauf kletterten sie aus der Höhle und deckten sie wieder sorgsam ab.
Emilio zog aus seiner Rocktasche die beiden gefütterten Mützen hervor und stülpte sich seine eigene über die Ohren. Er betrachtete Sonja für einen Moment, leckte sich über die Finger und glättete ihre widerborstigen Haare, die sich kringelten wie Schweineschwänze, bevor er ihr die Mütze aufsetzte. Schließlich griff er nach ihrer Hand und stiefelte los.
Die Stadt war einen halben Tagesmarsch entfernt. Emilio hatte damit gerechnet, dass er länger brauchen würde, weil Sonja neben ihm murrte, aber das Mädchen blieb an seiner Seite, trippelte im Tempo ihres Herzschlags, während er weit ausschritt.
»Zeigst du mir heute alles? Darf ich den Palast sehen? Die Festung mit den Kanonen? Gehen wir auf den Markt und kaufen ein?«
»Bald wirst du mehr als genug sehen. Du wirst dableiben.«
Emilio stockte, weil sich das Mädchen fallen ließ und wie ein Sack an ihm hing. Ihr Gesicht wurde noch blasser. »Ich will da nicht bleiben. Ich kenne dort keinen. Ich will bei dir und Petjenka sein.«
Emilio zerrte an ihr, bis sie wieder in einen Trott verfiel. Das linke Bein zog er nach, als es wieder zu schmerzen begann.
Plötzlich verharrte Emilio, weil er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Etwas Dunkles, Schattenhaftes. Sein Griff ging zu dem Messer an seinem Gürtel.
»Was hast du, Emilio?« Sonja sah zu ihm auf.
»Da war etwas. Ich dachte, ich hätte einen Rock gesehen.«
Sonja schlug sich die Hand vor den Mund. »Die Baba Jaga?«, flüsterte sie.
»Ach, Unsinn«, gab er mürrisch zurück und ärgerte sich, dass er das Kind beunruhigt hatte. Es war in den vergangenen Jahren einige Male passiert, dass er sich verfolgt und beobachtet gefühlt hatte. Aber wenn er sich umdrehte, konnte er nie etwas entdecken. Er schob es darauf, dass seine Sinne ihm im Alter Streiche spielten. Vielleicht war er zu besorgt um das Kind. Umso besser die Entscheidung, die er heute getroffen hatte. Es war an der Zeit, die Ängste abzuschütteln und dem Kind Flügel wachsen zu lassen.
Sie passierten die Ruine der Hütte, in der er viele Jahre mit seinem Ziehvater Kostja gewohnt hatte. In den von Sträuchern überwucherten morschen Brettern hingen Fledermäuse. Bei ihren Streifzügen hatte er Sonja die Behausung gezeigt und ihr erzählt, dass er selbst als Kind von einem besonderen Menschen aufgenommen worden war, nachdem seine Mutter gestorben war.
Er hätte sich keinen Besseren als den Zwerg Kostja wünschen können, der ihm irgendwann von seinem leiblichen Vater erzählt hatte: einem italienischen Architekten, der zu den Pionieren der Stadtgründung gehört und eine russische Adelige geheiratet hatte.
Die Häuser, Kirchtürme und Paläste warfen im Wyborger Viertel, das Emilio noch als die finnische Seite kannte, bereits lange Schatten, als er mit dem Kind St. Petersburg erreichte. Die Wachen kannten ihn und ließen ihn passieren.
Überraschend hatten sich die Schneewolken an diesem Tag verzogen, und die Sonne strahlte vielleicht zum letzten Mal im Jahr mit dieser Kraft. Die vereinzelten bunten Blätter an den Bäumen der Alleen und im Sommergarten leuchteten wie die Spitze der Admiralität und der Turm der Peter-Paul-Kirche. Auf der Newa fuhren in beide Richtungen Schaluppen und Kähne zwischen den behäbigen Handelsschiffen, brachten die Menschen von einer Insel zur nächsten, lieferten Holz und Handelswaren, Steine und Getreide.
Zar Peters Vision von einem Welthafen war Wahrheit geworden. Hier trafen sich Händler aus allen Teilen Europas. Auf den gepflasterten Straßen herrschte Hochbetrieb, Kutschen ratterten vorbei, berittene Soldaten, Bauern mit Handkarren, und alle Fußgänger schienen in Eile zu sein.
Emilio schwirrte schon nach wenigen Minuten der Schädel, während sich Sonja neben ihm gar nicht sattsehen konnte und stehen blieb, um all diese Eindrücke in sich aufzunehmen. Emilio hatte befürchtet, dass es sie verschrecken könnte, aber das Gegenteil war der Fall: Sonja schien aufzublühen, während sie ihn zu einer mit einem schmiedeeisernen Geländer kunstvoll verzierten Brücke zog, um von ihrem Scheitelpunkt aus zu beiden Seiten der Newa die Stadt zu überblicken. Linker Hand dominierte der Winterpalast das Ufer, dahinter ragten die Admiralität und Prachtvillen der Adeligen auf. Rechter Hand stand die mit der russischen Flagge geschmückte Peter-Paul-Festung für die Streitkraft der Russen, die Zar Peter vor mehr als fünfzig Jahren erbaut hatte.
Bilder tauchten aus Emilios Erinnerung auf: von Barackensiedlungen und halb fertigen Rohbauten, von dem über die Ufer steigenden Fluss, der alles überflutete, von Leibeigenen und Kriegsgefangenen, die zu Tausenden für die Errichtung dieser Metropole starben.
Mit dem Tod Peters des Großen, so hatten manche gemutmaßt, würde St. Petersburg sterben. Zur Ruinenstadt verfallen, in der die Mauern unfertiger Paläste daran erinnerten, dass da einer ohne Rücksicht auf menschliche Verluste seine Idee hatte durchsetzen wollen. Doch all die Zweifler hatten sich getäuscht. Seit mehr als zwanzig Jahren regierte Zarin Elisabeth das Reich. Der Tochter von Zar Peter dem Großen ging es nicht gut, wusste Emilio. Man munkelte, Elisabeths Tage seien gezählt und es könne nicht mehr lange dauern, bis ihr Peter III. auf den Thron folgte. Das Beste, was man über diesen sagen konnte, war, dass er mit der gütigsten und klügsten Frau verheiratet war, die am Zarenhof jemals über Einfluss verfügt hatte.
Aus voller Seele fühlte Emilio sich als Diener der jungen Katharina, die vor fast zwanzig Jahren aus Anhalt-Zerbst nach Russland gereist war, um den Enkel Peters des Großen zu heiraten.
Er erinnerte sich an eine Begegnung mit Fürstin Katharina, drüben an der Strelka, als Petjenka für die Menschen getanzt hatte. Begleitet von ihrer Kammerzofe, hatte sie gestaunt, als Petjenka sich zu voller Größe auf die Hinterbeine gestellt und mit der Hüfte gewackelt hatte, während sein Kopf im Takt der Harfenklänge schwang. Eine zahme Bestie, die die Menschen verzauberte. Aber nach der Aufführung war die Fürstin nicht, wie all die anderen Festgäste, zur nächsten Attraktion weitergeschlendert, sondern hatte sich Emilio genähert und sich erkundigt, wo er schlafe und was mit seinem Bein geschehen sei, das an diesem Tag nässte und schmerzte. Emilio hatte sich nicht überreden lassen, in das neue Heim für Alte, Kranke und Schwache überzusiedeln, aber er hatte es zugelassen, dass der deutsche Arzt, den die Fürstin aus der Menge rasch heranrufen ließ, sich das Bein ansah. Emilio hatte abgelehnt, als sie ihm einen prall mit klimpernden Kopeken gefüllten Beutel überreichen wollte, aber er hatte dankbar gelächelt, als sie zum Abschluss zu ihm sagte: »Wenn ich dir jemals helfen kann, lass es mich wissen.« Am Ende hatte er ihre Hand geküsst. Auf den Rückweg bemerkte er, dass sie ihm heimlich den Geldbeutel in die Rocktasche gesteckt hatte.
Mit Fürstin Katharina würde ein anderer Wind im Winterpalast wehen, selbst wenn sie nur die Gattin des künftigen Herrschers war. Ob sie ihren Einfluss geltend machen und für mehr Gerechtigkeit sorgen würde? Schulen für alle öffnen? Die Leibeigenschaft abschaffen?
Emilio berührte Sonjas Schulter. Ihre Augen leuchteten, als sie zu ihm aufsah. »Komm jetzt.«
»Wohin gehen wir?« Sonja lief wieder neben ihm.
»Ich bringe dich in den Sommerpalast. Wenn wir Glück haben, spaziert dort um diese Zeit noch die Fürstin. Das tut sie an jedem Nachmittag, weißt du?«
»Willst du die Fürstin fragen, wo ich hinsoll?« In Sonjas Stimme klangen die Tränen mit.
Emilio schüttelte den Kopf. Seine Miene verschloss sich. Er beschleunigte seine Schritte und führte Sonja über die gepflasterten Straßen bis zum Sommergarten, dessen verschnörkeltes Tor hoch vor ihnen aufragte. Davor standen zwei Wachen in Uniformen, die den Mann und das Kind mürrisch musterten, als sich die beiden näherten.
»Ich bringe ein Geschenk für Fürstin Katharina.« Emilio fixierte den Größeren der beiden.
»Pack dich, Alter. Mach, dass du wegkommst«, schnauzte ihn der Soldat an.
Emilio sah an ihm vorbei zwischen den eisernen Stäben des Tors hindurch. In den Beeten, die den Rasen und die Spazierwege begrenzten, waren die letzten Astern und Rosen verblüht, die marmornen Statuen bereits für den Winter mit hölzernen Kisten geschützt. Die Bäume reckten ihre kahlen Äste in den Novemberhimmel. Und da ging sie! Fürstin Katharina in einem dunkelblauen, mit Pelz verbrämten Mantel, die Hände in einem Muff vergraben. Neben ihr trippelte ihre Kammerzofe, mit der sie plauderte, während sie unter den Buchen spazierte.
»Die Fürstin empfängt keine Besucher, und schon gar keine wie euch. Mach, dass du fortkommst mit deiner Brut.«
Mit einer Behändigkeit, die niemand ihm zugetraut hätte, drückte sich Emilio an dem Soldaten vorbei und umfasste zwei Streben der Pforte. »Eure Durchlaucht, bitte, Ihr müsst mir zuhören!«, rief er.
So schnell konnte er sich nicht ducken, wie ihn die beiden Soldaten überwältigt und zu Boden geworfen hatten. Emilio fiel hart auf die Steine und kreuzte die Arme schützend über dem Kopf, als der größere Soldat sein Gewehr hob, um mit dem Kolben auf ihn einzuschlagen.
»Nein, nein, nein!« Mit einem Kreischen sprang Sonja dem Mann auf den Rücken und zerkratzte von hinten mit den Fingernägeln sein Gesicht. Er schrie auf, der zweite wollte das Kind herabreißen, aber da erklang aus dem Park die Stimme der Fürstin. »Aufhören! Was geht da vor sich?«
Die Soldaten standen sofort stramm, während Emilio sich aufrappelte und Sonja sich wieder an das Tor drängte.
»Öffnet!«, befahl die Fürstin, als sie mit ihrer Zofe den Ausgang erreichte. Die Soldaten schoben Sonja weg, die sich jedoch sofort wieder nach vorn zwängte und Katharina anstarrte, während sich der alte Mann erhob.
»Emilio!« Katharina war mit zwei Schritten bei ihm, als sie ihn erkannte. Sie ging in die Knie und half ihm beim Aufstehen. »Du lieber Himmel, was führt dich hierher?«
Sonja richtete sich vor der Fürstin auf. Die Mütze reichte ihr bis zu den dunklen Augen, die einen bemerkenswerten Kontrast zu den silbrigen Zottelhaaren bildeten, die an den Schläfen und am Hals hervorquollen. »Ich bin der Grund«, sagte sie mit ernster Miene.
Katharina musterte sie, hielt ihren hellwachen Blick. »Du scheinst mir ein guter Grund zu sein.« Während über das Gesicht ihrer Zofe ein Schatten fiel, wandte sich Katharina mit erhobenem Kopf an die Wachen. »Lasst die beiden durch.« Sie nahm Sonjas Hand und legte stützend den Arm auf Emilios Rücken, während sie auf eine steinerne, von der Sonne beschienene Bank unter einer Weide zusteuerte. »Erzählt mir eure Geschichte.«
Juli 1762, am Alexander-Newski-Kloster
Die Menschenschlange zog sich bis weit über den Newski-Prospekt. Die Petersburger trugen ihre besten Röcke an diesem Tag, da sie von Zar Peter III. Abschied nahmen. Die Kutsche der neuen Kaiserin Katharina II. bahnte sich ihren Weg an den Wartenden vorbei, rumpelte über das Pflaster hinweg, an den steinernen Villen vorbei, die die baumbestandene Hauptstraße säumten.
Katharina schob den Vorhang im Inneren des Gefährts ein wenig zur Seite und spähte hinaus. Die Mienen der Petersburger erschienen ihr finster, viele hielten die Köpfe gesenkt. »Die Menschen wirken besorgt«, murmelte sie.
Grigori Orlow neben ihr legte seine Hand auf ihren Ellbogen. »Mach dir keine Gedanken, Katschuscha. Wer tanzt bei einer Leichenschau schon auf dem Tisch? Tief in ihren Seelen sind sie erleichtert, dass die Angelegenheit geklärt ist und der Zar kein Unheil mehr anrichten kann. Peter hätte niemals nach Russland kommen sollen. Für das Volk wäre es besser gewesen, wenn er in Holstein geblieben wäre. Ein Schwächling, der dem König von Preußen die Stiefel geleckt hat.«
Er hatte ja recht. Niemand wusste besser als Katharina von der Unfähigkeit ihres verstorbenen Mannes, über dieses Land zu herrschen. Peter hatte kein Urteilsvermögen besessen, und er war nicht von der Nation verzaubert gewesen, die zu regieren ihm bestimmt war. Am russischen Hof hatte er sich an seine Vorliebe für alles Preußische geklammert und sogar das Luthertum dem russisch-orthodoxen Glauben vorgezogen. Mit seinem von den Pocken verunstalteten Gesicht und der spindeldürren Gestalt war er zudem ein auffallend unansehnlicher Mensch gewesen, und der Tod machte seine Erscheinung nicht attraktiver.
Nun, ihrem eigenen Volk würde sie vermitteln können, dass der Machtwechsel gottgewollt war, aber was war mit dem europäischen Ausland? Wie sollte es ihr gelingen, ihren angeschlagenen Ruf wiederherzustellen? Keine leichte Aufgabe, die in den nächsten Jahren vor ihr lag.
Vor der schmucklosen Verkündigungskirche, die zum Alexander-Newski-Kloster gehörte, brachte der Kutscher die sechs Pferde zum Stillstand. Die Entourage reihte sich dahinter wie Perlen auf eine Schnur. Als die Zarin in ihrem schwarzen Brokatkleid ausstieg, ging ein Raunen durch die Menge der Trauernden. Sie fielen auf die Knie.
An der Seite von Grigori schritt Katharina mit hoch erhobenem Haupt auf das Kirchenportal zu. Ihr folgten ihre Kammerzofe Isabell mit ihrem Gatten Sergej, an deren Händen Katharinas achtjähriger Sohn Paul und die fünfjährige Sonja. Katharina warf einen Blick zurück. Paul trug eine viel zu würdevolle Miene zur Schau. Bis zu seinem vierten Geburtstag hatte er, wie alle Kinder, Mädchenkleidung getragen, aber inzwischen besaß er eine Uniform, die ihn aussehen ließ wie einen zu klein geratenen Mann. Manchmal, wenn er gar zu aufsässig war, drohte Katharina ihm, ihn wieder in Röcke zu stecken, was seinen Hitzkopf kühlte. Er war sich jetzt schon bewusst, dass er der Thronfolger war und seine Mutter nur bis zu seiner Volljährigkeit die Regentschaft übernahm.
Sonja hingegen hatte die Stirn gerunzelt. Ihre Augen funkelten, während sie sich nach links und rechts umschaute und die Menschen betrachtete, die sich vor der Kaiserin in den Staub warfen. Ihre Schultern zuckten, als kratze sie das mit Blüten bestickte Satinkleid, das in einem weiten Rock um ihre Seidenschuhe fiel. Ihre wilden Locken hatte die Kammerzofe mit Kämmen gebändigt. Einzelne Strähnen kringelten sich um ihr blasses Gesicht.
Seit neun Monaten stand das Kind unter ihrem Schutz. Damals im Sommergarten, als der alte Emilio auf sie zugekommen war, war sie einer Eingebung gefolgt, als sie ihm versprach, sich um das Mädchen zu kümmern. Vielleicht lag es an der Art, wie Sonja sie anschaute. Nicht die Spur von Unterwürfigkeit, kein Hauch von Angst. Einem solchen Kind war sie nie zuvor begegnet, aber möglicherweise hätte sich ihre Tochter Anna, die nur zwei Jahre alt geworden war, zu einem ähnlich aufgeweckten Mädchen entwickelt.
Die Zeit mit ihren eigenen Kindern hatte die alte Zarin Elisabeth ihr geraubt. Gleich nach der Geburt hatte sie Paul und Anna unter ihre Fittiche genommen. Aber auf Sonja würde sie neben allen Regierungsplänen achtgeben. Die Erziehung hatte sie Isabell anvertraut und ihr gleichzeitig aufgetragen, Sonja so oft wie möglich zu ihr zu bringen. Ein bisschen entschädigte sie das für all das, was ihr mit den eigenen Kindern entgangen war.
In der Kirche waberte der Geruch nach Weihrauch, Kerzenwachs und Minzöl, die Wände waren behangen mit rot-goldenen Ikonen. Die Bänke waren schlicht, der Altar aus Stein. Der Verkündigungskirche fehlte es an der glanzvollen Fülle, die die Peter-und-Paul-Kirche auszeichnete, in der die übrigen verstorbenen Mitglieder der Zarenfamilie lagen. Katharina fand es angemessen, den Leichnam in genau diesem Gotteshaus aufzubahren. Allein sein unschickliches Verhalten in der Trauerzeit um Zarin Elisabeth rechtfertigte diese Schmach.
Die Menschen ließen eine Gasse frei, sodass Katharina am Arm ihres Begleiters bis zum Sarg vorschreiten konnte. Es schnürte Katharina die Kehle zu, als sie ihren toten Gatten in der holsteinischen Uniform inmitten des mit Seide ausgeschlagenen Sargs liegen sah.
»Warum ist sein Gesicht blau?« Sonjas Mädchenstimme durchbrach die Stille im Kirchenraum. Ein Murmeln erhob sich in der Menge, als erkannten die Menschen erst jetzt, dass Peter trotz der Herrichtung durch den Bestatter nicht aussah wie einer, der friedlich entschlafen war.
»Er war sehr krank, Liebes.« Katharina drückte Sonjas Schulter, doch sie wand sich unter ihrem Arm hindurch. Manchmal erschien sie ihr wie ein Igel, der sich einrollte, wenn man ihm zu nah kam.
Katharinas Sohn Paul trat vor und sank vor dem Sarg auf die Knie. Ob er jemals erfahren würde, dass Peter nicht sein leiblicher Vater war? Wie hätte er es auch sein können … Katharina und Peter hatten die Ehe niemals vollzogen.
Mit gerade einmal vierzehn Jahren war sie nach Russland gereist und hatte in einer Geschwindigkeit, die andere nicht für möglich hielten, die russische Sprache erlernt und versucht, sich am Hof zurechtzufinden. Nachdem sie vom evangelisch-lutherischen zum orthodoxen Glauben konvertiert war und den Namen Katharina Alexejewna angenommen hatte, fand im Juli 1744 die Verlobung statt, im September die Hochzeit.
Schon in der Hochzeitsnacht erfuhr sie, dass der Großfürst nur wenig Zuneigung für sie empfand. Während sie im Schlafgemach auf ihn wartete, stolperte er spätnachts betrunken ins Bett. Und dies war nur der Auftakt zu weiteren jahrelangen Demütigungen gewesen. Sie hatte die Nächte nicht gezählt, in denen sie allein im Bett lag, während ihr Gatte mit Soldatenfiguren spielte oder auf seiner Geige kratzte.
Es war Zarin Elisabeths Gedanke gewesen, auf andere Art für einen Thronfolger zu sorgen, nachdem Katharina ihr gebeichtet hatte, dass zwischen ihr und ihrem Neffen keine eheliche Verbundenheit bestand. Aber vermutlich hatte die alte Zarin nicht eingeplant, dass sich Katharina in den Mann verliebte, den sie auswählte.
Mit einem Ziehen im Leib erinnerte sie sich an die Zärtlichkeit, mit der Graf Saltykow, damals Peters Kammerherr und schön wie die Morgendämmerung, um sie geworben hatte. Sie hatte sich ihm mit der Leidenschaft der Jugend hingegeben und geglaubt, diese Liebe hielte ewig. Wie ernüchternd die Erkenntnis, dass Saltykow nichts anderes als ein Erfüllungsgehilfe der Zarin war, der seiner Pflicht nachkam und sie schwängerte. Zarin Elisabeth und Peter erkannten das aus dieser Beziehung entstandene Kind Paul von Anfang an als legitim an.
Saltykow hatte Katharinas Sehnsucht nach Leidenschaft geweckt. Seit damals hielt sie sich Liebhaber, die ihr die Nächte versüßten. Nach dem Kammerherrn gehörte Stanislaw Poniatowski über viele Jahre zu ihren bevorzugten Männern, ein Gesandter des polnischen Königs. Stanislaw hing mit Hingabe an ihr und gab auch keine Ruhe, nachdem sie ihm zu verstehen gegeben hatte, dass sie die Liaison als beendet betrachtete. Was nicht hieß, dass sie sich den eifrigen Polen nicht warmhalten würde. Vielleicht konnte ihr einer wie er bei späteren außenpolitischen Schachzügen noch von Vorteil sein.
Genau wie Grigori Orlow aus dem Ismailowski-Garderegiment ihr Nutzen brachte. Grigori war der neueste in der langen Reihe von willigen Männern. Und möglicherweise aufgrund seiner Herkunft der ehrgeizigste: Als Sohn eines Provinzgouverneurs gehörte er nicht zum vermögenden Hochadel. Ob er sich ausmalte, dass sie ihn heiraten würde? Katharina wünschte ihm ein realistisches Urteilsvermögen. Gemeinsame Freude in den einsamen Nächten – jederzeit. Aber eine Aufteilung der Macht an der Spitze des russischen Reiches? Niemals.
Bei ihrem Bestreben, Russland in ein goldenes Zeitalter zu führen, konnte ein starker Mann an ihrer Seite nur hinderlich sein. War es nicht schon unglückselig genug, dass sie ihre Regierung mit der Vertuschung eines Mordes beginnen musste?
In ihrem Ankleidezimmer im Winterpalast konnte Katharina zwei Stunden später nicht schnell genug aus der nachtschwarzen Robe steigen. »Jetzt beeil dich, Isabell«, drängte sie, als ein Haken im Mieder klemmte. Die dunkle Farbe schlug ihr aufs Gemüt. Trauer und zermürbende Gedanken würden sie nur von der Arbeit abhalten. Endlich streifte Isabell das Gewand ab und half ihr in das burgunderrote Seidenkleid, das sie am liebsten in ihren Arbeitsräumen trug.
»Das sieht hübsch aus«, meldete sich Sonja zu Wort, die die Kaiserin und ihre Bedienstete wortlos beobachtet hatte. Sie lehnte mit dem Rücken gegen das Fenster. Die einfallenden Sonnenstrahlen ließen das sorgfältig gebürstete Silberhaar des Mädchens schimmern. »Als Zarin Elisabeth gestorben ist, hast du immer nur schwarze Kleidung getragen, Maman.«
Es gefiel Katharina, dass die Kleine sie seit einigen Wochen mit der vertraulichen Anrede titulierte. Das am Hof allgemein übliche Französisch hatte sie sich in einem atemraubenden Tempo angeeignet. Katharina erfüllte dies mit Stolz, als trüge das Mädchen ihr eigenes Erbgut in sich.
»Sei nicht vorlaut, Sonja«, schimpfte Isabell und machte ein paar drohende Schritte auf sie zu. »Du hast nur zu reden, wenn du angesprochen wirst.«
Katharina hielt sie zurück. »Ist gut, Isabell. Sonja soll in diesem Raum sagen dürfen, was sie möchte.«
Isabell presste die Lippen aufeinander, knickste aber sofort ergeben. Mit einem Schmunzeln bemerkte Katharina den triumphierenden Blick, den die Kleine der Zofe zuwarf.
»Wie steht es um deine eigene Tochter?« Katharina nahm hinter dem Schreibtisch Platz und legte den Arm um Sonjas Taille, als diese sich auf ihren Schoß setzte. Mit hochgezogenen Brauen sah sie Isabell an, deren Bewegungen plötzlich fahrig wurden.
»Sie kennen Inna zu gut, Eure Majestät. Sie verhext mit ihren koketten Spielchen lieber die Kavaliere, anstatt sich festzulegen. Ich habe schlaflose Nächte, solange ich sie nicht verlobt weiß. Das Mädchen hat mit seinen zwanzig Jahren nichts als Flausen im Kopf.«
Sonja kicherte, und Katharina schürzte die Lippen. »Gib ihr Bescheid, dass ich mich um einen Ehemann für sie kümmern werde, wenn sie sich nicht bald entscheidet.«
»Das wird sie nicht erfreuen.«
»Davon war auch keine Rede.«
Isabell streckte die Hand in Richtung des Mädchens aus. »Komm, Sonja. Lass die Zarin jetzt arbeiten.«
»Kann ich nicht noch ein bisschen bleiben und zuschauen, Madame? Ach bitte.«
»Regierungsgeschäfte sind nichts für Kinderohren, und dein Lateinlehrer wartet schon.«
»Sie kann bleiben«, widersprach die Zarin und nickte Isabell zu, die untertänig knickste, bevor sie das Arbeitszimmer verließ. Als sie die Tür öffnete, stand dort bereits der Sekretär, der auf einem Tablett einen Stapel Briefe brachte.
»Danke, Wanja«, murmelte Katharina, ohne ihn anzusehen, bevor sie die versiegelten Umschläge entgegennahm und durchblätterte.
»Sind das alles Nachrichten von deinen Untertanen? Was wollen sie?« Sonja berührte die Kuverts mit den Fingern, streichelte über das Papier und die Siegel.
»Jeder will etwas anderes«, antwortete Katharina. »Weißt du, wie groß Russland ist? Und jeder einzelne Mensch in unserem Land verlässt sich auf die Entscheidungen der Herrscherin.«
»Antwortest du ihnen allen?«
»Ich versuche es. Aber manchmal ist es nicht zu schaffen. Dann muss ich entscheiden, was wichtig ist und was nicht.«
»Warum suchst du dir nicht jemanden, der mit dir regiert? Du hättest weniger Arbeit, und jeder bekäme eine Antwort.«
Katharina schmunzelte. »Ich habe meine Minister und Sekretäre, aber letztendlich ist es der Wille der Alleinherrscherin, der zählt. So ist es immer in Russland gewesen, und so wird es bleiben. Das Land würde es nicht vertragen, wenn mehrere Menschen das Sagen hätten. Es könnte passieren, dass es sich spaltet und dass die Bürger sich bekriegen. Mit nur einer Herrscherin jedoch gibt es keine Zwietracht. So hat es der Herrgott vorgesehen.«
»Genau wie er vorgesehen hat, dass es Menschen gibt, die mehr wert sind als andere?«
»Du sprichst von den Leibeigenen und den Gutsherren?«
Sonja nickte und musterte das Gesicht der Zarin, als wollte sie darin lesen.
Katharina spürte, wie die Hitze in ihr hochstieg, und ärgerte sich über ihre eigene Reaktion. Sonja war nur ein Kind, es war ihr gutes Recht, Fragen zu stellen, um die Welt zu erforschen. Aber dennoch ließ sie das Thema Leibeigenschaft nie kalt. Ihr war bewusst, dass das europäische Ausland sie in ihrem Bestreben, Russland in ein aufgeklärtes Zeitalter zu führen, an ihrer Meinung zur Leibeigenschaft messen würde. Aber Russlands Gesellschaftssystem basierte auf genau diesem Prinzip, dass es eine Herrenklasse mit Landbesitz und eine Arbeiterklasse ohne jede Ansprüche gab. Wie ein Kartenhaus würde das System zusammenbrechen, wenn sie versuchen sollte, daran etwas zu ändern. Abgesehen davon, dass sie sich den Missmut der einflussreichsten Russen zuziehen würde, wenn sie die Rechte der Gutsherren und des Adels beschnitt. Aller Wille zur Veränderung nutzte ihr nichts, wenn sich das Volk gegen sie stellte.
Bei den unteren Schichten entzündeten sich in letzter Zeit in verschiedenen Teilen des Landes Unruhen. Vor allem die Strenggläubigen erkannten sie nicht als die neue Monarchin an. Eine Deutsche auf dem Zarenthron? Das hielten sie so nicht für gottgewollt und trauerten dem verstorbenen rechtmäßigen Zaren Peter nach. Aber was sollten die Bauern schon ausrichten? Sie waren nicht organisiert, und ihre Auflehnung würde im großen Reich verpuffen. Schwerer wöge es, wenn sich der Adel gegen sie stellte, aber die Aristokraten waren zufrieden mit den weitreichenden Rechten, mit denen die Zarin sie ausgestattet hatte.
»Es geht nicht um den Wert des Menschen«, ging sie auf die Frage des Mädchens ein. »Aber jeder hat seinen Platz in der Gesellschaft. Nur auf diese Art kann das Zusammenleben funktionieren.« Sie seufzte unterdrückt, als sich Sonja mit dieser Antwort zufriedengab. Das Mädchen stützte die Ellbogen auf den Mahagonischreibtisch und das Kinn in die Hände, während Katharina die Umschläge weiter durchblätterte: Bittsteller aus den entlegenen Städten ihres Reichs, Mitteilungen über Überfälle auf Verwaltungszentralen im Südwesten des Landes, Berichte ihrer Generäle, Nachrichten aus dem Kreml … Vier Briefe sortierte sie aus. Den ersten öffnete sie sofort.
»Der hat das weißeste Papier und das dickste Siegel. Bestimmt kommt er von einem sehr wichtigen Mann?«
»Ja, von dem mächtigsten der Welt«, sagte sie und hielt den Finger auf die Unterschrift, damit Sonja sie vorlesen konnte.
»Friedrich«, buchstabierte sie. »Wo lebt er, und welches Reich beherrscht er?«
»Friedrich II. ist König in Preußen«, antwortete Katharina und überlegte einen Moment, wie sie ihre Meinung über den König in kindgerechte Worte verpacken konnte. »Er hat eine gewaltige Armee und keine Angst davor, Kriege zu führen. Wir müssen uns sehr geschickt verhalten, um uns nicht seinen Ärger zuzuziehen. Gleichzeitig muss er spüren, dass Russland ein ebenbürtiger Gegner ist.«
Katharina war Friedrich einmal begegnet, damals, als sie unter ihrem Mädchennamen Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst nach St. Petersburg gereist war. Sie hatte ihn als knurrigen, von sich selbst überzeugten Herrscher in Erinnerung, der sich wenig Mühe gab, seine Verachtung Frauen gegenüber zu verbergen. Ein Mann ohne Herz. Ein Herrscher, der Zehntausende Soldaten in den Tod schickte. Ein eisernes Organisationsgenie. Sie griff nach dem Glas Wasser, das stets frisch gefüllt auf ihrem Sekretär stand. Nichts besänftigte sie mehr als ein kühler Schluck. Mit einem Lächeln nahm Sonja ihr das Glas ab und trank den Rest.
Mit Friedrich zu korrespondieren verlangte Katharinas volle Aufmerksamkeit. Wie dreist er vor mehr als zwanzig Jahren die wackelige Stellung der österreichischen Kaiserin Maria Theresia ausgenutzt hatte, um in Schlesien einzumarschieren. Die jahrelangen Kriege hatten Friedrich zermürbt. Gicht und Rheuma plagten seine Glieder, und ohne Krückstock sah man ihn nicht mehr, hieß es. Ein Schreckgespenst, krumm wie ein Fiedelbogen. Katharinas Mitleid für den alten Fritz hielt sich in engen Grenzen.
Sie würde dem starken Regenten im Westen mit einem Höchstmaß an Diplomatie begegnen. In seinem jetzigen Schreiben jedoch, das Sonja ihr fließend vorlas, fand er anteilnehmende Worte zum bedauernswerten Tod des Zaren, und er drückte seine Hoffnung aus, mit der neuen Zarin ähnlich harmonisch zusammenarbeiten zu können wie mit Peter III. Katharina erinnerte sich mit gemischten Gefühlen daran, wie besorgt der Preußenkönig sich um den Zaren gezeigt hatte. Er hatte sogar angeboten, ihm eine Abordnung seiner eigenen Leibgarde zu schicken.
»Er mochte den Zaren wohl sehr«, stellte Sonja fest.
Katharina nickte. Zar Peter III. war dem Preußenkönig geradezu hündisch ergeben gewesen. Kein Wunder, dass Friedrich voll der Anteilnahme war. Sie griff zu einem Bleistift und notierte sich ein paar Sätze für ihre Antwort, die sie später am Tag ihrem Sekretär diktieren würde: Was den in letzter Zeit mit Seiner Majestät dem König in Preußen geschlossenen Frieden betrifft, so teilen Wir Ihnen Seiner Majestät feierlich mit, dass Wir denselben heilig halten werden, solange Uns Seine Majestät keine Veranlassung gibt, ihn zu brechen. Sie fügte noch an, wie sehr es sie freuen würde, wenn Friedrich eine Reise nach St. Petersburg einrichten könnte.
»Möchtest du wirklich, dass er hierherkommt?«
»Aber ja, mein Täubchen!«, erwiderte Katharina. »Die meisten Männer sind leichter mit Liebenswürdigkeit und einem Lächeln einzuwickeln als mit wohlgesetzten Worten.« Sonja stimmte in ihr Lachen ein.
Katharina wusste, dass sich ihre stärkste Wirkkraft in der persönlichen Begegnung entfaltete. Friedrich für sich einzunehmen erschien ihr wichtiger als alle Reformen, die auf ihre Ausarbeitung warteten. Vielleicht würde er diesmal einer Reise in die russische Hauptstadt zustimmen.
Auf eine Begegnung mit Maria Theresia hingegen legte sie nicht den geringsten Wert, obwohl diese in dem zweiten Brief, den Katharina beiseitegelegt hatte, ihre Freude über die Thronbesteigung der russischen Kaiserin wortreich zum Ausdruck brachte.
»Wer ist diese Frau?«, wollte Sonja wissen.
»Das ist die Kaiserin von Österreich. Auch mit ihr dürfen wir es uns nicht verderben.«
»Ist Österreich so groß wie Russland?«
Katharina lachte. »Aber nein. Das ist nicht zu vergleichen. Lass dir von deinem Lehrer später die europäische Karte zeigen. Dann kannst du dir selbst ein Bild machen.«
»Magst du die Kaiserin von Österreich?«
»Nun ja …« Sie räusperte sich. Seit Jahren mit Joseph verheiratet, gebar die alte Betschwester, wie Katharina sie insgeheim nannte, ein Kind nach dem anderen und hielt mit ihrer ehrsamen Hausfrauensorgfalt das Ansehen der Kaiserfamilie hoch. Nichts verband Maria Theresia mit der an allem Neuen interessierten Zarin. Katharina wusste, dass sie ihr gegenüber Verachtung empfand und über ihren Lebenswandel die Nase rümpfte. »Man muss sich nicht mögen, nur respektieren, wenn man die Geschicke Europas gemeinsam bestimmt.« Sie rückte vom Schreibtisch ab, packte Sonjas Taille und hob sie auf den Boden. »Lauf zu Madame und zu deinem Lehrer.« Sie nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Sonja legte die Stirn in Falten. »Bei dir lerne ich viel mehr«, behauptete sie. »Und Madame ist froh, wenn sie mich nicht sieht.«
Katharina kniff die Lider zusammen und starrte Sonja an. »Behandeln sie dich nicht gut?«
Sonja zuckte die Schultern. »Sie schlagen mich nicht oft, und wenn, dann nicht sehr hart. Aber ich fühle mich wohler bei dir.« Sie schluckte, bevor es aus ihr herausplatzte: »Madame ist kalt wie ein Fisch, Monsieur schleimig wie eine Schnecke und Inna dumm wie ein Maultier!«
Katharina zuckte zusammen, bevor sie schallend lachte. »Lass sie das bloß nicht wissen! Und nein, mein Kind, man kann sich die Menschen, die zu dem eigenen Kreis gehören, nicht aussuchen wie das Vieh auf dem Markt. Die Kunst besteht darin, die Schwächen der anderen zu kennen und sich entsprechend zu verhalten, um entweder keinen Ärger zu bekommen oder sich einen Vorteil zu verschaffen. Du bist auf dem besten Weg, das zu lernen. Lass dich nicht unterkriegen.« Erstaunlich, mit welcher Schärfe das Mädchen seine Umwelt wahrnahm. Nachdem Emilio sie ihr gebracht hatte und bei der Frage nach ihrem Alter Kind und Einsiedler nur mit ratlosen Gesichtern die Schultern gezuckt hatten, hatte Katharina ihr, damit es für Sonja etwas zu feiern gab, nach der eingehenden Untersuchung ihrer Ärzte einen Geburtstag zugeschrieben: den 7. Januar 1757. Und es hatte auch gleich Geschenke gegeben – seidene Kleider mit Rüschen, Haarkämme, Puppen. Aber nur ein Präsent hatte ein Leuchten auf Sonjas Gesicht gebracht: eine Harfe. Nach der kaiserlichen Rechnung war Sonja nun fünfeinhalb Jahre alt. Doch trotz ihres kindlichen Alters – so durfte sie nicht über ihre neue Familie reden. »Ich will so etwas nicht wieder hören, Sonja. Es ist undankbar und respektlos.«
Sonja knickste. »Ja, Maman.«
»Geh jetzt. Ich will die Post schnell durcharbeiten. Heute stehen noch mehrere Empfänge auf meinem Programm. Mir läuft die Zeit davon.«
Sie sah dem Kind hinterher, als es zur Tür lief. Die Schleife an ihrem Kleid wippte, die Haare flogen. Mit der Klinke in der Hand drehte sie sich noch einmal um und warf ihr eine Kusshand zu, bevor sie verschwand. Ihr Zauber wärmte Katharina, aber schwerer wog die Erkenntnis, die sie an diesem Nachmittag überkam: Das Denken würde sie diesem Kind nie verbieten können.
Der Brief von Denis Diderot, den sie als dritten öffnete, trübte ihre gute Stimmung, in die sie das Mädchen mit ihrer Zutraulichkeit und Neugier versetzt hatte. Es würde ein mühsames Stück Arbeit werden, den Philosophen davon zu überzeugen, dass sie sich den westlichen Idealen verschworen hatte, obwohl sie die Gewaltenteilung ablehnte. Wie sie es soeben dem Mädchen erklärt hatte: Das russische Kaiserreich war so weitläufig, dass jede andere Regierungsform als die Autokratie schädlich war und zur Zerstückelung der Macht führen würde. In einem solchen Land konnte nur die Kraft einer einzelnen Persönlichkeit etwas bewirken. Diderot vertrat eine andere Meinung und beharrte auf seinem Standpunkt, dass jede absolutistische Regierung von Übel sei, da das Volk um seine Freiheit betrogen werde.
Was dachte sich der bornierte Kerl! Mit all seinen hohen Prinzipien mochte er schöne Bücher schreiben, denn Papier ist geduldig, aber von Regierungsgeschäften hatte er keine Ahnung. Diderots Starrköpfigkeit ärgerte Katharina. Es war von immenser Bedeutung, dass sie die großen europäischen Philosophen von sich überzeugte, um ihr Ansehen im Ausland zu stärken, aber bei Diderot stieß sie mit ihren Argumenten auf Granit.
Wohingegen sie Voltaire, von dem der vierte Brief stammte, ohne eigene Anstrengung auf ihre Seite gezogen hatte. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie sich in seine Zeilen vertiefte. Er beteuerte einmal mehr, mit ihr sei der Stern des Nordens aufgegangen und Russland hätte sich keine weisere Herrscherin wünschen können.
Ach, wie sehr sie ihn schätzte, diesen Fürsten des Geistes. Während der qualvollen Jahre ihrer Ehe hatte sie nichts mehr getröstet als die Lektüre seiner Dramen, Romane und Satiren. Sie durfte nicht vergessen, Sonja beizeiten an diese Bücher heranzuführen! Nicht zuletzt durch seine Abhandlungen und Polemiken zu philosophischen und theologischen Themen hatte sie die Feinheiten der französischen Sprache erlernt.
Voltaire würde in Europa verbreiten, dass sie die erste Herrscherin auf dem russischen Thron war, die den chaotischen Zustand der Gesetzgebung in Russland beendete. In Fortsetzung des Werkes Peters des Großen würde sie, Katharina, Russland endgültig zur Blüte bringen.
Voltaire wollte sie persönlich antworten. Der Briefwechsel mit ihm hatte sich zu ihrem privaten Vergnügen entwickelt, und dies nicht nur wegen seiner wohlgesetzten Schmeicheleien. Sie schätzte vor allem den Austausch auf einem geistigen Niveau, das ihr die Regierungsbeamten und Berater nicht bieten konnten. Was für eine Ehre, dass ein solcher Mann sich zu ihr hingezogen fühlte und in ihr eine »Philosophin auf dem Thron« sah.
Sie öffnete die Schublade ihres Sekretärs, zog einen Briefbogen hervor, tunkte die Feder in das Tintenfass und begann zu schreiben: Monsieur, der Glanz des Nordsterns ist nur ein Nordlicht. Die Wohltaten, die Sie erwähnen …
Ihr Kopf ruckte hoch, als die Tür aufgerissen wurde. Sekretär und Kammerzofe hoben die Stimmen, aber Grigori ließ sich nicht aufhalten. »Katschuscha, sag ihnen, dass ich jedes Recht habe, von dir empfangen zu werden, wann es mir beliebt. Ihre Pflichtversessenheit ist ermüdend.« Mit dem Kinn deutete er auf die beiden Untergebenen, deren Aufgabe es war, Besucher anzukündigen.
Katharina nickte den beiden zu. »Es ist in Ordnung. Lasst ihn durch.«
Grigori klopfte sich nicht vorhandene Staubflocken von der Schulter, bis sich die Tür hinter ihm schloss. Kaum waren sie allein, trat er auf sie zu, zog sie auf die Füße und legte die Lippen an ihren Hals. »Ich habe dich vermisst. Jede Stunde ohne dich ist eine Qual«, murmelte er dicht an ihrem Ohr.
Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, löste sich von ihm und lachte betont munter auf. »Wir haben uns am Vormittag erst gesehen.«
Grigori verzog den Mund. »Ja, in Gegenwart eines Leichnams. Ich will allein mit dir sein, Katschuscha. Die Zeiten sind jetzt vorbei, in denen wir uns die Stunden stehlen mussten. Es ist vollbracht, in wenigen Wochen wird die Krönung in Moskau deine Herrschaft besiegeln. Ich habe mein Bestes dafür gegeben.«
Sie ging um den Schreibtisch herum und strich mit den Fingerspitzen über das polierte Holz. Ihr zog sich der Magen zusammen, wenn Grigori auf diese Art herausstellte, dass sie die Thronbesteigung angeblich ihm zu verdanken hätte. Sicher – kühn, verwegen und leidenschaftlich hatte er gemeinsam mit seinem Bruder Alexej den Weg geebnet. Katharina erinnerte sich mit einem Schaudern an jene Nacht in ihrem Schloss Mon Plaisir, in der Alexej sie geweckt hatte. »Alles ist für die Proklamation vorbereitet!«, hatte er geflüstert. Die Verschwörung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Sie würde siegen – oder auf dem Schafott enden. Mit der Garde war sie nach Peterhof vorgerückt, wo Peter sich zu der Zeit aufhielt. Er flüchtete nach Kronstadt, kehrte zurück und unterschrieb anschließend in Oranienbaum seine Abdankungsurkunde. Seine Forderungen waren lächerlich: Er wollte seinen Hund, seine Geige, seinen Mohren und seine Geliebte. Katharina wurde noch am selben Tag in der Kasaner Kathedrale von St. Petersburg zur Alleinherrscherin Russlands erklärt. Die Hochrufe der Petersburger Garden waren nur ein Vorgeschmack auf die prunkvolle Krönung, die in wenigen Monaten in Moskau stattfinden sollte.
»Ich weiß alles zu schätzen, was du für Russland und mich getan hast, Grischa. Ich habe dich und deinen Bruder in den Grafenstand erhoben, euch Ländereien mit Leibeigenen geschenkt und euch mit Geld und Juwelen überschüttet.«
Er trat wieder auf sie zu, ergriff ihre Hand und legte seine Wange darauf, bevor er sie küsste. »Und auf all das würde ich mit Freuden verzichten, wenn du nur meine Frau werden würdest.«
Katharina entzog ihm die Hand, wandte ihm den Rücken zu. »Du weißt, dass das nicht möglich ist. Unsere Ehe wäre nicht standesgemäß. Ich kann es mir nicht leisten, den Adel gegen mich aufzubringen.« Es war schwer genug gewesen, ihren gemeinsamen Sohn, den sie vor wenigen Wochen geboren hatte, wegzugeben. Es tat weh, das eigene Kind fremder Obhut zu überlassen, aber sie hatte noch Paul, den Thronfolger. Und Sonja. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, wenn sie an das Mädchen dachte. Wenn nur ihr leiblicher Sohn so viel Wissbegier wie Sonja zeigen würde!
Grigori warf sich der Länge nach auf das mit Samt bezogene Sofa und verschränkte die Arme im Nacken. Ein Bild von einem Mann. Ein rauschhafter Mensch, der es verstand, heiß zu leben und kühl dem Tod entgegenzusehen. Katharina liebte seine hemmungslose Leidenschaft und seine Gier und ließ sich nur allzu bereitwillig von seinem Temperament mitreißen. Aber reichten solcherart Gefühle für ein ewiges Bündnis? »Sie werden dir vergeben, Katschuscha. Man wird es dir gönnen, endlich unter männlichem Schutz zu stehen.«
Sie lachte auf. »Gott bewahre dir dein unerschütterliches Selbstvertrauen, Grischa.«
Grigori grinste nur noch breiter, was seine Attraktivität zwar steigerte, aber einmal mehr bewies, dass er ihr beim geistigen Schlagabtausch nicht gewachsen war. Letzten Endes war ihr Liebhaber nicht mehr als ein russischer Bauer.
Sie trat ans Fenster und blickte auf die Newa hinaus, die im Licht der nachmittäglichen Sonne wie mit Juwelen geschmückt schimmerte. Majestätisch trieben die Handelsschiffe wie in einer nicht enden wollenden Parade mit geblähten Segeln am Winterpalast vorbei in Richtung Ostsee. Flaggen aus aller Herren Länder wehten an den Masten.
Sie lehnte sich zurück, als sie Grigoris Arme um ihre Taille fühlte. Er zog sie an sich, küsste ihren Hals. »Wir könnten noch vor deiner Krönung in Moskau heiraten«, murmelte er dicht an ihrem Ohr. »Wie würde es dir gefallen, wenn du dir in der Himmelfahrtskathedrale im Kreml die Krone aufsetzt und Zepter und Reichsapfel entgegennimmst, mit dem Wissen, dass du die Bürde der Regentschaft nicht allein tragen musst? Dass du einen Mann an deiner Seite hast, der dich in all deinen Entscheidungen unterstützt? Du wirst doch sicher nicht vergessen, wer dich zur Zarin gemacht hat.«
Sie drehte sich aus seinem Arm. »Bedräng mich nicht, Grischa«, sagte sie und spürte ein Stechen in den Schläfen. Es würde ihr viel Feinfühligkeit abverlangen, Grigori Orlow auf den Platz zurückzuverweisen, der ihm zustand. Sie würde niemanden an ihrer Seite dulden – schon gar keinen, der seine Entscheidungen vom Bauchgefühl und nicht vom Verstand abhängig machte und dem es an Intellekt mangelte, um sie geistig zu fordern. Schöne Männer wie Grigori gab es zuhauf in den Petersburger Garden.
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Arbeitstisch und konnte sehen, wie Grigoris Ungeduld wuchs, weil er an diesem Nachmittag nicht ans Ziel seiner Wünsche kam. Sie war nicht in Stimmung. Weder für Zärtlichkeiten noch für Zukunftspläne. »Erinnerst du dich, als ich vor dem Winterpalast vor die Gardisten trat, um den Marsch nach Peterhof anzutreten und den Zaren zu stürzen?«
In Grigoris Augen trat ein verklärter Ausdruck. »Wie könnte ich dieses Erlebnis je vergessen, Katschuscha. Nie warst du schöner als in dieser Stunde, obwohl du in Uniform vor das Regiment getreten bist. Das Himmelslicht hat dich leuchten lassen wie eine Erscheinung. Ich glaube, es gab keinen Mann auf dem Platz, der sich, als du dich auf deinen weißen Hengst geschwungen hast, nicht in dich verliebte.«
Katharina schmunzelte. »Du bist ein Schmeichler, Grischa.« Mit einem wohligen Schauer erinnerte sie sich an das Gedränge auf dem Palastplatz, an das Klappern der Hufe, das Klirren der Sporen und Schwerter, an den Stolz in den Gesichtern der Männer, die in dieser Stunde Geschichte schrieben. Schon vor dem Putsch hatten Männer wie Grigori sie kühn ›Eure Majestät‹ genannt. Ohne ihre Günstlinge säße sie heute nicht auf dem Thron. Aber eine Begegnung war ihr besonders im Gedächtnis geblieben. »Da war ein junger Soldat, von riesenhaftem Wuchs, ein kastanienbrauner Haarschopf … Er hat mir die Handschlaufe seines Säbels gegeben, als er bemerkte, dass sie an meiner Waffe fehlte. Erinnerst du dich?«
Grigori grinste. »Du meinst Potemkin.«
Sie horchte auf. »So heißt er?«
»Ja, Grigori Potemkin. Ein lustiger Kerl.«
Sinnend nickte sie vor sich hin. Lustig war er ihr keineswegs erschienen, jedoch von einer fast marmornen Schönheit, die ihr für ein paar Sekunden den Atem geraubt hatte. Seitdem ging ihr sein Bild nicht mehr aus dem Sinn. Wie er versucht hatte, sein Pferd unter Kontrolle zu bringen, das partout nicht mehr von ihrer Seite weichen wollte. Ihre Blicke waren sich begegnet und hatten einander festgehalten.
»Er war an der Verschwörung beteiligt, ja?«
Grigori nickte. »Ja, und er wird den Kavallerieschwadronen angehören, die dich zu deiner Krönung nach Moskau begleiten.«
Katharina sah auf. »Vergiss nicht, ihn zum Leutnant zu befördern«, sagte sie. Neben allen großen Ideen und Plänen würde sie diesen Potemkin im Auge behalten.
Juli 1762, im Alexander-Newski-Kloster
Boris Albrecht brauchte sich nicht auf die Zehenspitzen zu stellen, um über die Menschenmenge hinweg die neue Zarin zu beobachten. Er war groß genug gewachsen, sodass er mühelos sehen konnte, was vor dem Sarg des verstorbenen Zaren Peter III. passierte. Katharinas Mund wirkte wie aus Stein gemeißelt, ihre Haut schimmerte unter dem Puder grau. Als sie die Hand auf die Schulter des kleinen Mädchens in ihrer Obhut legte, sah Boris, dass sie zitterte. Er hatte einen Sinn für solche Feinheiten, aber diese Gabe brachte ihm bei seiner geplanten Karriere in der kaiserlich russischen Marine keine Vorteile. Als Leutnant zur See waren andere Fertigkeiten gefragt: Durchsetzungsvermögen, Scharfsinn, Zielstrebigkeit.
»So viel Falschheit«, hörte er eine Frau in der Reihe vor ihm zischen. »Als würde sie um den Zaren trauern. Die hat doch selbst alles arrangiert, um endlich die Macht an sich zu reißen.«
»Sei still«, zischte die Angesprochene und versetzte der keifenden Frau einen Stoß mit dem Ellbogen in die Rippen. »Sonst verbringst du die Nacht im Kerker in Gesellschaft des Folterknechts.«