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Stell dir vor, du hast nur eine Wahl: das Richtige zu tun – oder zu überleben In »Die Zentrale«, dem 2. Teil von Veit Etzolds brillant recherchierten Thriller-Reihe aus den Untiefen der Finanzwelt, gerät Bankerin Laura unter Mordverdacht – und das ist erst der Anfang. Für die junge Bankerin Laura Jacobs scheint sich eigentlich alles zum Besten zu wenden: Ihr Arbeitgeber versetzt sie auf ein Spezialprojekt in die Zentrale der Bank, was einer beachtlichen Beförderung gleichkommt. Doch je tiefer Laura in das Projekt eintaucht, desto tiefer werden auch die Abgründe der Finanzwelt, die sich vor ihr auftun. Erneut stößt sie dabei auf jenen unheimlichen Investor, der sie beinahe um ihr Haus gebracht hätte. Laura muss feststellen, dass ihr Gegner keineswegs aufgegeben hat – er hat längst einen neuen Plan für sie. Einen Plan, der einen Mord beinhaltet. Und sämtliche Indizien deuten auf Laura als Täterin … Hochspannend knöpft sich Ex-Banker und Bestseller-Autor Veit Etzold in seinem zweiten Thriller um Bankerin Laura Jakobs die brisanten Themen Bilanzskandal und Geldwäsche vor. Er zeigt die Welt der Banken, wie wir sie noch nie gesehen haben und erzählt den mitreissenden Kampf einen jungen Frau, die sich gegen das System stellt. Als richtige Frau im falschen Job wird Laura im 1. Teil der Thriller-Reihe, »Die Filiale«, in einen mörderischen Skandal um die Wohnungsnot in Berlin verwickelt.
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Seitenzahl: 312
Veit Etzold
Thriller
Knaur eBooks
Für die junge Bankerin Laura Jakobs scheint sich eigentlich alles zum Besten zu wenden: Ihr Arbeitgeber versetzt sie auf ein Spezialprojekt in die Zentrale der Bank, was einer beachtlichen Beförderung gleichkommt.
Doch je tiefer Laura in das Projekt eintaucht, desto tiefer werden auch die Abgründe der Finanzwelt, die sich vor ihr auftun. Erneut stößt sie dabei auf jenen unheimlichen Investor, der sie beinahe um ihr Haus gebracht hätte. Laura muss feststellen, dass ihr Gegner keineswegs aufgegeben hat – er hat längst einen neuen Plan für sie. Einen Plan, der einen Mord beinhaltet. Und sämtliche Indizien deuten auf Laura als Täterin …
Hochspannend erzählt Ex-Banker und Bestseller-Autor Veit Etzold den mitreißenden Kampf einen jungen Frau, die sich gegen das System stellt.
Motto
Personenliste
Prolog
SONNTAG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
MONTAG
Kapitel 5
DIENSTAG
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
FREITAG
Kapitel 10
Kapitel 11
SAMSTAG
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
MONTAG
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
DIENSTAG
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
FREITAG
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
SAMSTAG
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
MONTAG
Epilog
Dankwort
Entweder du stehst auf der Gästeliste
oder auf der Speisekarte.
Charles Territo
Laura Jacobs, Wertpapierberaterin in der BWG Bank Berlin
Timo Jacobs, Handwerksmeister und Ehemann von Laura
Dr. Heinrich Hortinger, Vorstandschef der BWG Bank AG
Thomas Fischer, früherer Regionalvorstand der Region Ost, BWG Bank AG
Tom Harding, Filialleiter bei der BWG Bank und direkter Chef von Laura
Sören Fink, Leiter Konzernstrategie, BWG Bank AG
Linus Haller, Ermittler Bundeskriminalamt (BKA)
Sina Ramirez, Ex-Hackerin und IT-Expertin der BWG Bank AG
Jürgen Ehringer, Leiter BWG Bank Liechtenstein
Clemens Weber, Vice President im Bereich Global Markets beim Investmentbanking der BWG Bank AG
Frank Deckhard, Hauptkommissar, LKA Berlin
Sophie, Hauptkommissarin und Deckards Freundin
Juliane und Robert, neue Nachbarn von Laura und Timo
Seniorpartner einer unbekannten Kanzlei
Silence, Mann, der für »Stille« sorgt
Tun Sie, was zu tun ist«, sagte der riesige Mann und gab ihm die Waffe. »Sie ist geladen. Drei Projektile.«
Er hatte lange auf den Mann gewartet. Hatte die Wand angestarrt, all die Risse an der Decke, und gewusst, dass er irgendwann kommen würde. Er hielt eine Hand mit der anderen umklammert. Die Hand zitterte trotzdem.
Er war am Ende. Er war im Gefängnis. Wer das Tor durchschritt, der musste die Kontrolle über sein Leben abgeben. Jetzt war der Staat am Zug. Er zerlegte im Gefängnis die Zeit der Insassen und bestimmte exakt, was und wann es innerhalb dieser Zeiteinheiten passierte. Er hatte ein Zugangsbündel mit siebzehn Dingen bekommen, darunter Teller, Besteck, Schüssel, Einwegrasierer, Rasierschaum, Pinsel mit wenigen, weichen Borsten, Bettlaken, Handtuch, Zahnbürste, Zahncreme, Shampoo und noch ein paar andere Sachen für die Neun-Quadratmeter-Zelle, die auf ihn wartete. Name, Vorname, Datum und Uhrzeit wurden festgehalten, und dann öffnete sich die Stahltür. Ab der Minute wurde die Haftzeit gezählt. Er war allein. Der Anwalt hatte ihn besucht. Und der Mann. Sonst niemand.
Er war am Ende. Aber nicht ganz am Ende.
Er hatte versagt. Und jetzt musste er es zu Ende bringen.
Darum war der Mann bei ihm gewesen und hatte ihm die Waffe gegeben. Nicht nur die Waffe.
Es war der riesige Mann mit den ausdruckslosen Augen. Nur er brachte es fertig, hier eine Waffe hereinzubringen.
Die Waffe war eine Sig Sauer. Sie war schwer und irgendwie warm. Komisch, dachte er, dass Metall warm sein konnte.
»Tun Sie, was zu tun ist.« Das waren die letzten Worte des Mannes. Die letzten Worte, die der Mann zu ihm gesagt hatte. Und vielleicht die letzten Worte, die er jemals hören würde.
Dann war es wieder still. So still, wie es hier immer war. Ab und an gedämpfte Gespräche, manchmal Geschrei, irgendwo, oder das Klirren von Schlüsseln.
Und das Ticken. Das Ticken der Uhr, die über der Tür des kleinen Besuchsraumes hing. Es gab kleine Räume, große Räume und auch sogenannte Familienzimmer, wo Paare sogar intim werden konnten. Sein Besuchsraum war klein. Und intim würde er allenfalls mit der Waffe werden.
Die Waffe ist geladen, hatte ihm der Mann gesagt. Drei Projektile. Er fragte sich, wofür die anderen zwei Projektile sein sollten. Glaubten die, er würde danebenschießen? Oder glaubten sie, er würde gar nicht schießen? Er lud die Waffe durch. Das Geräusch des Einrastens war tief und satt. Die Patrone war im Lauf. Neun Millimeter Luger.
Er hatte keine andere Wahl. Er hatte etwas versprochen und nicht geliefert. Er hatte sich ein riesiges Vermögen erhofft und war hier gelandet. Er wollte siegen und er hatte verloren. Die größte Niederlage, dachte er, ist der Tod.
Er schaute zu der Uhr, die so klang, als würde sie seit Anbeginn der Zeit ticken. So wie hier alles einen Rhythmus hatte. Aufstehen, Frühstück, Gang nach draußen, Arbeiten in der Werkstatt, Mittagessen. Dazwischen Leere. Er hatte sich einmal mit Meditation beschäftigt. Was, fragte der Zen-Meister damals, ist diese Leere zwischen den Atemzügen? Zwischen Ausatmen und Einatmen? Er hatte es nicht gewusst, und es hatte ihn nicht interessiert, weil man mit dieser Leere kein Geld verdienen konnte. Jetzt aber war die Leere da. Die Leere und das Ticken der Uhr. Zu jeder vollen Stunde gab sie einen synthetischen Gongschlag von sich. Ihn störte das Ticken und ihn störte der Gong. Der große Zeiger bewegte sich auf die Zwölf. Der kleine Zeiger auf die Sieben. Noch nicht einmal eine Minute.
»Tun Sie, was Sie tun müssen.«
Die Worte hallten in seinem Kopf. Sei gut zu deinem Körper, hatte ihm sein Personal Trainer einmal gesagt, du wirst ihn nicht lebend verlassen.
Er saß in diesem Raum. Und würde ihn nicht lebend verlassen.
Er war in seinem Körper. Und würde ihn nicht lebend verlassen.
Er hatte sich auf diesen Stuhl gesetzt. Und würde nie wieder aufstehen.
Er stellte sein Smartphone vor sich auf. Die SIM-Karte hatten die Ermittler längst herausgenommen. Und WLAN gab es hier natürlich keins. Dafür konnte er sich die Fotos anschauen. Bilder von seinen Eltern, die nicht mehr lebten. Von seiner Ex-Frau, von der er nicht mehr wusste, wo sie war. Von seiner Tochter und der schrecklichen Nachricht, die er eben bekommen hatte. Die Bilder waren alt, doch auf dem Smartphone waren sie zeitlos. Digital, nicht verblichen, ohne Knicke. Es schien eine andere Zeit gewesen zu sein. Aber nicht allzu anders. Schon damals hatte er dem Geld, dem Erfolg und der Karriere alles untergeordnet. Seine Eltern, seine Frau, seine Tochter, sein Leben. Doch jetzt war es das erste Mal, dass es ihm leidtat.
Er schaute abwechselnd von einem Bild zum anderen, dachte daran, wann er die Bilder gemacht hatte. Die von seinen Eltern hatte er aus einem Fotoalbum abfotografiert, das von seiner Frau und seiner Tochter hatte er gemacht, als das erste iPhone gerade auf den Markt kam. Es war eine andere Welt in einer anderen Zeit.
Vielleicht, dachte er, würde er sie wiedersehen. Und vielleicht würden sie ihm verzeihen?
Die Uhr tickte. Richtung sieben Uhr. Gnadenlos, ein Schritt nach dem anderen.
Als er in die Gesichter seiner Frau und seiner Tochter schaute, wusste er nicht, ob in ihnen so etwas wie Vorwurf oder Genugtuung lag. Doch er wusste, dass auch sie wussten – oder wissen mussten –, dass es für ihn keinen anderen Ausweg gab.
Wenn er es nicht tat, dann taten es die anderen für ihn.
In dem Moment hielt er sich die Waffe an den Kopf, schloss die Augen und drückte ab.
Die Uhr über der Tür schlug sieben, und er hörte den ersten Schlag.
Blankenfelde-Mahlow, bei Berlin
Rolf Wennig, der Bürgermeister von Blankenfelde-Mahlow, war beim letzten Part seiner Rede angekommen. Wennig war etwas untersetzt, mit schütterem schwarz-grauem Haar, einer nicht entspiegelten Brille und einem Anzug, der eher zu einem Sparkassen-Azubi gepasst hätte. »… danken wir besonders Laura Jacobs, der es gelungen ist, den Verkauf dieser Grundstücke zu verhindern. Sie alle werden weiter hier Ihre Heimat haben. Laura Jacobs, es ist mir eine große Ehre, Ihnen die Ehrenbürgerschaft von Blankenfelde-Mahlow zu überreichen.« Er zupfte kurz an seinem Hemd, was er auch schon während der Rede gemacht hatte, so als wollte er das Hemd am liebsten ausziehen. Laura fragte sich, ob Wennig als Kind unter Atemnot gelitten hatte. Dann gab er Laura eine Urkunde in die Hand. Blitze von Pressefotografen zischten. Laura und der Bürgermeister posierten auf der Bühne, die jeweils rechte Hand zum Handschlag verbunden, während sie mit den linken Händen die Urkunde hielten. Wieder Blitzgewitter.
»Wir stoßen an auf Ihr Wohl.« Rolf Wennig erhob sein Glas mit Rotkäppchen-Sekt und prostete Laura zu, die neben ihm auf der kleinen Bühne stand und der das Ganze sichtlich unangenehm war. Zu Ehren von Laura war ein kleines Ortsfest ausgerichtet worden, es gab Würstchen, Kuchen, Bier, Saft und Kaffee und einige Spielstände für Kinder. Vorher hatte sogar eine kleine Band gespielt. Einige Klassiker der Neuen Deutschen Welle, die mittlerweile auch vierzig Jahre alt war und eigentlich Alte Deutsche Welle heißen sollte, zudem einige Popklassiker aus dem Osten, die Laura nicht kannte. Der Geruch von Grillkohlen lag in der Luft.
Laura lächelte und winkte in die Menge. Sie sah Timo, ihren Mann, Jörg und Heike, die Buchhändlerin, und ihre neuen Nachbarn, die sie noch gar nicht kannte. Sandra, ihre frühere Nachbarin und Kollegin in der Bank, war mit ihrem Freund weggezogen, nachdem ein Junkie sie in ihrem Haus belästigt und ihre Katze erschlagen hatte.
»Wenn ich schon einmal hier bin«, sagte Wennig und rückte seine Brille nach oben, »dann können Sie ein paar Fragen stellen.« Er wandte sich an die Zuschauer. Wennig wurde im Volksmund auch »Wenig« genannt, weil in der Gemeindekasse das Geld immer knapp war und seine Kämmerer sich ständig irgendetwas ausdenken mussten, um doch noch heil das Ende des Monats zu erreichen. Wahrscheinlich war das vor Jahrzehnten schon ähnlich gewesen, als die Gemeinde die Grundstücke, auf denen auch Lauras Haus stand, an die BWG Bank verkauft hatte.
»Gehören die Siedlungen noch der Bank?«, fragte eine rothaarige Frau in der ersten Reihe.
»Nein«, antwortete Wennig, »sie gehören wieder der Gemeinde.«
Das war Laura neu, und sie hörte genau hin. Sie erinnerte sich an den Brief, den sie vor einigen Wochen von der Bank bekommen hatte. Etwas von strategischer Verkauf stand darin, bis 30. November, bedauern sehr, dass Sie Ihre Häuser und Wohnungen verlassen müssen. So falsch das Wort »bedauern« auch war, denn es kam meist von denen, die gar nichts bedauerten, weil sie das, was sie scheinbar bedauerten, selbst herbeigeführt hatten, so sehr war das Ganze nun Geschichte. Sie würden alle in den Häusern bleiben. Und das war die gute Nachricht.
»Hat die Gemeinde die Grundstücke zurückgekauft?«, fragte ein alter Herr mit Rollator, Bart und einer beigen Weste mit vier Taschen an der Brust.
»Dazu kann ich mich nicht äußern«, erklärte Wennig, »aber Sie können sicher sein, dass sich niemand mehr Sorgen um diese Grundstücke und Häuser machen muss. Auch das Unternehmen …«, er schaute auf seinen Zettel, als habe er den Namen noch immer nicht parat, »… Xenotech möchte, falls Sie hier doch investieren wollen, alles in Absprache mit der Gemeinde und damit ganz besonders mit Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern, gestalten.« Wennig setzte nun endgültig den Sprachduktus von Sonntagsrede, Absichtserklärung und evangelischer Predigt auf. »Denn Sie alle sind die Gemeinde.«
Laura ging zurück zu Timo, Jörg und Heike. Ihr stand gleich ein kurzes Gespräch mit Wennig im Rathaus bevor, sie wollte sich aber zunächst noch unters Volk mischen. Ihrem Mann Timo hatten sich ein Mann und eine Frau angeschlossen. Die Frau hatte rotbraune Haare, trug eine weiße Bluse und Jeans, der Mann trug einen blauen Anzug von Daniel Hechter, hatte die Haare kurz rasiert und einen genauso gestutzten Bart. Beide sahen sehr nach Business aus.
»Das sind Juliane und Robert«, sagte Timo, »unsere neuen Nachbarn. Sie wohnen seit Mittwoch in dem Haus, in dem Sandra gewohnt hat.«
Sandra arbeitete noch in der Bank, würde aber bald in den Mutterschutz gehen. Sie war schwanger, worüber in der eher konservativen Siedlung oft getuschelt wurde, denn Ralf und Sandra waren noch nicht verheiratet. Sandra war dabei gewesen, als die drei Junkies die Filiale überfallen hatten. Einer war auf Cold Turkey, brauchte also dringend Stoff, und hatte zudem eine scharfe Waffe dabei. Am Ende war es Laura gewesen, die die Situation gerettet hatte, da Sandra zusammengebrochen war. Dafür hatte Sandra jetzt bald ein Kind. Das erinnerte Laura daran, dass sie ihr Kinder-Thema auch noch nicht geklärt hatte. Timo war es relativ egal, er war zwar nicht unbedingt erpicht auf die Arbeit, die Kosten und die schlaflosen Nächte, die ein Kind nun einmal mit sich brachte, wollte sich dem Vorhaben aber nicht entgegenstellen, falls es wirklich Lauras Wunsch war. Lauras Problem war, dass sie es selbst nicht wusste. Sie schob dann immer ihren stressigen Job vor und die Delegation in die Frankfurter Zentrale, die unmittelbar bevorstand. Aber vielleicht bot ihr die Lage auch eine Möglichkeit, diese Entscheidung mit hektischer Aktivität so lange vor sich herzuschieben, bis die biologische Uhr ihr die Entscheidung endgültig abgenommen hatte. Wäre da nicht der alte Spruch, den sie mal in irgendeinem Motivationsbuch gelesen hatte: Es ist besser, zu bereuen, etwas getan zu haben, als etwas nicht getan zu haben.
»Ah, angenehm«, sagte Laura und schüttelte Juliane und Robert die Hand. »Wir hatten gesehen, dass neue Leute eingezogen sind, aber es war so viel los, dass wir noch gar nicht dazu gekommen sind, Hallo zu sagen.«
»Die Retterin der Gemeinde«, sagte Juliane, »da haben Sie sicher viel anderes zu tun. Wir sind auch gestern erst endgültig angekommen. So ein Umzug ist ja leider in der Regel nicht so schnell zu Ende, wie man hofft.«
»Wem sagen Sie das«, meinte Laura. Sie hörte in einiger Entfernung einen Kinderchor schief singen, was sie an irgendeinen Loriot-Film erinnerte.
»Ich weiß ja leider, wie der Immobilienmarkt tickt«, fügte Juliane dann hinzu.
»Sind Sie da unterwegs?«, fragte Laura.
»Ja, als Maklerin.«
»Interessant.« So richtig interessant fand Laura das nicht. Makler waren nicht viel anders als Banker. Nur dass sie für noch weniger Arbeit noch mehr Provision bekamen.
»Sagt mal«, sagte Juliane dann, »wollen wir nicht Du sagen? Jetzt, wo wir Nachbarn sind?«
»Klar«, sagte Timo, »warum nicht. Wir können mal zusammen grillen.«
Was kommt noch?, dachte Laura. Zeigt er denen als Nächstes unser Haus?
»Wir grillen gern«, sagte Juliane. »Kommt doch Freitag gleich zu uns.«
»Laura, das geht, oder?«, fragte Timo begeistert.
»Ja«, nickte Laura, »das sollte gehen.« Begeistert war sie nicht. Die erste Arbeitswoche auf einer Delegationsstelle galt als sehr stressig, und sie hätte den Freitag gern freigehabt. Auch irgendetwas anderes gefiel ihr nicht an dieser sehr schnellen Kontaktaufnahme. So als würde man jemanden mit Liebe ertränken. Ein Teil des Gehirns von ihr war misstrauisch, aber sie wusste nicht, warum.
Sie schaute nach vorn und sah Wennig, der ihr ein Zeichen gab.
»Entschuldigt mich«, sagte Laura, »ich muss kurz zum Bürgermeister.«
Rathaus Blankenfelde-Mahlow
Laura und Wennig hatten das kleine Rathaus der Gemeinde betreten. Vor dem Gebäude stand eine Weltkugel aus Metall, so als wäre Xenotech hier längst eingefallen. In jedem Fall hätte dem Unternehmen, das Datenüberwachung und -analyse anbot, die Weltkugel sicherlich gefallen.
Sie durchschritten einen dunklen Flur. Linoleumböden, links gekachelte Toiletten und einige zerknitterte Aushänge.
»Es war mir wichtig, noch kurz mit Ihnen zu sprechen, Frau Jacobs«, erklärte Wennig.
Laura nahm ihm gegenüber Platz. Wennig saß auf dem Sessel, von dem aus er als Bürgermeister immer seine Weihnachts- und Neujahrsansprachen hielt, die dann ins Internet gestreamt wurden. Dahinter die typische Behördendekoration: eine Pinnwand, eine hässliche Topfpflanze, eine weiße Heizung und auch hier Linoleumfußböden. Bei den Weihnachtsansprachen kam noch ein Tannenkranz mit klobigen roten Kerzen dazu. Wobei einige Etagen der BWG-Filialen nicht besser aussahen, egal ob zu Weihnachten oder sonst.
»Ich freue mich sehr über die Ehre«, sagte Laura. »Ich habe für unser Haus gekämpft und damit auch für die Häuser der anderen.« Sie machte eine kurze Pause. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich.« Wennig putzte seine Brille an seiner Krawatte, auf der, wie Laura erst jetzt sah, tatsächlich kleine Snoopys abgebildet waren.
»Hat die Gemeinde die Grundstücke wirklich von der BWG Bank zurückgekauft?«
Wennig nickte. »Der politische Druck, auch in den Medien, war groß, und die Bank konnte es sich, allein wegen der sonstigen Skandale, in die die BWG verwickelt war, nicht leisten, hier weiter auf stur zu stellen.«
»Aber die Gemeinde konnte es sich leisten, die Grundstücke einfach so zurückzukaufen?«
Die Frage gefiel Wennig nicht. Er zupfte wieder an seinem Hemd und grinste unsicher. »Wo ein Wille ist, da ist ein Weg.«
Laura war von diesem Spruch aus der Mottenkiste der Motivationstrainings nicht überzeugt. Fehlte nur noch die alte Leier von Rom, das auch nicht an einem Tag erbaut wurde.
»Aber der Preis war doch sicher nicht so hoch wie der, den Xenotech für die Grundstücke geboten hat?«
Wennig rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Nun ja, über die tatsächliche Höhe kann ich mich natürlich nicht äußern. Aber der Preis war in der Tat etwas geringer. Dafür hat die Bank ein Reputationsrisiko weniger, und das ist ja heutzutage gerade bei Banken und gerade für die BWG viel wert.« Er rieb die Fingerspitzen aneinander.
Laura glaubte ihm die Sache mit der Reputation sofort. Das war sicher einer der Gründe, warum sie nach Frankfurt delegiert worden war. Die Bank war angezählt und hatte bestimmt weitere Leichen im Keller. Dennoch fragte sie sich, ob eine Gemeinde wie ihre und ein Bürgermeister, der für klamme Finanzen bekannt ist, Wennig steht halt für Wenig, mal eben so das Geld hatte, um eine große Fläche zurückzukaufen.
Laura ließ nicht locker. »Herr Wennig, mich interessiert das trotzdem: Wo hat denn die Gemeinde so schnell das Geld her? Hier gibt es keine großen Industriecluster, wie man das so nennt. Kein BioNTech wie in Mainz.« Und erst mal auch kein Xenotech, dachte sie. Als sie sein erstauntes Gesicht sah, fügte Laura hinzu: »Als Bankerin interessiert mich so etwas natürlich.«
»Natürlich …« Wennig setzte seine Brille umständlich mit beiden Händen wieder auf, als würde er sich ein Fernglas vor die Augen halten. »Nun ja, mal eben so haben wir das Geld nicht. Aber Gemeinden können sich verschulden. Und das sollte es allen Bürgerinnen und Bürgern wert sein.«
»Ganz normal über Kommunalanleihen?«
»Nein, das hätte nicht so schnell geklappt. Die BWG musste wegen ihrer angespannten finanziellen Situation zügig verkaufen, weil sie das Geld braucht und die Einnahmen aus dem Verkauf bereits bilanziell gebucht hat. Müsste die Bank das verschieben, wäre wohl eine Ad-hoc-Meldung, oder wie man das nennt, fällig gewesen. Das hätte zu einer Abschreibung geführt, und der Aktienkurs wäre noch mehr gefallen.«
Laura schaute mitleidig drein. Der Aktienkurs der BWG war bei 11. In guten Zeiten war er mal bei fast 100 gewesen. »Ja, als Aktieninvestment ist die Bank keine Freude gewesen. Der Kurs ist auf dem Zehn-Jahres-Tief.« Sie schaute nach draußen. Vor dem Fenster sah sie die Weltkugel. »Also ein privater Geldgeber? Für die Grundstücke?« Sie fixierte Wennig.
Der hatte wohl nicht erwartet, dass er hier so gründlich ausgefragt wurde, und legte noch einmal ein Bein über das andere, während er intensiver an seinem Hemd zupfte. Wenn er so weitermacht, dachte Laura, ist bald das Hemd kaputt, und er hat aus seinen Beinen eine Schraube gedreht.
»Sagen wir mal so«, sagte er. »Wir stecken noch immer in einer Niedrigzinsphase. Da ist zu viel Bargeld oft ein Problem. Ihnen als Bankerin muss ich ja nichts von Strafzinsen erzählen.«
»Nein.« Laura lächelte.
»Man sollte es nicht glauben, manche haben das Problem, dass sie zu viel Geld haben.«
Da gehört diese Gemeinde aber nicht dazu, dachte Laura.
»Wir haben hier«, fuhr Wennig fort, »eine Institution, die zu viel Bargeld hat und das gern zu attraktiven, aber nicht zu hohen Zinsen an zahlungskräftige öffentliche Schuldner verleiht. Und zwar schnell. So etwas brauchten wir. Und Sie alle in der Siedlung doch auch, oder nicht?«
»Natürlich.« Dem konnte Laura kaum widersprechen.
»Nun mal zu etwas Spannendem!« Wennig beugte sich vor. »Erzählen Sie mir mal etwas. Bei dem Banküberfall, wie haben Sie das gemacht? Wie kriegt man das hin, dass man in einer solchen Situation so cool bleibt? Sich vorzunehmen, cool zu sein, das ist einfach. Aber es dann im Ernstfall wirklich sein, das ist etwas ganz anderes.«
Allerdings. Bemerkenswert im Übrigen, wie Sie meiner Frage ausweichen, dachte Laura.
Er beugte sich noch weiter nach vorn.
»Wie haben Sie das gemacht?«
Rathaus Blankenfelde-Mahlow
Laura verließ das Rathaus und ging an der Weltkugel vorbei. Ein kühler Wind wehte, und man merkte, dass, Gartenfest hin oder her, tatsächlich der Herbst nahte. Sie hörte die Musik von dem Fest und das Zwitschern der Vögel.
Sie hatte dem Bürgermeister von dem Banküberfall erzählt. Doch tatsächlich hallten die Worte von Wennig in ihrem Kopf wider.
Eine Institution, die zu viel Bargeld hat und das gern zu attraktiven, aber nicht zu hohen Zinsen an zahlungskräftige öffentliche Schuldner verleiht. Und zwar schnell. Wer könnte das sein?
Ihr Handy klingelte. Es war Marc. Marc hatte ihr in Frankfurt bei der Aufklärung einiger Geheimnisse rund um Xenotech geholfen. Er war früher selbst bei der BWG gewesen. Im Derivatehandel und später bei den Alternativen Anlageprodukten. Dann war er gefeuert worden. Laura hatte ihn vor einigen Wochen bei LinkedIn entdeckt und einfach kontaktiert.
Sie nahm den Anruf an.
»Hallo, Marc.«
»Hallo, Laura. Bist du schon in Frankfurt?«
»Woher weißt du von Frankfurt?«
»Man hört so einiges.«
»Von wem?«
»Irgendwem.«
»Irgendwer redet wohl gern. Also, woher weißt du das?«
»Ich kenne noch eine aus dem Büro von Hortinger.« Hortinger war der Vorstandschef der BWG. Er selbst hatte Laura nach Frankfurt delegiert, und sie würde ihn sicher nächste Woche sehen. »Abgesehen davon wären die bescheuert, wenn die dich für so was nicht nehmen. Bei all den Leichen, die die Bank im Keller hat.«
»Welche Leichen denn noch?«
»Es kommt wohl eine neue Klagewelle gegen die Bank wegen Falschberatung«, sagte Marc. »Da wollen sie diesmal proaktiv sein, bevor die Hütte lichterloh brennt und alles zu spät ist.«
»Da bin ich ja mal gespannt, was auf mich zukommt.«
Eine Sache, die auf sie zukam, kannte Laura allerdings schon. Oder besser: Sie hatte sich gerade eben im Büro des Bürgermeisters dafür entschieden: Herauszufinden, wer der großzügige Geldgeber war, der der Gemeinde mal eben so schnell Geld geliehen hatte.
»Ab wann bist du dort?«, fragte Marc.
»In Frankfurt? Ab Dienstag. Muss aber erst mal schauen, was so alles anliegt.«
»Dann sollten wir uns sehen.«
»Ja, sollten wir. Ich sag Bescheid, wenn ich angekommen bin.«
»Noch eine Sache«, meinte Marc, »in Frankfurt musst du höllisch aufpassen.«
»Ist es da so kriminell?«
»Ich meine nicht die Straßen. Ich meine die Zentrale der BWG. Das ist Sozialdarwinismus pur. Alles, was du dort rausfindest …«
Laura beendete den Satz. »… kann gegen einen verwendet werden?«
»Exakt. Dann gilt der YoYo-Effekt.«
»Aber nicht der vom Abnehmen?«
»Nein: You’re on your own. Du bist allein auf dich selbst gestellt.«
Blankenfelde-Mahlow, bei Berlin
Timo verzog das Gesicht, denn er hatte einige Bier getrunken, was ihm nachmittags normalerweise nicht gut bekam. Fröhlich war er davon jedenfalls nicht geworden, eher übellaunig.
»Morgen geht’s los nach Frankfurt?«, fragte er und mümmelte einen Apfel.
»Nein, Dienstag«, sagte Laura, »habe ich doch gesagt.«
»Ist auch egal. Ich muss morgen weg und bin dann erst Dienstagnachmittag wieder zurück. Bin in Leipzig auf Montage, und zurückfahren lohnt sich nicht.«
»Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Doch, hab ich«, sagte Timo, fast ein wenig trotzig. »Außerdem: Wenn du die Woche über weg sein darfst, darf ich das wohl auch.«
»So weit ist Leipzig ja nun nicht«, sagte Laura.
»Ja, aber hin und zurück mit dem Auto ist doch zu weit, um täglich zu pendeln. Außerdem kriegen wir ein schönes Hotel am Bahnhof. Die Leute lassen sich Handwerker endlich mal was kosten. Kein Wunder bei diesem Mangel.« Er kaute weiter seinen Apfel. »Außerdem bist du auch im Hotel, oder?«
Laura wollte keinen Streit anfangen. Sie hatte Timo kennengelernt, als sie noch mit einer Freundin in einer Wohngemeinschaft wohnte. Der Grund war eine Katze, die sie mit der Mitbewohnerin zusammen besaß. Die Katze, Morpheus, war in der Lage, die Klospülung zu betätigen, und warf gerne Waschlappen und Ähnliches in die Toilette. Als das Klo einmal verstopft war, musste ein Handwerker im Notdienst anrücken. Und das war Timo gewesen. Morpheus, die Katze, hatte sie zusammengebracht. Nun war Morpheus schon seit einiger Zeit tot und hatte ein kleines Grab im Garten des Hauses.
Laura liebte Timo und er sie, doch was Timo nicht liebte, war Lauras Karriere. Wenn es nach ihm ginge, würde sie einfach in der Filiale bleiben und ansonsten das Leben genießen.
Laura schaute sich um. »Nutzt du den 3-D-Drucker gar nicht mehr?«
»Ab und zu«, antwortete Timo. Er hatte die Eigenart, sich seltsame technische Produkte sowie allen möglichen anderen Kram wie Webcams, Darth-Vader-Figuren oder Computerspiele zu kaufen. »Ich hab damit ein paar Warhammer-Figuren gedruckt, dann aber gemerkt, dass das Drucken genauso teuer ist, wie wenn man die Figuren im Laden kauft.«
»Immerhin musst du sie nicht zusammenbauen, oder?«
»Das stimmt, aber den Drucker mit den richtigen Daten füttern macht auch Arbeit.« Timo gähnte. Er schien die Biere in seinem Kopf zu spüren. »Wie war’s beim Bürgermeister?«
»Ganz nett. Irgendeiner hat der Gemeinde Geld geliehen, damit sie die Siedlungen zurückkaufen können, aber Wennig kann nicht sagen, wer.«
»Na, hoffen wir, dass der ominöse Partner sein Geld nicht zu bald zurückwill.« Timo streckte sich und warf lässig das Apfelgehäuse in den Müll.
»Was ich mit dir besprechen wollte«, sagte Laura. »Ich bin nächstes Wochenende wieder hier. Willst du am Wochenende danach nach Frankfurt kommen?«
»Ich soll nach Frankfurt?« Timo fragte in einem Ton, als ob Laura ihn aufgefordert hätte, nach Nordkorea zu gehen.
»Ja, warum nicht? Ich habe da eine schöne Wohnung. Wird dir auch gefallen.«
»Bankfurt«, sagte Timo abschätzig. »Was gibt es da schon für mich? Das ist doch nur für Banker!«
»Warst du mal da?«
»Ich war mal in Sossenheim auf Montage. Das ist ja in der Nähe.«
»Na ja. Sind das nicht die mit Schwester S gewesen? Sabrina Setlur?«
»Nein, das war Rödelheim. Aber du kriegst doch sowieso alles von der Bank bezahlt mit der Pendelei. Ich nicht. Dann kannst du auch nach Berlin kommen.«
Das war typisch Timo. Ihm passte es nicht, dass Laura pendelte und in der Woche weg war, während er es völlig okay fand, wenn er einmal auf Montage war.
»Das hatten wir anders geplant. Schau dir doch Frankfurt erst mal an.«
»Okay, aber kommendes Wochenende bist du hier.« Und er fügte noch hinzu: »Und solltest du auch.«
»Warum?«
»Hast du selbst gehört: Wir sind immerhin bei unseren neuen Nachbarn eingeladen. Juliane und Robert.«
»Wieso immerhin?«
»Na, ist doch schön, oder?«
»Ja, klar.« Was sollte Laura sonst sagen? »Freitag, stimmt’s?«
»Freitagabend, genau. Das klappt doch bei dir?«
»Ja, wenn ich den richtigen Flieger nehme.« Laura merkte, dass sie sich ärgerte, wie wichtig Timo der Termin bei den neuen Nachbarn war. Und mit Juliane hatte er ein bisschen zu viel herumgeschäkert.
»Ich pack meine Sachen«, sagte Timo, »ich muss morgen ganz früh los.«
Laura blickte ihm hinterher. Das letzte Mal, als Laura ein paar Tage weg war, hatte sich Timo im Trading versucht. Hatte mit Optionen, Währungen und Kryptos spekuliert. Und dabei dreißigtausend Euro verzockt.
Was, fragte sie sich, würde er diesmal machen, während sie nicht da war?
BWG Bank, Filiale Koppenstraße, Berlin
Die neue Woche hatte begonnen, und Laura hatte ihr neues Businesskostüm angelegt, wie eine Uniform oder eine Rüstung, mit der man in die Schlacht zieht. Das, um das sie monatelang herumgeschlichen war, weil es ihr eigentlich zu teuer war, und das sie sich dann doch gekauft hatte. Schließlich verdiente sie jetzt mehr Geld als vorher. Bisher hatte sie es nicht bereut. Man sagte Karrierefrau, aber niemals Karrieremann, so als ob Karriere bei Männern ganz selbstverständlich wäre und bei Frauen eher die Ausnahme. Ebenso nannte man nur Frauen bossy, Männer nannte man durchsetzungsstark.
Sie betrat die Filiale und unterdrückte ein Gähnen. Laura war keine Frühaufsteherin. Timo schaffte das viel besser, schaffte es aber auch, am Wochenende trotzdem sehr lange zu schlafen, so als könnte er mit einem Fingerschnippen von einem Schlafrhythmus auf den anderen umstellen. Laura war dazu nicht in der Lage. Das Problem der heutigen Arbeitswelt, dachte Laura, war, dass alles nur auf Frühaufsteher ausgelegt war. Das ging schon in der Schule los. Sie hatte sich deswegen einmal ein Buch gekauft, in dem die Gewohnheiten großer Persönlichkeiten aufgeführt waren.
Thomas Mann zum Beispiel schrieb jeden Tag von neun bis elf Uhr, der Rest des Tages bestand aus Lesen, Freunde treffen oder ab und zu mal einen Artikel schreiben. Gustave Flaubert hingegen schlief von drei Uhr nachts bis neun Uhr, trank kaltes Wasser zum Frühstück, rauchte Pfeife und begann mit der eigentlichen Arbeit erst um halb zehn abends, nachdem er mit seiner Mutter gegessen hatte.
Lauras Blick schweifte durch die Räumlichkeiten. Hier hatte vor wenigen Wochen der Überfall stattgefunden. Sandra hatte ihre blöde Zopffrisur getragen, die sogar den Bankräubern aufgefallen war. Reserve-Pippi-Langstrumpf, das ist hier nicht die Villa Kunterbunt. Komm in die Gänge!, hatten sie gebrüllt. Hier hatte Laura die rätselhaften Zahlungen entdeckt, durch die Thomas Fischer aufgeflogen war. Der frühere Regionalvorstand, der jetzt in U-Haft saß.
Schneller, schlanker, digitaler sollte die neue BWG, die BWG4.0 werden. Davon war noch nichts zu sehen. Hier und heute war es wie immer. Eine lange Schlange vor der Kasse, als würde es dort irgendetwas umsonst geben. Sie sah Sandra, die gerade eine Auszahlung machte und einer älteren Dame die Scheine abzählte. Oben, auf den Beraterplätzen, herrschte wieder gähnende Leere. Kein einziger Kunde, dafür einige Wertpapierberater, die angespannt in ihre Bildschirme schauten oder halbherzig irgendwelche Kundenlisten abtelefonierten. Ansonsten irrten einige Kunden, die von der langen Schlange an der Kasse abgeschreckt waren, oben bei den Beraterplätzen herum. Die Berater aber gingen davon aus, dass diese Kunden sich offenbar das Onlinebanking noch nicht erschlossen hatten, sonst würden sie nicht in die Filiale kommen. Und diese Kunden sahen auch nicht so aus, als wollten sie Geld anlegen, zumal sie dann sicher einen Termin hätten. Also hütete sich jeder Berater, einen der herumirrenden Kunden anzusprechen, was er denn wollte. Manchmal hatte doch einer, meistens eine der Beraterinnen, Mitleid, oder der Kunde gab resigniert auf und stellte sich unten in die lange Schlange. Meist ging es darum, dass das Konto überzogen war, eine Lastschrift zurückging und einer der Berater entscheiden sollte, wie es nun mit diesem Konto weiterging. Dann saß der Kunde wieder schneller, als ihm lieb war, oben bei den Beratern, diesmal nicht als Kunde, der König war, sondern als Verurteilter, der sich verschiedene Bankprodukte wie Versicherungen gefallen lassen musste, damit er sein Guthabenkonto weiter überziehen durfte. Besonders gefürchtet waren die Gespräche beim Filialleiter.
Der Platz von Tom Harding, dem Filialleiter, war leer. Sie hatte heute Morgen ein offizielles Entsendungsgespräch, wie es in der Bank hieß.
Laura ging vorsichtig zur Kasse. »Morgen Sandra, wo ist denn Tom?«
»Oben im FK«, sagte Sandra. Heute hatte sie keine Pippi-Langstrumpf-Frisur. »Da ist wohl irgendein Training für die obere Heeresleitung. Vermögensberatung und so was. Da ist er auch mit den anderen Großkopferten.«
Laura nickte. »Danke!«
»Sogar Dirty Harry ist da«, sagte Sandra und setzte ein wissendes, geheimnisvolles Gesicht auf.
FK war das Firmenkundengeschäft, wo auch das Private Banking, die Vermögensberatung für Geschäftsführer, angesiedelt war. Wobei sich Laura immer fragte, was das sollte. Als Geschäftsführer und sogar Inhaber eines Unternehmens sollte man doch zuerst in das eigene Unternehmen investieren und dann erst in irgendwelche Kamikaze-Aktien oder Fonds.
Laura ging nach oben. Im Konferenzraum saßen einige der Vermögensberater. Vorn am Flipchart stand Harald Kienzle, Leiter der Vertriebssteuerung der Region Ost. Er trug einen teuren Nadelstreifenanzug, hatte aber etwas ungepflegte Haare und einen struppigen braun-grauen Bart. Wegen dieses Bartes, aber auch wegen seiner sonstigen Art und Weise, wurde er Dirty Harry genannt, nicht nur von Sandra, sondern bankübergreifend. Tom Harding saß gegenüber der Tür. Als Laura in den Raum trat, nickte er ihr zu und zeigte auf einen leeren Platz. Dann blickte er auf seine Uhr und spreizte die Hand. Noch fünf Minuten.
Laura nickte und setzte sich.
»Wir dürfen doch Leute, die wir gar nicht kennen, nicht einfach so kalt anrufen?«, sagte einer der Vermögensberater zu Harald Kienzle, der offenbar höchstpersönlich durch das Training führte. »Das ist verboten.«
»Verboten«, knurrte Kienzle, »das ist Mangeldenken. Hält sich James Bond an Verbote?«
»Nein.«
»Also! Seid ihr James Bond?«
»Nein«, sagte ein fülliger Mitarbeiter, der wirklich alles andere als nach James Bond aussah, nach Daniel Craig schon gar nicht.
»Doch«, knurrte Dirty Harry und schlug auf den Tisch. »Erst einmal gilt: Wo kein Kläger, da kein Henker. Und außerdem gilt das Verbot von Kaltakquise oder Cold Calling nur bei Privatkunden. Bei Unternehmen ist das erlaubt. Und wenn ihr die Geschäftsführer anruft, ruft ihr sie ja in ihrer Funktion als Geschäftsführer an. In dem Moment ist er keine Privatperson mehr, sondern Geschäftsführer einer Gesellschaft und damit Vertreter des Unternehmens. Und damit Unternehmenskunde.« Laura fiel auf, dass Harald Kienzle die Banker abwechselnd duzte und siezte.
»Aber das ist doch die GmbH?«, fragte ein anderer.
Dirty Harry verdrehte die Augen. »Haben Sie schon einmal eine GmbH gesehen, die sprechen kann?«
Dem anderen wurde klar, wie blöd seine Frage war. Die nächste Frage kam aber sofort. »Und wie komme ich am Vorzimmer vorbei?«
»Durch Beharrlichkeit. Und Bestimmtheit. So, als würdet ihr mit einem alten Freund sprechen wollen.« Er schaute auf das Namensschild. »Herr Gerres, richtig? Marius Gerres?«
Der Mann nickte.
»Sie sagen: Schönen guten Tag, Gerres ist mein Name, Marius Gerres. Sind Sie so gut und verbinden mich mit Herrn Schmidt. Mein Name ist Gerres, Marius Gerres.«
»So wie bei James Bond? Nachname und dann Vorname?«
»Ja, und immer wiederholen. Daraufhin denkt das Vorzimmer, der Herr Schmidt muss Sie kennen.«
»Dann fragen die aber immer, worum es geht.«
»Klar fragen die das. Müssen die ja.« Kienzle lockte mit dem Finger. »Kommen Sie nach vorn, Herr Gerres, wir üben das mal.«
»Wir sind ja in zehn Minuten durch?«, fragte Tom Harding, als er mit Laura die Treppe hinunterging.
»Ich weiß nicht, wie lange so ein Entsendungsgespräch dauert«, sagte Laura.
»Nicht länger als zehn Minuten. Nur ein paar Formalia.«
Laura merkte es Harding an, dass er froh war, wieder alleiniger Filialleiter zu sein, der seine Vertretung in nichts einbinden musste, weil er keine Vertretung mehr hatte. Gleichzeitig war er allerdings ein wenig neidisch auf Lauras Delegation in die Zentrale. Tom Harding gönnte den Erfolg vor allem sich selbst. Wer ihm im Weg stand, hatte ein Problem. Wer nicht nach den Regeln spielte ebenso. Daher zögerte Tom auch nicht, ein Konto zu sperren, wenn der Inhaber das Konto immer überzog, obwohl er keinen Dispokredit hatte und auf Anrufe nicht reagierte.
Harding trug heute wieder seine protzige Uhr und Manschettenknöpfe, auf denen ebenfalls Uhren waren. Echte Uhren mit New Yorker und Tokio-Zeit. Dazu einen Nadelstreifenanzug und eine Krawatte in Pink und Hosenträger wie ein Wall-Street-Banker.
»Macht Dirty Harry jetzt selbst Trainings?«, fragte Laura, als sie die Treppe hinuntergingen.
»Ja, die FK-Leute stellen sich dämlich an bei der Akquise. Haben alle keinen Bock drauf. Die wollen natürlich nur auf ihrem dicken Hintern sitzen und warten, bis die Kunden von selbst kommen und mit einem Auftrag drohen.«
»Die Zeiten sind, fürchte ich, vorbei«, sagte Laura.
»So ist es«, stimmte Harding zu. »Da muss sogar Dirty Harry jetzt selbst in die Bütt, wie er das nennt. Sie wissen ja, Lachen und Erträge machen.«
»Muss wieder etwas Großes verkauft werden?«
»Ja, ein Schiffsfonds. Die Frachtraten gehen hoch, da ist die Rendite sogar mal ganz gut. Das soll alles bis Ende der Woche platziert sein.«
Sie waren an Toms Platz angekommen und setzten sich.
»Erst einmal muss ich mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Tom Harding. »Ich hatte mich in Ihnen getäuscht und Sie ebenfalls verdächtigt, an den Geldschiebereien beteiligt zu sein. Das tut mir leid.«
»Vielen Dank«, sagte Laura. »Es sah ja auch wirklich alles sehr bizarr aus.«
»Bizarr«, sagte Tom, »das trifft es.« Er aktivierte seinen Computer und zog eine Mappe aus der Schublade.
»Das ist Ihre Delegationsmappe. Ich habe bereits unterschrieben, fehlt nur noch Ihre Unterschrift. Das Einfachste ist, Sie bringen das einfach nach Frankfurt mit und geben es im Büro von Herrn Fink ab, Leiter Konzernstrategie. Die wissen Bescheid.«
»Alles klar.«