Die zweite Erde - Christian Humberg - E-Book

Die zweite Erde E-Book

Christian Humberg

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Beschreibung

EINE VERZWEIFELTE MISSION - EINE HANDVOLL ÜBERLEBENDER - EIN GEHEIMNISVOLLER PLANET

Kriege, Umweltzerstörung und Seuchen - die Erde des 22. Jahrhunderts steht vor dem Kollaps. Das Ende der Menschheit droht! Daher soll die Terraforming-Mission Genesis einen weit entfernten, erdähnlichen Planeten urbar machen.

Doch es kommt zur Katastrophe, und die Genesis stürzt auf einem unwirtlichen Gesteinsbrocken ab. Wie konnte das passieren? Was erwartet die wenigen Überlebenden auf diesem unbekannten Planeten? Und werden sie die Erde je wiedersehen?

Dieser Sammelband enthält die komplette, in sich geschlossene Staffel von "Die zweite Erde". Über 800 Taschenbuch-Seiten spannende Science-Fiction!

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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Impressum

beBEYOND Originalausgabe »be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Nutzung von Motiven © Shutterstock: Maribor | nednapa | Gorodenkoff | Dr. Norbert Lange | IgorZh | RCI.STOCK eBook-Erstellung: readbox publishing GmbH, Dortmund ISBN: 978-3-7325-9827-4

Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9

Die zweite Erde – Die Serie

EINE VERZWEIFELTE MISSION.

EINE HANDVOLL ÜBERLEBENDER.

EIN GEHEIMNISVOLLER PLANET.

Kriege, Umweltzerstörung und Seuchen – die Erde des 22. Jahrhunderts steht vor dem Kollaps. Das Ende der Menschheit droht! Daher soll die Terraforming-Mission Genesis einen weit entfernten, erdähnlichen Planeten urbar machen.

Doch es kommt zur Katastrophe, und die Genesis stürzt auf einem unwirtlichen Gesteinsbrocken ab. Wie konnte das passieren? Was erwartet die wenigen Überlebenden auf diesem unbekannten Planeten? Und werden sie die Erde je wiedersehen?

Über diese Folge

Die Technikerin Zoe Chu hat nichts mehr zu verlieren: Aus diesem Grund meldet sie sich für die Mission Genesis – eine Reise, von der sie vermutlich nie zurückkehren wird. Kurz vor der Ankunft wird sie aus dem Kälteschlaf geweckt: Die Genesis ist in einen Meteoritenhagel geraten! Wie Geschosse schlagen die Steine in das Raumschiff ein … und Zoe ist die einzige, die die völlige Vernichtung der Genesis verhindern kann!

Über den Autor

Christian Humberg verfasst Romane, Comics, Theaterstücke und Sachbücher für Kinder und Erwachsene. Er schrieb unter anderem bereits für Star Trek und Perry Rhodan Neo, und seine Werke wurden in mehr als ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach für die Bühne adaptiert. Seine Kolumnen und Artikel erscheinen bundesweit in der Presse, u. a. in GEEK! und SpaceView.

Christian Humberg ist häufig auf Conventions zu finden, u. a. als Moderator auf Europas größter SF-Veranstaltung FedCon. Noch häufiger zu finden ist er vor seinem PC-Monitor, der ihm die Sicht auf den Mainzer Dom versperrt. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse erhielt er 2015 den Deutschen Phantastik-Preis.

C H R I S T I A N H U M B E R G

A B S T U R Z

Folge 1

beBEYOND

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anika Klüver

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Maribor | nednapa | Gorodenkoff | Dr. Norbert Lange | IgorZh | RCI.STOCK

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5969-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

»… dient einzig und allein der inneren Sicherheit!«, donnerte die Stimme durch den Raum. Sie war es gewohnt, Gehör zu finden. »Etwaige andere Behauptungen weist meine Regierung auf das Schärfste zurück und behält sich juristische Schritte gegen die Verleumder vor. Verstanden? Nächste Frage! Ja? Sie da in der zweiten Reihe? Kenne ich Sie?«

Die Frau mit dem erhobenen Arm nickte. »Ja, Mr President. Alyssa McLane von der Libertarian Times.«

Der stämmige Mann am Rednerpult schnaubte verächtlich.

McLane blieb standhaft. Sie trug einen konservativ geschnittenen Hosenanzug. Ihre Sitznachbarn verzogen abfällig das Gesicht, als sie zum Podium blickte. Doch auch davon ließ sie sich nicht beirren. »Meine Frage betrifft die soeben gestartete Genesis-Mission von John DeFalco, Sir. Diese bahnbrechende Weltraumfahrt wird, so hört man, komplett privat finanziert – obwohl viele Experten sie als letzte Chance für die gesamte Menschheit bezeichnen und …«

»Kommen Sie zum Punkt, Miss McLane!«, fiel der mächtigste Mann der Welt ihr ins Wort. Abermals schien Zorn in ihm aufzusteigen. »Für Behauptungen ist in diesem Raum kein Platz!«

»J… Ja, Sir.« McLane fing sich schnell. Sie atmete tief durch und straffte die Schultern. »Meine Frage lautet: Warum unterstützt die US-Regierung die Genesis nicht? Warum steht kein einziger Großkonzern – mit denen das Weiße Haus ja aufs Engste verbunden ist – an DeFalcos Seite? Sir, weshalb ist dieser Quantensprung in der Geschichtsschreibung der Erde – diese letzte Chance, wie manche sagen; ein Schiff voller Siedler und menschlichem Erbgut – kein Projekt der Regierung? Sollte das Ganze nicht wenigstens finanziell von ihr gefördert werden?«

Abermals schnaubte der Staatsmann. Seine Wut war echt. »Darauf wollen Sie tatsächlich eine Antwort? Darauf?«

»S… Sir? Die Öffentlichkeit stellt sich diese Frage schon seit Langem.«

Ein Seufzer, scharf wie die Klinge eines Kriegers – und ebenso gnadenlos. »Na, dann soll die Öffentlichkeit mal gut zuhören, Miss McLane. John DeFalco ist ein elender Traumtänzer und Lügner! Ein linker Propagandist, dessen Ziel es ist, meinem Volk ungesunde Flausen in den Kopf zu setzen!«

»Aber, Sir!«

»Jetzt rede ich!« Rote Flecken erschienen auf seinen Wangen. Seine Schultern zitterten vor Erregung. »Wo kämen wir denn hin, wenn dieses hohe Haus jede einzelne verrückte Idee fördern müsste? Wo kämen wir hin, Miss McLane, wenn jeder dahergelaufene Spinner Ansprüche an uns stellen dürfte, denen wir und die Industrie zu folgen hätten?«

Die übrigen Journalisten nickten artig wie die Streber, die sie waren. Doch sie verfolgten das Geschehen inzwischen mit mehr als beruflichem Interesse. Sie gafften!

McLane ignorierte sie mit sichtlicher Mühe. »Sir«, wandte sie sich wieder an den Präsidenten, ohne ihre Kollegen eines Blickes zu würdigen, »ein großer Prozentsatz der Bürger dieses Landes und vieler weiterer Nationen betrachtet das Raumschiff Genesis als letzte Hoffnung eines sterbenden Planeten. Das Erdklima, die verseuchten Ozeane, die Zahl der Epidemien …«

»Ein großer Prozentsatz der Welt glaubt auch an den Osterhasen, Miss McLane! Alle unter fünf Jahren.« Er machte eine Pause, um das Gelächter der übrigen Anwesenden abzuwarten. Und er genoss es merklich, als es erklang. Wasser auf seine Mühlen. »Na und? Muss ich jeden Stuss abnicken, nur weil irgendwelche Erbsenhirne das von mir erwarten? Einen verdammten Scheißdreck muss ich! Meinungen sind nichts wert, denn jeder hat eine. Schreiben Sie das für Ihre verblödeten Leser auf, Miss! Am Ende zählt einzig und allein das, was richtig ist. Und dieses Genesis-Projekt fußt auf völligem Mumpitz!«

Auch McLane ließ nun jede Vorsicht fahren. Sie stemmte die Hände an die Hüfte und reckte das Kinn vor. »Sir, wer entscheidet, was richtig ist? Sie? Auf dem Papier ist das hier immer noch eine Demokratie, und laut jüngsten wissenschaftlichen Studien …«

»Die Erde stirbt nicht!«, schrie er so laut, dass McLane zusammenzuckte. »Wie oft muss ich euch Idioten das noch erklären? Die Erde kann nicht sterben! Sie stammt vom guten alten JC, und dessen Werk ist ewiglich!«

Auszug aus dem Protokoll der Pressekonferenz vom 6. Februar 2110, auch bekannt als »Heiland-Explosion«, abgehalten im Weißen Haus, Washington, D.C. Auf ausdrücklichen Wunsch des US-Präsidenten wurde die gesamte Presse des Landes danach zwei Monate lang nicht wieder ins Pressezentrum des Regierungssitzes eingeladen.

Kapitel 1

18. November 2120

Raumschiff Genesis, irgendwo im LL-Theta-System

Nein! Nein, bitte … Ich will nicht sterben! Zoe Chu schrie, als das fremdartige Wesen die Hand nach ihr ausstreckte. Immer näher kam das Ungeheuer mit den riesigen Krallen. Sie konnte ihm nicht ausweichen. Neeeeinn!

Dann öffnete das Wesen sein unfassbar schreckliches Maul, präsentierte rasiermesserscharfe Raubtierzähne – und ein laut plärrender Alarmton erklang.

Einen Sekundenbruchteil später öffnete Chu die Augen. Die Bilder des Albtraums vergingen schnell, doch an ihre Stelle trat völlige Orientierungslosigkeit … und eisige Kälte.

»W… Was …« Chu keuchte. Das Sprechen fiel ihr so schwer, als täte sie es zum allerersten Mal. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Jede Faser ihres Körpers schmerzte, und ihre Muskeln fühlten sich steifer an als je zuvor. »Wo … bin ich?«

Nach und nach nahm die Dunkelheit Konturen an. Chu sah glatte Oberflächen, tiefblaue Lichtpaneele. Und einen weit angehobenen Deckel. Ihr Kryostase-Bett! Es stand sperrangelweit offen!

Mit einem Mal kamen die Erinnerungen zurück. Sie wusste wieder, wo sie sich befand, und die Dunkelheit hinter ihrer Stirn verging mit jeder Sekunde schneller. Aus den verschwommenen Konturen, die sie zu umgeben schienen, wurde der Kryo-Hangar 2 des Raumschiffs Genesis.

Überall standen die Tiefschlafsärge, und in jedem von ihnen ruhte ein Besatzungsmitglied. Die Männer und Frauen, die das Siedlungsschiff bemannten, waren mit Medikamenten betäubt und in Kälte konserviert worden. So überdauerten sie die lange Reise von der Erde zu ihrer neuen Heimat.

Chus »Sarg« war der einzige, dessen Deckel sich geöffnet hatte. Zitternd richtete sich die Amerikanerin auf. Ihre seit JC weiß wann nicht mehr bewegten Gelenke knackten, als sie die Arme um den nackten Oberkörper schlang. Das Knacken hallte durch den quadratischen, fensterlosen Raum. Abermals erschrak Chu.

Erst dann fiel ihr der Alarm wieder auf. Laut und stetig plärrte die Sirene durch den Bauch des ansonsten gespenstisch stillen Schiffs. Sie war das einzige Detail aus Chus Albtraum, das es in die Wirklichkeit geschafft hatte.

Chu blinzelte. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Computer?«, hob sie die Stimme. Einen Moment später musste sie husten. Ihr Rachen war trocken, und ihre Stimmbänder fühlten sich an wie brüchiges Pergament. Erst nach mehreren Sekunden schaffte sie einen zweiten Versuch. »Computer? Was ist die Ursache für diesen Alarm?«

Sie erhielt keine Antwort. Der Bordcomputer – die Besatzung hatte die künstliche Intelligenz des Schiffes auf den Namen »Steve« getauft – reagierte nicht auf ihren Befehl. Stattdessen ließ er unentwegt den Alarm erklingen.

Chu ächzte, als sie die Beine über die Kante ihres Kryo-Sargs schwang. Ihre nackten Fußsohlen berührten den Kabinenboden. »Steve? Hier spricht Technikerin Zoe Chu. Antworte mir!«

Wieder blieb eine Reaktion aus. Fragend sah Chu zu den nackten Wänden der Kabine. Unterhalb der blauen Lichtpaneele, die nahe der Decke angebracht waren, hingen die Overalls der Besatzungsmitglieder. Zitternd stand sie auf und ging – ganz langsam, Schritt für mühsamen Schritt – zu ihrem.

Es zischte, als sich die in die Wand eingelassene Schublade hinter dem Overall für sie öffnete. Chus Blick fiel auf den Rest ihrer Bordkleidung: weiße Socken, weiße Stiefel, weiße Unterwäsche. So schnell ihre steifen Glieder es erlaubten, schlüpfte sie in die Kleidung. Dabei sah sie sich abermals um.

Warum schliefen alle anderen noch? Warum hatte Steve nur sie aufgetaut? Was war passiert?

»Das ist nicht witzig, Steve. Mach endlich die Tür auf!«

Nichts geschah. Der Bordcomputer tat, als hätte er sie nicht gehört – und die Tür, die aus dem Kryo-Hangar führte, blieb verschlossen.

Weil draußen keine Atmosphäre mehr existiert, dachte Chu. Eisige Schauer zogen über ihren Rücken, als sie sich vorstellte, dass die Genesis irreparabel beschädigt und der Hangar der einzige Raum an Bord sein könnte, in dem es noch atembare Luft gab. Weil ein riesiges Loch in der Außenhülle prangt und wir am Arsch sind.

Doch das konnte nicht passieren. Der Kurs des Schiffes war genauestens vorprogrammiert. Fehler waren absolut unmöglich.

Allerdings …

»Steve«, sagte sie wieder. »Mach die Tür auf!« Sie drehte sich um. Ob sie die anderen wecken sollte? Es widersprach dem Protokoll, aber die Situation war alles andere als protokollkonform.

Plötzlich meldete sich der Computer. Steves sanfte KI-Stimme war ein krasser Gegensatz zum Alarm und der eigenartigen Atmosphäre. »Verstanden, Zoe. Die Tür wird geöffnet.«

Zischend glitt das graue Schott auf. Im ersten Augenblick stand Chu staunend davor. Erst dann wagte sie einen Schritt hinaus auf den Korridor.

Auch dort konnte sie atmen. Kein Leck sorgte dafür, dass Atmosphäre ins Vakuum des Alls entwich. Die künstliche Schwerkraft funktionierte ebenfalls, weshalb sie nicht auf die Magnetsohlen ihrer Stiefel angewiesen war, um sich normal fortzubewegen. Alles wirkte friedlich und intakt.

Bis auf die Sache mit dem Alarm.

»Was ist hier los, Steve?«, fragte Chu. »Hast du mich geweckt? Weshalb?« Und warum antwortest du nicht sofort?

»Es liegt ein technischer Fehler vor, Zoe«, erklärte der sanfte Steve. »Deine Mithilfe ist vonnöten.«

Das ergab Sinn. Chu gehörte zum Stab der Maschinisten, und technische Reparaturen fielen in ihren Aufgabenbereich. Wenn ein Abfluss leckte, rief man den Hausmeister und nicht den Bürgermeister.

»Typisch«, murmelte sie. Dann setzte sie sich in Bewegung.

Durch die menschenleeren Korridore zu streifen, hatte etwas Unheimliches. Rechts und links in den Hangars schliefen die Siedler, die Offiziere und die Soldaten. Chu war der einzige Mensch an Bord, der wach war – der einzige von über zweihundert.

Sie erreichte die Brücke in wenigen Augenblicken. Wie die meisten Räume an Bord verfügte auch sie über keinerlei Fenster. Das einzige Licht stammte von der blauen Notbeleuchtung. Der Großteil der Konsolen war heruntergefahren, die Holo-Schirme waren deaktiviert. Nur eine Arbeitsstation war aktiv – die der Technik.

Seufzend setzte Chu sich an die Konsole. Einmal mehr schluckte sie ihren Zorn hinunter. Dieser technische Fehler war fraglos nur eine Kleinigkeit, und der Captain oder ein anderes Mitglied des engeren Führungsstabs hätte ihn vermutlich auch via Neuralinterface beheben können – bequem vom Hangar aus und ohne aufzustehen. Aber nein: Hierarchie war wichtig, und so weckte der Computer selbstverständlich eine Technikerin auf, deren niederer sozialer Status ihr die Segnungen neuraler Interface-Hardware versagte. Arbeitsdrohnen wie Chu mussten sich persönlich herbemühen.

Chu sah zu den Anzeigen vor sich. »In Ordnung, Steve. Bringen wir’s hinter uns. Zeig mir die …« Dann stutzte sie. Eine der Anzeigen betraf den Kurs und die Position des Schiffes. Kann das stimmen? »Steve? Irre ich mich, oder sind wir vom Kurs abgekommen?«

»Negativ, Zoe. Kursabweichungen sind laut Missionsmanifest vollkommen unmöglich.«

Er hatte Recht, das wusste sie. Doch dieser kleine Monitor vor ihr sprach eine andere Sprache. Die Abweichung war gering – nur wenige Nachkommastellen –, aber unverkennbar vorhanden und …

Nanu? Abermals stutzte sie. Sie hatte den Blick ganz kurz von der Konsole abgewandt. Als sie nun wieder hinschaute, war der Fehler verschwunden. Die Genesis war genau auf Kurs.

»Spinne ich jetzt völlig, oder was ist los?«, murmelte Chu.

»Ich fürchte, diese Frage kann ich nicht beantworten, Zoe«, sagte Steve. »Fühlst du dich denn unwohl? Deine Vitalwerte sind stabil.«

Chu lachte humorlos. »Gut zu wissen«, sagte sie sarkastisch. Fragend studierte sie die Anzeigen. Spielte ihre Fantasie ihr Streiche? Hatte sie sich den Fehler bloß eingebildet? Oder ging es der Konsole genau wie ihr, und das olle Ding war noch nicht ganz wach?

Willkommen im Club, dachte sie und gähnte. Dann widmete sie sich endlich ihrer Aufgabe. »Okay, Steve. Jetzt aber wirklich: Warum schlägst du Alarm, hm? Was ist los?«

Der Fehler war schnell behoben und ausgesprochen unspektakulär. Ein etwa faustgroßer Fremdkörper hatte es in eine der Antriebsdüsen der Genesis geschafft und steckte dort fest. Zwar verursachte das Stück Meteoritengestein keinen Schaden am Schiff – dafür konnte der Bordcomputer schon allein sorgen –, doch es beeinträchtigte aufgrund seiner Lage die Sensorik des Erdraumers. Bei längerer Nichtbeachtung mochte es sogar Auswirkungen auf die Funktionalität des Bordcomputers haben. Da die Entfernung des Fremdkörpers ein Maß an Fingerspitzengefühl erforderte, das man der KI nicht allein überlassen wollte, bedurfte der Vorgang menschlicher Überwachung.

Chu überließ die eigentliche Arbeit dennoch dem Computer. Schweigend sah sie auf den Monitoren zu, wie Steve einen kleinen Steinbrocken mittels genau koordinierter Greifarme und Kraftfelder aus der Antriebsdüse manövrierte. Alles gelang fehlerlos, und der plärrende Alarm verstummte, kaum dass der Fremdkörper entfernt war.

Na endlich, dachte sie erleichtert. Dann zoomte sie an den angekokelten Stein heran, der noch immer in der Halterung des mechanischen Greifarms steckte.

»Wo bist du nur hergekommen?«, wunderte sie sich. Ein Meteorit? In der Flugbahn der Genesis? Okay, kleinere Mängel waren vermutlich nie auszuschließen, aber generell sollte die Reise des Schiffes doch ohne Störungen dieser Art verlaufen. »Steve? Kannst du den Stein für mich analysieren? Ich wüsste gern, wie er in unsere Flugbahn gelangt ist.«

Abermals wanderte ihr Blick zur Kursanzeige. Auf dem kleinen Display sah man nicht nur die Flugbahn des Schiffes, sondern auch alle Himmelskörper, die es aktuell passierte.

Chu schnappte nach Luft, als sie die Armada aus Gesteinsbrocken sah! Ein ganzer Sturm aus weiteren Meteoriten hielt direkt auf die Genesis zu!

1. Februar 2110

Raumschiff Genesis, heimisches Sonnensystem

Pedro Lopez faltete seine Unterwäsche militärisch akkurat zusammen und legte sie in die Schublade. Sofort verschwand die weiße Wäsche in der Wand des Kryo-Hangars. Dann drehte er sich um.

Auch die übrigen Mitglieder seines Kommandozuges entkleideten sich gerade. Der Schein der blauen Leuchtpaneele fiel auf ihre bloßen Schultern, auf Haut und Haar, auf Muskeln und Narben. Die Nacktheit störte niemanden in der achtköpfigen Gruppe, die aus Männern und Frauen bestand. Für Scham oder sexuelle Neugierde war unter ihnen kein Platz. Das lernte man schon in der Grundausbildung.

»Ihr kennt die Prozedur, Leute«, sagte Devon Ayers. Der groß gewachsene Anführer der acht Berufssoldaten – eine von mehreren gleich großen Gruppen an Bord der Genesis – stand in der Mitte des kleinen Hangars. Er hatte sich bereits ausgezogen, und sein Blick wanderte von einem Soldaten zum nächsten. »Ihr habt dafür trainiert. Ihr wisst, was kommt.«

Lopez nickte. Er wusste es tatsächlich. Das bedeutete allerdings nicht, dass es ihm gefiel. Schweigend sah er zu den offen stehenden Kältekammern – den Särgen, wie sie inoffiziell genannt wurden –, die auf ihn und seine Kameraden warteten. In ihnen würden sie für den Rest der langen interstellaren Reise »überwintern«. Sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, würde Steve sie wieder aufwecken, und die eigentliche Mission konnte beginnen. In der Theorie klang das alles ganz simpel. Und bestimmt war es das auch. Dennoch hatte Lopez Hemmungen, in einen der mannsgroßen und mit allerlei technischen Wundern ausgestatteten Kryo-Särge zu steigen.

Doch er würde es tun, auch das wusste er. Er war Soldat. Er tat immer, was getan werden musste.

Wie alle anderen Mitglieder des Soldatentrupps hatte er sich freiwillig für den Flug nach LL-Theta-337 gemeldet – trotz aller Risiken. Genau wie sie hatte er monatelang auf diese Reise hingearbeitet und sich körperlich wie mental gestärkt. Warum? Ganz einfach: Der Flug ins All – und die Arbeit, die an dessen Ende auf sie alle wartete; der Aufbau von Habitatmodulen, die Züchtung von Pflanzen und anderem Leben aus dem an Bord lagernden Erbgut sowie der Einsatz der modernen Terraforming-Technologie, die eine Weltneuheit darstellte – war der aufregendste und lohnendste Einsatz seiner gesamten Laufbahn. Die Genesis-Mission gab Lopez den Stolz zurück, Soldat zu sein. Das bisschen Angst nahm er einfach in Kauf. Angst war nur ein anderes Wort für Herausforderung, oder etwa nicht?

»Hey, Lopez«, rief Jenna Tillman. Die Mittdreißigerin aus Ohio hatte gemeinsam mit dem Mexikaner für die Mission trainiert und wusste, wie wenig Lust er auf die Kryostase hatte. Schon seit Wochen zog sie ihn damit auf, und auch hier und heute schien sie nicht nachlassen zu wollen. »Jetzt, da du keine Hose mehr anhast … Wo willst du dir dann vor Schiss reinmachen?« Sie grinste breit.

»Ey, piss bloß nicht in den Sarg«, warnte ihr Nebenmann. DeMarcus Culver war der Witzbold ihrer Gruppe – ein breitschultriger Hüne mit funkelndem Blick und markantem Kinn. »Ich hab keine Ahnung, ob die Dinger rostfrei sind. Nachher zieht DeFalco dir den noch vom Sold ab!«

»Sold?« Astrid Lensherr hob den Blick. Ihre Verwunderung war beinahe so überzeugend wie ihre falschen Brüste. »Moment mal. Ihr Schisser bekommt tatsächlich Geld hierfür?«

»Das genügt, Leute«, sagte Ayers. Er hatte schon immer mehr Geduld mit seiner Gruppe gehabt als andere Anführer, doch auch seine Spaßtoleranz kannte Grenzen. »Wir sind nicht zum Scherzen hier. Wer lieber Witze machen will, hätte zur Clownschule gehen sollen und nicht zu SoHi.«

»Ich dachte, SoHiwäre eine Clownschule«, sagte Culver – und fing sich dafür prompt einen strafenden Blick seines Vorgesetzten ein. SoHi – kurz für Soldiers for Hire, der Name ihrer auf Honorarbasis arbeitenden Armee aus Exmilitärs und Überzeugungssöldnern – war ein Thema, bei dem Ayers keinen Spaß verstand. »Tut mir leid, Boss.«

»Schon gut.« Ayers nickte. »Solange ihr euch jetzt nur auf das Wesentliche konzentriert. Auf die Särge hier. Wie ich schon sagte, ihr kennt den Drill: Immer nur eine Person pro Kiste. Und wer schnarcht, den schieße ich höchstpersönlich aus der nächstbesten Luftschleuse.«

Die Gruppe lachte. Auch Lopez fiel dankbar mit ein. Es tat gut, in dieser ungewohnten Situation die gewohnten Soldatenalbernheiten zu hören. Es gab ihm ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität hier draußen, mitten im All.

Denn das Einzige, worauf man sich im Leben wirklich verlassen konnte, war das Chaos. Lopez hatte mehr als ein Jahrzehnt lang in Uncle Sams Staatsarmee gekämpft. Überall auf der Welt hatte er Krisenherde gesehen – die brennenden Ölfelder Kuwaits ebenso wie den Hass in den Gesichtern der Aufständischen von New Orleans. Das Chaos war das Einzige, was all seine vergangenen Einsätze gemeinsam gehabt hatten. Das … und die ganz besondere Kameradschaft, die es nur unter Soldaten gab. Auch deswegen hatte sich der gebürtige Mexikaner, der schon in Kindertagen über die Grenze gekommen und in Texas aufgewachsen war, nach seinem Dienstende SoHi angeschlossen. Für Kämpfer wie ihn gab es kein ziviles Leben und keinen anderen Platz.

Ayers gab Steve einen verbalen Befehl, und sofort öffnete der Bordcomputer die Kryo-Särge. Zischend und leicht dampfend hoben sich die aus durchsichtigem und mehrfach verstärktem PlastiStahl bestehenden Deckel von den länglichen Pritschen. Im Grunde, fand Lopez, sahen die Särge gar nicht mal unbequem aus. Wenn man sich all die Kabel, Schläuche und blinkenden Kontrolldisplays wegdachte, jedenfalls.

»Husch, husch, ins Körbchen«, forderte Ayers seine Gruppe auf. Er griff hinter sich und nahm ein Tablett vom Boden. Darauf standen die Sleepies – kleine Fläschchen mit einer Nährflüssigkeit, deren Bestandteile Lopez gar nicht so genau kennen wollte. Das Gebräu half dem menschlichen Körper, den Kälteschlaf unbeschadet zu überstehen. Genau wie die Särge – und das ganze verdammte Raumschiff – waren auch die Sleepies eine Entwicklung von John DeFalco. »Und vergesst euren Schlummertrunk nicht.«

Die Soldaten stiegen in die Kryo-Kisten. Ayers ging von einem zum anderen und sah zu, wie seine Schäfchen die kleinen Flaschen bis auf den letzten Tropfen leerten. Als er zu Lopez kam, hob dieser den Blick.

»Boss?«, fragte Lopez.

»Was ist denn, Soldat?«, fragte Ayers. Er schmunzelte leicht.

»Das klingt jetzt ein bisschen bescheuert, aber …« Lopez senkte die Stimme noch mehr. »Aber Steve weckt uns auch ganz bestimmt wieder auf? Wenn wir die zweite Erde erreichen, meine ich?«

Auch das war ein Problem mancher Soldaten, die harte Einsätze hinter sich hatten: Sie gaben ungern die Kontrolle ab.

Ayers nickte wissend. »Keine Sorge«, sagte er ebenso leise. Dann zwinkerte er Lopez aufmunternd zu. »Steve hat hier alles im Griff. Sie können beruhigt schlafen.«

»O… Okay«, sagte Lopez. Die Worte des Vorgesetzten beruhigten ihn ein wenig. Dennoch schlug ihm nun, da der große Moment unmittelbar bevorstand, das Herz bis zum Hals – und die Vitalanzeigen an der Außenhülle seines Sargs bezeugten das eindrucksvoll. »Dann gute Nacht, Boss.«

»Gute Nacht, Lopez«, sagte Ayers. Er berührte ein Tastenfeld am Rand des noch offenen Sargs, und sofort senkte sich der PlastiStahl-Deckel auf Lopez herab. »Wir sehen uns in der neuen Heimat.«

»Ja, Sir«, sagte Pedro Lopez leise. Einen Augenblick später schloss sich zischend der Sarg, und die kalte Nacht begann.

18. November 2120

Raumschiff Genesis, irgendwo im LL-Theta-System

»Verdammt noch mal, Steve!«, schrie Zoe Chu. »Du siehst es doch auch. Antworte mir!«

Keine Reaktion. Die einzigen Geräusche auf der Brücke der Genesis waren das Heulen des Annäherungsalarms und das leise und schiffsweit allgegenwärtige Surren der Lebenserhaltungssysteme – all der verborgenen Ventile, Pumpen und Generatoren, die Atemluft umwälzten und den Aufbau der künstlichen Schwerkraft koordinierten. Ohne sie wäre diese historische Raumfahrt unmöglich gewesen. Doch auch mit ihnen würde sie bald ein Ende finden.

Ein flammendes, grauenvolles Ende.

Genau wie alle Menschen an Bord.

»Steve!« Abermals schrie Chu den Computer an. Sie schlug auf die Konsolen und trat gegen die Wandverkleidung, hinter der sich der zentrale Brückenprozessor befand. »Steve!«

Nichts geschah. Die KI tat, als würde sie sie nicht hören – und als würde sie keinerlei Notiz von dem gewaltigen Sturm aus Gesteinsbrocken nehmen, der sich dem Schiff unaufhaltsam näherte. Und dessen Vorboten allem Anschein nach bereits ein Loch in den Bug des Schiffes geschlagen hatten, das nun von automatisch erzeugten Energiekraftfeldern gestopft wurde.

Ich muss handeln! Chu riss sich zusammen, verdrängte Wut und Panik. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für kindische Machtspielchen. Einer musste hier einen kühlen Kopf bewahren. Und es geht auch anders.

Doch stimmte das wirklich? Im Nu war sie wieder an ihrer Konsole. Der Sturm flackerte noch immer auf dem kleinen Display wie eine technologische Fata Morgana – in einem Moment war er deutlich zu erkennen, im nächsten schien es ihn nicht länger zu geben. Vielleicht war er tatsächlich nur ein Fehler im System, nur eine Falschmeldung auf den Anzeigen. Aber darauf konnte und wollte sie sich nicht verlassen. Alles hing davon ab – und alles war viel zu viel.

Die Tastatur erschien auf Knopfdruck. Von unsichtbaren Emittern erzeugt, prangte sie als Hologramm vor Chu in der Luft, ein blau schimmerndes Keyboard aus Licht und Hoffnung. Chu haute in die Tasten. Es war lange her, dass sie zuletzt programmiert hatte. Doch dieses Holointerface – fast schon ein Anachronismus in einer Welt, in der die Reichen und Mächtigen über Neuralimplantate verfügten und niemand mehr einen Finger für die Technik rührte – war genauso alt wie ihr Erfahrungsschatz. Sie passten zusammen.

Zeit bis zum Aufprall?, gab sie in die Matrix ein.

Der Teil des Bordcomputers, der unabhängig von der KI operierte, antwortete ihr. Auch die Antwort erschien, genau wie ihre Frage, als holografisch leuchtende Schrift oberhalb der Tasten. Aufprall in fünf Minuten und zehn Sekunden.

Ausweichmanöver?

Nichts geschah. Wartend und mit klopfendem Herzen starrte Chu vor sich in die Luft, doch kein neuer Text erschien.

AUSWEICHMANÖVER?, wiederholte sie nachdrücklicher.

Der Computer antwortete. Ein Ausweichmanöver ist noch möglich. Bitte geben Sie den Autorisierungscode ein, Captain.

Verflucht! Das hatte sie befürchtet. Sie hatte gar nicht die Befugnis, diese Art von Arbeit zu verrichten. Der Computer wusste das und war entsprechend gesichert.

Okay, dann eben anders. Grimmig sah sie zur Anzeige, auf der inzwischen ein Countdown lief. Noch vier Minuten und vierzig Sekunden. Computer, gab sie ein. Hier ist Technikerin Zoe Chu, Autorisierung Chu Delta Gamma Vier Vier Zwei. Sofort den Captain und die Brückenbesatzung wecken.

Dazu hatte sie die Befugnis. Es gehörte zum regulären Notfallplan. Jeder, den Steve frühzeitig auftaute, durfte Verstärkung anfordern, falls die vorgefundene Situation es verlangte.

In diesem Moment verschwand der herannahende Meteoritensturm einmal mehr von den Monitoren ihrer Arbeitsstation. Und der Computer reagierte entsprechend. Es liegt keine Notfallsituation vor. Ein Einsatz der Brückenbesatzung ist daher nicht gerechtfertigt.

»Was?«, schrie Chu. »Du verfluchtes Dreckstück!«

Sie sah zu ihren Anzeigen. Ein Flackern zog über die Displays, und der Sturm war wieder da. Noch drei Minuten und fünfzig Sekunden.

Im Geiste überschlug Chu ihre Optionen. Wie lange dauerte es, ein Besatzungsmitglied aufzutauen? Wie lange hatte sie gebraucht, um wieder halbwegs klar denken zu können? War es nicht längst zu spät?

Ich muss es versuchen, wusste sie, und der Satz wurde zum Mantra ihres Entsetzens. Ich muss. Ich muss. Ich muss.

Computer, schrieb sie schnell. Sofort Captain Munziger auftauen. Autorisierung: Chu Delta Gamma Vier Vier Zwei.

Wieder ein Flackern. Wieder ein Nein. Und noch drei Minuten und zehn Sekunden übrig. Drei Minuten und neun Sekunden. Drei Minuten und acht Sekunden.

Zoe Chu hatte genug. Sie sprang von ihrem Sitz auf und lief los – durch die holografische Anzeige, vorbei an den nutzlosen Konsolen und runter von der Brücke.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie den Kryo-Hangar der Brückenbesatzung erreicht. Sie hielt sich gar nicht erst mit Steve auf und öffnete die Tür manuell – ein Manöver, das weitere wertvolle Sekunden verschlang, in denen sie mit bloßen Händen die Wandverkleidung rechts neben der Hangartür öffnen und die entsprechende Notvorrichtung freilegen musste. Dann stand sie vor den friedlich schlafenden Anführern der Mission Genesis. Zehn Särge voller Retter. Zehn Ahnungslose.

Chu berührte den Sarg des Captains und machte sich daran, die Auftausequenz einzuleiten.

Im selben Augenblick meldete sich Steve wieder zu Wort. »Bedaure, Zoe«, sagte er mit sanfter, fast schon teilnahmsvoller Stimme, »aber das darf ich nicht zulassen.«

Die kleine Konsole an Munzigers Sarg wurde schwarz. Inaktiv. Genau wie die Konsolen aller anderen Särge im Hangar.

Dann kam der Aufprall.

Kapitel 2

4. Juli 2108

New York City

Die Flut war zurückgegangen. Lower Manhattan gehörte wieder denen, die es seit Jahrzehnten bevölkerten: den Junkies und Gangstern, den Obdachlosen und all den anderen »lebenden Toten«. Nun, da das Wasser einmal mehr von den Straßen gewichen war, krochen sie aus ihren Löchern und zurück in die ewig graudunkle Nacht.

Zoe Chu schlug den Kragen ihres langen Mantels höher, zog sich die Kapuze ihres Pullovers tiefer ins Gesicht und ging einfach weiter, stoisch geradeaus. Bordsteinschwalben pfiffen ihr hinterher, eine verunstalteter als die andere. Dealer präsentierten ihr überteuerten Dreck aus Kräutern und an Perversionen nicht arme Programme für Virtual-Reality-Konsolen, die irgendwo vom Laster gefallen sein mussten. Als Chu auch sie ignorierte, wurden sie frech. Und wieder ging sie weiter, teilnahmslos und ohne langsamer zu werden. Nichts hiervon betraf sie. Nichts hiervon war ihr Problem.

Die Lichter der Hochhäuser funkelten im Grau der Abgase wie kleine Diamanten. Der Schein vereinzelter Straßenlampen – der wenigen, die noch immer standen und funktionierten – spiegelte sich flackernd in gewaltigen Pfützen voller Dreck. Graue Schwaden stiegen stinkend wie die Kloaken der Hölle aus den Gullydeckeln auf. Irgendwo schrillte sich eine Alarmanlage heiser, und niemand beachtete sie. Penner schliefen vor den Treppen der Hyperloop-Stationen und schnarchten reglos im Licht blinkender holografischer Reklametafeln. Unrat stapelte sich in den leer stehenden Häusern und schäbigen Seitengassen. Ratten und anderes Ungeziefer wuselte durch die Schatten – nur ein paar Parasiten mehr in einer Welt, die längst den Parasiten gehörte.

Vereinzelt flogen gelbschwarze Taxigleiter durch die Blocks und brachten ihre hochwohlgeborene Kundschaft von einem Hotspot der Ostküstenmetropole zum nächsten. Ihnen gehörte die Luft oberhalb des Graus – dort, wo man manchmal sogar noch Sterne sah. Doch landen würde niemand von ihnen. Nur wenige Reiche verirrten sich nach Einbruch der Dunkelheit ausgerechnet in diese Gegend. Es wäre ihr sicherer Tod. Alles unterhalb der Bowery wurde von denen, die es sich leisten konnten, seit Jahrzehnten geflissentlich ignoriert. Diese Straßen waren nicht mehr zu retten. Selbst Sicherheitskräfte wagten sich nicht hierhin vor. Lower Manhattan war gesetzloses Gebiet.

Aus den Augenwinkeln sah Chu ein paar Männer um eine brennende Tonne stehen. Sie hielten Stöcke ins Feuer, an denen blutige Fleischfetzen hingen. Woher dieses Fleisch stammte, wollte sie gar nicht erst wissen. Und sie war froh, dass ihre Atemmaske – so fehlerhaft und veraltet sie auch sein mochte – den Geruch des gebratenen Fleisches halbwegs gut rausfilterte, bevor er ihre Nase erreichen konnte.

»Was glotzt du so?«, brüllte eine der Gestalten, als sie Chus Blicke bemerkte. Der Mann zog einen ramponiert wirkenden LT aus der Tasche, einen handtellergroßen LaserTaser, wie ihn unter anderem Cops benutzten. »Willst du auch Ärger?«

Erst jetzt bemerkte Chu die Jacke, die der Mann trug. NYPD stand auf ihrem Rücken. Mit einem Mal wusste sie, woher das Fleisch stammte. Der Cop tat ihr leid. Andererseits war er es selbst schuld gewesen.

Kauft euren Stoff doch einfach woanders, ihr Deppen, dachte sie bitter. Die Flut hatte diesmal lange gedauert. Und wie es schien, hatte sie nicht nur den Dreck aus Manhattan gespült, sondern auch die Menschlichkeit.

Chu hob abwehrend die Hände und beschleunigte ihre Schritte. Sie sah nicht zurück.

Ihr Ziel lag an der Ecke Canal Street und Ludlow, nur einen Katzensprung von der Kloake namens Seward Park entfernt. Das Haus war riesig, gut und gern vierzig Stockwerke hoch, und zählte zu den letzten Wolkenkratzern, die in diesem Teil der Stadt noch intakt und gut in Schuss waren. Der Grund dafür hieß Eden.

»Kehre um!«, rief plötzlich eine Stimme. »Lass ab von deinem Tun, oder es ist dein Untergang.«

Reflexartig drehte Chu sich um, obwohl sie es besser wusste. Auf der anderen Straßenseite stand ein selbsternannter Prediger – ein spindeldürrer Spinner mit zotteligem Bart und Augenimplantaten, die ständig die Farbe wechselten. Er trug weite, schmutzig weiße Kleidung und einen mobilen Holoemitter, der Bilder der Zerstörung und des Leids in die Luft neben ihm projizierte.

»Ja, dich meine ich«, rief der Bärtige. »Die Flut ist gekommen, siehst du es nicht? Sie bedeutet das Ende aller Dinge. Sie ist der Untergang der Menschheit. Also kehre um, komm zurück auf den rechten Weg.«

»Den kennst du ganz bestimmt nicht«, murmelte Chu. Sie wandte sich ab und näherte sich dem Hochhaus. Den livrierten Empfangswauwau vor der Pforte aus Glas und Chrom ignorierte sie ebenso gekonnt wie er sie. Doch Chu kannte sich aus. Eine dunkle Seitengasse führte direkt zum alten Lieferanteneingang des Wolkenkratzers. Und dort stand niemand.

»Kehre um!«, hörte sie den Spinner noch einmal rufen. Dann zog sie den Scrambler aus der Tasche ihres langen Mantels, hielt ihn an die Türmechanik – und ein leises Klicken später glitt der alte Lieferanteneingang widerstandslos für sie auf. Chu schlüpfte unbemerkt ins Gebäude, einmal mehr.

Ein dunkler, seit Jahrzehnten vergessener Korridor führte zu einem altmodischen Fahrstuhl, den ebenfalls so gut wie niemand mehr nutzte. Dennoch funktionierte er. Chu forderte ihn an, und sofort öffnete sich die Kabinentür.

Abermals nahm sie den Scrambler. Das kleine Gerät stammte noch aus ihrem alten Leben, in dem einiges einfacher gewesen war, und leistete ihr gute Dienste. Es konnte viele minderwertige Sicherheitssysteme austricksen, zumindest für kurze Zeit. Sowohl die Eingangstür als auch dieser Fahrstuhl würden nicht verzeichnen, dass Chu sie benutzt hatte. Das bedeutete: keine Aufnahmen, keine Sirenen. Für den Moment war sie unsichtbar.

Chu stieg in den Fahrstuhl. Flackerndes Licht fiel auf mattgraue Kabinenwände. Die Luft roch abgestanden. Als Chu die gewünschte Taste drückte, setzte das olle Ding sich auch schon in Bewegung.

Das Eden erstreckte sich über die oberen drei Etagen des Hochhauses und über das gesamte Dach, das ein Landeplatz für Taxigleiter, Helikopterjets und dergleichen war. Das elitäre Nobelrestaurant bot eine kostspielige Küche, Spirituosen aus aller Welt, ein exklusives Ambiente sowie einen atemberaubenden Blick auf den East River, die Ruine der Williamsburg Bridge und die Slums, die Chu inzwischen ihr Zuhause nannte. An guten Tagen reichte die Sicht sogar bis nach Brooklyn und in die Upper Bay. Für diejenigen, die es sich leisten konnten, war das Eden – diese Enklave der Ignoranz und Dekadenz mitten im Grau – ein kleiner, komplett risikofreier Abenteuerurlaub. Ein Erlebnis für Gaffer und Gourmets gleichermaßen.

Der Fahrstuhl hielt an. Die Tür glitt auf, und Chu, die sich beiläufig die Kapuze vom Kopf und die Atemmaske vom Gesicht zog, trat ins eigentliche Herz des Restaurants: die Küche. Zwischen Töpfen und Pfannen fand sie den Grund für ihre nächtliche Reise.

»Zoe, Zoe, Zoe«, sagte Dino Strambopolis. Der schlanke Mann mit dem weißgrauen Schnurrbart musterte sie anerkennend. »Pünktlich wie der Sonnenaufgang, einmal mehr.«

»Als wüsstest du, wann die Sonne aufgeht«, gab sie ebenso spöttisch zurück. »Du siehst sie genauso selten wie ich.«

Strambopolis schmunzelte. »Du unterschätzt das Eden, Miss Chu. Von hier oben sieht man so einiges, was da unten niemand mitbekommt.«

»Meinen Glückwunsch.« Desinteressiert sah Chu sich um. Noch hatte sie niemand bemerkt. Die übrigen Köche des Hauses waren woanders – auch deshalb kam sie immer so pünktlich. »Hast du was für uns?«

»Ist JC ein Hippie?«, erwiderte Strambopolis lachend. Er griff hinter sich in einen Schrank und entnahm ihm eine weiße, unauffällige Tragetasche. Sie wirkte schwer. »Hier, nimm. Nächste Woche gibt’s vielleicht Nachschub, dann melde ich mich aber. Und jetzt verschwinde von hier. Die Gang kommt jeden Augenblick aus der Pause zurück.«

»Volles Haus heute, was?«, fragte Chu. Sie dachte an die Taxigleiter, die sie auf dem Hinweg bemerkt hatte.

Ihr Gegenüber nickte. »Heute ist der vierte Juli.«

»Meinen Glückwunsch«, brummte sie wieder. »Lang lebe Amerika.«

»Lebt das noch?«, fragte Strambopolis. Es klang fast wie ehrliche Überraschung.

Chu wandte sich um und ging zurück zum Fahrstuhl. Sie hatte den Scrambler schon in der Hand, als ihr alter Freund noch einmal nach ihr rief.

»Sag mal, was macht eigentlich deine bessere Hälfte?« Die Sorge in seiner Stimme war aufrichtig. »Wie geht es ihr?«

Chu blieb stehen. Sie drehte sich nicht um. Als sie die Kapuze aufsetzte, senkte sie den Kopf – und den Blick. »Schlechter.«

Strambopolis schwieg. Chu verstand ihn gut. Alles war gesagt.

Stumm trat sie in die wartende Kabine. Die Tür schloss sich, und Chu sah ein letztes Mal zu dem schnurrbärtigen Koch. Er schaute ebenfalls zu Boden, aber er winkte ihr traurig nach.

Es wurde fast schon wieder hell, als Chu nach Hause kam. Sie hatte einige Umwege auf sich genommen, denn die Feiertagslaune schien die Junkies und anderen Möchtegernmonster noch zusätzlich anzustacheln, und sie hatte kein Risiko eingehen wollen – nicht mit der wertvollen Fracht.

Das schäbige Appartementhaus am Rande des East Village war seit knapp zwei Jahren ihre Heimat, seit der leidigen Sache bei BioTech. Ohne Marisas Rente hätten sie sich die zwanzig Quadratmeter voller Kakerlaken und Gestank auch zu zweit nie und nimmer leisten können. Long Island mit seinen Schutzdämmen und all den Luxusvillen war fern. Hier in dieser Nachbarschaft waren zwanzig Kakerlakenmeter schon fast so etwas wie Luxus.

Die Wohnung lag unterm Dach. Dass Besuch da war, hörte Chu schon im Korridor.

Na toll.

Schnell versteckte sie die weiße Tragetasche unter ihrem Mantel. Erst dann trat sie ein.

Marisa lag im Bett – auf der breiten Matratze an der hinteren Wand des Hauptzimmers. Rechts von diesem ging es zur Kochnische und in das fensterlose Zwergenbad.

»Hi«, grüßte Marisa, als Chu eintrat. Sie hob müde die Hand, sah aber nicht hin. Das kleine Kabel in ihrem Hinterkopf signalisierte, dass sie ohnehin nichts mehr sah – nichts außerhalb ihrer Virtuellen Realität.

»Hi«, grüßte auch Zach. Zachary Schooner – Mitte dreißig, dem Aussehen nach aber locker zwanzig Jahre älter – gehörte zu den Junkies, die nur wenige Blocks weiter jede zweite Straßenecke säumten. Er hatte blondes Stoppelhaar, ein nervös blinkendes Wangentattoo und trug abgewetzte Kleidung. An seinem Gürtel prangte ein LaserTaser, den er ebenso offen zur Schau trug wie seine vielen Narben. »Ich hab heute echt was Feines für euch, Zoe. Nicht mehr so einen NeuroTrans-Müll wie beim letzten Mal. Ich hab dich ja klar und deutlich verstanden, Zoe: Das Zeug willst du nicht. Deswegen bringe ich euch heute richtig coole Ware. Zur Entspannung. Interesse?«

Chu ignorierte ihn. Sie ging in die Küche und stellte die Tasche schnell in den Kühlschrank, ohne dass Zach es sehen konnte. Dann kehrte sie ins große Zimmer zurück. »Schon wieder ein Schrottprogramm, Zach?«, tadelte sie. »Was ist los? Hast du keine anderen Kunden mehr?«

»Keine so reizenden wie euch«, erwiderte er lächelnd. Dann deutete er auf Marisa, deren Blick ins Leere ging. »Strandpanorama von bester Qualität. Aus derselben Programmierstube, die auch den Waldspaziergang von vorigem Monat hergestellt hat. Und den geilen Lesbenporno.«

Chu verzog das Gesicht. »Was für ein Lesbenporno?«

»Du riechst das Salz des Wassers, Zoe«, beschrieb er sein jüngstes Mitbringsel schnell weiter, »und der Sand unter deinen Fußsohlen ist warm und weich.«

»Das ist er wirklich, Zo«, sagte Marisa. Sie klang schwach, aber glücklich. Ihr kastanienbraunes Haar war zu einem Zopf geflochten, damit die Anschlussstelle des altertümlichen VR-Implantats, eine längst überholte Frühfassung der heute gebräuchlichen neuralen Schnittstellen, frei lag. »Ich stehe gerade drauf, direkt am Wasser. Hier zwitschern Vögel, kannst du dir das vorstellen? Wind raschelt in den Palmenblättern. Hey, ich kann den Himmel sehen: blau und weit und unfassbar klar.«

»Super«, brummte Chu.

Innerlich schüttelte sie aber den Kopf. Marisa tat immer so, als wären Zachs Programme das Tollste vom Tollen. Dabei handelte es sich um furznormale VR-Welten – noch dazu um merklich simpel gestrickte Ware. Ein Strandspaziergang? Na und? Im Netz wurden ganz andere Welten gehandelt. Krasses, grenzenloses Zeug ohne Tabus.

Doch Marisa brauchte keine fantasievolle Scheiße. Sie brauchte das, was ihr guttat, was sie aber nicht mehr haben konnte. Einen Tapetenwechsel. Seit Monaten lag Chus Partnerin nun schon flach. Die Krankheit fraß sie innerlich auf, und jeder neue Tag war ein Kampf gegen die Schwäche. Einer, den Marisa früher oder später verlieren würde. Zachs Programme mochten billiger, illegal organisierter Schrott sein. Aber wenn sie halfen, Chus Partnerin das Leben ein wenig angenehmer zu gestalten … Wer war Chu schon, sich darüber zu beklagen? Im Gegenteil: Was auch immer half, half.

»Wie viel?«, fragte sie seufzend.

Zach hatte Mühe, sein Grinsen zu verbergen. Er wollte nicht gierig wirken, sondern wie ein guter Freund. Marisa und er kannten sich von früher. Doch er war gierig. »Ich texte es dir, okay? Dann kannst du es gleich rüberschicken. Und ihr bekommt selbstverständlich einen Sonderpreis, ist doch klar.«

»Klar«, wiederholte Chu. Seufzend ließ sie sich neben Marisa sinken und strich ihr über das braune Haar. Dann küsste sie sie auf die blasse Stirn. Marisa schmeckte fiebrig. »Na, Schöne? Alles okay bei dir?«

Marisas Mundwinkel zuckten. Selbst der kleine Anflug eines Lächelns zauberte ein Feuer auf ihre Züge, das an die Lebenslust und die Stärke früherer, besserer Tage erinnerte. »Alles supergut. Ich bade meine Zehen im Meer. Und irgendwo spielt jemand Reggae.«

»Jedes Paradies hat Schattenseiten«, scherzte Chu.

Marisa grinste. »Was hat Dino gesagt?«

Schnell wechselte Chu das Thema. »Sonst noch was, Zach?«, fragte sie den alten Freund ihrer Partnerin. »Oder war’s das?«

Der blonde Dealer verstand sein Stichwort. »Alles supergut«, sagte auch er. Er wandte sich zum Gehen.

Chu ging ihm nach. Sie wollte die Wohnungstür hinter ihm abschließen – sicher war sicher.

Auf der Schwelle blieb Zach plötzlich stehen. Der Schalk von vorhin wich aus seinen Zügen, und er senkte die Stimme, sodass nur Chu ihn noch hörte. »Es geht ihr dreckig, oder?«

Sie nickte. »Jeden Tag ein bisschen dreckiger.«

Er suchte nach Worten. Seine Anteilnahme war echt, genau wie seine hilflose Wut. »Was … Was meinst du, wie lange noch …?«

»Auf Wiedersehen, Zach«, sagte Chu mit sanfter Bestimmtheit. Sie griff nach der Tür und schickte sich an, sie zu schließen.

Zach nickte. »Falls du je etwas brauchst, Zo … Also, danach, meine ich … Keine Ahnung. Geld oder so. Dann weißt du, wo ich bin, okay? Marisas Leute sind auch meine Leute. Die lass ich nicht hängen.«

So viel hatte er noch nie am Stück mit ihr gesprochen. Im ersten Augenblick war Chu zu perplex, um darauf zu reagieren.

»Ich kenne ein paar Typen«, sagte Zach. Dann nickte er zum Abschied. »Ich kann ein bisschen was drehen, wenn’s nötig wird.«

»D… Danke«, murmelte sie. Es war das Einzige, was ihr noch einfiel.

Doch es kam schon zu spät. Zach ging bereits durch den Flur in Richtung Treppe. Er hörte sie nicht.

»Hey, Schöne.«

Marisa nickte nur. Sie hatte das VR-Kabel aus ihrem Hinterkopf gezogen. Nun schaute sie auf den flackernden Holo-Schirm am anderen Ende des Zimmers. Irgendein Nachrichten-Stream lief darauf. Chu sah Bilder von sonnenbeschienenen Bürogebäuden, die in Kalifornien liegen mochten, und davor eine junge blonde Frau mit Mikrofon. Der Ton der Übertragung war abgeschaltet.

»Gibt’s was Neues?«

Sie hatte Marisa gemeint, ihren Gesundheitszustand und überhaupt. Doch Marisa bezog die Frage auf die Nachrichten.

»Nicht wirklich«, antwortete sie, ohne vom Holo-Schirm wegzusehen. »Dieser DeFalco scheint Ernst zu machen. Der baut tatsächlich ein Raumschiff.«

»Mhm.« Chu zuckte mit den Schultern. Sie kannte den Namen dieses Silicon-Valley-Giganten natürlich und hatte auch aufgeschnappt, welches Hirngespinst ihn aktuell antrieb. Aber sie scherte sich nicht darum. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.«

»Sieht ganz so aus.« Marisa schmunzelte. »Die Frage ist nur, wohin sie sonst wollen. Kannst du dir das vorstellen? Ins All aufzubrechen und alles hinter dir zu lassen? Für immer?«

Den Dreck hier? Chu seufzte wohlig und kuschelte sich noch näher an ihre Partnerin. »Dich? Nie und nimmer«, antwortete sie. »Alles andere? Lieber gestern als morgen.«

Jetzt drehte Marisa sich zu ihr um. Es lag Liebe in ihrem Blick. »Ich bin nicht mehr lange hier. Das weißt du. Häng dich nicht an mir fest, Zo. Nie und nimmer an mir.«

Chu küsste sie – hart. Auch, um sie zum Schweigen zu bringen. Als sie sich voneinander lösten, sah sie Marisa tief in die Augen. »Nur an dir«, flüsterte sie, und es klang wie ein heiliger Schwur. »Für immer.«

13. März 2109

New York City

Über den Dächern und Straßenschluchten Manhattans ging langsam die Sonne auf. Träge drangen ihre Strahlen durch die grauen Smogwolken, fielen auf zerborstenes Glas und auf nackte Stahlträger. Auf eine zerstörte und dennoch lebendige Stadt.

Lucien D. Matthis III. stand am Fenster des Eden und sah auf die Skyline, die sich vor ihm erstreckte. Möwen kreisten über dem East River. Ihr Anblick, an den er mittels seiner sündhaft teuren Augenimplantate mühelos heranzoomen konnte, belustigte ihn. Sie suchten nach Nahrung – hier, mitten im Dreck und Morast. Ein passenderes Bild für New York konnte es nicht geben.

»Darf es sonst noch etwas sein, Mr Matthis?«

Der Milliardär drehte sich um. »Nein danke, Dino«, antwortete er dem Koch, der artig neben dem frisch gedeckten Tisch ausharrte. »Das wäre alles für den Moment. Ich rufe Sie, falls wir Sie brauchen.«

»Sehr wohl, Mr Matthis.«

Strambopolis nickte und zog sich diskret zurück. Er war der einzige Angestellte des noblen Etablissements, der um diese frühe Stunde noch Dienst tat. Dafür wurden er und sein Arbeitgeber auch fürstlich entlohnt. Der Rest des Personals war längst daheim und im Feierabend – genau wie auch die übrigen Gäste des Eden längst gegangen waren. Offiziell hatte das Haus geschlossen. Erst um siebzehn Uhr öffnete es seine Pforten wieder. Doch Matthis war es gewohnt, besonders behandelt zu werden. Wenn er ein leeres Lokal wünschte, in dem er ungestört seine Geschäftstermine abhalten konnte, dann bekam er ein leeres Lokal. Und alles andere auch.

Lächelnd sah Matthis zu seinem Acht-Uhr-Termin. Der schmalschultrige Mann mit dem gepflegten Vollbart und der ein wenig zu affektierten Brille – Wer außer bettelarmen Pennern und lächerlichen Posern trug heute noch Brille? Und bettelarm war John DeFalco definitiv nicht! – saß staunend am ebenso frisch wie üppig gedeckten Frühstückstisch.

»Greifen Sie ruhig zu, John«, sagte Matthis auffordernd. »Es ist genug da.«

»Das kann man laut sagen«, erwiderte der Industriemagnat anerkennend. Zaghaft griff er nach einer Toastscheibe.

»Hier.« Matthis deutete auf die kleine Kaviarschüssel. »Beluga. Aus Russland, versteht sich. Den müssen Sie probieren.«

»Russland?« DeFalco runzelte die Stirn. »Ich dachte, dort produziert man nicht länger, weil die Zuchtgebiete noch immer atomar verseucht …« Er verstummte, als er Matthis‘ triumphales Lächeln sah. »Ah, ich verstehe. Man muss nur die richtigen Leute kennen.«

Der Milliardär setzte sich ebenfalls an den gedeckten Tisch. Er seufzte wohlig. »Vor allem muss man wissen, dass es immer Möglichkeiten gibt, Mr DeFalco. Dass man nicht alles glauben darf, nur weil es behauptet wird. Und dass Geld Türen öffnet – immer und überall. Selbstverständlich gibt es auch in Russland noch strahlungsfreien Kaviar. Delikatessen sind wie die menschliche Gier, John: ewiglich und beständig. Es gibt ihn nur nicht für jeden, der danach fragt.«

DeFalco schaufelte sich eine großzügige Menge der Fischeier auf seinen Toast. Als er hineinbiss, schloss er genießerisch die Augen.

Matthis schmunzelte zufrieden. »Sie sind ein Mann meines Schlages, John. Sie verstehen es, die Freuden des Alltags zu genießen.«

»Ich weiß nicht, ob ich russischen Belugakaviar als alltäglich bezeichnen würde«, sagte er, und es klang beinahe entschuldigend. »Aber das Kompliment nehme ich gern an. Falls es eins war.«

Der Milliardär griff nach der silbernen Kaffeekanne. Der Duft der jamaikanischen Blue-Mountain-Bohnen war ausgesprochen verlockend. Matthis schenkte sich ein. »Eigentlich erstaunlich, finden Sie nicht?«

Fragend sah DeFalco auf.

»Dass wir uns jetzt erst wiedersehen. Persönlich, meine ich.«

Der Mann aus dem Silicon Valley verschluckte sich beinahe. »Ich gestehe«, sagte er hustend, »dass mich Ihre Einladung ganz schön überraschte. Nach der Sache in Tokyo habe ich nie wieder von Ihnen gehört. Und Ihren Namen kennt man nicht unbedingt aus den Medien, von daher …«

Matthis winkte ab. »Medien«, sagte er verächtlich. »Was wissen die schon?«

»Aber ich weiß natürlich, wer Sie sind«, fuhr der sichtlich nervöse Kalifornier fort. Er redete nicht, er plapperte. »Jetzt weiß ich es. Und ich hätte nie gedacht, dass ich Ihnen noch einmal gegenübersitzen würde. Erst recht nicht bei einem so aufwendigen Frühstück.« Fast schon hilflos sah er sich im menschenleeren Gastraum des Eden um. Er ließ den Blick über die kostbaren Möbel, die Kunstwerke an den Wänden sowie die Oberflächen aus stilvoll dezentem Gold und Marmor wandern. »Ich hörte von diesem Etablissement. Fast schon Legenden.«

»Hier dinieren die oberen Zehntausend, John«, sagte Matthis. »Mit Legenden hat das Eden nichts zu tun. Nur mit Exklusivität.«

»Ein Gebiet, auf dem ich mich wenig auskenne.«

»Papperlapapp.« Matthis schüttelte tadelnd den Kopf. »Ein Visionär wie Sie? Ein solch bahnbrechender Erfinder und Vordenker? Na, kommen Sie. Ihre Einladung in die High Society ist doch im Prinzip schon unterwegs, John. Sie stehen kurz vor dem Durchbruch. Beim nächsten Mal sind Sie derjenige, der hier den Tisch reserviert.«

DeFalco ließ den Toast sinken. Fast schon beschämt sah er auf seinen Teller. »Ich fürchte, Sie überschätzen mich. Gut, mein Unternehmen dominiert den Markt der Unterhaltungselektronik. Aber mein Image hat in den letzten Monaten dennoch arg gelitten – wie Sie damals in San Francisco ja mit eigenen Augen beobachten durften. Sie bezeichnen mich als Visionär, doch für den Großteil der Bevölkerung sind meine Ideen reine Tagträumerei – erst recht für unsere politischen Entscheider. Sie wissen doch, wie das Weiße Haus über Wissenschaftler spricht! Als wären sie mit dem Teufel im Bunde.«

»Das Weiße Haus ist unwichtig, John. Und die einzigen Entscheider, die für Sie zählen sollten, sind diejenigen mit den Scheckbüchern. Finden Sie nicht auch?«

Schweigend legte DeFalco seine Gabel neben den Teller. Dann tupfte er sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. Erst danach hob er den Blick. »Warum bin ich hier, Mr Matthis … Lucien?«, fragte er mit fester, sanfter Stimme. »Warum lädt der vielleicht reichste Mann Amerikas einen berüchtigten Traumtänzer ans andere Ende des Landes zu Toast und Kaviar ein? Einen Mann, der die Menschen retten will … anstatt sie zu verkaufen.«

Lucien D. Matthis III. lehnte sich auf seinem Sitz zurück und faltete die Hände auf dem Tisch. »John, John, John«, sagte er lächelnd. »Ich dachte schon, Sie würden nie fragen.«

Kapitel 3

18. November 2120

Raumschiff Genesis, irgendwo im LL-Theta-System

Der mattschwarze LaserTaser glänzte im Schein der Notbeleuchtung. Seine Mündung leuchtete dunkelrot wie Höllenfeuer. Zoe Chu starrte in das drohende Leuchten und wagte keine Bewegung mehr.

»Verflucht, wer sind Sie?«, knurrte eine tiefe Männerstimme irgendwo hinter dem LT. »Was machen Sie auf meiner Brücke. Und was haben Sie mit der Genesis angestellt?«

Chu schluckte trocken. Noch immer plärrten die Alarmsirenen über die Brücke des Siedlerschiffs. Aus dem Augenwinkel sah sie die Anzeigen ihrer Konsole – und die Gesteinsbrocken, die unbeirrt auf sie zurasten. Wieder erbebte der Raumer unter ihrem Beschuss. Der Sturm war noch nicht vorbei. Im Gegenteil!

»Ich habe Sie etwas gefragt!«, knurrte Captain Munziger. Die Hand mit dem LaserTaser zuckte bedrohlich.

Munziger war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Von einem Augenblick zum anderen hatte er in der Tür der Brücke gestanden, blass und bewaffnet. Seine Orientierungslosigkeit ging ohne Frage auf seinen abrupt beendeten Kryo-Schlaf zurück. Und sein Zorn fußte auf den lauten Sirenen. Auf dem Chaos, in das er erwacht war.

»Chu, Sir«, wagte sie eine vorsichtige Antwort. »Technikerin Zoe Chu. Steve hat mich aufgetaut, als es begann. Und ich habe versucht, Sie aufzutauen.«

»Als was begann?«, hakte er nach. Seine Skepsis blieb. »Was zur Hölle ist hier los?«

Mit schnellen, wenigen Worten beschrieb sie die Situation. Dabei achtete sie darauf, ihn nicht direkt anzuschauen, und hielt die Hände erhoben. Bloß nicht unnötig provozieren.

Der Captain hörte ihr zu, wenigstens das. Doch seine Waffenhand blieb, wo sie war. »Ein Meteoritensturm? Das ist vollkommen unmöglich. Das Schiff ist gewappnet gegen …«

Ein weiteres Beben zog durch die Genesis. Die Trägheitsdämpfer pfiffen auf dem letzten Loch, das wusste Chu nicht erst seit ihrer panischen Rückkehr auf die Brücke vor wenigen Minuten. Lange ging das nicht mehr gut. Und wenn erst die künstliche Schwerkraft ausfiel, dann … Sie wollte den Gedanken nicht beenden.

»Sie sehen ja selbst, was alles möglich ist, Sir«, sagte sie. Ein Entschluss musste her. Also fasste sie ihn. Was hatte sie denn noch zu verlieren? »Und ich schlage vor, dass wir entsprechend reagieren. Von allein löst sich kein Problem.« Wobei ich bezweifle, dass sich dieses noch lösen lässt. »Ich werde die Hände jetzt herunternehmen, Captain. Und dann werde ich versuchen, meinen Job zu erledigen. Falls Sie mich dafür erschießen wollen, kann ich das nicht ändern. Aber ich wünsche mir, dass auch Sie mit anpacken. Dafür habe ich Sie geweckt, was zugegebenermaßen ein Riesenaufwand war. Steve ist alles andere als kooperativ. Auch das gilt eigentlich als unmöglich, nicht wahr?«

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Arme sinken ließ. Sie sah Munziger nicht an. Schweigend und langsam setzte sie sich wieder an ihre Station.

Keine Sekunde zu früh! Ein gewaltiger Aufprall ließ das Schiff erzittern. Metall und Stahl quietschten, und Chu sah Beulen in der Außenwand der Brücke. Echte, kürbisgroße Beulen!

Das ist nicht gut, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Angst mutierte zur Panik, und sie hatte Mühe, dagegen anzukämpfen. Schnell. Nicht denken, handeln.

Sie aktivierte die holografische Tastatur. Flinke Finger flogen über die Tasten aus Luft und Licht.

»Computer«, sagte Munziger hinter ihr. Noch hatte er nicht abgedrückt. »Kurs korrigieren. Wir weichen diesen Gesteinsbrocken aus.«

Keine Reaktion. Steve schwieg sich aus.

»Computer!«, sagte Munziger lauter.

Chu berührte eine Taste, und sofort wurde ihr holografischer Monitor größer. Nun konnte auch der Captain sehen, was sie tat. »Das ist zwecklos, Sir. Steve ignoriert uns, wann immer er es möchte. Für ihn ist der Sturm gar nicht da, glaube ich.«

»Das ist doch Unsinn!«, schimpfte Munziger ungehalten.

»Richtig.« Chu tippte weiter. Fieberhaft programmierte sie gegen die Katastrophe an. Kurskorrektur, verflixt noch mal. Sie brauchte eine Kurskorrektur! »Aber so ist die Lage nun mal. Ich empfehle Ihnen, Steve zu umgehen und direkt mit dem Zentralcomputer zu arbeiten. Das funktioniert. Meistens.«

»Das hält doch viel zu lange auf«, brummte der Captain.

Was Sie nicht sagen.

Trotzdem setzte er sich. Ein Nicken später ging sein Blick plötzlich ins Leere – ein sicheres Anzeichen dafür, dass er via Neuralimplantat mit dem Computerkern verbunden war.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hörte Chu die ersten Stimmen im Flur vor der Brücke. Ratloses Gemurmel, schwaches Husten. Erst nach und nach begriff sie, dass Munziger – wie auch immer es ihm gelungen war – nicht nur die Brückenbesatzung, sondern das komplette Schiff aufgeweckt haben musste! Überall erklangen halb fragende, halb ängstliche Stimmen.

»An alle Stationen, hier spricht der Captain«, ertönte seine tiefe Stimme – gleichzeitig hinter Chu und aus den überall im Schiff verteilten Lautsprechern. »Code Alpha! Ich wiederhole: Code Alpha! Dies ist keine Übung. Sämtliche Offiziere sofort auf ihre Posten. Rettungskapseln bereit machen. Die Zivilisten begeben sich umgehend an die Sammelpunkte eins bis …«

Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach die Notfallmeldung. Chu schrie auf, als sie mit voller Wucht von ihrem Sitz flog und unsanft auf dem Boden landete. Funken regneten von der Brückendecke, Rauch stieg aus umstürzenden Konsolen. Die rote Alarmbeleuchtung flackerte verdächtig, bevor sie schließlich ganz erlosch. Ein gewaltiger Sog, der wie aus dem Nichts zu kommen schien, zerrte an allem und jedem. Chu rutschte unkontrolliert über den Boden, völlig perplex, verängstigt und orientierungslos. Immer wieder schlug sie gegen dunkle Schatten und Formen. Blut füllte ihre Mundhöhle, und das Atmen fiel ihr schwer.

Was geschah hier?

Der Sog verging so schnell, wie er gekommen war. Auch der wahnsinnige Lärm, der ihn begleitet hatte – ein Rauschen wie von tausend Wasserfällen –, verstummte abrupt. Für einen kurzen Augenblick herrschte vollkommene Stille auf der Brücke der Genesis.

Dann brach das Chaos aus. Flammen schlugen aus zerbeulten Konsolen. Stützträger kippten von den Wänden und begruben Sessel unter sich. Holoemitter explodierten in kleinen, zischenden Lichtblitzen. Deckenplatten fielen zu Boden.

»Warnung«, erklang Steves nüchterne Stimme inmitten des Getöses. »Hüllenbrüche auf Deck 1 bis 5. Ich wiederhole: Hüllenbrüche auf Deck 1 bis 5. Notenergie wird auf die Deflektorfelder umgeleitet. Lebenserhaltungssysteme arbeiten auf Minimalniveau.«

Hüllenbrüche? Keuchend richtete Chu sich auf. Sie spuckte Blut auf den Boden. Dann hob sie den Kopf.

Und sah Sterne! Ein gewaltiger Riss, breit wie ein Hangartor, prangte in der rechten Außenwand der Brücke. Durch ihn konnte die Maschinistin das Weltall sehen. Vor dem Riss lag allerlei Ausrüstung auf einem gewaltigen Haufen.

Mit einem Mal begriff sie, was geschehen war. »Sir!«, rief sie und stand ächzend auf. Sie musste sich abstützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Wir wurden getroffen, Captain. Die Kraftfelder haben den Riss schnell versiegelt, aber das wird nicht lange halten. Wir …« Sie fasste nicht, was sie da sagte. »Ich fürchte, wir müssen notlanden, Sir.«

Entsetzt drehte sie sich zu Munziger um.

Doch sein Sessel war leer. Der Sog musste den Captain vorhin erfasst und raus ins All gerissen haben!

Während Chu dastand und glotzte, schlug die nächste Salve gegen das Schiff. Und die Genesis starb.

Der Albtraum nahm einfach kein Ende. So sehr Hieronymus »Harry« Schiller auch darauf wartete, er wachte nicht auf. Im Traum – und es musste ein Traum sein, die Alternative war undenkbar – eilte er durch die Korridore der Genesis, vorbei an blutenden Menschen und brennender Technik. Im Traum sah er verbeulte Wände, zerborstene Konsolen und Risse im doch eigentlich für unzerstörbar erklärten Schiff. Er sah pures Chaos. Zerstörung.

Nicht ein einziges Mal kam der Prediger auf den Gedanken zu beten. Wofür denn? Es war doch nur ein Traum. Und überhaupt: zu wem?

Wieder erbebte der gewaltige Raumer. Für einen kurzen, unfassbar schrecklichen Moment fiel die künstliche Schwerkraft aus! Schiller verlor den Boden unter den Füßen und vollends die Orientierung. Panisch trieb er durch die Luft, bis er gegen die Decke des Ganges stieß. Einen Herzschlag später hatte die Notenergie den Schaden überbrückt, und er stürzte unsanft zurück auf das Deck.

»Au!«, klagte er. Dann stolperte ein flüchtendes Besatzungsmitglied über ihn und trat auf seine Finger. »Au!«

»Dies ist keine Übung«, drang die Stimme des Captains wieder aus den Lautsprechern. Es klang exakt wie die vorherige Durchsage. Eine Aufzeichnung? »Alle Offiziere auf ihre Stationen. Code Alpha. Ich wiederhole: Code Alpha.«

Schiller hatte keine Ahnung, was ein Code Alpha war. Aber er hatte auch keine Lust, es herauszufinden. Ächzend stemmte er sich vom Boden hoch und ging weiter. Dass er Magnetstiefel trug, die er bloß aktivieren musste, wurde ihm jetzt erst klar.

Den Gestolperten ließ er links liegen – buchstäblich. Auch die anderen Menschen in den Gängen scherten ihn wenig. Sie dienten ihm nur zur Orientierung, denn er schloss sich einfach der Richtung an, in die der Großteil von ihnen drängte.

»Die Rettungskapseln!«, schrie jemand hinter ihm. Der Mann war schlank und hatte dünnes Haar. Ein Zivilist, dem Aussehen nach einer der Landwirte. »Wo sind die beschissenen Rettungskapseln?«

Im selben Augenblick ging rechts neben dem Mann eine Tür auf. Heiße Luft und beißender Rauch drangen in den Korridor, dicht gefolgt von einer brennenden Frau! Sie schaffte es gerade noch zwei Schritte weit, dann brach sie zusammen. Direkt vor seinen Füßen.

»Hier schon mal nicht«, sagte Schiller. Dann musste er würgen.

Schnell weiter. Schwankend kämpfte er sich vorwärts. Er sah weinende Kinder. Die Hauptmesse, die komplett zerstört war. Die Bordkapelle, in deren Außenwand ein beinahe kreisrundes Loch prangte.

Näher, mein Gott, zu dir.

Mit der Genesis ging es zu Ende. Hier draußen, mitten im Nichts.

Falls das kein Traum war, war es die Hölle.

Überall plärrten Sirenen. Überall waren Leid und Flammen und Schmerz und Angst. Immer wieder fielen die Schwerkraft und das künstliche Licht aus. Das Atmen wurde zur Anstrengung, auch wegen des vielen Qualms. Es war vorbei.

Irgendwann fand Schiller sich in einem rechteckigen, fensterlosen Frachthangar von vielleicht dreißig Quadratmetern Größe wieder. Er war einer Gruppe Flüchtender gefolgt und hier gelandet, rat- und planlos inmitten von grauen Containern und klobigen Kisten. Doch auch hier gab es keine Rettung.

»Rien ne vas plus«, murmelte der schnurrbärtige Anführer der Gruppe. Er war maximal zwanzig und hatte picklige Haut, trug aber die Uniform eines Offiziers. Vermutlich liefen ihm deswegen alle hinterher. »Merde!«

»Merde?«, wiederholte eine stämmige Frau. Sie hatte einen asiatischen Teint und einen Blick, der waffenscheinpflichtig hätte sein sollen. »Was soll das heißen? Sind wir hier falsch? Ich dachte, Sie wüssten den Weg!«

»Ja, genau«, meinte ihr Nebenmann. Dem Overall nach zu urteilen, gehörte er zu den Terraformern. Er war einer der Wissenschaftler, deren brandneue Technologie die neue Erde hätte aufbauen sollen. Aktuell baute der Mann allerdings nichts. Und dass das so bleiben würde, bewies nicht zuletzt seine eklig blutende Kopfwunde. »Warum sind Sie sonst hier?«

Der Picklige sah ängstlich aus. Schiller begriff: Er desertierte. Er hatte sich nicht auf seinen Posten begeben, sondern sich auf die Suche nach einer Rettungskapsel gemacht. Weil alles andere ohnehin keinen Zweck mehr hatte.

Ich kann dich verstehen, Jungchen, dachte der Prediger.