Diesseits der Geschichte - Achim Landwehr - E-Book

Diesseits der Geschichte E-Book

Achim Landwehr

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Beschreibung

Sind wir alle gleichzeitig jetzt? Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Vielzeitigkeit. Die Geschichte - sie ist überall präsent. Seit mehr als zwei Jahrhunderten sind nicht nur westliche Gesellschaften gewohnt, in diesem Kollektivsingular zu denken und mit ihm zu leben. Dieser übermächtigen Gesamtheit alles Geschehen(d)en wird nicht nur eine umfassende Wirkmacht, sondern eine ebenso grundlegende Erklärungsfunktion zugeschrieben. Das paradoxe Ergebnis: Alles hat eine Geschichte, außer die Geschichte selbst. Spätestens jedoch seit sich die europäisch-westlich geprägte Geschichtswissenschaft mit ihrem sehr speziellen Begriff von Geschichte im Rahmen postkolonialer Diskussionen auch mit anderen Verständnissen von Zeitlichkeit und Veränderung konfrontiert sieht, wird deutlich, wie problematisch dieses Geschichtsverständnis ist. Allein, es mangelte an Alternativen. Mit dem zentralen Begriff der Chronoferenz wird in diesem Buch ein theoretischer wie auch in Einzelstudien erprobter Vorschlag für eine andere Art der Historiographie gemacht - ein Vorschlag, der die Fähigkeit des Menschen ernst nimmt, gleichzeitig in und mit unterschiedlichen Zeiten zu leben. Denn keine Gegenwart ist gleichzeitig mit sich selbst. »Jede Gegenwart hat die Eigenschaft, ungleichzeitig mit sich selbst zu sein, weil in ihr immer schon so viele andere Zeiten vorkommen.« Achim Landwehr

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Achim Landwehr

Diesseits der Geschichte

Für eine andere Historiographie

WALLSTEIN VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, SG Images, Düsseldorf

ISBN (Print) 978-3-8353-3742-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4507-2

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4508-9

Inhalt

Immanenz des HistorischenZur Einleitung

Zeitfragen

Alte Zeiten, Neue ZeitenAussichten auf eine Zeiten-Geschichte

Das Jetzt der Zeiten

Zeitrechnung

Zeitweisen

Kontingenz der Vergangenheit

GegenwartErkundungen im zeitlichen Diesseits

Zukunft – Sicherheit – ModerneZu einem unklaren Verhältnis

Zeitwirbel

Kulturelles VergessenErinnerung an eine historische Perspektive

Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹

Über den Anachronismus

Zeitschaften

Chronoferenzen

Das Bad, die Höhle, der MüllCarlsbader Chronoferenzen

Heiner Hamlet HansEigenzeiten und die Macht der Gespenster

Geschichte schreiben mit Claude Simon

Literaturverzeichnis

Drucknachweise

Anmerkungen

Time present and time past

Are both perhaps present in time future,

And time future contained in time past.

If all time is eternally present

All time is unredeemable.

What might have been is an abstraction

Remaining a perpetual possibility

Only in a world of speculation.

What might have been and what has been

Point to one end, which is always present.

T. S. Eliot, Four Quartets

Immanenz des HistorischenZur Einleitung

Zeiten allerorten

Zuweilen mag es genügen, aus dem Fenster zu sehen; besser vielleicht noch, vor die Tür zu treten und einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Ähnlich wie die Lebensmittelindustrie Haltbarkeitsdaten auf ihre Produkte pappt, ließe sich beim zwanglosen Schlendern die eigene Umgebung mit Datierungen versehen. Das Haus auf der anderen Straßenseite ist vor bald 100 Jahren erbaut worden. Geht man zwei Straßen weiter, wartet dort bereits das 19. Jahrhundert, und Richtung Stadtmitte finden sich Behausungen, die noch einmal ein paar Jahrhunderte älter sind. In der entgegengesetzten Richtung kündet eine riesige unbebaute Fläche, auf der kreuz und quer fahrende Bagger und Lastwagen ihr ganz eigenes Ballett aufführen, von Häusern, die es noch gar nicht gibt, deren zukünftige Bewohner aber bereits jetzt auf einer riesigen Werbetafel Hand in Hand und glücklich lächelnd durch sonnenbeschienene Grünanlagen flanieren. Dahinter wiederum lässt sich unschwer ein Waldgebiet erkennen, in dem einige bizarr geformte Eichen stehen, von denen man höchstens erahnen kann, aus welchen Zeiten sie zu berichten wüssten, wenn wir ihre Botschaften nur verstünden. Um die Ecke steigt gerade ein Mann mittleren Alters in sein Auto, einen Oldtimer, der auch schon seit einigen Jahrzehnten auf den Straßen unterwegs ist und seinen geschichtsträchtigen Zustand gut sichtbar durch ein H (für ›Historisches Fahrzeug‹) auf dem Nummernschild zu erkennen gibt. Nicht die einzige Gelegenheit, bei der das deutsche Steuerrecht Vergünstigungen bereithält, sobald es um die Fähigkeit (oder das Glück) von Objekten geht, eine bestimmte Zeitspanne überstanden zu haben. Dieser Mann fährt einem Tag entgegen, den er zwar nach den Möglichkeiten einer rationalen Planung bereits im Vorhinein organisiert hat, von dem er aber trotzdem noch nicht (genau) weiß, was er ihm bringen wird. Im Wegfahren hat er noch eine Hand frei, um eine Frau zu grüßen, unübersehbar schwanger, die noch ganz andere Gedanken über künftige Unwägbarkeiten näherer und fernerer Art hin und her wägt. A day in the life.

Ich bin kaum einen Schritt die Straße entlanggegangen, schon purzeln innerhalb weniger Augenblicke die Zeiten durcheinander. Zu fragen, wie viel Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft jeweils in diese Dingen, Menschen und Situationen steckt, erscheint befremdlich. Muss denn nicht alles, was einem begegnet, sei es vor der eigenen Haustür oder an einem anderen denkbaren Ort, Anteil haben an allen Zeitformen? All das muss gegenwärtig sein, um überhaupt wahrgenommen werden zu können; es muss eine Vergangenheit haben, in der es entstanden ist; und wenn nicht in diesem Moment ein katastrophales Unglück geschieht, wird alldem wohl auch noch eine mehr oder weniger lange Zukunft beschieden sein. Was ist daran das Besondere? Wir sind nun einmal zeitliche und verzeitlichte Wesen, da ist der beständige Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht außergewöhnlich. Und genau genommen sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ja auch nur drei von den vielen möglichen Zeitformen, mit denen wir Umgang pflegen. Nicht vergessen werden sollte in einer notgedrungen unvollständigen Auflistung die Zeitlosigkeit, der Zeitvertreib, der Zeitpunkt, die Ewigkeit, der Zeitsprung, die Zeitbombe, die Zeitvergeudung, die Saure-Gurken-Zeit, der Zeitverlust, die Unzeit, die Kernzeit, die Langzeitwirkung, die Zeitverschiebung, die Zeitraffer, die Freizeit oder die Endzeit.

In der Tat, eine solche Augenblickswahrnehmung unterschiedlicher Zeiten ist nichts Besonderes. Gerade deshalb stellt sich die Frage, weshalb sie für unser Nachdenken über Zeit und unsere Beschreibungen von Zeit so selten eine Rolle spielt. Sobald das Temporale in gewisse Verallgemeinerungen transponiert wird, erweisen sich unsere Beschreibungen von der Zeit als seltsam einfallslos. Dann reduzieren sich die vielen unterschiedlichen Zeiten recht schnell auf einen linearen Strahl, auf dem alles fein säuberlich angeordnet werden kann. Zwar lassen sich die Zeitverwirbelungen vor der eigenen Haustür chronologisch eindeutig zuweisen, kann man ihnen ein unverwechselbares Datum und eine eindeutige Uhrzeit geben – aber was ist damit erreicht? Jede Gegenwart hat die Eigenschaft, ungleichzeitig mit sich selbst zu sein, weil in ihr immer schon so viele andere Zeiten vorkommen. In ein und demselben Augenblick träumen sich manche schon in die Zukunft eines nicht gebauten Hauses, imaginieren das Leben nach ihrem eigenen Tod, sehnen sich andere in die 1950er Jahre zurück oder hoffen auf die ewige Auszeit unter Palmen. Sie sind zwar alle gleichzeitig hier – aber sind sie auch alle jetzt?

Kollektivsingular

Ganz egal, ob man aus dem Fenster blickt, vor die Tür tritt oder regelmäßig Nachrichten über das nähere und fernere Weltgeschehen konsumiert: Es kann sich einem die Frage aufdrängen, wie aus diesen vielen unterschiedlichen Zeiten und Geschichten die eine große Geschichte wird. Hängt das alles zusammen? Oder wird das erst durch diejenigen zusammengehängt, die das Geschehen betrachten? Es mag einem so ähnlich gehen wie dem Kind, das ebenfalls auf die Straße tritt, zuvor aber noch den Hinweis zu hören bekommen hat, es solle auf den Verkehr achten. Kaum vor dem Haus stehend, sieht es Straßen, Schilder, Fahrräder, Autos, Zebrastreifen, LKWs, Ampeln – aber wo ist der Verkehr?

Innerhalb westlicher Kulturen sind wir darauf geeicht, von ›der Geschichte‹ als einem sogenannten ›Kollektivsingular‹ zu sprechen. Wir verstehen ›Geschichte‹ als einen sich selbst genügenden und einheitlichen Gesamtprozess. Darin finden sich nicht nur alle einzelnen Geschichten in einem großen Ganzen vereint und aufgehoben (deswegen: Kollektivsingular), sondern in diesem Verständnis sind auch Subjekt und Objekt der Geschichte miteinander vereint: Es ist die Geschichte selbst und nichts weiter.[1]

Wir praktizieren diese Rede von ›der Geschichte selbst‹ aber noch nicht allzu lange. Auch wenn uns eine solche Rede und eine damit zusammenhängende Denke selbstverständlich vorkommen mag, so ist sie es doch nicht. Man müsste spätestens dann ins Grübeln geraten, wenn man feststellt, dass diese Idee von ›der Geschichte‹ selbst eine Geschichte hat. Denn wie kann etwas als Gesamtrahmung für alles Geschehen und alle Veränderungen dienen, das es gerade einmal seit etwas mehr als drei Jahrhunderten gibt? Wie kann etwas als alles erklärende Totalität herhalten, das, soweit wir bisher informiert sind, als Wort und als Konzept erstmals im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts nachzuweisen ist,[2] sich dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts in europäischen intellektuellen Debatten durchzusetzen begann, bevor es im 19. Jahrhundert zum Allgemeingut wurde?[3] Vielleicht ist es an der Zeit, diese Idee im 21. Jahrhundert wieder loszuwerden.

Wenn man aber schon die Historizität von ›der Geschichte‹ nicht sonderlich beunruhigend findet, dann sollte einem doch spätestens der Widerspruch zu denken geben, dass zwar die Idee von ›der Geschichte‹ die Wandelbarkeit von allem und jedem verkündet, dabei allerdings eine bedeutende Ausnahme macht – nämlich bei der Idee von der einen, großen Geschichte selbst. Ausgerechnet sie soll der historischen Veränderbarkeit nicht unterworfen sein.[4] Durch diesen Entzug ist ›die Geschichte‹ überhaupt erst in der Lage, die Aufgabe zu übernehmen, die ihr wesentlich zugedacht ist, nämlich an die Stelle der göttlichen Allmacht zu treten. Während das Vertrauen in eine göttliche Vaterfigur und deren Vorsehung über den Weltenlauf allmählich, sehr allmählich zu schwinden begann, bastelten europäische Intellektuelle an einem Ersatzgott namens ›Geschichte‹.[5] Wollte man fortan (und bis zum heutigen Tag) wissen, warum die Dinge sind, wie sie nun einmal sind, schaute man nicht mehr nach oben, sondern nach hinten.[6] Über den Geschichten, so hat es der Historiker Johann Gustav Droysen einmal formuliert, ist ›die Geschichte‹.[7]

Das führt uns wieder zurück zu dem Kind auf der Straße, das den gesuchten Verkehr nicht findet. Sicherlich wird es mit ein wenig mehr Erfahrung feststellen können, dass da Dinge zusammenhängen, oder besser: zusammengehängt werden, die sich als Verkehr bezeichnen lassen. Man kann vielleicht diesen ›Verkehr‹ ebenso wenig sehen wie ›den Staat‹, ›die Gesellschaft‹, ›die Wirtschaft‹ oder eben ›die Geschichte‹. Aber es lässt sich feststellen, dass da etwas ist. Die Frage ist nur, wie wir dieses Etwas benennen und beschreiben wollen, welche Funktionen und welche Verantwortlichkeiten wir diesem Etwas zuschieben wollen und welche Bedeutsamkeit wir ihm aufzubürden gedenken. Im frühen 21. Jahrhundert lässt sich unschwer ausmachen, dass mit dem Gesamtphänomen namens ›Verkehr‹ nicht mehr alles im Lot ist. Und dem Kollektivsingular Geschichte scheint es nicht sehr viel besser zu gehen.

Verunsicherung

Entgegen eines ersten Eindrucks handelt es sich bei solchen – zugegebenermaßen eher luftigen – Überlegungen keineswegs um eine ausschließlich akademische Angelegenheit. Auch wenn die Frage, ob die Rede vom Kollektivsingular Geschichte denn noch zutreffend sein kann, auffallend nach wissenschaftlicher Gespreiztheit tönen mag, so führt sie doch mitten hinein in die allgemeinen Fragen und Debatten, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu weltweit vernehmen lassen. Diese Diskussionen kreisen – mit einer nahezu sträflichen begrifflichen Unschärfe – um den Eindruck einer allgemeinen Verunsicherung. Das wirklich Verunsichernde an dieser Art der Verunsicherung ist, dass sich schwer sagen lässt, worüber man genau verunsichert sein soll. Entweder macht sie sich nur als diffuses, ungreifbares, eher gefühltes denn konkret benennbares Grundrauschen bemerkbar, das häufig gepaart mit dem Schlagwort ›Krise‹ auftritt, oder sie konkretisiert sich in einer langen Liste substantivierter Phänomene, bei der man immer den Eindruck haben darf, sie sei notorisch unvollständig: Klimawandel, Migration, Fake-News, Finanzkrise, Pandemie, Infragestellung westlicher Werte, Postfaktizität, Anthropozän, alte und neue Weltmächte, Niedergang der Demokratie, Zweifel am wissenschaftlichen Wissen, Macht der Internetkonzerne …

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt zumindest der privilegierte Teil der Menschheit (der es mir beispielsweise ermöglicht, diesen Text zu schreiben) in der wohl sichersten und wohlhabendsten Welt, die die Menschheitsgeschichte jemals gekannt hat. Und trotzdem (oder gerade deswegen) ist genau diese Welt voll von Verunsicherungen. Dieser privilegierte Teil der Welt scheint zu existieren in einer Spaltung zwischen Perfektion und Weltuntergang: Auf der einen Seite das bedingungslose Grundeinkommen und die Erlösung von aller Mühsal durch den umfassenden Einsatz hochkomplexer Technik vor Augen – auf der anderen Seite die mehr oder minder unmittelbare Vernichtung dieser Welt erwartend. It’s the end of the world as we know it (and I feel fine).

Sollen solche Phänomene, solche grundlegenden Verunsicherungen über die Wirklichkeit, in der wir leben, beschrieben werden, dann wird nahezu selbstverständlich zu historischen Erzählungen gegriffen. Das ist eben die wesentliche Aufgabe, die der Kollektivsingular Geschichte seit geraumer Zeit und bis zum heutigen Tag zu erledigen hat: einzuordnen, wie es zu dem gekommen ist, mit dem man es gerade zu tun hat. Und wie weitgehend dieser Allerklärungsinstanz namens Geschichte die Aufgabe zugewiesen worden ist, Ordnung in das selbst attestierte Chaos zu bringen, lässt sich anhand der ungemein ausgefeilten und differenzierten Geschichtskultur feststellen, die sich (post-)industrialisierte Gesellschaften leisten. Historisches durchdringt den Alltag auf allen Ebenen. Da wimmelt es nicht nur von Museen unterschiedlicher Couleur, da werden auch geschichtliche Themen in allen medialen Formen angeboten, als Buch, als Film, als Internetpräsenz, da muss sich jede größere Firma oder Institution eine eigene Geschichte geben, da werden Reenactments aufgeführt, da werden Gedenkschilder aufgestellt, da werden Computerspiele in diversen Vergangenheiten angesiedelt undsoweiter undsofort.

Aber es ist nicht nur diese Geschichtskultur, die einordnen soll, es ist noch weit mehr der Versuch, das eigene Hier und Jetzt einzusortieren in einer erweiterten Gegenwart, welche man wahlweise beginnen lassen kann mit dem 11. September 2001, dem Untergang des Ostblocks ab 1989, dem Ende des Nachkriegsbooms, den Berichten des Club of Rome, mit 1968, der Kuba-Krise oder den Prozessen der Dekolonisation. Oder sind die Grundübel nicht vielleicht schon gelegt worden in den großen Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Haben nicht vielleicht die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, die Kunst der Moderne oder das Fin de siècle eine Welt geschaffen, die uns zunehmend abhanden kommt, weil sie grundsätzlich unverständlich bleibt? Vielleicht lag es auch eher an den imperialistischen Kolonisierungsvorhaben des 19. Jahrhunderts, an deren Nachwirkungen die Welt bis heute leidet? Oder waren es doch die fatalen Rationalitätsversprechen der Aufklärung und der Französischen Revolution, deren dialektische Machbarkeits- und Fortschrittsparadigmen wir nicht verlassen zu können scheinen?

Keine Sorge, ich werde mich nun nicht zu einer Antwort auf diese Fragen aufschwingen. Historische Bemühungen wären hoffnungslos mit Erwartungen überfrachtet, wollte man in ihnen tatsächlich die Lösung diverser Welträtsel erkennen. Einerseits wäre die Erwartung irreführend, historische Beschreibungen würden allein durch die Darstellung einer chronologisch begründeten Kausalität bereits die Antwort auf das zugrunde liegende Problem liefern. Auf eine letztlich oberflächliche, allein dem Deskriptiven verhaftete Aufgabenzuteilung muss sich die Geschichtsschreibung nicht verpflichten lassen. Sie hat nicht nur in einem selbst auferlegten Positivismus die Frage zu beantworten, wie es denn ausgerechnet dazu gekommen ist. Schließlich hält das Historische andererseits so sehr viel mehr Möglichkeiten bereit, nicht zuletzt auch Möglichkeiten theoretischer Art,[8] um die Beschreibung, Bearbeitung und möglicherweise sogar Lösung gegenwärtiger Probleme anzugehen – Möglichkeiten, die ihr üblicherweise nicht zugetraut werden und die unter anderem in einer angemessenen Behandlung komplexer zeitlicher Verhältnisse liegen, für welche die Geschichtsschreibung eine besondere Expertise besitzen könnte und sollte. Aus der Geschichte können wir nichts mehr lernen – und gleichzeitig haben wir nur das Historische, von dem wir lernen können.

Was aber ist hier zu lernen? Der Blick aus dem Fenster, der Gang auf der Straße oder das nachrichtenmäßige Verfolgen aktueller Geschehnisse in der Nähe und Ferne mag einem das bereits angedeutete große Durcheinander nahelegen. Dessen Hintergrund aber sind tiefgreifende Irritationen über Identitäten, Räume und Zeiten: Wer sind wir eigentlich? Wo befinden wir uns überhaupt? Und ganz wichtig: Wann sind wir? In einem Diskussionszusammenhang, der sich nur noch mit Schwierigkeiten als ›Europa‹ oder ›die westliche Welt‹ bezeichnen lässt, sind schon seit längerer Zeit solche und ähnliche Fragen zu vernehmen. Diese Fragen sind wahrlich nicht neu, selbst wenn es denjenigen so vorkommen mag, die sie gerade stellen.

So lässt sich nicht mehr gar so einfach von Europa und westlicher Welt sprechen, weil nicht mehr eindeutig ist, was damit gemeint sein könnte. Die Grenzen dieser diffusen geographischen Einheiten waren schon immer schwer zu bestimmen (Wo sind die Grenzen Europas? Was kann man noch / schon / nicht mehr zum Westen zählen?), aber Entwicklungen und Diskussionen, die wir etwas hilflos als Globalisierung und Postkolonialismus bezeichnen, haben diese Probleme nochmals deutlicher werden lassen. Wie nicht zuletzt Migrations- und Grenzsicherungsdebatten zeigen, versuchen sich erhebliche Teile Europas und der westlichen Welt gegen solche Diffusionen abzuschotten.

Im frühen 21. Jahrhundert scheint aber nicht nur die Bestimmung schwerzufallen, wo und wie wir sind, sondern es ist auch nicht mehr so einfach zu sagen, wann wir sind. Die verwirrenden Verwendungen und Diskussionen der Moderne, Postmoderne, Post-Postmoderne, Hypermoderne, Altermoderne und weiterer Kombinationen können davon Zeugnis ablegen. Die Behauptung geht einem nicht mehr leicht über die Lippen, man lebe in etwas, das sich als Moderne bezeichnen ließe. Und wieso überhaupt in der Moderne? Irgendetwas scheint daran nicht (mehr) zu stimmen. Bruno Latour hat bekanntermaßen formuliert, dass wir noch nie modern waren.[9] Wenn das aber stimmt, was waren wir dann die ganze Zeit? Wähnten wir uns über zwei Jahrhunderte lang in einem Zug durch die Zeit, ohne zu bemerken, dass es nur die Landschaft hinter dem Fenster war, die sich bewegte?

Es existieren aktuell zahlreiche Versuche, um das eigene Hier und Jetzt historisch-epochal einzuordnen: Man kann sprechen vom Zeitalter der Globalisierung, vom digitalen Zeitalter, vom Informationszeitalter, vom Anthropozän. Aber wird es diesen historischen Selbstbestimmungen besser ergehen als anderen epochalen Beschreibungen, die auch noch nicht sonderlich alt sind, aber von niemandem mehr benutzt werden? Oder wer erinnert sich noch an das Atomzeitalter, das Raketenzeitalter, das Maschinenzeitalter?

Die Unsicherheit hinsichtlich einer angemessenen Epochenbezeichnung nimmt sich nahezu harmlos aus angesichts solcher Schlagworte wie alternative Fakten, Fake-News oder post-truth. Reicht die Verunsicherung über unsere Wirklichkeit und ihre angemessene, gar wahre Beschreibung inzwischen schon so weit, dass es immer schwieriger wird, eine einigermaßen verbindliche Geschichte über diese Wirklichkeit zu schreiben? Oder noch schlimmer: Sind Verschwörungstheorien unterschiedlicher Couleur vielleicht nur die extremen Auswüchse einer Welt, in der sich jedes Kollektiv seine eigene Geschichte zusammenbasteln kann, wie es ihr gerade gefällt? Wenn wir keine großen Erzählungen mehr haben, können dann alle ihre eigene fabrizieren?

Auch in Sachen einer historischen Selbstbestimmung scheinen wir uns vor die Wahl zu stellen: Perfektion oder Weltuntergang? Große Ganzheit oder vollständige Zersplitterung? Die Welt entzieht sich uns, verweigert sich jeglicher Erfassung, auch und gerade die Welt in ihrer zeitlichen Verfasstheit. Lockt auf der einen Seite das Gewesene als Hort der Gewissheit, weil sich mit dem Blick ins Gestern doch eindeutig feststellen lassen sollte, was der Fall war (und immer noch ist), zeigt sich die Vergangenheit auf der anderen Seite als ausgesprochen flexibel, wenn es um neue Versionen ihrer selbst geht, ist geradezu aufnahmewillig für Anpassungen und Veränderungen (die von sich selbst aber regelmäßig behaupten, nun die endgültige und wahre Version zu sein). Auch wenn das Geschehene geschehen ist, wenn Schlachten nicht noch einmal geschlagen werden müssen, Revolutionen nicht noch einmal durchzufechten sind, Leben nicht noch einmal gelebt werden können und Tote nicht wieder auferstehen werden, haben wir doch die eigentümliche Eigenschaft, die Vergangenheit nicht ruhen lassen zu können, sondern immer wieder zu bearbeiten und immer wieder mit uns in Beziehung zu setzen. Und seltsamerweise verändert sich im Zuge dieser Bemühungen die Vergangenheit dann doch.

Provinzialität von Geschichte

Es ist aber gerade dieses In-Beziehung-Setzen mit der Vergangenheit beziehungsweise den vielen Vergangenheiten, das eine bereits angedeutete Ebene des Problems aufruft. Gerade weil es nicht mehr zu gelingen scheint, die Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf einen eindeutigen narrativen Nenner zu bringen, muss der Kollektivsingular Geschichte in Gänze in Zweifel gezogen werden. Es genügt eben nicht mehr, Reparaturen an diesem Modell vorzunehmen, es zu optimieren und an die aktuellen Verhältnisse anzupassen. Denn diese aktuellen Verhältnisse sind eben durch Verunsicherungen und Infragestellungen geprägt, die es verbieten, das Altbekannte in einer neuen Hülle als Lösung der Probleme anzubieten. In Zeiten religiöser oder ideologischer Weltbestimmungen gab es noch Angebote, um die langen historischen Linien zu ziehen. Aber diese großen Erzählungen haben schon seit geraumer Zeit ausgedient. Und selbst Jean-François Lyotard, der Schöpfer des Schlagworts vom Ende der großen Erzählungen, hat schon festgestellt, dass das Ende der großen Erzählungen auch schon wieder eine große Erzählung sei.[10]

Die größte aller großen Erzählungen ist aber ›die Geschichte‹ selbst. Der Kollektivsingular transportiert immer noch das Versprechen der Orientierung, der Identitätsbildung, der Absicherung, des tragenden Fundaments. Diese Zuschreibungen sollten ›der Geschichte‹ als einem angenommenen singularischen Superprozess nicht nur wegen der bereits genannten theoretischen Unzulänglichkeiten entzogen werden. Darüber hinaus ist die Vorstellung von einem Kollektivsingular Geschichte auch unzulänglich, weil sie Produkt eines europäischen Provinzialismus ist. Auch wenn diese Idee im Zusammenhang einer kolonialistischen und imperialistischen Dominanz Europas ihren Siegeszug um die ganze Welt angetreten hat und auch wenn diese Idee in bestimmten Kontexten durchaus produktiv wirken konnte, sind doch schon seit Längerem ihre Grenzen und Probleme offensichtlich. Denn die Verunsicherungen, Irritationen, Desorientierungen und Schwierigkeiten bei der Beschreibung unserer Welt rühren nicht zuletzt daher, dass es unter anderem der Kollektivsingular Geschichte ist, der uns bestimmte Denk- und Beschreibungsformen vorgibt, die so manches als undenkbar erscheinen lassen. Insbesondere bei der Berücksichtigung anderer, nicht europäischer Formen der Welterfassung und der Zeitorganisation wird die Begrenztheit dieses Modells von Geschichte deutlich. (Und bereits meine etwas hilflose Negativbezeichnung des ›Nicht-Europäischen‹ zeigt an, wie schwierig es ist, außerhalb der vorgebahnten Wege zu denken und zu schreiben, wenn sich dieses Außerhalb noch nicht einmal umstandslos positiv bezeichnen lässt.)

Man kann nicht nur feststellen, dass der Kollektivsingular Geschichte die ihm zugewiesene Aufgabe nicht mehr recht zu übernehmen vermag, sondern man muss vor allem feststellen, dass diese Idee von ›Geschichte‹ eine letztlich europäische Beschreibungs- und Erklärungsweise ist, die ihren Ursprungsort nicht zu verbergen vermag. Die Provinzialität von ›Geschichte‹ muss überwunden, der Kollektivsingular abgeschafft werden, um stattdessen die Vielfalt der Zeiten anzuerkennen. Was nicht mehr hinreichen kann, ist die endlose Wiederholung linearer und homogener Geschichtserzählungen, die ihre vermeintlich wissenschaftliche Unschuld (üblicherweise als Objektivität und Neutralität bezeichnet) schon längst verloren haben. Sie sind schon vor geraumer Zeit entlarvt worden als europäisch-westliche Erzählungen mit einem teleologischen Zuschnitt, der sich überhaupt nicht vermeiden lässt, solange diese Erzählungen auf Modellen von Zeit und Geschichte aufruhen, die nun einmal in dieser europäisch-christlichen Welt hervorgebracht wurden

Mein Ziel ist es nicht, eine neue Gewissheit zu versprechen. Ziel ist es eher, Bearbeitungs- und Beschreibungsformen für das Ungewisse zu finden. Wird Geschichtsschreibung üblicherweise die Aufgabe zugewiesen, über das Seiende und vor allem das Gewesene zu versichern, möchte ich mich dafür starkmachen, die Verunsicherung weiterzutreiben, um zu neuen Auffassungen über die Welt in ihrer zeitlichen Konstituierung zu gelangen.[11]

Auch wenn es gewöhnungsbedürftig erscheinen mag, aber das Leben mit der Ungewissheit, mit der Unsicherheit, mit dem Unwägbaren ist durchaus begrüßenswert. Es geht dabei nicht um eine nachholende, selbst auferzwungene Naivität. Es geht nicht darum, nun an die Stelle von ›der Geschichte‹ die vielen kleinen Geschichten zu setzen, die gänzlich zusammenhangslos durcheinanderpurzeln. Es genügt also nicht, zu sagen, was man nicht mehr haben möchte. Es ist vielmehr deutlich zu machen, was an die Stelle des Kollektivsingulars treten soll.

Es ist richtig, wir brauchen nicht nur eine weitere alternative Geschichte, sondern wir brauchen eine Alternative zur Geschichte.[12] Aber das Ergebnis wird immer noch eine zu erzählende Geschichte (story) sein, wenn auch keine, die auf einem vorausgesetzten Kollektivsingular namens ›Geschichte‹ (history) beruht. Daher brauchen wir eine andere Geschichtsschreibung, um uns von ›der Geschichte‹ befreien zu können.

Die kritische Sicht auf den Kollektivsingular geht mit einer produktiven Seite einher. So spreche ich einerseits von einer negativen Geschichtstheorie. Denn man müsste, wollte man ›die Geschichte‹ als irgendwie sinnstiftende Gesamteinheit tatsächlich erfassen, außerhalb dieser Geschichte stehen. Weil das bisher aber noch niemandem gelungen ist, darf man auch berechtigten Zweifel an der Existenz des Kollektivsingulars anbringen. Das bedeutet nun keineswegs, das Vergangene oder die geschehenen Geschehnisse zu bezweifeln – es bedeutet eher, aus dem Kollektivsingular einen Kollektivplural zu machen, ein äußerst komplexes Gebilde von Vorgängen in der Zeit und Beschreibungen von der Zeit, die nicht gewillt sind, in einer eurozentrisch und damit auch chronozentrisch gedachten Einheit aufzugehen. Eine solche Geschichtstheorie ist also nicht negativ, weil sie Historisches ablehnen würde, sondern weil sich das Historische höchstens über den Weg der ausschließenden Negation bestimmen lässt – das aber niemals abschließend. Eine negative Geschichtstheorie sagt zwar, dass es ›die Geschichte‹ (als Kollektivsingular) nicht gibt, fragt aber zugleich, wie das Historische gegeben ist.

Weil also die Rede von ›der Geschichte‹ in dieser singularischen Form zu dem Eindruck führen kann (und nicht selten genug führt), es gäbe dieses bezeichnete Ding tatsächlich, spreche ich andererseits vom Historischen. Dieses substantivierte Adjektiv weist nicht auf ein konkretes Etwas dort draußen hin, sondern auf ein Konglomerat aus Eigenschaften, die Kollektive bestimmten Phänomenen ihrer Wirklichkeit zuweisen – Eigenschaften, die etwas mit dem Vergangenen zu tun haben und die Vergangenes konstituieren. Daraus resultiert aber noch kein in sich geschlossener Gesamtzusammenhang, sondern zunächst einmal die Einsicht in das menschliche Dasein als ein zeitliches.

Um die Offenheit und Vielfältigkeit dieser zeitlichen Existenz zu bewahren und nicht unter einem Kollektivsingular zu begraben, müssen wir die Geschichte zermalmen, um das Historische zu gewinnen. Écrasez l’histoire! Gagnez l’historique! An die Stelle der Transzendenz eines Kollektivsingulars Geschichte muss die Immanenz des Historischen treten. Bleiben wir diesseits der ›Geschichte‹. Nehmen wir nicht eine gottersatzartige Totalität namens ›Geschichte‹ an, der als allumfassender Gesamtheit alles zum Fraß vorgeworfen wird, was es gibt und was geschieht, sondern betrachten wir die zeitlichen Relationierungen, die Verbindungen zu Vergangenheiten, Zukünften, Ewigkeiten, Jenseitigkeiten (als Jenzeitigkeiten) und vielen anderen Zeiten, um der Vielfalt unseres zeitlichen Daseins zumindest einigermaßen gerecht zu werden.

Zumutungen

Zugegeben, darin steckt eine doppelte Zumutung. Zum einen zeichnet sich eine solche Forderung nicht gerade durch übergroße Bescheidenheit aus. Und zum anderen kann ich noch nicht einmal den Anspruch erheben, mit diesem Buch bereits alle Schritte auf dem dazu nötigen Weg absolviert zu haben. Sollte mein Vorhaben halbwegs gelungen sein, dann finden sich auf den folgenden Seiten einige Irritationen und Verwirrungen über die Arten und Weisen wie Geschichte und Geschichten üblicherweise funktionieren. Es finden sich aber ebenso Vorschläge, wie man mit solchen Uneindeutigkeiten umgehen und wie man sie beschreiben kann.

Eines der vielen möglichen Argumente, weshalb eine Irritation des standardisierten Geschichtsverständnisses vonnöten ist, findet sich bei dem Semiotiker Jurij Lotman. Ihm offenbaren sich vor dem Hintergrund einer kulturtheoretischen Zeichentheorie die Schwierigkeiten historischer Erzählungen. Indem eine traditionelle Geschichtsschreibung das Geschehene als zwangsläufig und gewissermaßen natürlich präsentiert, treibt sie auch die Unbestimmtheit aus diesem Geschehen aus. Dabei ist es doch gerade die Unbestimmtheit, die als Wert und Maßeinheit von Information zu gelten hat. Präsentiert man ein vergangenes Geschehen als zwangsläufig und unabänderlich, wird nicht nur die Unbestimmtheit, sondern wird auch die Möglichkeit aus der historischen Arbeit vertrieben.[13] Ohne Unbestimmtheit wird eine kollektivsingularisierte Geschichte zu einem Schicksal, das man registrieren kann und hinzunehmen hat, büßt jedoch alle Eigenschaften eines Möglichkeitsraums ein.

Die hier versammelten Beiträge, die zu unterschiedlichen Anlässen entstanden und zu einem größeren Teil bereits an verschiedenen Orten publiziert worden sind, folgen drei zentralen, miteinander verbundenen Fragen: Wie sind etablierte Modelle von Zeit und Geschichte ausgestaltet – und warum sind sie ungenügend? Gibt es alternative Modellierungen der Zeit und des Historischen? Und welche praktischen Konsequenzen haben diese Alternativen für die Geschichtsschreibung?

Die Schwierigkeiten fangen schon damit an, dass ausgerechnet im Rahmen historischer Bemühungen die Zeit als Kategorie keinen besonders prominenten Platz einnimmt (Alte Zeiten, Neue Zeiten). Auch wenn seit etwa 2010 Bewegung in die Diskussion gekommen zu sein scheint,[14] nimmt es doch immer noch Wunder, dass Zeit in der internationalen Geschichtswissenschaft eher als neutraler Rahmen des historischen Geschehens denn als Problem und wichtiger Faktor eben dieses Geschehens wahrgenommen wird. Der Weg zu einer Zeiten-Geschichte stellt sich daher immer noch als eher schmaler Trampelpfad dar, obgleich er doch zahlreiche Aussichten verspricht, um der historischen Arbeit eine andere Bedeutung und Relevanz zu verleihen – insbesondere über die selbstgenügsamen Grenzen der Geschichtswissenschaft hinaus.

Das offenbart nicht zuletzt eine auch alltäglich zu erfahrende Vielzeitigkeit (Das Jetzt der Zeiten). Menschen leben nicht nur in einer physikalischen oder biologischen oder durch Uhren und Kalender dominierten Zeit, sondern bilden beständig zahlreiche kulturelle Zeitformen aus, die ihnen schier unendlich vielfältige temporale Bezugnahmen erlauben.

Als ein Beispiel für die Möglichkeit von Verzeitung zeigt die Zeitrechnung dabei eine herausfordernde Janusgesichtigkeit. Uhren und Kalender besitzen mitsamt ihren konkreten Entstehungszusammenhängen und Ausbreitungswegen eine deutliche kulturelle Spezifik. Die weltweite Diffusion europäischer Zeitrechnungsmodelle macht das Verhaftetsein mit ihrem provinziellen Ursprungsort nur noch deutlicher. Diese globale Dominanz erweist aber auch, wie sich bestimmte Zeitvorstellungen verabsolutieren und zumindest in einem gewissen Rahmen einen quasi natürlichen Charakter gewinnen können – von dem man sich dann nur unter großen Mühen wieder befreien kann.

Auch das Reden und Denken in den Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deckt wahrlich nicht alle Zeiten ab, die uns vielzeitig zur Verfügung stehen. Aufgrund ihrer unübersehbaren Bedeutung lohnt eine zumindest probebohrende Beschäftigung damit aber allemal. Dabei muss auch der Kontingenz der Vergangenheit (wieder) ein angemessener Platz eingeräumt werden. Sind wir üblicherweise nur gewillt, der Zukunft zu attestieren, kontingent zu sein, also die verunsichernde Eigenschaft zu besitzen, sowohl möglich als auch nicht möglich sein zu können, sollte man das Un / Mögliche des Vergangenen doch nicht übersehen. Gerade vor der Erwartung, Hort der sicheren und nicht mehr veränderbaren Gewissheit zu sein, muss man das Historische beschützen. Denn sollte die These von der Vielzeitigkeit plausibel sein, dann müssen Gegenwarten nicht nur beständig damit rechnen, von Unwägbarkeiten der Zukunft überrascht zu werden, sondern dann werden sie auch von Gespenstern aus der Vergangenheit heimgesucht, deren Existenz sie nicht einmal zu erträumen wagen und die bis zu ihrem Auftauchen in einem wörtlichen Sinn als undenkbar gelten – und zwar sowohl im Positiven wie im Negativen. Spätestens hier zeigen sich die Restriktionen einer Geschichtsauffassung, die auf Homogenität, Linearität und Teleologie setzt, weil mit ihr tendenziell all die möglichen Geschichten beiseite gedrängt werden, welche die Vergangenheit immer noch bereithält. Wie sehr eine Gegenwart von solchen kontingenten Vergangenheiten überrascht werden kann, zeigt sich an der allfälligen Rede von den ›vergessenen‹ oder ›verschütteten‹ Geschichten, die erst und gerade jetzt wieder ins Bewusstsein gerückt werden.

Dieser Gegenwart kommt eine besondere Rolle im verwirrenden Spiel der Zeiten zu. Schließlich ist sie die einzige Zeit, die uns zur Verfügung steht – und sie ist auch als Zeitmodalität dadurch gekennzeichnet, das Verfügbare zu umfassen, also alles das, was noch beeinflusst und verändert werden kann. Die Gegenwart beinhaltet auch die jeweils verfügbaren Vergangenheiten und Zukünfte, weil diese abwesenden Zeiten keinen anderen Existenzort haben – schließlich sind sie als Vergangenheiten nicht mehr und als Zukünfte noch nicht. Aufgrund dieser Bedeutung muss es verwundern, dass ›Gegenwart‹ generell eher wenig behandelt wird. Vielleicht aufgrund der überbordend erscheinenden Aufgabe, damit eigentlich schon alles behandeln zu müssen?

Um der erdrückenden Komplexität zu entgehen, alles gleichzeitig behandeln zu müssen, können Phänomene und Probleme in abwesende Zeiten abgeschoben werden. Vergangenheit und Zukunft sind daher auch die Zeiten des Nicht-mehr beziehungsweise des Noch-nicht. Paradoxerweise können Vergangenheiten und Zukünfte diese Rolle aber nur übernehmen, wenn sie als abwesende Zeiten beständig anwesend gehalten werden. Damit ist aber auch klar, dass Vergangenheit und Zukunft keine Zeiträume sind, die der Gegenwart dichotomisch gegenübergestellt werden können, sondern temporale Projektionen einer Gegenwart, die sich niemals von dieser Gegenwart ablösen lassen (Zukunft – Sicherheit – Moderne). Nicht zuletzt die allfälligen politischen Verknüpfungen von Zukunftsfragen mit Sicherheitsproblemen zeigen jedoch die Schwierigkeiten, die sich ergeben, sobald eine künftige Zeit als vermeintlich unabhängige Wesenheit von der sie entwerfenden Gegenwart abgekoppelt werden soll. Dann handelt es sich um den kaum verschleierten und zwangsläufig zum Scheitern verurteilten Versuch einer Stillstellung von Zeit.

Dass die zeitlichen Verhältnisse so viel komplexer sind, als wir üblicherweise annehmen, verdeutlichen nicht zuletzt temporale Phänomene, die übersehen, nicht ernst genommen oder schlichtweg abgelehnt werden. Kulturelles Vergessen sieht sich beispielsweise gegenüber der Erinnerung und dem Gedächtnis noch immer in einer Rechtfertigungsposition. Dabei ist das Vergessen nicht nur ebenso lebensnotwendig wie das Erinnern, sondern zeichnet sich auch durch zahlreiche zeitliche Verwicklungen aus. Während man einerseits vergessen muss, um Leben überhaupt noch zu gewährleisten, ist andererseits Vergessen im strengen Sinn unmöglich, weil man sich zumindest noch daran erinnern muss, vergessen zu haben. Zudem führt uns das Vergessen zurück zur Kontingenz der Vergangenheit, denn damit wird man nicht nur verwiesen auf Gewesenes, das verdrängt worden ist, sondern auch auf die Erinnerungen an Geschehnisse, die nie stattgefunden haben. Das Vergessen macht also aufmerksam auf die Potentialität des Historischen: Dort schlummern Vergangenheiten in der Inaktualität, die unerwartet gegenwärtig werden können.

Eine bekannte rhetorische Formel, um die Vielzahl historischer Verzeitungen auf einen Nenner zu bringen, ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Auch wenn die Intentionen, die sich mit dieser Formel verbinden, durchaus lauter sein mögen, ergeben sich damit doch unschwer zu erkennende Schwierigkeiten. Die Rede von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bleibt letztlich einem Euro- und Chronozentrismus verhaftet, den sie auf den ersten Blick zu überwinden versucht. Aber solange jede Feststellung einer Ungleichzeitigkeit – versehen mit diesem negativen Präfix ›Un-‹ – immer nur vorgenommen werden kann, weil sich das sprechende Subjekt selbst eine Position der Gleichzeitigkeit attestiert, lässt sich der Falle des Chronozentrismus nicht entkommen. Auch hier bedarf es einer tatsächlichen Behandlung der Gleichzeitigkeit der Zeiten.

Wird das Vergessen tendenziell übersehen und die Ungleichzeitigkeit missverstanden, so wird der Anachronismus nicht selten schlicht abgelehnt. Er wird zu den geschichtswissenschaftlichen Todsünden gerechnet – obgleich sowohl die Feststellung von Anachronismen wie auch das geschichtswissenschaftliche Arbeiten selbst immer schon anachronistisch sind. Denn erst in einer Kultur, die sich selbst einer strengen Chronologie verpflichtet hat, kann die Rede von einem chronologischen Einordnungsfehler sinnvoll sein – und das war in Europa vor dem späten 16. Jahrhundert offensichtlich nicht der Fall. Alle zuvor erfolgten Anachronismen können also noch gar keine gewesen sein. Und seither sind wir die Anachronismen auch nicht losgeworden – zum Glück. Denn historisches Arbeiten heißt ja gerade nicht, der eigenen Gegenwart eine von ihr abgetrennte Vergangenheit dichotomisch gegenüberzustellen, um eindeutig über sie zu urteilen, sondern heißt Relationierungen vorzunehmen, um abwesende Zeiten anwesend zu halten. Das kann gar nicht ohne anachronistische Vermischungen vor sich gehen. Das sollte aber auch nicht ohne solche Vermischungen vor sich gehen, denn der Anachronismus wirkt im höchsten Maß historisch produktiv.

Wenn ich aber nun so ausgiebig von den Unzulänglichkeiten etablierter Zeit- und Geschichtsmodelle gesprochen habe, um stattdessen die Vielzeitigkeit und die Relationierung der Zeiten zu betonen – wie kann und soll dann Geschichtsschreibung aussehen? Wie können wir gerade unter Umständen, die sich selbst als unübersichtlich, verunsichert und ungewiss beschreiben, eine Form der Historiographie betreiben, die sich nicht auf die Jenseitigkeit eines Kollektivsingulars Geschichte verlässt, sondern sich mit der Diesseitigkeit des Historischen begnügt? Mein Vorschlag hört auf den Namen Chronoferenzen. Damit soll es möglich werden, die homogene Linearität des Kollektivsingulars Geschichte zurückzulassen, um stattdessen die wesentlich vielfältigeren und allenthalben auffindbaren Möglichkeiten und Praktiken zu behandeln, anwesende mit abwesenden Zeiten zu koppeln. Dadurch ergibt sich zugegebenermaßen ein deutlich komplexeres Bild der zeitlichen Verhältnisse, in denen wir leben, das ich mit dem Begriff der ›Zeitschaft‹ zu fassen versuche. Dieser Komplexität ist nicht zu entkommen, denn selbst wenn wir es wünschen sollten, werden uns die Zeiten nicht den Gefallen tun, sich hübsch aufgeräumt in Reih und Glied aufzustellen. Und wenn wir zudem den Fragen und Problemen gerecht werden wollen, die uns in unserer Welt umtreiben, dann ist dafür ein angemessenes Verständnis der zeitlichen Relationierungen zwar nicht allein hinreichend, aber als Teil möglicher Antworten unabdingbar. Bei dieser Herausforderung helfen nicht neue Erzählungen im alten Gewand, sondern benötigen wir neue Erzählweisen, um diese Komplexität auf andere Art und Weise vorzuführen.

Drei Versuche sollen andeuten, wie eine Geschichtsschreibung auf der Basis von Chronoferenzen aussehen könnte.

Der amerikanischen Kleinstadt Carlsbad ist keine größere Rolle zugedacht worden in dem großen Welttheater, das wir üblicherweise als ›die Geschichte‹ zu bezeichnen pflegen. Aber vielleicht lohnt es sich gerade deswegen, den durchaus bemerkenswerten zeitlichen Relationierungen nachzugehen, die sich mit diesem Ort verbinden (Das Bad, die Höhle, der Müll ). Nicht nur hat sich Carlsbad nach dem böhmischen Kurort benannt, in der trügerischen Hoffnung, von dieser Chronoferenz touristisch zu profitieren, sondern die Stadt verfügt auch noch über (touristisch tatsächlich erfolgreiche) Tropfsteinhöhlen, welche die Besucher in die Tiefenzeit der Erdgeschichte zurückführen, war Jahrhunderte Siedlungsgebiet von first nations, die nochmals mit ganz anderen Zeitmodellen operierten, und ist seit Ende des 20. Jahrhunderts auch Heimat eines Atommülllagers, in dem heute bereits die Kommunikation mit einer projektierten Zukunft praktiziert wird. Sehr viele und sehr weit auseinander liegende Zeiten also, die sich in diesem Ort verknoten – und die doch keineswegs außergewöhnlich sind, weil sie sich in variierter Form für jeden Fleck der Erde nachzeichnen ließen.

Aber Chronoferenzen lassen sich selbstredend nicht nur mit Räumen in Verbindung bringen, sondern schmiegen sich unweigerlich allem an, dem wir in unserer Wirklichkeit begegnen. Die Zeit und die Zeiten verschonen nichts und niemanden. Das wird nicht zuletzt in sogenannten Krisenzeiten deutlich, bei denen sich die Frage stellt, wie man in ihnen nicht verloren geht (Heiner Hamlet Hans). Der Schriftsteller Heiner Müller hat 1989/90 gemeinsam mit dem Ensemble des Deutschen Theaters die Strategie gewählt, die Zeit aufzubrechen und mit der Hilfe von »Hamlet« zu zeigen, wie gegenwärtig ein Stück sein kann, das fast 400 Jahre alt ist. Der Schuhmacher und Bauer Hans Heberle wählte – als Zeitgenosse von Hamlet – während des Dreißigjährigen Krieges demgegenüber die Strategie der Registrierung von Zeit und der strengen Chronologie, um im Chaos seiner Wirklichkeit nicht verloren zu gehen. Und auch wenn die Protagonisten so gar nichts miteinander zu verbinden scheint, so müssen sie doch auf jeweils unterschiedliche Weise mit den Gespenstern der Vergangenheit umgehen, die sie nicht loslassen wollen.

Auch vom französischen Schriftsteller Claude Simon lässt sich mit Fug und Recht behaupten, er werde von Gespenstern verfolgt – nicht nur von denjenigen, die ihm als Soldat der französischen Kavallerie im Zweiten Weltkrieg begegnet sind (Geschichte schreiben mit Claude Simon). In seiner literarischen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern auch weiter zurückreichender Zeiträume, stellt Simon auch immer die Frage nach unserem Umgang mit diesen Zeiten – und nach den Geschichten, mit denen wir davon erzählen können. Bei ihm werden all diese Zeiten gegenwärtig, und zwar nicht im Sinn einer abstrahierten Theorie oder einer diffusen Esoterik, sondern aufgrund der schütteren Fäden, die übrig gebliebenes Material durch die Zeiten spinnt, aufgrund von Postkarten, Erinnerungen, Kalenderblättern, Gemälden, Briefen, Fotos.

Zuweilen genügt es auch für Claude Simon, aus dem Fenster zu sehen oder besser vielleicht noch vor die Tür zu treten und einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Die Dinge, die er dort sieht, die Menschen, denen er begegnet, die Schicksale, von denen sie erzählen – das alles gibt noch keine Gewähr für ein jeweils gegenwärtiges Wissen über vergangenes Geschehen. Aber es sind Haltepunkte inmitten des chaotischen Unsinns temporaler Bezugnahmen, der sich nicht mehr hinreichend als ›Geschichte‹ begreifen und bezeichnen lässt.

Zeitfragen

Alte Zeiten, Neue ZeitenAussichten auf eine Zeiten-Geschichte

Zeit-Probleme

Zeit kann beunruhigen. Man verabschiede sich gedanklich nur für einen kurzen Moment von der Orientierungsfunktion, die Formen der Zeitmessung in unserem Alltag übernehmen, schon gerät das Denken ins Trudeln und die Turbulenzen der Zeit sorgen für eine erhebliche Desorientierung. Viele literarische und filmische Geschichten zu Zeitreisen und anderen temporalen Abenteuern machen sich diesen Umstand zunutze, stellen unsere gewohnten Auffassungen von Zeit infrage, wenn nicht gar auf den Kopf. Dabei verschwimmen nicht nur die Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern kommen auch Aspekte des Verhältnisses von gemessener und gelebter Zeit ins Spiel, drängt sich das Problem unserer existenziellen Abhängigkeit von Zeit bei ihrer gleichzeitigen Unfassbarkeit in den Vordergrund und werden die temporalen Kulturen deutlich, denen sich Gesellschaften in unterschiedlichen Formen verpflichtet haben.

Ohne das Phänomen der Zeit in ungebührlicher Weise verniedlichen zu wollen, kann man es in gewisser Weise als ein Spiel verstehen, sich auf die Verunsicherungen einzulassen, die das Nachdenken über die Zeit hervorruft – und man wird feststellen, dass aus dem Spiel sehr schnell Ernst wird. Es gilt, sich der Verunsicherung durch die Zeit zu stellen, sie zum Gegenstand zu machen und damit der Zeit auch eine Geschichte, eine historische Dimension zu geben, die nicht immer recht wahrgenommen wird (zumindest, wenn man von den standardisierten Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Zeitmessung absieht, bei denen es sich nicht selten um klassische Fortschrittsnarrative handelt). Lässt man sich auf die Verunsicherung ein, dann wird es möglich, die Zeit auf andere Art und Weise zu befragen, sie als selbstverständliches und gleichzeitig rätselhaftes Phänomen in den Mittelpunkt zu rücken.

Aber muss das Schweinwerferlicht denn noch einmal auf die Zeit als Problem gerichtet werden? Ist denn zur Zeit nicht bereits alles gesagt, und zwar vielfach? In der Tat scheint zu diesem Thema jeder Stein bereits mehrfach umgedreht worden zu sein, jedes Phänomen ist bedacht, jeder Aspekt beleuchtet worden. Jede philosophische Schule hat sich mehr oder minder intensiv mit der Zeit beschäftigt, jede theoretische Ausrichtung hat sich diesem Phänomen gewidmet. Wenn man die Bibliotheken nach Publikationen zum Thema ›Zeit‹ durchforstet, kann einem schwindelig werden. Dieser Umstand bringt mich in ein Dilemma, da es ja üblicherweise zu den Begründungsschemata wissenschaftlicher Veröffentlichungen gehört, ihr Zustandekommen durch die nicht ausreichende Beachtung, wenn nicht sogar gänzliche Vernachlässigung einer bestimmten Thematik zu rechtfertigen. Im Falle der Zeit ist das kaum möglich. Zu diesem Gegenstand sind nicht nur die sprichwörtlichen, sondern auch die tatsächlichen Bibliotheken bereits gefüllt worden. Die Literatur ist schon lange nicht mehr zu überschauen, es gibt zahllose Buchreihen, diverse Zeitschriften[1] und ganze Forscherleben, die diesem Gegenstand gewidmet wurden. Wer will da noch mitkommen? Insbesondere im Kontext von Soziologie, Philosophie und Ethnologie – um die weit ausgreifenden naturwissenschaftlichen Diskussionen hier einmal beiseitezulassen – hat die Zeit vielfache Aufmerksamkeit erfahren.[2]

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage: Warum noch weitere Ausführungen zur Zeit? Könnte man mit seiner Zeit (sic!) nicht Besseres anfangen? Der einzige Rettungsanker scheint ironischer Art zu sein, so dass man mit Karl Valentin zur Rechtfertigung sagen könnte, es sei zwar schon alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem.

Aber selbst bei einem solchen augenzwinkernden Blick auf das Thema lässt sich nicht übersehen, dass Zeit als Problem ein dauerhaftes Interesse hervorzurufen vermag. Man kann entsprechende Aufmerksamkeiten an ganz trivialen und oberflächlichen Daten wie der genannten Buchproduktion ablesen, an der Ubiquität von Zeitmessgeräten oder an dem Umstand, dass beständig und andauernd über die Zeit geredet wird (alle Zeit der Welt haben; sich eine Auszeit nehmen; auf Zeit spielen; Zeit totschlagen; Zeit verschwenden; Zeit absitzen; Zeit gewinnen; der Zahn der Zeit; der Zeit hinterherhinken; seiner Zeit voraus sein; die Zeit ist knapp; die Zeit nutzen; die Zeit zurückdrehen; der Wettlauf mit der Zeit etc.).

Insofern ist Zeit auf die eine oder andere Art und Weise immer bedenkenswert. Die (auch historisch) interessante Frage lautet, wie Zeit zu einer bestimmten Zeit behandelt wird. Wenn der Eindruck nicht gänzlich täuscht, werden wir im Moment Zeugen recht heftiger Turbulenzen im Zeitgefüge, die auf unser aller Leben, Denken und Handeln nicht unerhebliche Auswirkungen haben dürften. Denn auch wir sind im frühen 21. Jahrhundert dabei, unsere zeitlichen Modalisierungen erheblich umzugestalten – auch wenn das nicht wirklich als ein intendierter Vorgang angesehen werden kann. Es handelt sich nicht nur um die Wahrnehmung einer beständigen Beschleunigung,[3] der sämtliche Lebensbereiche unterworfen zu sein scheinen und der man teils durch gezielte Versuche einer Entschleunigung entgegenzuwirken versucht, sondern auch um das sehr komplexe Phänomen der Ausbreitung westlicher Zeitmodelle im Zuge dessen, was gemeinhin als Globalisierung[4] bezeichnet wird, und nicht zuletzt um unser eigenes Rearrangement des Zusammenhangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im letzteren Fall trifft der beständige Drang, wenn nicht gar Zwang zur Zukunftsgestaltung auf eine nicht zu übersehende und auch gar nicht als lächerlich zu qualifizierende Grundstimmung, die man schon als apokalyptisch bezeichnen darf. Zuweilen macht sich der Eindruck breit, die jüngere Vergangenheit habe die nähere Zukunft bereits aufgebraucht.

Die Aktualität des Themas lässt also nicht nach: Zeit ist immer an der Zeit. Bereits seit den 1970er Jahren, symbolisiert durch die Veröffentlichung »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome,[5] allerspätestens aber mit den Epochenjahren 1989/90 dürfte einsichtig geworden sein, dass unsere Welt nicht mehr die ist, die man sich lange vorgestellt hat. Gerade in dem Moment, in dem der westliche, auf Fortschritt, Demokratie und Moderne getrimmte Kapitalismus seinen vermeintlich größten Triumph erlebte, wurden ihm in aller Deutlichkeit seine Grenzen aufgezeigt. Wenn es schon nicht die Rückkehr von Nationalismen und religiösen Fundamentalismen (und zwar nicht nur in ihrer islamischen Variante) deutlich gemacht haben sollte, dann lässt spätestens der Klimawandel kaum noch eine Diskussion darüber zu, dass wir uns von lange gepflegten Selbstverständlichkeiten verabschieden müssen – die Frage ist nur, wie ein solcher Abschied aussehen wird.

Fragen nach Zeitlichkeit stehen dabei im Mittelpunkt der Diskussion. Lassen wir einmal die komplexe Frage beiseite, ob Zukunftsszenarien wie Klimawandel, Staatsverschuldungen und demographische Verschiebungen in Richtung einer alternden Gesellschaft tatsächlich in der Form und mit den Auswirkungen eintreffen werden, wie dies momentan diskutiert wird. Eine ganz konkrete Auswirkung haben diese Projektionen auf jeden Fall jetzt schon: Sie konfrontieren uns hier und heute, in unserer eigenen nur noch »erstreckten Gegenwart«[6] mit einem temporalen Entwurf, der wohl seit der Frühen Neuzeit in Europa nicht mehr in dieser Form so dominant war: der Endlichkeit der Welt. Das Mittelalter und die Frühe Neuzeit fassten das Weltende in einem heilsgeschichtlichen Sinn auf, wir betrachten es inzwischen in klimatischer, finanzpolitischer und demographischer Hinsicht.

Wir folgen heute noch einem Zeitmodell, das sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts allmählich ausgebildet hat. Wir sind gewohnt, mit Blick auf eine offene Zukunft zu denken, linear und progressiv. Fortschritt und Wachstum sind immer noch Normen, die nicht verhandelbar zu sein scheinen, denn immer noch ist die Meldung eines Unternehmens oder eines Staates, in diesem Jahr kein Wachstum erwirtschaftet zu haben, das Eingeständnis einer Niederlage. Abstieg oder auch nur Stabilität sind in Misskredit geraten, etwas kann nur gut sein, wenn es immer besser wird. Der Zwang zum Höher-Schneller-Weiter ist in unseren Köpfen fest implantiert: »Die mit dem Begriff ›Wachstum‹ verbundene Vorstellungswelt durchzieht jede Faser unserer gesellschaftlichen und privaten Existenz. […] Der Begriff ›Wachstum‹ hat magische und parareligiöse Qualität, weshalb man sogar im Fall einer Rezession vom ›negativen Wachstum‹ spricht, als sei das Schrumpfen der Wirtschaftsleistung […] der Leibhaftige, den ein guter Christ nicht beim Namen nennen darf.«[7]

Endlichkeit war daher für lange Zeit undenkbar geworden – doch inzwischen sind wir dabei, uns mit einem solchen Zeitmodell wieder vertraut zu machen. Ob diese Diagnose tatsächlich zutreffend ist, wird – jawohl! – erst die Zukunft zeigen; wer weiß, vielleicht liegen die Apokalyptiker ja ebenso falsch wie die unverbesserlichen Wachstumsoptimierer. Aber dass diese Form der Selbstbeschreibung sich inzwischen zu einem recht einhelligen Chorgesang verdichtet hat, zu einem basso continuo, der allen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Diskussionen unterliegt, sagt nicht nur viel über das Bild der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts aus, sondern wird, wie jedes Selbstbild, ob zutreffend oder nicht, seine eigene diskursive Wirkmächtigkeit entfalten.

Hier kann die historische Betrachtung anschließen. Denn inzwischen kann man auf eine langfristig dominante, moderne Zeitkonzeption zurückblicken, die geschichtlich abgeschlossen zu sein scheint und sich in dieser Form nicht mehr fortführen lässt. Doch darin kann und will sich die historische Beschäftigung nicht erschöpfen. Es geht nicht einfach um die Musealisierung von – in diesem Fall – obsoleten Zeitmodellen, sondern es geht um das Erzählen von exemplarischen Geschichten, die uns zwar kein Patentrezept für gegenwärtige Probleme an die Hand geben können, die aber in der Lage sind, uns in der Beschäftigung mit dem historisch Anderen die Augen für die eigene Situation zu öffnen.

Damit wäre ich in meiner Argumentation dem Punkt recht nahe gekommen, der bei Erörterungen zur Zeit niemals fern zu sein scheint und an dem Zeit zu einem Grenzfall zwischen Theorie und Trivialität wird: Einerseits finden sich auf allen Abstraktionsniveaus Überlegungen zur Zeit an und für sich, andererseits ist eben diese Zeit im Alltagsleben mit so viel Plausibilität belegt, dass jegliches Weiterfragen nahezu von selbst blockiert wird.[8] Der Blick auf die historischen Dimensionen von Zeit, also auf eine Zeiten-Geschichte,[9] kann möglicherweise helfen, diesem Dilemma zu entgehen.

Zeiten-Geschichte

Überkommen einen üblicherweise Schwindelgefühle, wenn man die Forschungsliteratur zur Zeit zu erfassen versucht, so fallen die Gleichgewichtsstörungen erheblich geringer aus, sobald man sich in der Subkategorie der geschichtswissenschaftlichen Forschungen zu diesem Thema umtut. Denn die Behandlung von Zeit in den Geschichtswissenschaften ist einigermaßen paradox. Nüchtern betrachtet könnte man sagen, dass die Geschichtswissenschaft sich ohnehin und beständig mit der Zeit auseinandersetzt, weshalb es keiner gesonderten Auseinandersetzung mehr bedarf. Da Geschichte es nun einmal mit Veränderungen in der Zeit zu tun hat, besteht auf den ersten Blick kaum die Notwendigkeit, sich mit der Zeit nochmals gesondert zu beschäftigen – weil dies vermeintlich ohnehin schon immer geschieht. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass Zeit vielfach nur vorausgesetzt, aber selten problematisiert wird.[10] Zeit ist der Rahmen, in dem sich Geschichte abspielt, der aber in all seiner Konstruiertheit sowie sozialen und kulturellen Bedingtheit kaum einmal in den Fokus gerät. »Zeit scheint gemeinhin eine Bedingung zu sein, unter welcher Geschichte stattfindet, sie kann aber selbst durch die Geschichte nicht bedingt sein. Zeit lässt sich nicht erzählen: Sie ist die Bedingung dafür, dass man erzählen kann.«[11] Es ist daher angebracht, Zeit im Kontext der Geschichtswissenschaft in ähnlicher Weise einer kulturwissenschaftlichen Revision zu unterwerfen, wie dies in den vergangenen Jahren mit der ebenso fundamentalen Kategorie des Raumes geschehen ist[12] – denn eine Geschichte der Zeit kann die Zeit nicht in naiver Weise voraussetzen. Ähnlich wie es im Rahmen des sogenannten spatial turn um die Auflösung eines letztlich euklidischen Konzepts von Räumlichkeit ging, sollte sich die Geschichtswissenschaft – neben einigen anderen Disziplinen – darum bemühen, die Vorstellung von einer absoluten Zeit hinter sich zu lassen. (Und damit soll ausdrücklich nicht die Ausrufung eines weiteren, wie auch immer gearteten turns indiziert sein: Wir haben bereits genug davon.)

Nun lässt sich zu Recht einwenden, es gebe doch eine erkleckliche Anzahl historischer Untersuchungen, die sich der Zeit in ihren unterschiedlichen Facetten widmen, am intensivsten sicherlich im Rahmen der Historiographiegeschichte, der es um Vergangenheitsmodelle und Geschichtskonzepte zu tun ist.[13] Darüber hinaus finden sich – auch einige schon klassisch zu nennende – Studien vor allem zu Fragen der Zeitmessung und der Chronologie[14] oder aus den Jahren um 2000 auch zum allfälligen Phänomen der Jahrhundertwenden.[15] Doch wenn man von einigen Ausnahmen absieht, die beispielsweise die Geschichte der Zukunft[16] oder die Autorität der Zeit[17] im Blick haben, wird in der Mehrzahl dieser Studien Zeit immer schon als gegeben vorausgesetzt, aber weniger als kulturhistorisches Konstrukt problematisiert. Und genau hierum muss es gehen, um die Frage nämlich, welcher Zeitmodelle sich Gesellschaften in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen bedienen, wie also Formen der Zeitorganisation und Zeitmessung eingesetzt werden, um Orientierung und Organisation innerhalb soziokultureller Zusammenhänge zu bewerkstelligen.[18]

In der Einleitung zu Stephen Hawkings bekanntem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« schrieb Carl Sagan den schönen Satz: »Wir bewältigen unseren Alltag fast ohne das geringste Verständnis der Welt.«[19] Man muss diesen Satz überhaupt nicht denunziatorisch verstehen, es handelt sich schließlich um die Feststellung der ganz normalen Komplexitätsreduktion, die wir alle nicht nur tagtäglich und ganz selbstverständlich praktizieren, sondern auch praktizieren müssen, wenn wir nicht wahnsinnig werden wollen. Wir können uns den Luxus schlicht nicht leisten, uns jeden Tag aufs Neue zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind – ansonsten kämen wir morgens nicht einmal aus dem Bett. Sagan bezog seinen Satz auf den Bereich der Naturwissenschaften, insbesondere auf die Physik, und wollte damit zum Ausdruck bringen, dass der allergrößte Teil der Menschheit keinen Gedanken auf die Gestalt des Kosmos oder die Form von Elementarteilchen verschwendet – womit er zweifellos recht hat. Aber seine Aussage trifft ebenso auf gesellschaftliche und kulturelle Phänomene zu. Die Zeit ist für das Gesagte insofern prototypisch, als sie nicht nur unterschiedliche Aspekte aufweist (physikalische, biologische, soziale, kulturelle etc.), sondern wir mit ihr auch gänzlich selbstverständlich umgehen (müssen), ohne uns beständig die Frage zu stellen, was diese Zeit denn nun sei.[20]

Damit ist ein grundlegendes Problem auch für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit der Zeit benannt: Zeit ist immer und überall. »Zu den wenigen fundamentalen Kategorien, mit Hilfe derer wir unsere Wahrnehmungen der Welt strukturieren, gehört die Zeit. Im Raum stellt sich uns das Nebeneinander der Welt dar, durch Zeit erfassen wir das Nacheinander. Auch speziellere Prinzipien der Welterfassung wie Kausalität und Finalität, mit denen wir konkrete Qualitäten von Abläufen bezeichnen, enthalten eine zeitliche Dimension. So ist Zeit zwar nicht als Wort, aber doch als Ordnungsprinzip des Bewußtseins universal.«[21] Gerade weil sie so grundlegend ist, ist Zeit so schwierig in den Griff zu bekommen. Ähnlich wie im Fall des Raumes oder des Wissens oder der Erinnerung oder der Religion oder anderer Themen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf dem wissenschaftlichen Jahrmarkt der Aufmerksamkeiten hoch gehandelt wurden, lässt sich die Zeit nicht auf einen eindeutigen definitorischen Kern zurückführen. Spätestens an dieser Stelle ist es angebracht, eine Referenz zu zitieren, die – zumindest gefühlt – in jeder zweiten Publikation zum Thema Zeit herangezogen wird. Augustinus sagte bekanntermaßen: »Was ist also ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.«[22]

Bei Augustinus lässt sich mithin die Unmöglichkeit begreifen, Zeit definitorisch zu fassen. Sie lässt sich zumindest nicht in einem Sinne begrifflich auf den Punkt bringen, der entweder überzeitlich gültig oder historisch nützlich wäre. Zeit entzieht sich beständig allen Versuchen, sie sprachlich so einzuklammern, dass sie einem nicht mehr zwischen den Händen entgleitet. Es ist tatsächlich unmöglich, zu sagen, was Zeit ist. Ebenso ist es unmöglich, zu sagen, was Zeit nicht ist. Aber auch wenn diese Einsicht als bedauernswertes Eingeständnis einer Niederlage verstanden werden könnte, so halte ich sie offen gestanden nicht für sonderlich problematisch. Der Zeit geht es da nicht besser als zahlreichen anderen Abstrakta, mit denen wir ganz alltäglich und völlig unproblematisch umgehen, ohne uns ernsthaft die Frage zu stellen, was das eigentlich ist, das unser Leben so unübersehbar bestimmt.

Das Problem einer jeden Beschäftigung mit der Zeit besteht in der argumentativen Zirkularität, in die man sich unweigerlich hineinbegibt und der nicht zu entkommen ist. Ähnlich wie die Erkenntnistheorie immer im Modus des Erkennens operiert, die Hirnforschung immer von Gehirnen vorgenommen wird, die Auseinandersetzung mit der Geschichte immer schon historisch verortet ist, so ist auch »das Denken der Zeit schon immer ein Denken in der Zeit.«[23] Im Fall der Zeit können wir keinen Beobachterstandpunkt einnehmen, der sich gewissermaßen gottgleich außerhalb der Verhältnisse setzte, um sie nüchtern zu betrachten. Aber indem wir über die Zeit nachdenken und uns mit ihr beschäftigen, setzen wir Zeit nicht nur als Gegebenes voraus (was nicht funktionieren kann), sondern vollziehen und konstituieren Zeit im Zuge dieser Beschäftigung. Würde es uns gelingen, Zeit distanziert, gar externalisiert wahrzunehmen und zu erkennen, bräuchte es ein anderes Wahrnehmungssubjekt, das uns wiederum bei unserem Vollzug von Zeit beobachten würde, das seinerseits wiederum ein drittes Wahrnehmungssubjekt benötigte, das dessen Vollzug von Zeit beobachtete – ad infinitum. Wer von Zeit redet, darf sich offensichtlich vor Argumentationszirkeln und Paradoxien nicht fürchten.[24]

Der Weg, um des Problems der Zeit irgendwie habhaft zu werden, kann also kein definitorischer sein, sollte daher auch nicht durch das Zentrum verlaufen und die Frage stellen, was Zeit ist. Vielmehr ist ein Weg über die Ränder einzuschlagen. Dann müsste die Frage nicht lauten, was Zeit ist, sondern wie Zeit verwirklicht wird, wie sie verwendet wird, in welchen Zusammenhängen sie dingfest gemacht werden kann. An die Stelle der definitorischen und abstrakten Frage nach der Zeit tritt die historische Frage nach den Zeiten.[25] Denn: »Mit ›Zeit‹ füllen wir die Leere, vor der uns graut. Wir konstruieren Gewißheiten und Ordnungen im Hinblick auf das Vergängliche. Es ist nicht die ›Zeit‹, die wir messen, nein, wir messen Veränderungen, Dynamiken, Prozesse und nennen dies ›Zeit‹. Die Uhr mißt demnach nicht die ›Zeit‹, vielmehr ist es der Lauf der Zeiger, den wir als ›Zeit‹ bezeichnen und mit besonderen Maßstäben etikettieren (Stunde, Minute, Sekunde). Dieser Sachverhalt verleitete Einstein dazu, die ›Zeit‹ als eine ›hartnäckige Illusion‹ zu kennzeichnen. […] Daher ist die Zeit ein menschengemachtes Netz, in dem man Spinne und Fliege zugleich ist. Indem wir die ›Zeit‹ kontrollieren, kontrollieren wir uns selbst. Wir produzieren, so gesehen, jene ›Zeit‹, die auf uns wirkt.«[26]

Zeit kann also nicht als objektive Gegebenheit der natürlichen Ordnung verstanden werden, so dass sie sich im besten Fall nicht von anderen Naturobjekten unterscheiden würde, abgesehen von ihrer sinnlichen Unzugänglichkeit. Sie kann auch nicht als eine Zusammenschau von Ereignissen konzipiert werden, die auf der Eigentümlichkeit des menschlichen Bewusstseins basiert; Zeit würde dann jeglicher menschlichen Erfahrung vorausgehen und hätte apriorischen Charakter.[27] Vielmehr scheint es (zumal für geschichtswissenschaftliche Belange) angemessener, die Zeit in einem funktionalen Licht zu besehen. Die historische Perspektive dürfte für eine solche Position ausreichend Belegmaterial liefern. Das, was wir nicht selten in einem naturalistischen und gewissermaßen übermenschlichen Sinn als Zeit verstehen, war und ist immer um soziale Gruppen zentriert. Die Zeit ist ein Mittel zur Orientierung in der sozialen Welt und dient vor allem der Regulierung des Zusammenlebens unter den Menschen. Um gesellschaftliche Tätigkeiten im Fluss des Geschehens fixieren zu können, werden Naturabläufe genutzt, durch welche die Position und Dauer von Ereignissen bestimmbar wird.[28] Zeit kann zwar als Universalie bestimmt werden, das »heißt aber nicht, daß Zeit ein überall in gleicher Form vorhandener Bewußtseinskomplex ist. Zeit als strukturierendes Vorstellungssystem ist vorwiegend ein soziales Phänomen. Das bedeutet, daß die Zeit, die unser Denken und Handeln zutiefst prägt, nicht Zeit schlechthin ist; sie ist nur rudimentär ein dem Menschengeschlecht eingeborener, als einheitliche Ausstattung mitgegebener Vorstellungskomplex und lediglich in wenigen Fällen (wie z. B. beim Wechsel der Jahreszeiten) ein reines Ablesen von meteorologischen und astronomischen Phänomenen. Sie ist vielmehr in hohem Maße eine gesellschaftlich bedingte und gesellschaftlich wirksame Konzeption und mit den Eigenheiten einer Gesellschaft verwoben.«[29]

Um den Eindruck zu vermeiden, es handele sich bei der Zeit um ein Objekt jenseits menschlicher Zugriffmöglichkeiten, das als überwölbendes und übermächtiges Dach über uns schweben würde, hat Norbert Elias vorgeschlagen, das Verb ›zeiten‹ zu verwenden. Damit kann deutlich gemacht werden, dass es sich bei der Bestimmung von Zeit um einen sozialen und kulturellen Vorgang handelt. Es werden dadurch nicht nur Beziehungen aufgezeigt, durch das ›Zeiten‹ werden Beziehungen hergestellt.[30] Folgt man Armin Nassehi, lässt sich Zeit erstens nicht mehr als ontologische Einheit konstruieren, sondern es muss auf den operativen Aspekt der Konstitution von Zeit Wert gelegt werden. Zweitens kann es nicht genügen, den Ort der Zeit (als sozialer Zeit) entweder in das Subjekt in Form des individuellen Zeitempfindens zu verlegen oder im Sozialen zu verorten, so dass es ›die Gesellschaft‹ wäre, die Zeit hervorbringt. Vielmehr muss umgestellt werden von der Suche nach einer Identität von Zeit zu einer differenztheoretisch fundierten Herangehensweise, sprich: Zeit hat keinen eindeutig identifizierbaren Ort (wo immer dieser auch situiert werden mag: bei Gott, im Universum, im Individuum oder in der Gesellschaft), sondern Zeit entsteht im Zwischen.[31]

Zeit entsteht aber nicht nur in der Produktivität der Differenz, sie bringt ihrerseits Differenzen hervor. Eine ihrer wichtigsten Leistungen besteht laut Elena Esposito in der spezifischen Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, die eine Gegenwart jeweils für sich trifft. Diese Unterscheidung ist keineswegs gegeben, wie man aufgrund des eigenen Umgangs mit diesen Zeitdimensionen meinen könnte. Vielmehr ist der spezifischen Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl eine historische wie eine soziale Dimension eigen, das heißt sie wird im Verlauf der Zeit selbst generiert, regeneriert und transformiert, und dies geschieht durch jeweils unterschiedliche Gruppen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise.[32] In den Worten von Niklas Luhmann: »Was sich in der Zeit bewegt, sind Vergangenheit / Gegenwart / Zukunft zusammen, ist, mit anderen Worten, die Gegenwart mit ihren Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft.«[33]

Die Frage ist also, wie in bestimmten soziokulturellen Kontexten die Zeit diskursiv produziert wird, wie Vergangenheit und Zukunft als Projektionen erzeugt werden.[34] Denn die zeitlichen Orientierungen nach hinten und vorne sind notwendigerweise immer Konstruktionen einer Gegenwart, die sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzt. Vor einem solchen Hintergrund wird deutlich: »Ausgangspunkt kann nur die Gegenwart sein, weil Vergangenheit und Zukunft und auch die vergangenen Gegenwarten und die künftigen Gegenwarten nur als Formen (Modi) der jeweils aktuellen Gegenwart existieren.« Doch gerade hier hapert es, denn es »fehlt ein angemessener Begriff der Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft jeweils zusammen aktuell zusammentreffen […].«[35] Der Frage nach der Gegenwart auch und gerade in historischer Perspektive auf den Grund zu gehen, dürfte sich vor allem deshalb lohnen, weil in diesem Zusammenhang die Paradoxie der Zeit sowohl theoretisch als auch empirisch greifbar wird. Die Zeit offenbart sich vor diesem Hintergrund nämlich als Form der Einheit von Aktualität und Inaktualität. Zeit stellt sich dar »als Identität einer Gegenwart, die es nicht gibt, außer als Unterscheidung einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt, und einer Zukunft, die es noch nicht gibt.«[36]

Mit einem solchen Zeitmodell zu operieren, ist eine durchaus beeindruckende historische Leistung, denn es produziert eine Form der Unsicherheit und der Kontingenz, die sich nicht mehr auflösen lässt, die sich nicht mehr in Gestalt einer vorherbestimmten Zukunft irgendwann und irgendwie in Sicherheit verwandelt. Gesellschaften, die mit einem solchen Zeitwissen umgehen, müssen also Entscheidungen treffen, müssen Zeitbindungen eingehen – und dies ist eine Form des Umgangs mit der Zeit, die keineswegs selbstverständlich ist.[37]

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich verdeutlichen, warum und auf welche Weise eine Zeiten-Geschichte möglich und notwendig ist: Vergangenheiten und Zukünfte sind immer Unterscheidungen, die eine Gegenwart für sich trifft. Nur bleiben sich diese Unterscheidungen als Beobachtungen niemals gleich, sondern müssen immer wieder vollzogen werden. Dadurch ergeben sich beständig neue Zeitbindungen, immer neue Kombinationsmöglichkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch immer neue Konstruktionsmöglichkeiten von Welt in temporaler Hinsicht. »Man könnte auch sagen: Die Zeiten ändern sich mit der Zeit. Bestimmte Begebenheiten in der Gegenwart können die Vergangenheiten und Zukünfte eines Systems total ändern.«[38] Die Frage, die insbesondere eine Zeiten-Geschichte umtreibt, muss dann lauten: Unter welchen Umständen ändert sich das Zeitwissen von Kollektiven? Mit welchen Konsequenzen geschieht dies? Wer ist daran beteiligt, wer kann dieses Zeitwissen beeinflussen? Und wie können die unterschiedlichen Gleichzeitigkeiten und Zeithorizonte, die sich parallel zueinander ausbilden, koordiniert werden? Um sich dem komplexen Beziehungsgeflecht zu nähern, in das die Zeit eingebettet ist, muss die Zeit demnach selbst in eine zeitliche Perspektive gerückt werden – ist also eine Geschichte der Zeiten vonnöten.[39]